Die Geheimnisse der Blutgräfin Elisabeth Báthory

Blutgräfin Báthory: „Was? Wenn so eine kleine Menge Blut die Schönheit so sehr zu steigern vermag, welche Wirkung wird erst eintreten, wenn ich mich ganz darin bade?“, soll Elisabeth Báthory laut dem Jesuitenpater László Turóczi einmal gesagt haben. Die sog. Blutgräfin wurde 1988 durch einen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde „geehrt“ und 2018 mit diesem Bildband des für mystische Fotografie bekannten Gerald Axelrod. Auf 128 Seiten zeigen 135 Abbildungen Fotografien aus der Slowakei, Österreich und Ungarn Originalschauplätze an denen sie gelebt und gewütet haben soll.

Lady Dracula aka Blutgräfin

„The World Champion Lady Vampyr of All Time“ ist einer der vielen „schmeichelhaften“ Titel, die sich die mit 650 Opfern wohl größte Serienmörderin aller Zeiten, Elisabeth Báthory (1560-1614), posthum erwarb.
„Blut“-Gräfin wurde sie deswegen genannt, weil sie angeblich im Blut der Jungfrauen gebadet habe um ewige Jugend und Schönheit zu erlangen. Sogar Bram Stocker – der Autor von „Dracula“ – soll von ihr inspiriert worden sein, schreibt Axelrod, der auch die Text zu seinem Fotobuch selbst verfasste. Die „Lady Dracula“ beging ihre ersten Morde mit 30. Aber schon mit 25 – nach dem Tode ihrer Schwiegermutter bestrafte sie ihre Diener für kleine Vergehen so streng, dass sie auch vor Folter nicht zurückschreckte. Nach dem Tod ihres Mannes – der auf Grund der Türkenkriege ohnehin schon nicht oft bei ihr weilte – veranstaltete sie dann aber regelrechte Blutorgien, bei denen sie ihre Opfer biss und ihnen auch Fleisch aus dem Gesicht riss.

Báthory: Psychogramm einer Serienkillerin

Gerald Axelrod, der sich gut mit der Quellenlage zur Gräfin vertraut gemacht hat, vermutet, dass vielleicht ein Schneewittchenkomplex für ihr abnormes Verhalten verantwortlich gewesen sein könnte. Dem widerspricht allerdings, dass sie selbst fünf Kinder hatte und sogar eine fürsorgliche Mutter gewesen sein soll. Aber wer mit 11 verlobt und mit 15 verheiratet wird, entwickelt wohl schreckliche Fantasien, um sich von der eigenen traumatischen Vergewaltigung zu befreien. Und da ihr niemand Einhalt bot, konnte sie ihr unheiliges Treiben fast zwei Jahrzehnte lang fortsetzen. Nach ihrer Verhaftung wurden 306 Zeugen befragt und die Verhörprotokolle sind bis zum heutigen Tage erhalten geblieben. Die Fotografien in diesem Buch zeigen erstmals ausnahmslos alle Burgen, Schlösser und Orte, an denen sich die Blutgräfin nachweislich aufgehalten hat und das noch dazu in Farbe im Großformat 30,0 x 24,0 cm. Eine Karte sowie ein Quellenverzeichnis schließen diesen prächtigen Fotoband ab.

Gerald Axelrod
Die Geheimnisse der Blutgräfin Elisabeth Báthory
Ihr Leben mit Fotografien aus der Slowakei, Österreich und Ungarn
2018, 128 Seiten, 135 Abbildungen, Hardcover Schutzumschlag, Format: 30,0 x 24,0 cm
Stürtz Verlag Reihe MYTHEN & LEGENDEN
ISBN-13: 978-3-8003-4603-5
19,95 €


Genre: Bildband, Fotografie, Geschichte, Legenden, Mythen
Illustrated by Stürtz

Überlebenskünstler

Club der toten Dichter

Er ist durch seine Lyrik bekannt, gilt in Deutschland als politisch engagierter Intellektueller, der sich auch vielseitig essayistisch betätigt, nun hat der unermüdliche Hans Magnus Enzensberger mit «Überlebenskünstler» ein neues Buch mit dem Untertitel «99 literarische Vignetten aus dem zwanzigsten Jahrhundert» vorgelegt. Ein Blick in den Klappentext macht neugierig, wird doch dort eine «Blütezeit von Schriftstellern» heraufbeschworen, die Aufmerksamkeit des Autors gelte exklusiv all jenen, die dieses durch unsäglichen Staatsterror geprägte Jahrhundert überlebt haben.

Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis offenbart, dass es sich hier um eine Art «Club der toten Dichter» handelt, außer dem albanischen Schriftsteller Ismail Kadare sind alle tot. Warum nun ausgerechnet «dieser undurchsichtige Mensch», dessen missratenen Roman «Die Dämmerung der Steppengötter» der Autor unerklärlicher Weise «nicht in die Ecke warf», als einzige Ausnahme hinzugefügt wurde, bleibt selbst ihm ein Rätsel. In seinem mit «Absicht, Mängel und Haftungsausschluß» betitelten Vorwort erklärt Enzensberger seine Vorgehensweise: «Wer kein Historiker ist, kann und muss kein Kompendium liefern und keine unanfechtbaren Beweise führen. Er darf sich an einen subjektiven Erzählton und an eine subjektive Auswahl seiner Beispiele halten». Und so wird denn auch das chronologisch nach Geburtsdatum angelegte Inhaltsverzeichnis selbst einigermaßen belesene Literaturfans ernüchtern, denen etliche Namen noch nie begegnet sind. Ungeklärt bleibt auch, warum denn die Selbstmörder, von denen es ja genug gab unter den Literaten, allesamt ausgeklammert sind. Das Kapitel über Ingeborg Bachmann beginnt denn auch prompt mit dem rechtfertigenden Satz: «Es war kein Selbstmord», – ansonsten hätte er bei dieser Lyrik-Ikone bestimmt eine Ausnahme gemacht.

Dem Buchtitel entsprechend arbeitet der Autor bei den Vignetten seiner literarischen Heroen insbesondere auch deren Lebensumstände in Hinblick auf die politischen Verwerfungen dieses kriegsgebeutelten Jahrhunderts heraus. Weil die aber nicht immer lebensbedrohlich waren, sich manchmal sogar als äußerst kommod herausstellten, taugt der durch den Buchtitel vorgegebene Begriff «Überlebenskünstler» kaum als narrative Klammer, wie es das Vorwort postuliert. Es gibt sogar etliche Vignetten, in denen dieses Thema gar nicht berührt wird. Überhaupt schert sich Enzensberger weder um Systematik noch um Plausibilität, er erzählt unbekümmert in einem angenehm lesbaren Plauderton kurz und prägnant von seinen verstorbenen Kollegen, wobei man viele hochinteressante Details über sie erfährt. Was deren literarischen Qualitäten anbelangt, so nimmt er kein Blatt vor den Mund, manches Buch und mancher Schriftsteller wird da harsch kritisiert oder auch unverblümt verrissen, Elias Canetti oder Henry Miller seien als Beispiele genannt.

