Satire als grandioses Vexierbild
Der siebenbändige Roman «Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentlemen» von Laurence Sterne, in der Literaturszene üblicherweise verkürzt als «Tristram Shandy» bezeichnet, löste 1759 beim Erscheinen der ersten beiden Bände einen Skandal aus. Der anglikanische Pfarrer hatte damit allerdings auch einen Jahrhundert-Roman geschrieben, dessen letzter Band 1767 erschienen war. Er wird als zeitloser Klassiker seither auch in jedem literarischen Kanon an prominentester Stelle genannt. Die erste deutsche Übersetzung erschien bereits 1774, zu den Subskribenten gehörte unter vielen maßgeblichen Autoren dieser Zeit auch Goethe, der ein großer Bewunderer des Autors war und ihn als «freiesten Geist» seines Jahrhunderts geehrt hat. Ein Jahrhundert später hat niemand geringerer als Friedrich Nietzsche Sternes Aufsehen erregende, narrative Methoden in einem Artikel ausführlich gewürdigt.
Aus wechselnden Perspektiven in einer Abfolge von einzelnen Skizzen realisiert, ist «Tristram Shandy» erzählerisch ganz unorthodox ein wildes Durcheinander ohne erkennbaren Plan. Der Roman ist ein mit gelehrsamen Gedanken üppig durchsetztes Konstrukt von Betrachtungen, Anmerkungen und Kommentaren, in dem Postulate nichts gelten. Der Autor selbst bezeichnet es an einer Stelle, den Leser direkt ansprechend, als «ein sorglos gemachtes, artiges, unsinnvolles, gutgelauntes Shandysches Buch, das allen Ihren Herzen gut tun wird. – Und auch allen Ihren Köpfen, – vorausgesetzt, Sie verstehen es!» Erzählt wird abwechselnd aus der Perspektive eines ungemein humorvollen Geistlichen namens Yorik und aus der des titelgebenden Protagonisten und Ich-Erzählers. Der will die Geschichte seines Lebens erzählen, beginnend bei seiner Zeugung, die er mit zwingender Logik sogar auf den Tag genau zu terminieren weiß. Und er erzählt auch, wie eine harmlose Bemerkung seiner Mutter den Vater dabei so irritiert habe, dass er als Krüppel geboren wurde, – als schlagenden Beweis zieht er dafür die Theorie John Lockes von der «Assoziation der Gedanken» heran.
Weiter berichtet er vom Ehekontrakt seiner Eltern, von seinem Onkel Toby und dessen Steckenpferd und Liebesabenteuern, von der Hebamme und der Art und Weise, wie diese als weise alte Frau durch Protektion des Pfarrers nachträglich auch eine offizielle Zulassung für diesen Beruf erhalten hat. Sich in Details verlierend erzählt er dann auch noch, warum der Pfarrer auf so einem armseligen Klepper herumreitet. Um schnell die weitab wohnende Hebamme herbei rufen zu können, habe man ihn immer wieder um sein rassiges, schnelles Pferd gebeten, das dabei aber oft zu Schanden geritten wurde in der Eile, er musste jedes Jahr ein neues kaufen. Weshalb er irgendwann beschlossen habe, den stolzen Gaul durch einen weniger stolzen zu ersetzen und sich an dessen gemächliche Gangart zu gewöhnen, auch wenn er sich damit nun dem Gespött aussetzt.
Der umfangreiche Roman wirkt wie das groß angelegte Vexierbild eines unkonventionellen Autors, in dem so ziemlich alles einen verborgenen Hintersinn hat, dem der Leser auf die Spur kommen muss, will er all die subtilen Botschaften darin gebührend würdigen. Weder von dem im Titel als Inhalt apostrophierten «Leben» noch von den «Ansichten» des Helden ist im Roman wirklich die Rede. Es ist vielmehr eine experimentelle Form des Erzählens, die, als «unendliche Melodie» bezeichnet, gerade davon lebt, ständig gebrochen zu werden und ins Unbestimmte abzugleiten, sich im permanent Mehrdeutigen zu verlieren, immer wieder zwischen untrennbar ineinander verwobener Posse und erstaunlichem Tiefsinn. All das ist durch eine umfassende Menschenkenntnis gekennzeichnet, die in jedem Detail durchschimmert. Gleichwohl wird der «normale» Leser kläglich scheitern, wenn er sich an einer plausiblen Deutung des «Tristram Shandy» versucht, und das besser den Literatur-Wissenschaftlern überlassen, die Veröffentlichungen dazu sind ja Legion. Man sollte diesem «freiesten Schriftsteller», wie er oft bezeichnet wurde, als nicht minder freier Leser folgen, alle narrativen Konventionen hier also einfach mal beiseite lassen und sich an den skurrilen Gedanken dieses satirischen Romans rückhaltlos erfreuen!
Fazit: erstklassig
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