Nacht des Orakels

Paul Auster »Nacht des Orakels«

Paul Auster beschreibt in »Nacht des Orakels« einen Schriftsteller, der nach lebensbedrohender Erkrankung wieder zurück ins Schreiben finden will. Auf einem Spaziergang durch Brooklyn trifft er auf einen kleinen Papierladen, dessen prachtvoll dekorierte Auslagen ihn locken. Er betritt das Geschäft, schaut sich um und entdeckt ein dunkelblaues Notizbuch portugiesischer Provenienz, das ihn anspricht. Nach ein paar Worten mit dem Geschäftsinhaber, einem alten Chinesen, erwirbt er das Büchlein und beginnt schon bald, darin zu schreiben.

Inspiriert durch die Lektüre des kunstvoll gesponnenen Romans suche ich in der Altstadt von Sevilla, wo ich ein paar Tage unterwegs bin, ein Papiergeschäft auf. Es ist sicherlich kein so prächtiger Laden wie der in Austers Erzählung, und es gibt auch keinen chinesischen Inhaber, sondern nur einen jungen Angestellten, der sich um mich bemüht. Dafür wird es den Laden hoffentlich noch ein paar Tage lang geben, bis denn der Turbokapitalismus zuschlägt, die Mieten explodieren und ein Kettengeschäft für Souvenirs, Fast Food oder Billigklamotten einzieht. Austers Papierladen jedenfalls ist bereits am nächsten Tag vom Erdboden verschwunden, als habe er nie existiert.

Auster schreibt nahezu automatisch seine Geschichte in sein neues Notizbuch, und so kritzele auch ich meine Rezension in die frisch erworbene Kladde. Es geht um einen Schriftsteller, der eine Geschichte schreibt, die wiederum von einem Schriftsteller handelt, der ein Notizbuch erwirbt und eine Geschichte beginnt über einen Schriftsteller, der …

Im Roman des erfolgreichen US–Erzählers irrt der Leser zunächst wie in einem Spiegelkabinett umher. Austers Erzählung wird auch dadurch nicht leichter durchschaubar, dass der Verfasser seine Geschichte anfangs mit umfangreichen Fußnoten schmückt, in denen er sich erinnert, Ähnliches erlebt zu haben wie seine Figuren. Ich kann nachvollziehen, warum Leser in ihren Bewertungen schreiben, »Nacht des Orakels« spätestens nach 28 Seiten aufgegeben zu haben, weil ihnen die Handlung undurchschaubar wirr erschien. Mich hingegen zog es in die Erzählung hinein. Ich fieberte dem Handlungsverlauf entgegen und ließ mich von Austers Kunstfertigkeit berauschen.

Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und vergleichende Literaturwissenschaften an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen »Im Land der letzten Dinge« und der New-York-Trilogie. Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik. Foto: © Lotte Hansen/Rowohlt

Das große Talent des New Yorkers liegt nämlich in seiner Fähigkeit, komplexe und in sich verschachtelte Geschichten zu erzählen, die meist um den Autor als Typus kreisen und stark autobiografisch gefärbt sind. Ein wiederkehrendes Motiv ist dabei der Zufall, der nach Austers Überzeugung das Leben des Einzelnen bestimmt und ändert. Paul Auster selbst wurde mit 14 Jahren auf einem Ausflug von einem Gewitter überrascht, bei dem einer seiner Freunde vom Blitz erschlagen wurde. Seither ist er überzeugt: Unser Leben ist eine Abfolge von Zufällen.

So führt ein Blumentopf, der neben einem abendlichen Spaziergänger aus luftiger Höhe auf den Gehweg kracht, zu der Erkenntnis, dass ein Leben jeden Augenblick vorüber sein kann. Wen wundert es, wenn der Mann spontan beschließt, sein Leben zu ändern, ins nächste Flugzeug steigt, eine ihm völlig unbekannte Stadt besucht und dort mit einem Taxifahrer Freundschaft schließt, der ihm weiterhilft, als seine Frau, die fürchtet, ihr Mann sei einem Verbrechen zum Opfer gefallen und sofort seine Kreditkarten sperren lässt, ihm damit den Geldhahn zudreht und in Bredouille bringt. Dummerweise landet diese Figur auf seiner Odyssee in einem Bunker, dessen Tür hinter ihm zuschlägt und ihn damit dem Hungertod und Vergessen ausliefert.

Selbst der Autor der Geschichte, der ihn erst in diese Situation hineinschrieb, weiß keinen Rat, wie er seinen Protagonisten aus der Sackgasse befreien kann, in die er ihn durch das blaue Notizbuch gebracht hat, in dem nun seine Geschichte steht. Mindestens in vier Stockwerke hat Auster seine Geschichte verbaut, die man auch als Matroschka-Stil (Puppe in Puppe) bezeichnen könnte und direkten Bezug auf einen Gedanken in einem der schwarzen Kriminalromane von Dashiel Hammett nimmt.

Was hat es nun mit dem Haupttitel, »Nacht des Orakels«, auf sich? – Ein Manuskript gleichen Namens wird einem Lektor, der sich um das Werk der Verblichenen verdient gemacht hat, von der Enkelin der verstorbenen Autoren überreicht. Der verliebt sich in Manuskript und Enkelin und versucht, mit ihr anzubändeln. Und so schraubt sich eine weitere Geschichte in die nächste und beschert dem Leser das besondere Vergnügen, die einzelnen Fäden aufzugreifen und zu verfolgen.

Auster erzählt faszinierend und liefert ein labyrinthisches Szenario von hoher Qualität. Wer seine Krimi-Trilogie »Stadt aus Glas« kennt und schätzt, wird am »Orakel« Freude haben.

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Genre: Erzählung, Romane
Illustrated by Rowohlt

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