Ganz typisch für seine Chuzpe ist es, wenn er bei der Vignette über Ilse Aichinger von einer literarischen «Clique» schreibt, «der ziemlich überschätzten Gruppe 47», – er selbst war ja lange genug dabei. Am besten aber sind die persönlichen Begegnungen des Autors mit einer Reihe berühmter Kollegen, über die hier – nicht ganz uneitel – berichtet wird, es gibt zudem viele erbauliche Anekdoten und manche Insider-Information in diesem literarischen Kompendium. Es gibt aber auch scharfsinnige Kritik an der Haltung einiger Kollegen, viele waren korrumpierbar, politisch unzurechnungsfähig oder einfach «nicht ganz dicht». Jeder dieser ebenso augenzwinkernd wie pointiert verfassten, kolumnenartigen Kurztexte ist amüsant zu lesen, sie wollen weder ästhetische Analyse noch kontemplatives Lehrstück sein. Ob sich diese Lektüre lohnt, ist leider schwer zu beantworten. Eine erfreuliche Bestätigung eigener Belesenheit ist es allemal, wenn man schließlich doch auf etliche bekannte Autoren trifft, – andere, aus heutiger Sicht randständige Schriftsteller hingegen harren ihrer Entdeckung durch mutige Leser.

Fazit: mäßig

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Genre: Sachbuch
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Die allertraurigste Geschichte

Subversive Erzählweise

Der englische Schriftsteller Ford Madox Ford hat mit seinem 1915 erstmals erschienenen Roman «The Good Soldier» unbestritten ein kanonisches Werk von weltliterarischem Rang geschaffen, auf Deutsch erschien es unter dem Titel «Die allertraurigste Geschichte» erst im Jahre 1962. Ein verkanntes Meisterwerk, dem nie ein besonderer Erfolg beschieden war, das allerdings über mehr als hundert Jahre auch nie in Vergessenheit geriet. Es wurde immer wieder neu übersetzt, was ein anhaltendes Leserinteresse anzeigt und diesen Roman als zeitlosen Klassiker ausweist. Ein perfekter Roman, wie seine schreibenden Kollegen unisono meinen, ohne dass der Autor deshalb ein elitärer «writer’s writer» ist, der die Erwartungen der Leserschaft schnöde ignoriert.

Das amerikanische Ehepaar John und Florence Dowell lernt 1905 bei der Kur in Bad Nauheim das englische Ehepaar Edward und Leonora Ashburnham kennen, sie werden beste Freunde. Der arglose Ich-Erzähler Dowell berichtet aus der Erinnerung heraus naiv, geradezu blauäugig, über die neun scheinbar glücklichen Jahre miteinander, die beiden Paare aus den besten Kreisen besuchen sich gegenseitig und unternehmen zusammen Reisen, – bis es zur Katastrophe kommt. Nach dem Suizid seiner Frau entdeckt er, dass sie ihn viele Jahre lang mit Edward betrogen hatte, was dessen Frau Leonora wusste und geduldet hat. Der von ihm grenzenlos bewunderte Edward, ein gutaussehender Mann, untadeliger Soldat, vorbildlicher Gutsbesitzer und selbstloser Menschenfreund, ist eben auch ein erfolgreicher Schürzenjäger. Und Florence, seine Geliebte, hatte schon vor der Ehe einen Liebhaber unter den Bediensteten, sie hat ihren arglosen Mann von Anfang an schamlos betrogen, – und ihre Ehe wurde auch nie vollzogen! Für die streng katholische Leonora ist eine Scheidung unvorstellbar, sie vertuscht des Skandals wegen die Liaison der beiden Ehebrecher, wie sie immer schon alle Eskapaden ihres treulosen Mannes verheimlicht hat. Nur scheibchenweise erfährt der Leser, dass Florence aus Eifersucht Selbstmord begangen hat und nicht, wie ihr Mann glaubt, an Herzversagen starb, und dass Edward sich am Ende die Kehle durchschneidet, weil er sich nach einem jungen Mädchen verzehrt, seinem Mündel, das seinen Ehrbegriffen nach aber unerreichbar bleibt für ihn.

Was hier als banaler Plot skizziert wurde, ist im Roman ein diffiziles Spiel mit raffinierten Vor- und Rückblenden, häufigen Perspektivwechseln und ständigen Halbwahrheiten eines überaus naiven Erzählers, der seinen Vornamen im Buch nur einmal erwähnt und selbst kaum in Erscheinung tritt. Ein Gehörnter, der mit seiner ans Dümmliche grenzenden Unbedarftheit die Untreue seiner Frau einfach nicht erkennt, andererseits aber fast schon homoerotisch Edward bewundert. Das für diesen Roman markante Stilmittel ist der unzuverlässige Erzähler, der hier extensiv eingesetzt wird und den Leser oft auch direkt anspricht, ihm rhetorische Fragen stellt. Somit bindet er ihn mit ein in die Entstehung seiner Erzählung, offenbart ihm auch seine angeblichen Wissenslücken und Irrtümer, man ist als Leser beim Erinnerungs- und Schreibprozess quasi dabei.

«Ich weiß, ich habe die Geschichte in einer sehr weitschweifenden Weise erzählt», bekennt der eher unbeteiligt erscheinende Ich-Erzähler im vierten und letzten Teil seiner grotesken Geschichte der Täuschungen, Lügen, Selbstentlarvungen, Desillusionierungen, viktorianischen Standesdünkel und verlogenen Etikette. Es ist die hier zum Prinzip erhobene Unbestimmtheit, der fehlende rote Faden, der diese Story so verstörend macht für den arglosen Leser, in der nie etwas ist, wie es scheint, in der «ich weiß nicht» eine der häufigsten Phrasen ist. Schamhaft angedeuteter Sex, Religion und Geld sind die dominanten Themen dieser an Widersprüchen reichen Geschichte, die in einem trügerischen Plauderton erzählt wird. Nicht der Plot ist hier dominant, sondern die ironische, geradezu subversive Erzählweise eines kreativen Könners.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes

Buenos Aires literarisch

Buenos Aires. Eine literarische Einladung: Timo Berger hat für den vorliegenden literarischen Spaziergang Autorinnen und Autoren ausgewählt, die sämtlich in Buonos Aires geboren oder beheimatet sind. Für Wagenbach hat Timo Berger auch Anthologien zu argentinischer und brasilianischer Literatur herausgegeben. Die vorliegenden Ausschnitte aus längeren Texten stammen aber natürlich von jeweils anderen Übersetzern.

Die Stadt der Gegensätze

Buenos Aires das ist Tango, Fußball, die höchste Psychoanalytiker-Dichte der Welt und: …Cartoneros. Die Müllsammler von Buonos Aires fingen nach der Krise von 2001 damit an, Kartons und Papier zu sammeln und wurden bald zum bleibenden Symbol der krisengeschüttelten argentinischen Hauptstadt. Drei Millionen leben in ihr und 12 Millionen um sie herum. Denn die Viertel der Mittelschicht werden von den Marginalisierten in ihren Villas Miserias quasi umzingelt, wie Martín Caparrós in seinem Beitrag, „Die bedrückte Stadt“, schreibt. Auch der Himmel habe sich verdunkelt, denn eine Menge Kabel, durch die gestohlener Strom fließt, hängen über den Gassen der Elendsviertel. Die nach Fett riechende Luft, das Geschrei der Verkäufer und der Lärm der Cumbias und anderer in den Villas populärer Lieder erfreut aber alle „porteños“ – ob arm oder reich. Aber vielleicht gibt es ja bald Roboter. Nur wohin dann mit den Armen, frägt der Autor provokant?

