Die Unbehausten

Great American Novel

Der kürzlich erstmals auf Deutsch erschienene Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Barbara Kingsolver mit dem deskriptiven Titel «Die Unbehausten» berichtet davon, was es heißt, keine Zuflucht zu haben in einer feindlich erscheinenden Welt. In achtzehn zeitlich jeweils zwischen der ersten Trump-Kandidatur 2016 und dem Jahre 1874 wechselnden Erzählebenen, aber am selben Orte angesiedelt, wird von den existentiellen Problemen einer heutigen Mittelstands-Familie und denjenigen berichtet, die hundertfünfzig Jahre zuvor ein Schullehrer beim Vermitteln der Erkenntnisse von Charles Darwin hatte. Als stilistisches Aperçu bilden dabei die Schlussworte jedes Kapitels die Überschrift des jeweils folgenden, beginnend mit »Ruine» und endend mit «Überleben».

Protagonistin der Jetztzeit ist im ersten Kapitel Willa, eine toughe Frau Mitte fünfzig, die als freie Journalistin plötzlich ohne Aufträge dasteht. Zusätzlich droht deren Mann Iano auch noch der Verlust seines Arbeitsplatzes, er hangelt sich immer wieder mit Einjahresverträgen mühsam von Job zu Job. Zeke, Sohn der Beiden, Harvard-Absolvent und voller Zuversicht in Boston ins Investment-Geschäft eingestiegen, ist gerade Vater geworden, da nimmt sich seine an Depressionen leidende Frau das Leben. Er hat enorme Schulden, weil er ab sofort die hohen Gebühren für sein Studium zurückzahlen muss. Die aufmüpfige, jüngere Tochter Tig zieht nach zerbrochener Beziehung wieder ins Haus ein und jobbt fortan als Kellnerin. Der pflegebedürftige Großvater Nick ist ein glühender Anhänger von Donald Trump, der im Roman nur «Das Megafon» genannt wird. Nick lehnt es strikt ab, «ObanaCare» zu beantragen, womit er die enormen Krankheitskosten für die Familie abmildern könnte. Und zu all diesen Problemen droht das ererbte Haus, in dem sie alle wohnen und das ein Gutachter als Ruine bezeichnet hat, vollends über ihnen zusammen zu brechen. Die Kosten einer Sanierung oder der Wiederaufbau sind für sie finanziell geradezu utopisch hoch, der Familie droht die «Unbehaustheit».

Thatcher, der mutmaßlich 150 Jahre vorher in diesem Haus gelebt hat, war Lehrer an der örtlichen Reformschule. Er steht in einer heftigen Fehde mit seinem Schulleiter, der, religiös verblendet, Darwins Erkenntnisse über die Entstehung der Arten brandmarkt und sie als reine Blasphemie bezeichnet. Damit steht Thatcher auch im Widerspruch zu Captain Charles Landis, dem historisch verbürgten, allmächtigen Gründer der christlichen Freidenker-Kolonie Vineland, der dort so selbstherrlich wie heute Donald Trump regiert hat. Nachbarin von Thatcher ist die ebenfalls historisch verbürgte Naturforscherin Mary Treat, die wichtige wissenschaftliche Beiträge leistete und in lebhafter Korrespondenz mit Charles Darwin stand. Sie bestätigt Thatcher in seinen Überzeugungen, und auch der örtliche Zeitungsverleger stärkt ihm als guter Freund den Rücken im Streit mit dem allmächtig scheinenden, bigotten Captain Landis.

Das baufällige Haus stellt in dieser unterhaltsamen «Great American Novel» eine gelungene Metapher dar für das grandiose Scheitern des «American Dream». jener damals wie heute unrealistischer Idee, mit eisernem Willen sei für ‹jeden› praktisch ‹alles› erreichbar. Willas Kampf gegen Behörden-Willkür und soziale Ungerechtigkeiten ist ebenso vergebens wie Thatchers Versuche, das naive Bibel-Märchen von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu widerlegen. Man begreift als Leser sehr schnell, welch toxische Wirkung dem Populismus US-amerikanischer Prägung auch heute noch anhaftet und damit den Nährboden für wohlfeile Mythen bildet. Stilistisch glänzt der Roman durch seine gelungenen Dialoge, die in ihrer amüsanten Schlagfertigkeit, aber auch in den damit transportierten Erkenntnissen und Botschaften von einer erfrischenden Lebensklugheit der Autorin zeugen. Die Figuren ihres Romans sind wahrscheinlich gerade deshalb so sympathisch, weil sie eben nicht bis in die letzten Tiefen ihrer Psyche ausgeleuchtet werden.

