Literatur als Spöttelei
Geradezu als Definition des «Magischen Realismus» kann man «Hundert Jahre Einsamkeit» des kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel Garcia Marquez bezeichnen. Dieser inzwischen kanonische Roman brachte seinem Verfasser den literarischen Durchbruch, prägte jahrzehntelang wie kein zweiter die südamerikanische Literatur und wurde in Dutzende von Sprachen übersetzt, mit einer Gesamtauflage von über 30 Millionen Exemplaren. Die Jury in Stockholm verlieh dem Laureaten 1982 die begehrte Auszeichnung «für seine Romane und Erzählungen, in denen sich das Phantastische und das Realistische in einer vielfacettierten Welt der Dichtung vereinen, die Leben und Konflikt eines Kontinents widerspiegeln». Fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung ist dieser Roman 2017 in einer neuen deutschen Übersetzung erschienen, ein guter Grund für mich, dieses komplexe Werk nach fast zwei Jahrzehnten nun erneut zu lesen!
Jose Arcadio Buendia, wegen Mordes vom schlechten Gewissen geplagt, zieht mit seiner Familie in eine abgelegene, sumpfige Region Kolumbiens und gründet dort, fernab jeglicher Staatsgewalt, das Dorf Macondo. Schon bald wird es von einer Gruppe fahrender Zigeuner entdeckt, zu der auch der geheimnisvolle Melchiades gehört, der zum besten Freund des Gründervaters wird. Viele Siedler folgen und lassen sich auch dort nieder, das einsame Dorf wächst, seine Wirtschaft prosperiert. Schließlich wird es gegen erbitterten Widerstand der Einwohner der staatlichen Verwaltung unterstellt und in die Republik eingegliedert. Damit werden die Bewohner auch in den Bürgerkrieg hineingezogen, wobei Oberst Aureliano Buendia, ein Sohn des Stammvaters, zum gefeierten militärischen Führer der liberalen Partei aufsteigt. Die wirtschaftliche Blüte des Dorfes wird mit dem Bau der Eisenbahn gefördert, die Ansiedlung eines nord-amerikanischen Bananen-Konzerns schließlich bringt viele neue Arbeitsplätze nach Macondo. Irgendwann aber offenbart sich die hässliche Fratze des Kapitalismus, streikende Arbeiter samt ihren Familien werden brutal von Maschinengewehren niedergemäht, die 3000 Opfer dieses Massakers in 200 Eisenbahnwaggons verladen und ins Meer versenkt. Nach Jahren endlosen Regens fällt das Dorf allmählich in Agonie, viele Bewohner verlassen den unwirtlichen Ort, die Häuser verfallen, der Dschungel wuchert alles zu. Am Ende schließlich gelingt es Aureliano, dem letzten Sprössling aus dem Buendia-Clan, justament in seiner ebenfalls vorausgesagten Todesstunde die Aufzeichnungen von Melchiades zu entschlüsseln, die das endgültige Verschwinden des Dorfes prophezeien.
Dieses wundersame Epos einer skurrilen Familie, allesamt Archetypen, wird in vielen Vor- und Rückgriffen über sechs Generationen hinweg als Allegorie auf die Geschichte Südamerikas erzählt. Das ausufernde Figurenensemble durchlebt grotesk überzeichnet das Auf und Ab des menschlichen Schicksals, Schwächen und Unzulänglichkeiten seiner Akteure entlarvend. Wie im Märchen werden Tote wieder lebendig, andere entschweben in den Himmel oder werden unsichtbar, die Frau des Dorfgründers wird 120 Jahre alt und ist beim Tod auf die Größe eines Säuglings zusammengeschrumpft. Aureliano schließlich, der letzte Buendia, zeugt mit seiner Schwester ein Kind, das mit einem Schweineschwänzchen als einst geweissagtem Menetekel zu Welt kommt und wie die Mutter kurz nach der Geburt stirbt.
Leitmotivisch durchzieht immer wieder ein Erschießungskommando als Spannung erzeugender, chronologischer Vorgriff die in vielen, üppig ausgeschmückten Episoden erzählte Geschichte. Mit seiner überbordenden Phantasie beschreibt Garcia Marquez sein psychedelisches Urwalddorf als eine schwermütige, beklemmende Welt voller Aberglauben und Mythen, in der dem einsamen Tod die Hauptrolle zufällt. Literatur, so wird sie an einer Stelle im Buch emblematisch beschrieben, sei «das beste Spielzeug, das man erfunden hatte, um sich über die Leute lustig zu machen». Eine zulässige Deutung auch für diesen Roman?
Fazit: erstklassig
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