Die Farben der Avenida Corrientes

Robert Arlt beschreibt eine lebendige Straße, die Corrientes, bei Nacht, „die Straße des Tangos, der Schwärmerei; Straße, an die sich bei Tagesanbruch bläulich färbt und dunkel wird, weil ihr Leben nur im künstlichen Methylenblau, Kupfersulfatgrün und Pikrinsäurengelb möglich ist“. Auch Gabriela Cabezón Cámara schwärmt von ihrem Viertel, kämpft sie als Hausbesetzerin doch für den Erhalt der alten Bausubstanz und die Schönheit des ursprünglichen Buenos Aires, das nicht umsonst übersetzt „gute Luft“ bedeutet. Ob es ein Fehler war, frägt sich wiederum Martín Kohan in seinem Beitrag mit dem Titel „Der Fehler“. Seine Geliebte verlässt ihn Richtung Uruguay mit einem Schiff, das in einer knappen Stunde Fahrzeit das andere Ufer erreicht. Der Protagonist leidet so sehr unter seiner Sehnsucht, dass er sich den Nordwind herbeisehnt, der selbst den Río de la Plata (den Fluss aus Silber) trocken legt. Aber was tun, wenn man mit den Füßen mitten im Schlamm des Flussbettes feststeckt und die Flut wieder zurückkommt?

Europa in Lateinamerika

Buenos Aires hat für alle etwas zu bieten. Europa und Lateinamerika treffen sich hier wie nirgends anders: Das Spanische klingt hier italienisch; englische, polnische oder deutsche Namen sind so häufig wie Empanada-Stände neben eleganten Kaffeehäusern und Art-déco-Gebäuden nach Wiener oder Pariser Vorbild. Wer die vorliegende „literarische Einladung annimmt“, erlebt eine lebhafte linke Protestkultur und frenetische Fußballfans, die bildschönen Buchhandlungen auf der Avenida Corrientes oder den Schelmenroman eines Hausmeisters und das intime Tagebuch eines Flaneurs.

Mit zahlreichen erstmals ins Deutsche übersetzten Texten von César Aira, Roberto Arlt, Jorge Luis Borges, Martín Caparrós, Julio Cortázar, Gabriela Cabezón Cámara, Leila Guerriero, Pola Oloixarac, Alan Pauls, Ricardo Piglia, Samanta Schweblin, Tamara Tenenbaum u.v.a.m.

 

Timo Berger (Hg.)
Buenos Aires
Eine literarische Einladung
SALTO [245]. 2019
144 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet. Gebunden mit Schildchen und Prägung
18,– €
ISBN 978-3-8031-1344-3
Wagenbach Verlag


Genre: Literatur, Reiseführer
Illustrated by Wagenbach

Kann man Bücher lieben?

Expertise eines Insiders

Gleich im ersten Satz beantwortet der bekannte Literaturkritiker Hubert Winkels die im Titel seines Buches gestellte Frage mit einer Anekdote: «Die Frage ‹Lieben Sie Deutschland?› hat der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann gewitzt beantwortet mit ‹Ich liebe meine Frau›», – Punktum! Was folgt sind die auch noch in zwei weiteren Kapiteln beschriebenen Nöte vom studentischen «Bücher-Junkie» bis zum etablierten Buchkritiker, der an seinen auf inzwischen 15.000 bis 20.000 Exemplare angewachsenen Büchern – so genau weiß er es nicht – zu ersticken droht. Solcherart beschönigend Bibliophilie genannte Sammelwut lässt den Verdacht aufkommen, dass vieles davon nie gelesen wurde, – und genau das wird vom Autor sogar ausdrücklich bestätigt. Die ihm bei einer Wohnungsauflösung überraschend zugefallenen etwa 5.000 Bände hat er zehn Jahre später bei einem Umzug allesamt ungelesen in seine neue Wohnung transportiert. Als jemand, der ausschließlich am Inhalt von Büchern interessiert ist, stellen sich mir die Haare zu Berge angesichts solcher Exzesse, die nichts mehr mit der Liebe zum Buch zu tun haben. Vor zweitausend Jahre schon hat Seneca dergleichen am Beispiel der Bibliothek von Alexandria recht zynisch kommentiert.

Das in zehn Abschnitte unterteilte Buch beginnt mit einem Kulturstreit der literarischen «Emphatiker und Gnostiker», ein 2006 unter diesem Titel in der ZEIT erschienener Beitrag von Hubert Winkels löste damals eine kontroverse Diskussion aus. Der Kernsatz darin lautet: «Die Emphatiker des Literaturbetriebs, die Leidenschafts-Simulanten und Lebens-Beschwörer ertragen es nicht länger, dass immer noch einige darauf bestehen, dass Literatur zuallererst das sprachliche Kunstwerk meint, ein klug gedachtes, bewusst gemachtes, ein formal hoch organisiertes Gebilde, dessen Wirkung, und sei sie rauschhaft, von sprachökonomischen und dramaturgischen Prinzipien abhängt». Wie wahr! Im Folgenden berichtet der bekennende Gnostiker Hubert Winkels über Kritiker und vergleicht kenntnisreich die beiden großen Alfreds der Kritik, Alfred Kerr und Alfred Polgar, mit der Literaturkritik von heute. Nach einem etwas irritierenden, in einem Buch mit dem Untertitel «Vom Umgang mit neuer Literatur» ziemlich deplazierten Abschnitt über Malerei kommt das, was Leser wie mich am meisten interessiert, – der Abschnitt mit einigen Porträts exemplarischer Schriftsteller.

Sie beginnen mit Alexander Nitzberg, gefolgt von Klaus Modick, Martina Hefter, Katharina Faber, Feridun Zaimoglu und Norbert Scheuer. Sodann folgen Betrachtungen zum gesprochenen Roman am Beispiel von Peter Kurzeck, zur Bedeutung der Lyrik, zu Archiven, Buchpreisen und Lesespuren im Buch, die der Orientierung dienen sollen. Literatur und Arbeit, Literatur als Suchtstoff, Lesungen und natürlich die Literaturkritik sind weitere Themen, über die Hubert Winkels aus eigenem Erleben heraus kenntnisreich berichtet. In vier Abschnitten findet man ferner Rezensionen von deutschen, US-amerikanischen, britischen und japanischen Büchern, gefolgt von Reiseberichten.

Alles in allem ist dies ein äußerst informativer Querschnitt durch das literarische Schaffen des mit dem renommierten Alfred-Kerr-Preis ausgezeichneten Literaturkritikers, der dem Leser hier einen Blick über den Buchdeckel hinaus ermöglicht. Damit stimmt er in das Credo von Heinz Schlaffer ein, der dafür plädiert, sich über das reine Lesen hinaus auch mit dem kulturellen Umfeld der Literatur zu beschäftigen. Und wie oben beim Emphatiker/Gnostiker-Streit zitiert, weist Hubert Winkels damit dem literarischen Buch im engeren Sinn beharrlich und unbeirrt seinen Rang ausschließlich mit Hilfe objektiver Kriterien zu, die über eine rein subjektive, also empathische Rezeption und Kritik deutlich hinausgehen müssen. Die Expertise dieses literarischen Insiders macht seine Sammlung von auch einzeln zu lesenden Texten zum Thema Buch zu einer überaus bereichernden Lektüre.

Fazit: erfreulich

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Genre: Sachbuch
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Die Blütezeit der Miss Jean Brodie

Zweimal jährlich

Der berühmteste Roman der als Knight Commander des Order of the British Empire hoch geehrten schottischen Schriftstellerin Muriel Spark trägt den Titel «Die Blütezeit der Miss Jean Brodie». Im Jahre 1961 erstmals erschienen, ist er als Klassiker der englischsprachigen Literatur einhellig in den Top-Hundert-Listen von BBC, ‹Guardian› und ‹Time› vertreten, natürlich auch erfolgreich verfilmt und fürs Theater und Fernsehen adaptiert. Nun ist eine deutsche Neuübersetzung erschienen, mit einem informativen Nachwort der Autorin Candia McWilliam, die darin bekennt: «Seit ich zehn geworden bin, lese ich dieses Buch jedes Jahr zweimal». Grund genug also, es auch zu lesen, – wenigstens einmal!