Fazit:    erfreulich

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Demon Copperhead

Epos von der Chancenlosigkeit

Die im deutschsprachigen Raum kaum bekannte US-amerikanische Schriftstellerin Barbara Kingsolver hat mit ihrem neuen Roman «Demon Copperhead» den Pulitzerpreis des Jahres 2023 gewonnen. Der gleichnamige Titelheld wird einerseits vom Vornamen her als Dämon charakterisiert, der Nachname weist auf die Schlange mit dem kupferfarbenen Kopf hin, was auf die Haarfarbe des Protagonisten anspielt. Nach Aussage der Autorin, und das erklärt den Romantitel letztendlich, stand «David Copperfield» von Charles Dickens Pate bei ihrem Appalachen-Epos von der Chancenlosigkeit.

Schauplatz der Erzählung ist eine kleine Ortschaft in den Wäldern des Staates Virginia, zeitlich ist sie in den neunziger und zwanziger Jahren angesiedelt, vom neunten bis zum frühen zwanzigsten Lebensjahr des Protagonisten und Ich-Erzählers. Demon ist Halbwaise und lebt mit seiner rauschgift-süchtigen Mom, die ihn im Teenageralter bekommen hat, in prekären Verhältnissen in einem armseligen Containercamp. Als sie an einer Überdosis stirbt, wird er von den Behörden in Pflege zu dafür geeignet erscheinenden Personen gegeben. Der Staat zahlt ihnen dafür fünfhundert Dollar im Monat, ist allerdings bei der Prüfung ihrer Eignung mehr als nachlässig. Und so kommt Demon zum Beispiel als Zwölfjähriger zu einem Farmer, der noch zwei andere Pflegekinder hat und quasi davon lebt, das Pflegegeld zu kassieren und so wenig wie möglich für sie auszugeben. Demon hat nur Lumpen zum Anziehen, muss hart arbeiten, hat ständig Hunger und geht kaum mal zu Schule, weil es immer Arbeit auf dem Hof gibt. Seine Lage bessert sich erst, als er zum «Coach» kommt, dem Trainer der örtlichen Football-Mannschaft, wo er auf Angus trifft, dessen zwei Jahre ältere Tochter, mit der er sich auf Anhieb gut versteht. Der Coach entdeckt sein Talent für Football, trainiert und fördert ihn, und Demon wird zum gefeierten Spieler, sein erster Erfolg im Leben.

Dem setzt eine schlimme Verletzung aber bald ein Ende, er muss diesen Sport für immer aufgeben und wird wohl sein Leben lang körperlich davon gezeichnet sein. In 64 Kapiteln auf 860 Seiten erzählt die dort lebende Autorin ihr Apalachian-Epos vom angeblich rückständigsten Land der USA und seiner unterprivilegierten Bevölkerung am Beispiel ihres Romanhelden. Demon muss starke Mittel gegen die anhaltenden Schmerzen nehmen, die ihn schließlich süchtig machen und ihn, zusammen mit seiner großen Liebe Dori, zunehmend ins Junkie-Milieu absinken lassen. Wie seine Mom stirbt auch Dori an einer Überdosis. Demon hat viele gute Freunde, und Tommy, mit dem er einst auf der Farm zusammen war, verhilft ihm zu einem ersten kleinen Job als Comic-Zeichner, – ein Talent, dass seine Kunstlehrerin auf der Schule entdeckt und gefördert hat. Sein wechselhaftes Leben ist gekennzeichnet von einer deprimierenden Chancenlosigkeit, von schicksalhaften Rückschlägen, die ihn aber nicht entmutigen. Er ist ein Kämpfertyp, der sich nicht unterkriegen lässt, auch nicht vom Rauschgift, und so folgt er nach langem Zögern dem dringenden Rat von June, einer Ärztin, die ihm immer selbstlos zu Seite stand und ihn schließlich zum Entzug in eine Klinik einweist. Dem schließen sich Reha-Maßnahmen an, die ihn nicht nur clean machen, sondern ihn auch ins Arbeitsleben begleiten. Als er nach drei Jahren in sein Dorf zurückkommt, trifft er Angus wieder, die Tochter vom «Coach», die gerade ihr Psychologie-Studium absolviert hat. Spontan beschließen die Beiden, die sich immer gut verstanden haben, ans Meer zu fahren, dem Sehnsuchtsziel von Demon.

In bester amerikanischer Erzähltradition, mit leichter Hand unterhaltsam und witzig, aber auch pointiert und schnörkellos geschrieben, ist «Demon Copperhead» ein zu Recht prämierter Roman, dessen Spannungsbogen bis zum Ende andauert. Seine permanente Sozialkritik und die allzu vielen Schicksalsschläge seines Protagonisten mindern den Lesegenuss ein bisschen, – hier wäre weniger mehr gewesen. Gleichwohl, langweilig wird es einem nie bei dieser bereichernden Lektüre!

Fazit:   erfreulich

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München