Jeder, der den Spielfilm «Der Club der toten Dichter» gesehen hat, wird schon nach wenigen Buchseiten eine Gemeinsamkeit feststellen: Für beide Lehrerfiguren ist gleichermaßen die Entwicklung ihrer Schüler zu einem selbständig denkenden und selbstbewusst handelnden Menschen oberstes Unterrichtsziel. Mit dieser unbotmäßigen Abweichung von einem stupiden Lehrplan sind die Konflikte schon vorgezeichnet. Wie John Keating im Film ist auch Jean Brodie im Roman eine charismatische Lehrerin, – «in der Blütezeit ihrer Jahre», wie sie immer wieder betont -, deren anfangs zehnjährige Schülerinnen sie einem Guru ähnlich verehren. Sechs von ihnen bilden als Brodie-Clique den eingeschworenen, elitären Kern ihrer Schülerinnen und genießen eine besonders intensive Förderung durch diese unkonventionelle, junge Lehrerin, die sie euphorisch als ‹Crème de la crème› der Schule bezeichnet. Der in Edinburgh angesiedelte Plot beschreibt, beginnend 1931, die unterschiedliche Entwicklung dieser sechs Mädchen und ihren weiteren Lebensweg nach der Schulzeit, der auch dann noch eng mit Miss Brodie verknüpft bleibt und sogar deren Liebesleben mit einbezieht. Zum Verhängnis wird der unkonventionellen Lehrerin schließlich ihre Bewunderung für den Faschismus, mit einem Führer, den sie auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch, total verharmlosend, lediglich als «ungezogen» bezeichnet. Denn auch sie fühlt sich als unumschränkte Führerin der Brodie-Clique, die sie selbstherrlich, allein nach ihren Vorstellungen, in ein ihren Fähigkeiten entsprechendes, erfülltes Leben hinaus zu führen gedenkt.

Natürlich ist der sprichwörtliche britische Humor ein tragendes Element dieses Romans, Muriel Spark zieht dabei alle Register, man kommt als Leser aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus und muss oft auch laut auflachen. Da erscheint den Mädels dann der Kölner Dom auf einem Foto als «Hochzeitstorte» im Vergleich mit den eher kargen heimischen Kirchenbauten. Ein köstliches Beispiel ist auch der Abschiedbrief von Jean Brodie an ihren Liebhaber, den Musiklehrer, der mit den Worten schließt: «Gestatte mir zum Abschluss, Dir von Herzen sowohl zu Deinem Geschlechtsverkehr als auch zu Deiner Sangeskunst zu gratulieren». Derart unverblümt direkt und trocken wird hier punktgenau und virtuos, in lapidar kurzen Sätzen, durchaus auch Tragisches beschrieben. Die Brodie-Clique ist dem Schicksal ebenso gnadenlos ausgeliefert wie ihre Lehrerin, der ihre faschistische Einstellung dann letztendlich zum Verhängnis wird. Als eines der Mädchen, die ins Kloster gegangen ist, am Ende gefragt wird, was sie in ihrer Schulzeit denn am meisten beeinflusst habe, lautet die Antwort im letzten Satz des Romans: «Es gab da eine Miss Jean Brodie in der Blüte ihrer Jahre».

Diese auktorial erzählte Geschichte entwickelt mit ihren gekonnt platzierten Zeitsprüngen einen Lesesog, dem man sich kaum entziehen kann. Besonders die immer wieder eingebauten Vorausblenden auf das Schicksal der einzelnen Figuren baut Spannung auf, man will wissen, wie es dahin gekommen ist, und vor allen Dingen, warum. Mit seiner hoch verdichteten, lässigen und amüsanten Erzählweise ist dieser Roman ein Klassiker, den zu lesen sich wirklich lohnt, – für Anglophile vielleicht sogar zweimal jährlich.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes

Abtrünnig

Furor teutonicus

Es ist der unversöhnliche Blick auf die Welt, der das Œuvre von Reinhard Jirgl kennzeichnet und auch in seinem Roman «Abtrünnig» am Beispiel Berlin die ‹Zumutung des Menschseins› entlarvt. Die Befindlichkeiten seiner aus den Parallelwelten DDR und BRD stammenden Protagonisten spiegeln dabei in einem an Döblin erinnernden Großstadtroman die hasserfüllt beschriebene Gesellschaft der als unmenschlicher Moloch beschriebenen Metropole zu Beginn des dritten Jahrtausends. Subversiv im Sujet und poststrukturalistisch im Duktus, fordert dieser hoch artifizielle Roman ungewöhnlich viel Ausdauer und Geduld von seinen Lesern, bereichert sie andererseits aber auch mit der radikalen Sicht eines stilistischen äußerst eigenwilligen, ‹abtrünnigen› Einzelgängers der anspruchsvollen deutschen Gegenwarts-Literatur.

Unter dem skeptischen Diktum «homo homini lupus» erzählt Reinhard Jirgl von einem Bauernsohn, der dem dörflichen Leben den Rücken kehrt, als freier Journalist nach Hamburg geht, dort seine große Liebe Elisabeth findet, sie heiratet und nach zwölfjähriger Ehe geschieden wird. Daraufhin verfällt er dem Alkohol, verliebt sich in seine verheiratete Therapeutin Sophia und folgt ihr dann für einen neuen Anfang nach Berlin, wo er sich nun auch als Schriftsteller versucht. Die deutsche Hauptstadt ist zudem der Fluchtpunkt für einen ehemaligen NVA-Grenzer, der in Frankfurt an der Oder beim Bundesgrenzschutz arbeitet und der jungen Valentina aus der Ukraine selbstlos bei ihrer illegalen Einreise in den Westen hilft, – er will einfach nur Gutes tun. Beide Beziehungen aber scheitern kläglich, Sophia kehrt aus purem Opportunismus zu ihrem wohlhabenden Ehemann und ihrem italienischen Zweit-Lover zurück, Valentina verdingt sich Mata-Hari-artig als Callgirl und spioniert für mafiöse Auftraggeber reiche Geschäftsleute aus.

Der hier kurz skizzierte Plot, zeitlich Anfang des neuen Jahrtausends angesiedelt, zur Zeit der maßlosen Hauptstadt-Hysterie also, ist mit seinen ineinander verschränkten Handlungsfäden nur das lose Stützgerüst für ein breit angelegtes, soziologisches Panorama der Großstadt. Es ist eine sarkastische, oft auch ausgesprochen verächtliche und zynische Abrechnung mit den gesellschaftlichen Moralvorstellungen und ökonomischen Bedingungen in der Metropole. Hartnäckig widersetzt sich diese überreich mit essayistischen Einschüben und wechselseitigen Verweisen angereicherte Prosa jedwedem Konsens, sie ist in weiten Teilen eine unversöhnliche, frustgeprägte Hasstirade auf eine zutiefst verachtete Gesellschaft und ihre sozialen Verwerfungen. Dabei steht stilistisch der innere Monolog im Vordergrund, ergänzt durch traumartige Sequenzen und tief gründende, psychologische Reflexionen. Sprachlich benutzt Reinhard Jirgl dazu seine ureigene Diktion aus lautmalerischer Schreibweise und einer sehr eigenwilligen Zeichensetzung, die allen Konventionen widerspricht, an die man sich aber überraschend schnell gewöhnt als Leser. Damit wird eine verblüffende, eigenständige narrative Wirkung erzeugt, die überaus eingängig der Alltagssprache entspringt und damit schon fast körperliche Nähe schafft. Der Erzähler dabei ist laut Jirgl ein «gleitendes Ich», mit häufigen perspektivischen Wechseln in mehreren Ebenen entwickelt sich so ein nicht immer leicht zu durchschauendes, narratives Geflecht.

Der Lebensekel, hervorgegangen aus dem totalen Scheitern, von dem allein in dieser wütenden, apokalyptischen Streitschrift die Rede ist, dieser hoffnungslose Blick in die Abgründe des Menschseins also, ist natürlich keine Lektüre für Genussleser. Deutlich zu leicht macht es sich der misanthropische Autor, wenn er die beiden Frauenfiguren als Sirenen darstellt, die mit ihren Verführungskünsten die Männer in den Abgrund locken. Gleichwohl aber ist es dem Büchnerpreisträger von 2010 gelungen, in seinem «Roman aus der nervösen Zeit» die Bestie Mensch mit seinem ‹Furor teutonicus› unerbittlich als wahres Monster zu enttarnen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

The New West

The New West in Leinen-Postkarten

The New West: Die Eroberung des Amerikanischen Westens fand auch mittels „sanfter Propaganda“ statt. Die vorliegende Publikation aus dem renommierten Verlagshaus Hirmer reproduziert auf 304 Seiten 500 ausgewählte Leinen-Postkarten aus dem Amerika der 1930er- bis 50er-Jahre in unvergleichlichem Detailreichtum. Das Buch ist in die Kapitel Innovation, Landscape (Landschaft), Infrastructure, Architecture und Entertainment gegliedert.

Vier Wellen der Innovation

Die Postkarten – teilweise in Übergröße, teilweise en miniature – zeigen in lebendig wirkenden, farbintensiven Bildern die moderne Infrastruktur, technische Innovation und aufsehenerregende Architektur sowie neu entwickelte Freizeitvergnügen des sogenannten „Westens“, wie ihn schon lange niemand mehr sehen konnte. Die Publikation des Hirmer Verlages illustriert den Amerikanischen Westen, wie er sich mit seinen atemberaubenden Landschaften innerhalb von nur 200 Jahren zu einer modernen Region mit Städten, Parks, Mobilität, Infrastruktur und Kommunikation entwickelte. Strukturiert werden die Leinen-Postkarten nach den vier Phasen der grundlegenden Veränderung: Dampf, Stahl, Öl, Information (die „four waves of innovation“, wie ein Graphik betitelt ist). Denn längst wurde Silicon Valley zum Synonym des Westens oder zumindest Kaliforniens und zählt somit zu den modernsten Regionen der Welt.

The New West in Leinen-Postkarten

„Vista of San Francisco, from Twin Peaks Blvd.“ Leinen-Postkarten, die sich durch ihre leuchtende Farbigkeit und besondere Oberflächenstruktur großer Beliebtheit erfreuten, stellen heute eine eigene, populäre Kunstform aus Fotografie, Malerei und Massendruck dar und werden als solche nach und nach wiederentdeckt. Der Titel der ersten in vorliegendem Band abgebildeten Leinen-Postkarte zeigt ein San Francisco, das sich schon 1934 vom Twin Peaks Boulevard und Telegraph Hill über die zentrale Market Street bis hin zum pazifischen Ozean resp. der Bay Area erstreckte. Der Band NEW WEST präsentiert weitere 499 dieser wertvollen Postkarten aus der Wagener-Erganian Sammlung, begleitet von fundierten Texten über die Entwicklung des Landes sowie den dargestellten Motiven.

Wolfgang Wagener & Leslie Erganian
New West
Kunstwerke der besonderen Art: 500 wertvolle Leinen-Postkarten visualisieren die Entwicklung des Amerikanischen Westens
2019, Hardcover, Farbe, 305 Seiten
49,90 € [D] | 51,30 € [A] | 60,90 SFR [CH]
ISBN: 978-3-7774-3189-5
Hirmer Verlag


Genre: Bilderbuch, Postkarten
Illustrated by Hirmer

Antonin Artauds Zeichnungen

Dem Schriftsteller, Schauspieler, Regisseur Antonin Artaud (1886–1948) wird im vorliegenden Band u.a. in einem begleitenden Text vom Dekonstruktivsten Jacques Derrida und auch der Nachlassverwalterin und Herausgeberin Paule Thévenin in ihrer Einführung den historisch-biographischen Entstehungsbedingungen von Artauds zeichnerischem Werk gehuldigt. Die insgesamt 62 Farbtafeln und 58 Farb- und Duotone-Abbildungen sind im Format 19 x 24 cm und stammen entweder von Artaud selbst oder von Fotografen und Zeitgenossen wie Man Ray.

Artaud als Zeichner

Artaud als Zeichner

„La vie est un songe“ (Das Leben ist ein Traum) hieß ein Theaterstück von Calderon de la Barcas, bei dessen Inszenierung Artaud die Kostüme entwarf. Aber sein Leben war alles andere als ein Traum, verbrachte Artaud doch ab 1937 immer wieder seine knapp bemessene Zeit (er wurde nur 62 Jahre alt) in verschiedenen Irrenanstalten. Es wurde Schizophrenie diagnostiziert und deswegen kam es zu jahrelangen Behandlungen mit Elektroschocks, Lithium, Insulin, Quecksilber- und Wismutpräparaten. Erst 1946 wurde er durch das Engagement von Freunden aus dem Asile d’aliénés de Paraire, einer Anstalt in Rodez, entlassen. Er schrieb in den letzten zwei Jahren vor seinem Tod noch das für das Radio erarbeitete Stück „Pour en finir avec le jugement de dieu“ (Schluss mit dem Gottesgericht) und hielt an der französischen Eliteuniversität Sorbonne einen Vortrag gegen die Psychiatrie.

Artaud, Prophet wider Willen

Artauds Zeichnungen sind „Ausdruck halluzinatorischer Hellsichtigkeit, eines magisch-transzendenten Körperbewusstseins und psychischer wie physischer Leidensfähigkeit“, meinen die Herausgeber und bis heute seien dies ja auch die Komponenten der sogenannten „wilden“, subjektiven Malerei. Artaud war vielleicht so etwas wie ein Prophet derselben. Genauso wie seine Worte, seien auch diese (seine) Zeichnungen „gehaucht“, wie er es selbst so unverwechselbar ausdrückt: „Sie sind schlicht und einfach in der Reproduktion/einer magischen Geste auf dem Papier,/ einer Geste, die ich/in dem wahren Raum/ausgeführt habe/mit dem Hauch meiner Lungen/und meinen Händen,/ mit meinem Kopf/und meinen zwei Füßen/mit meinem Rumpf und meinen Arterien“.

Die einzelnen „sorts“ (Lose), wie er seine Zeichnungen nannte, sind in vorliegender Publikation jeweils auf der rechten Seite abgebildet, während auf der linken ein paar Erklärungen zur Entstehung und dem Format hinzugefügt werden. Ein unvergesslicher Einblick in eine ganz eigene Welt, der man sich schwer entziehen kann.

 

Antonin Artaud

Zeichnungen und Portraits
Übertragen aus dem Französischen von Simon Werle
Herausgegeben von Paule Thévenin. Mit Texten von Paule Thévenin und Jacques Derrida.
2019, 256 Seiten, 62 Farbtafeln und 58 Farb- und Duotone-Abb. Format: 19 x 24 cm, gebunden. Deutsche Ausgabe
ISBN: 9783829607759
Schirmer/Mosel
39.80€


Genre: Surrealismus, Theater, Zeichnungen
Illustrated by schirmer/mosel

Johann Holtrop

Literarische Abrissbirne

Der 2012 erschienenen Roman «Johann Holtrop» von Rainald Goetz mit dem Untertitel «Abriss der Gesellschaft» ist in Feuilleton und Leserschaft zumeist ablehnend kommentiert worden, obwohl er mit seiner Thematik eigentlich hochaktuell war und ist. Es geht darin nämlich um Machtgier und Geldgier eines deutschen Topmanagers, für den Thomas Middelhoff literarisch Pate gestanden hat, der seinerseits erst vor wenigen Tage im FAZ-Interview beschönigend von «Gier nach Anerkennung» gesprochen hat. Der Protagonist des Romans, der sich selbst restlos überschätzt und am Ende kläglich scheitert, ist der Prototyp eines skrupellosen Wirtschaftsbosses. Zusätzlich hat der Autor für seine Geschichte noch Dutzende kaum kaschierter realer Figuren herangezogen, und tatsächliche Geschehnisse ebenfalls. Der Büchner-Preisträger von 2015 erreicht mit seiner hasserfüllten Entlarvung des Raubtier-Kapitalismus aber wohl kaum die davon unmittelbar betroffene Gesellschaftsschicht eines Millionenheeres von Habenichtsen. Denn denen geht eben nicht das sprichwörtliche «Messer in der Tasche» auf angesichts von Bonuszahlungen und Abfindungen in Millionenhöhe an offensichtlich unfähige Bosse, die eine krachende Insolvenz hingelegt haben. Mehr als ein Pfeifkonzert vor der Firmenzentrale findet da nie statt, und erst recht wollen sie nicht durch einen Roman daran erinnert werden.

In drei Teilen schildert der Autor die Karriere des charismatischen Topmanagers Johann Holtrop, beginnend im November 2001 auf dem Höhepunkt seiner Macht als 48jähriger Chef eines deutschen Medien-Konzerns mit weltweit 80.000 Mitarbeitern, und endend mit seinem Absturz neun Jahre später. In einem für den Leser absolut undurchsichtigen Konzerngeflecht agiert der Big Boss nach Gutsherrenart, jettet im Firmenflugzeug durch die Welt und hält sich in seinem Größenwahn für den Einzigen, der all die komplizierten Verflechtungen im Konzern und die globalen ökonomischen Einwirkungen auf die Geschäfte wirklich versteht und adäquat zu reagieren weiß. Seine Mitarbeiter in der Chefetage sind für ihn allesamt unfähige Idioten, und so beginnt die Geschichte dieses durchgeknallten Machertypen auch gleich mit dem fristlosen Rausschmiss eines langjährigen Topmanagers, den er für total unfähig hält und der sich daraufhin das Leben nimmt. Es macht wenig Sinn, hier beschreiben zu wollen, was in dem Roman passiert, denn in weiten Teilen wiederholt sich das immergleiche, undurchsichtige Gerangel der dutzenden Manager und Geschäftspartner, die Rainald Goetz alle namentlich auftreten lässt, auch wenn nur wenige davon dauerhaft eine Rolle spielen.

Konferenzen, Reisen, Hotels, gesellschaftliche Veranstaltungen, Vorträge und unzählige Telefonate in einem kaum nachvollziehbaren Poker um Kompetenzen und Strategien bestimmen das den Leser schnell ermüdende Geschehen. Das Private ist praktisch komplett ausgeblendet, die Politik ebenfalls, auch das Psychologische interessiert hier nicht, allein das Business steht im Fokus. Dabei fällt auf, dass der Autor fröhlich schwadronierend puren ökonomischen Nonsens einbaut in Form sinnfreier Wortschöpfungen, die man wohlwollend als lustige Einsprengsel in seine ansonsten wutschnaubenden Hasstiraden ansehen könnte. Der denunziatorische Text ist andererseits aber mit ebensolchen, dann allerdings ganz unlustigen Neologismen und Komposita regelrecht gespickt, mit «Überlängenhöchstwahrscheinlichkeit», wie Sprachguru Bastian Sick das treffend formuliert hat, – hier das typische Stilmittel. «Die Autos standen stehend fest» gehört ebenso zu den vielen sprachlichen Blüten dieses Romans.

Der gehässig beschriebene, tiefe Fall eines menschenverachtenden Egomanen ist, wie der Untertitel doppeldeutig verkündet, eher ein zerstörerischer «Abriss», für den ein an Thomas Bernhard erinnernder Autor besserwisserisch seine literarische Abrissbirne einsetzt. Zum Sujet passt schließlich auch das dem Milliardär Adolf Merckle nachempfundene Ende des Johann Holtrop.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Wie später ihre Kinder

Das Rezept wirkt heute noch

Einem Senkrechtstarter gleich wurde Nicolas Mathieu bereits mit seinem ersten Roman unter dem Titel «Wie später ihre Kinder» die höchste literarische Weihe in Frankreich zuteil, der alljährlich verliehene Prix Goncourt. Der jetzt auch auf Deutsch vorliegende Roman mit seinem vorangestellten Motto aus Jesus Sirach 44.9, dem auch der fatalistische Romantitel entlehnt ist, könnte als Analyse der Ursachen jener Gelbwesten-Bewegung gedeutet werden, deren landesweite Proteste nur zehn Tage nach der Preisverleihung begannen. Allerdings protestiert niemand in diesem Roman, wie in anderen Ländern auch hat sich nämlich das Prekariat, haben sich die sogenannten «Kleinen Leute» mit den trostlosen Umständen ihrer Existenz längst abgefunden Es ist diese resignative Dulderhaltung, die der Autor scharfsichtig aufdeckt und bis ins letzte Detail stimmig beschreibt.

Lothringen, einst wichtiges Industrierevier Frankreichs, wurde mit dem Niedergang der Montanindustrie wirtschaftlich ins Abseits gedrängt, eine hohe Arbeitslosigkeit war die Folge. Der Roman erzählt die Auswirkungen dieses Strukturwandels auf drei Heranwachsende aus verschiedenen Milieus in der Kleinstadt Heillange. «Ich wollte die Geschichte dieses Jungen erzählen» hat der Autor erklärt, sein Protagonist ist der zu Beginn 14jährige Anthony, Sohn eines arbeitslos gewordenen Stahlarbeiters, der sich mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, zusehends dem Alkohol verfällt und schließlich seine Familie verlässt. Der pubertierende Junge verliebt sich in Steph, Tochter aus «gutem Hause», der es an nichts fehlt und die von den Eltern schulisch in Richtung auf eine spätere, glänzende Karriere gedrängt wird, – sie hat zunächst allerdings keinerlei derartige Ambitionen. Dritter Protagonist ist Hacine, Sohn eines Immigranten aus Marokko, der Halbstarke spielt später auch eine Rolle im Drogenhandel. Anthony wird von dessen Bande immer wieder drangsaliert, sie stehlen das – ohne Erlaubnis von ihm benutzte – Motorrad seines Vaters. Statt es nach Intervention der Mutter wie versprochen zurückzugeben, setzen sie es in Brand.

Multiperspektivisch erzählt Nicolas Mathieu einfühlsam und sehr nah an seinen Figuren in Zweijahresschritten von deren Entwicklung, die sich in einem Beziehungsgeflecht vollzieht, dessen Milieu schlagwortartig mit «Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll» umschrieben werden kann. Durch konsequenten Verzicht auf irgendwelche politischen Schuldzuschreibungen gerät dieser Roman zu einer eindrucksvollen, glaubwürdigen Milieustudie über die Vorbedingungen für den späteren, scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der rechtsextremen Partei «Front National». Es bleibt allerdings nicht aus, dass bei den drei beschriebenen Gesellschaftsschichten das eine oder andere Klischee herhalten muss. Der Bösewicht ist auch hier natürlich der kleinkriminelle, marokkanische Immigrantensohn, den Loser-Typen verkörpert der labile Anthony aus dem bildungsfernen Prekariat, und mit Steph ist der künftigen Absolventin einer der «Grandes Écoles» eine unaufhaltsame Karriere durch ihre privilegierte Herkunft quasi schon in die Wiege gelegt.

Die flüssig lesbare, in die vier Sommer 1992, 1994, 1996 und 1998 aufgeteilte Geschichte mit ihrer entlarvenden Gesellschaftskritik ist durchaus auch spannend zu lesen, wobei die stimmigen Dialoge oft im authentischen Jugendslang wiedergegeben werden. Im dramaturgisch gekonnt platzierten letzten Kapitel bewirkt die Fußballweltmeisterschaft in Frankreich, die der Gastgeber dann ja sogar gewinnen konnte, eine milieuübergreifende Solidarität der Menschen, welche die Romanfiguren ebenfalls versöhnt und sie wenigstens für kurze Zeit alles vergessen lässt. «Panem et circenses» nannte Juvenal bei den alten Römern dieses Ablenkungsmanöver der Herrschenden von den bedrückenden Lebensumständen des Prekariats. Und wie man sieht wirkt dieses Rezept auch heute noch, – nicht weniger als genau das hat Nicolas Mathieu hier deutlich gemacht!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten

Wer die schwedische Sci-Fi-Serie »Real Humans«gesehen hat, findet schnell Zugang zu Emma Braslavskys Roman »Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten«. Er weiß, dass »Hubots«für »Human Robots« steht und hat eine Vision davon, wie stark Künstliche Intelligenz in naher Zukunft das Zusammenleben der Menschen verändern wird. Weiterlesen


Genre: Frauenliteratur, Science-fiction
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Apostoloff

Ihr könnt mich mal kreuzweise

In ihrem vierten, 2009 erschienenen Roman «Apostoloff» hat Sibylle Lewitscharoff eine Karikatur ihrer selbst als Ich-Erzählerin erschaffen, deren an Thomas Bernhard erinnernde Hasstiraden dem Lande gelten, in dem sie durch ihren bulgarischen Vater zumindest teilweise selbst verwurzelt ist. Vier Jahre später erhielt sie den Büchnerpreis, weil sie «in ihren Romanen mit unerschöpflicher Beobachtungsenergie, erzählerischer Phantasie und sprachlicher Erfindungskraft die Grenzen dessen, was wir für unsere Wirklichkeit halten, neu erkundet und in Frage stellt», wie die Jury ihre Wahl begründete. Spätestens seit dem Eklat, den im Jahr darauf ihre Dresdner Rede ausgelöst hat, ist sie als streitbare Schriftstellerin dem Publikum auch außerhalb der Literatur als eine unerschrockene Querdenkerin bekannt geworden. All das erklärt mithin den unverwechselbaren Duktus des vorliegenden Romans, der ihr bisher persönlichster ist, mit etlichen autobiografischen Fakten, wie sie im Interview bekannt hat.

Der titelgebende Apostoloff chauffiert die namenlose Ich-Erzählerin mittleren Alters und ihre Schwester im Anschluss an eine pompöse Trauerfeier in Sofia als Touristinnen durch das postkommunistische Bulgarien. In diese erste Erzählebene intermittierend eingeblendet wird als zweite Ebene die Vorgeschichte der Bulgarien-Rundfahrt. Ein gewisser Tabakoff, reicher bulgarischer Emigrant aus Amerika, hat nach dem Tod seiner Frau die fixe Idee, auch die anderen achtzehn inzwischen verstorbenen Mitglieder der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in Stuttgart gebildeten, bulgarischen Exilanten-Gemeinde, begleitet von den Angehörigen in einem feierlichen Korso aus 13 Stretch-Limousinen, in die Heimat zu überführen. Dort sollen sie in einem monumentalen Grabmal gemeinsamen bestattet werden, auch der früh durch Suizid aus dem Leben geschiedene Vater der Schwestern gehörte zu diesem Kreis. Die geschäftstüchtige Schwester handelt das Einverständnis zur Umbettung des Vaters auf 70.000 Euro hoch, die der närrische bulgarische Krösus tatsächlich auch bezahlt. Dritte, bedeutsame Erzählebene ist die schwäbische Heimat und Familie der Damen, wobei der Freitod des Vaters, ein beliebter Frauenarzt, sich letztendlich als tief sitzende Ursache des ganzen Hasses auf die Eltern erweist.

Diese drei narrativen Ebenen werden nicht getrennt erzählt, sie sind in buntem Mix mit abrupten Wechseln ineinander verschachtelt und erfordern volle Aufmerksamkeit des Lesers. Es wird aber immer wieder schnell klar, wovon die Rede ist, nicht nur bei der zeitlich direkt hinter einander liegenden Trauerreise und der anschließenden Rundreise, sondern auch bei der Jahrzehnte zurückliegenden Stuttgarter Jugendzeit der Schwestern. Zwischen Apostoloff, dem patriotischen bulgarischen Chauffeur, und der Schwester entwickelt sich ein verschämt verborgenes Techtelmechtel. Bei einem Gespräch mit dem Sohn des ehemaligen Nachbarn und Bordellbesitzers erfährt die Ich-Erzählerin, dass ihr Vater nach Kriegsende in einem Gefängnis in Sofia saß. In der gerüchteanfälligen bulgarischen Verwandtschaft hält sich deshalb hartnäckig die Lesart, der Vater sei vom Geheimdienst in den Tod getrieben worden, ersatzweise wird kolportiert, seine eigene Frau habe ihn ins Jenseits befördert.

Mit aberwitzigen Wortgebilden und tollkühnen gedanklichen Schlenkern beschreibt die Autorin in ihrer Satire ein Bulgarien, das nicht gerade einladend wirkt, jedoch ziemlich stimmig beschrieben scheint. Vieles in ihrer Suada ist zum Brüllen komisch, auch «Heilandzack» heißt es da Lewitscharoff-typisch, aber zuweilen wird es auch sehr beklemmend, so zum Beispiel, wenn die misanthropische Ich-Erzählerin ihr «radikales Desinteresse an Kindern» betont. Ihr tief sitzender Furor wird in einem konträren, aufgekratzt wirkenden, fidelen Ton vorgetragen, all das Wüten und Zetern aber mündet in einem «Ihr könnt mich mal kreuzweise», mit dem der Vater ihr am Ende im Traum entgegentritt.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Kafka am Strand

Na und?

Der japanische Kultautor Haruki Murakami ist einer der wichtigsten Schriftsteller seiner Generation, er wird zuweilen sogar als Nobelpreiskandidat genannt. Von seinen bislang 14 Romanen wird «Kafka am Strand», erschienen 2002, zu seinen besten gezählt. In dieser wundersamen Geschichte sind, ganz im Stil des Magischen Realismus, verschiedene Grundzüge eines in der Jetztzeit angesiedelten Entwicklungsromans literarisch mit dem klassischen Ödipus-Komplex und vielen weiteren, märchenhaft mystischen Elementen angereichert.

Der Protagonist lebt allein mit seinem Vater in Tokyo, seine Mutter hat mit seiner Schwester die Familie verlassen, als er vier Jahre alt war. An seinem fünfzehnten Geburtstag reißt er von zuhause aus, und da er in der Schule begeistert Bücher von Kafka gelesen hat, nimmt er zur Tarnung den Vornamen Kafka an. Eine weitere tragende Rolle spielt Saeki, die sybillinische, 55jährige Leiterin der Privatbibliothek, in der Kafka auf seiner Flucht zunächst Unterschlupf findet, – er fühlt sich sogleich erotisch von ihr angezogen. Wobei im üppigen Bedeutungsgeflecht des Romans das in ihrem Arbeitszimmer hängende Gemälde «Kafka am Strand» und ein von ihr komponierter Song gleichen Namens symbolisch eine wichtige Rolle spielen. Der junge Ausreißer befindet sich in seiner invertierten Odyssee auf Sinnsuche, wobei ihm als böser Fluch prophezeit wurde, er werde seinen Vater töten und mit seiner Mutter und seiner Schwester schlafen. In einem parallelen Handlungsstrang wird von Nakata berichtet, der bei einem Klassenausflug am Ende des Zweiten Weltkriegs als einziger der Schülergruppe nach einer mysteriösen Massenohnmacht bleibende Schäden davontrug, alle militärischen Untersuchungen des Falls sind streng geheim. Er verkörpert nun als alter Mann im Roman den heiligen Narren, der mit Katzen sprechen kann und einen Mord auf Verlangen an Johnny Walker begeht, den bösen Katzenfänger, der die Katzen schlachtet und roh ihre noch schlagenden Herzen verzehrt. Beide Handlungsstränge dieser zeitlich etwa drei Wochen umfassenden Geschichte fließen schließlich ineinander. Nakata wird von dem geheimnisvollen KFC-Gründer Colonel Sanders bei seiner Suche nach jenem Weißen Stein unterstützt, der den Eingang zur jenseitigen Welt verschließt. Kafka Tamura andererseits gelangt mit Hilfe zweier japanischer Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg unauffindbar in den dichten Wäldern verschollen sind und seither diesen Eingang bewachen, in jenes geheimnisvolle Jenseits. Er entschließt sich dann aber doch zur Umkehr, gerade noch rechtzeitig, ehe der Weiße Stein den Eingang wieder verschließt.

Es ist schon starker Tobak, der dem Leser da geboten wird, Kafkas Vater wird tatsächlich erstochen, Kafka selbst lässt sich sexuell von einem älteren Mädchen verwöhnen, das seine Schwester sein könnte, und schläft zu guter letzt mit seiner mutmaßlichen Mutter. Es gibt jede Menge wunderlicher Figuren in diesem postmodernen Roman, der cool und in einfacher Sprache geschrieben einen geschickt konstruierten Plot mit stimmigen Dialogen erzählt und damit einen erstaunlichen Lesesog zu erzeugen vermag. Das Japanische daran erscheint praktisch nur in den Namen, der diesseitige Teil ist eindeutig westlich orientiert. Und wie immer bei Murakami spielt auch die Musik eine Rolle, hier sind es neben dem Song «Kafka am Strand» der geheimnisvollen Saeki insbesondere Beethovens Erzherzog-Trio und die D-Dur-Sonate Schuberts.

Mit vielen Absurditäten und surrealen Szenen führt der Autor seine staunende Leserschaft in fantastische Innenwelten, immer mit dem Ziel, einsame Menschen zueinander finden zu lassen und allen Dingen, selbst den profansten, irgendwie einen Sinn zu verleihen. Der wohldosierte Spannungsbogen, zwischen Realität und Traum oszillierend, hält auch diejenigen Leser des dickleibigen Romans bei der Stange, denen wie mir die Grenze zur Trivialität hier zuweilen überschritten scheint, – die aber gelassen sagen: Na und?

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Scoop

Fleet Street Persiflage

Der satirische Roman «Scoop» des britischen Schriftstellers Evelyn Waugh wurde 2015 von einer internationalen Jury auf die BBC-Liste der 100 bedeutendsten britischen Romane gewählt. Schon im Titel des 1938 erschienenen Buches, den man mit ‹sensationelle Exklusivnachricht› übersetzen kann, wird seine Thematik deutlich, es geht um Journalismus in dieser Satire auf die Fleet Street, dem einst traditionellen Zentrum der Presse in London. Angeregt dazu wurde Waugh durch seine Tätigkeit als Korrespondent bei der Krönung von Haile Selassie in Abessinien, ein Job, über den er im Vorwort schreibt: «Ich hatte kein großes Talent dafür, studierte aber mit großem Vergnügen die Schrullen und Ausschweifungen meiner Kollegen». Geradezu zynisch beschreibt der politisch erzkonservative, kulturpessimistische Autor einen Umsturzversuch im ostafrikanischen Ismaelia, wie er das Land im Buch nennt, ebenso sarkastisch aber auch das heimische Milieu seines Protagonisten, der nach eigenen Worten «anachronistischste Teil» seines Romans. «Jüngere Leser müssen meiner Versicherung Glauben schenken, dass es solche Menschen samt ihren Bediensteten vor nicht allzu langer Zeit tatsächlich gegeben hat».

Der junge William Boot, Mitglied einer verarmten Familie des Landadels, hat eine Stellung als zuständiger Autor für die völlig unbedeutende Natur-Rubrik «Üppige Auen» bei der Tageszeitung Daily Beast inne, sie bringt ihm pro Beitrag eine Guinee ein. Durch eine Verwechslung mit dem Schriftsteller John Boot wird er als Sonderkorrespondent nach Ismaelia geschickt, weil dort ein Krieg auszubrechen droht. Der einem realen Korrespondenten nachempfundene William taumelt schon auf der Reise dorthin durch eine wirre Abfolge von haarsträubenden Ereignissen. Wahrhaft slapstickartig entwickeln sich dann auch die Verhältnisse in dem von einem Familienclan beherrschten Land, alle Korrespondenten sind auf der Jagd nach Informationen, aber nichts passiert dort wirklich. Als sie dann allesamt dem Mentor ihrer Zunft in eine angeblich für die erwarteten Ereignisse wichtige Wüstenstadt folgen, eine Sensation witternd, bleibt nur William in der journalistisch verwaisten Hauptstadt zurück, er weiß nämlich, dass die fragliche Stadt überhaupt nicht existiert. Und prompt bricht genau zu diesem Zeitpunkt ein von russischen Agenten unterstützter Putsch aus, der Präsident wird samt Familie festgesetzt, – und William hat seinen Scoop, er kann als einziger Journalist davon berichten.

Nach London zurückgekehrt, wird er als großer Journalist gefeiert, auf Veranlassung seines Zeitungsverlegers soll er sogar in den Adelsstand erhoben und mit einem großen Bankett geehrt werden. Was ihm aber gar nicht recht ist, er möchte lieber seine Ruhe haben und scheut die Öffentlichkeit. Natürlich hat Evelyn Waugh auch hier noch eine kuriose Szene eingebaut, irgendwoher muss die Redaktion ja nun einen neuen Boot auftreiben, sonst droht Ungemach vom allmächtigen Chef. Nachdem auch John Boot ausscheidet, weil er sich, – scheinbar auf der Flucht vor einer Frau -, in die Antarktis hat versetzen lassen, ist Williams Onkel Theodor Boot die letzte Rettung als Adels-Kandidat, ein geschwätziger Möchtegern-Schriftsteller.

Diese köstliche Persiflage auf die Sensations-Presse wird chronologisch erzählt und ist in einfacher Sprache geschrieben, weitgehend in Dialogform. Natürlich hat sich der Autor damit in der Fleet Street keine Freunde gemacht, es wurden etliche Prozesse geführt, die er aber alle gewonnen hat. Der etwas verzwickte Plot mit seinen tollpatschigen Figuren erinnert in seiner Machart an einschlägige Stummfilm-Klamotten, die beißende Kritik des kulturpessimistischen Autors deutet gleichwohl unübersehbar auf die Kuriositäten eines von ihm als chaotisch empfundenen Lebens des modernen Menschen hin. «So wie glücklichere Menschen Vögel beobachten, so beobachte ich Menschen», hat Evelyn Waugh seine Arbeitsweise beschrieben, – es macht Spaß, ihm dabei zu folgen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes