Die Dame mit dem Hündchen

Ein leidenschaftsloser Zeuge

Der unter dem Titel «Die Dame mit dem Hündchen» erschienene Band von Anton Tschechow vereinigt eine Auswahl von dreizehn der späten Erzählungen aus dem Œuvre des berühmten russischen Schriftstellers. In vielen verarbeitet er dabei eigene Erfahrungen als Arzt und übt unverhohlen Kritik am feudalen System des zaristischen Russlands, er prangert aber auch den Stoizismus seiner Landsleute an, die all das Unrecht passiv über sich ergehen lassen – oder im Suff ertränken. Diese im Stil des Realismus verfassten, melancholischen Erzählungen beschreiben eine genau beobachtete Lebenswirklichkeit der damaligen Zeit, ohne sie moralisch zu werten. Sie stellen vielmehr psychologische Studien dar, die – oft unvermittelt – ziemlich ratlos enden. Als Literat sieht Tschechow sich dabei als «leidenschaftsloser Zeuge», wie er in einem Brief schrieb, nicht als Deuter des Geschehens.

Die Sammlung beginnt mit der titelgebenden Erzählung, die zu den berühmtesten Ehebruchsgeschichten der Weltliteratur gehört. Allein auf Urlaub in Jalta, trifft ein Bankangestellter auf eine junge, ebenfalls allein Erholung suchende Frau, deren Hündchen der höchst willkommene Anknüpfungspunkt zum Anbandeln ist. Beide sind unglücklich verheiratet, eine typische Kurschatten-Konstellation also mit erwartbaren Folgen und ebenso erwartbarem Ende. Hier jedoch stellt sich nach der Heimkehr schon bald heraus, dass sie beide nicht voneinander lassen können. «Wie könnte man sich von diesen unerträglichen Fesseln befreien?», fragen sie sich ratlos. Auch in «Angst» geht es um den Ehebruch des Ich-Erzählers mit der Frau seines besten Freundes, der sie in einer eindeutigen Situation überrascht. Entsetzt flüchtet der Ehebrecher und sieht den Freund und seine Frau nie wieder: «Man sagt, sie lebten weiterhin zusammen». Unglücklich endet auch die Liebe eines Malers zur jüngeren von zwei ungleichen Schwestern, die im Giebelzimmer des elterlichen Hauses wohnt, unerreichbarer optischer Fixpunkt des Verliebten. Ebenfalls tragisch endet «Irrwisch», die Geschichte einer flatterhaften Künstlerin, die erst am Sterbebett ihres vermeintlich langweiligen Mannes dessen wahre Größe erkennt.

Die Novelle «Eine langweilige Geschichte» ist als längster Text das berührende Resümee eines hoch angesehenen Professors der Medizin kurz vor seinem unabwendbaren Tod. Mit gedanklicher Tiefe rekapituliert der Ich-Erzähler schonungslos sein für ihn in jeder Hinsicht sinnlos erscheinendes Leben. Wobei seine Adoptivtochter Katja, die selbst beruflich und beziehungsmäßig tief in einer Krise steckt, sich als wichtigste mentale Stütze für ihn erweist. Tschechows Glaube an den Fortschritt wird auch durch seine beißende Kritik an den sozialen Verhältnissen im aufkommenden Kapitalismus nicht gemindert, wie sie in «Ein Fall aus der Praxis» süffisant zum Ausdruck kommt. Und auch in den anderen Geschichten sind immer wieder der Sinn des Lebens, die Liebe mit ihren unvermeidlichen Fallstricken und letztendlich die Suche nach dem individuellen Glück jedes Einzelnen die beherrschenden Themen.

Entwickelt wird all dies aus den glänzend charakterisierten Figuren heraus, deren Denken und Tun er, mit einem deutlich durchschimmernden Glauben an das Gute im Menschen, narrativ ins Zentrum stellt. «Die Kürze ist die Schwester des Talents» hat Anton Tschechow selbstbewusst seinen sparsamen Schreibstil begründet. Er hat nie brikettdicke Romane geschrieben wie Lew Tolstoi und war damit für die russische Literatur mindestens ebenso prägend wie Edgar Allen Poe für die amerikanische. Das Schöne an dieser Sammlung ist, dass man sie immer wieder mal zur Hand nimmt, um eine Geschichte darin zu lesen, sie ist mit ihrer breit gestreuten Figurenschar aus allen sozialen Schichten geradezu ein Kaleidoskop des untergehenden Zarismus. Die von Thomas Mann in einem Essay hoch gelobte Novelle «Eine langweilige Geschichte» war für mich das kontemplative Glanzstück einiger überaus bereichernder Lektürestunden.

Fazit: erstklassig

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Genre: Erzählungen
Illustrated by Insel Taschenbuch

Die Insel Capri. Ein Portrait

Autor Dieter Richter ist ein glänzender Essayist, der die Neugier beim Leser nicht nur anregt, sondern auch befriedigt. Detailreich und voller Verve und wertvoller Informationen und intellektueller Anregungen widmet er sich in dieser Monographie der Insel im Golf von Neapel, die schon unter Kaiser Tiberius eine Luxus-Destination und ein Traumziel, eine Marke und ein Mythos verkörperte.

Utopia Capri

Einst einmal das Regierungszentrum des Imperium Romanum, dann verarmt und vergessen wurde Capri im 19. Jahrhundert mit der Entdeckung der Blauen Grotte zur ersten klassischen europäischen Tourismus-Insel-Destination. Seither verkörpert die Insel Capri den Zauber einer Insel schlechthin: Robinson-Eiland und Insel Utopia, Toteninsel, Liebesinsel und Neue Welt. Bevor Capri aber zur Destination des Massentourismus wurde, besuchten Abenteurer und Revolutionäre, Künstler, Schriftsteller und Philosophen, Geflüchtete und Emigranten aus den Diktaturen der Welt das Eiland. Der Autor bearbeitete zahlreiche unbekannte und ungewöhnliche Quellen, darunter Grabsteine und Gästebücher, Polizeiakten, Urkunden, Briefe und Tagebücher, und hat hiermit die facettenreichste Biographie einer Insel verfasst und Capri selbst damit ein Denkmal gesetzt.

Isola Futurista

Der Professor für Kritische Literaturgeschichte an der Universität Bremen und Verfasser zahlreicher kulturwissenschaftlicher Bücher, die ebenfalls im Wagenbach-Verlag erschienen sind, widmet sich der „Ziegeninsel“ (capra, ital. für Ziege) voller Liebe und Leidenschaft. Denn gerade im Kopf lässt sich das ländliche Arkadien errichten von dem viele Aussteiger, die nach Capri reisten, einst träumten. Es ist faszinierend mit viel Kenntnis und Detailreichtum der Autor das Eiland zu einem Platz der schönsten Theorien und Anekdoten macht. So weiß er etwa von Lenins Aufenthalt auf der Insel ebenso wie vom cimitero acattolico auf dem sich Tote von 21 Nationen aus verschiedensten konfessionellen Spektren wiederfinden, was gleichzeitig auch den Kosmopolitismus der Insel wiederspiegelt. Aber auch Künstler haben sich in die Geschichte und Landschaft der Insel eingegraben. Etwa der „Einsamkeitswürfel“ des Berliners Willy Kluck oder das Haus des Schriftstellers Curzio Malaparte werden angeführt, aber auch die Futuristen, die Capri als „isola futurista“ feierten.

Kenntnis- und aufschlussreich liest sich diese Monographie einer Insel wie ein Roman aus mehreren Essays. „Oggi siamo/Domani fummo/Percio fumo“ (heute sind wir/Morgen waren wir/ Daher rauche ich) dichtete einst August Weber und brachte damit das Lebensgefühl von Capri deutlich auf den Punkt: „Jetzt“!.

Dieter Richter
Die Insel Capri. Ein Portrait
WAT [795]. 2018
224 Seiten. 12 x 19 cm. Mit vielen Abbildungen
ISBN 978-3-8031-2795-2
Wagenbach Verlag


Genre: Monographie, Reisen
Illustrated by Wagenbach

Mitten im August

Ferragosto: Mitten im August. Die Welt bekommt einen neuen Krimihelden, den Inselpolizisten Enrico Rizzi, der es bevorzugt auf Capri zu arbeiten statt in Neapel. Aber „Neapel“ ist auch zuständig für Capri. Und so ergeben sich bald Spannungen zwischen der Zentrale und der Insel, wer wofür zuständig ist. Denn Rizzi will seinen Mordfall beschleunigen und so schnell wie möglich den Mörder finden. Neapel’s Mühlen hingegen mahlen langsam.

Ferragosto: Mitten im August

Enrico Rizzi, der gerne Selbstgedrehte raucht, hat es auf Capri zumeist mit kleineren Delikten zu tun. Wenn auf dem kleinen Polizeiposten auf Capri nichts los ist, hilft er seinem Vater in den Obst- und Gemüsegärten hoch über dem Golf von Neapel. Natürlich bevorzugt auch er ökologische Anbaumethoden und will auf Spritzmittel gegen Schädlinge verzichten. Marienkäferlarven sollen helfen. Und so überzeugt er bald auch seinen Vater davon. Auch Jack und Sofia sind etwas „grün“ angehaucht, aber sie wollen nicht den Wein, sondern gleich die Weltmeere retten. Aber eines Tages wird Jack mit mehreren Messerstichen in der Brust tot in seinem Boot aufgefunden. Sofia ist seit Tagen verschwunden. Natürlich deutet alles auf sie als Täterin hin. Ein Mord aus Leidenschaft? Oder aus unterschiedlichen politischen Ansichten? Enrico Rizzi ermittelt auch ohne Pouvoir weiter und deckt auf, wer hinter dem Mord von Jack Milani, dem reichen Spross einer Industriellenfamilie und Studenten der Ozeanologie steckt.

Capri, Schauplatz eines Verbrechens

Im ersten Mordfall für den jungen Enrico Rizzi kämpft er nicht nur gegen die Bürokraten in Neapel, sondern auch seinen Vorgesetzten Commissario Lombardi, dem es lieber gewesen wäre, den Toten gar nicht erst an Land zu bringen. Denn so wurde er erst zum Toten von Capri. Ansonsten hätte Neapel sich darum kümmern müssen. Der fleißige Enrico Rizzi ist ganz anders als die der Prokastrination huldigenden Inselbewohner und sein Erfinder, Luca Ventura, arbeitet schon an seinem nächsten Fall, der wieder mit viel Lokalkolorit Capri-Flair in die Wohnzimmer und Lesestuben der deutschsprachigen LeserInnen bringt. Wem Donna Leon gefällt, der wird auch Luca Ventura mögen. Leichte Lesekost für den Strand am Sommer. Vielleicht im August. Mitten im August.

 

Luca Ventura

Mitten im August. Der Capri-Krimi

2020, Paperback, 336 Seiten
ISBN: 978-3-257-30076-5
€ (D) 16.00 / sFr 21.00* / € (A) 16.50
Diogenes Verlag


Genre: Capri, Krimi
Illustrated by Diogenes

Der Dritte Mann

Mehr als 70 Jahre ist der „Dritte Mann“ schon alt und gilt immer noch unbestritten als der Filmklassiker schlechthin, wenn es um das Wien der Nachkriegszeit geht. Alle Themen die darin angesprochen werden sind universell und natürlich immer noch aktuell: Grenzen, die Flüchtlinge, der Schwarzmarkt, das Verbrechen. Aber auch der Soundtrack des Films ist modern, führte er doch vom Strauß-dominierten Wien der Monarchie direkt zum modernen Sound der Republik.

Karas als Vorbote des Austropop

30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nimmt der oberösterreichische Wahlberliner Rebhandl zum Anlass nochmals über den Dritten Mann zu reflektieren. Nach einer Nacherzählung des Inhalts lädt er zu einem Spaziergang durch Wien ein, der an die Schauplätze des Films führt und voller Referenzen an die Walzerstadt auch neue Sichtweisen und Perspektiven öffnet. Als Filmkritiker kennt sich der Autor auch mit ähnlichen Filmen jener Periode aus und zieht Parallelen. Etwa zu Ministry of Fear oder Odd Man Out, The Fall Idol. Aber auch der unverkennbaren Zitherklängen von Karas huldigt Rebhandl. Inzwischen (2017) wurde die Wiener Stimmung und Spielweise der Zither übrigens als immaterielles Weltkulturerbe der UNESCO anerkannt. Rebhandl lobt am Dritten Mann auch, dass er auf das Strauss-Klischee verzichtete und sich als Vorbote an eine noch gänzlich unklare Popkultur wagte.

Besetzung, Besatzung, Befreiung

Aber auch die literarische Vorlage von Graham Greene hat sich Rebhandl genau angeschaut. Tatsächlich benutzten Sozialsten und Kommunisten die Wiener Kanalisation in der Zwischenkriegszeit als Fluchtweg und ironischerweise gehörte der Doppelagent Kim Philby zu einem Spionagering, der den Namen „The Cambridge Five“ bekam. David O. Selznick, der Produzent, wollte noch „Night in Vienna“ als Titel, aber „The Third Man“ setzte sich durch und trug wohl wesentlich zum Erfolg des Filmes bei. Denn wer ist eigentlich dieser „dritte“ Mann? Besonders hervorzuheben ist auch das Kapitel „Schlechte Staatsbürger“, das sich der Rolle der Österreicher im Dritten Mann widmet. Denn diese wirkten nur als Nebendarsteller in Nebenrollen mit. Unvergessen etwa die Hauswirtin, dargestellt von Hedwig Bleibtreu, die sich die Befreiung „ganz anders“ vorgestellt hatte…

Bert Rebhandl
Der dritte Mann. Die Neuentdeckung eines Filmklassikers
Hardcover, 128 Seiten, 13,5 x 21,5 cm

ISBN: 978-3-7076-0678-2
14,99.-

Czernin Verlag


Genre: Film Noir, Krimi, Unterwelt
Illustrated by Czernin Verlag

Der Wolkenatlas

Von Kultur zur Barbarei

Mit dem Roman «Der Wolkenatlas» hatte der britische Schriftsteller David Mitchell 2004 seinen literarischen Durchbruch, er ist bis heute sein bekanntestes und erfolgreichstes Werk, das mit seiner fragmentarischen Erzählweise charakteristisch ist für diesen Autor. So gibt es hier nicht nur sechs eigenständige Erzählebenen, fünf davon sind auch noch in jeweils zwei Hälften geteilt, deren zweite sich in umgekehrter Reihenfolge an den durchgehend erzählten Mittelteil anschließt. Die Unterbrechungen erscheinen willkürlich, in einem Fall endet der erste Teil sogar mitten im Satz und setzt sich ebenso unvermittelt nach nicht weniger als 562 Seiten im zweiten Teil fort, an genau dieser Textstelle und ganz einfach mit dem nächsten Wort. Diese sechs Erzählungen sind inhaltlich auf verschiedene Art miteinander verbunden, durch ein Déjà-vu-Erlebnis zum Beispiel oder andere narrative Details. Zudem unterscheiden sie sich radikal im Duktus voneinander und sind zeitlich in ganz unterschiedlichen Epochen angesiedelt, vom 19ten Jahrhundert über die Jetztzeit bis in eine ferne, post-apokalyptische Zukunft hinein. Dass ein derart unkonventionell aufgebauter Roman umstritten ist, das liegt auf der Hand.

Es beginnt mit dem Tagebuch eines Anwalts, der zur Zeit des Goldrauschs Mitte des 19ten Jahrhunderts auf der Heimfahrt von Australien nach San Francisco die christliche Seefahrt mit all ihren Beschwernissen und Gefahren schildert. Es schließt sich der Briefzyklus eines schwulen Musikstudenten an, der sich 1931 im belgischen Städtchen Zedelgem als Assistent eines berühmten Komponisten verdingt, allerlei Irrungen und Wirrungen miterlebt und ganz nebenbei ein ultramodernes Sextett mit dem Titel «Wolkenatlas» komponiert. Die dritte Geschichte aus den 1970er Jahren ist ein furioser Krimi um eine Journalistin, die im Milieu der Atom-Mafia in den USA einem Skandal auf der Spur ist. Ein alternder Verleger schließlich hat großen Erfolg mit «Faustfutter», dem Roman eines Autors, der wegen Mordes im Gefängnis sitzt, und wird nach allerlei fiesen Machenschaften in die Psychiatrie weggesperrt. Der dystopische fünfte Teil ist eine Geschichte um Klone und Duplikanten, die in Form eines Verhörs erzählt wird und inhaltlich allenfalls für enthusiasmierte Genreleser goutierbar ist, die Mehrheit muss sich frustriert durchbeißen oder aufgeben. In noch fernerer Zukunft schließlich, nach der Apokalypse, ist im durchgehend erzählten Mittelteil die Menschheit auf eine äußerst primitive Lebensform zurückgeworfen. Diese in Ich-Form und in einem radikal vereinfachten Slang von einem Ziegenhirten auf Hawaii erzählte Geschichte berichtet vom barbarischen Ende der Zivilisation.

David Mitchell hält der Menschheit, die unbelehrbar primitivsten Ur-Instinkten folgend nach Macht giert, was dann stets Unterdrückung und Ausbeutung nach sich zieht, mit diesem deprimierenden Roman den Spiegel vor. Dabei zeigt er das permanente Unrecht nur auf, ohne es zu erklären oder gar die Moralkeule zu schwingen. Die mangelnde menschliche Einsicht verdeutlicht er durch die chronologische Abfolge seiner Geschichten, in denen sich die Missstände und Probleme der verschiedenen Gesellschaftsstufen jeweils verschärfen statt verringern.

Es gibt zahlreiche narrative Verbindungen innerhalb des Romans und auch etliche intertextuelle Bezüge. Auf die Reinkarnation als Thematik weist bereits der Romantitel hin, der als Metapher für die Kartographie der wandernden Seelen benutzt wird. Die überaus kreative Erzähltechnik ist sicherlich das wesentlichste Merkmal dieses außergewöhnlichen Romans, der narrativ alles will und es mit der Postmoderne denn doch ziemlich übertreibt. Letztendlich also L’art pour l’art, diesem virtuosen Balanceakt zwischen Kultur und Barbarei mangelt es nämlich schlicht an Substanz, um Kontemplation beim Leser anzuregen. Anders als an einer Stelle im Buch zitiert geht es in der Literatur tatsächlich doch nicht nur um das ‹Wie›, sondern auch um das ‹Was›!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Spione und Agenten (Sonderheft 4)

Das 4. Sonderheft des “Galileo Spezial” für Kinder von ca. 9 bis 12 Jahren widmet sich dem Thema Spione und Agenten. Das 33-seitige Heft bemüht sich erfolgreich, das Thema von allen Seiten zu beleuchten. Jede Doppelseite behandelt dabei ein eigenes Unterthema.

Das Heft beginnt mit den Anfängen der Spionage, beleuchtet dann berühmte Spione, geht über zu Agenten im Fernsehen (James Bond) und schließlich der Frage nach, wer Spion werden kann. Weitere Unterthemen: die großen Geheimdienste, heimliche Beobachtung, verrückte Gadgets, in geheimer Mission, geheime Botschaften, die Entschlüsselung, Wirst du überwacht?, der Kalte Krieg, Tiere in geheimer Mission, Rätsel. Die Unterthemen selbst sind nochmal in kleine Themenbereiche unterteilt, sodass das Heft insgesamt übersichtlich gegliedert ist. Als Extra, dessen Benutzungsweise im Heft erklärt wird, liegt ein Geheim-Nachrichten-Decoder bei.

Die Texte selbst sind  einfach verfasst, doch erst für ältere Kinder wirklich verständlich. Trotzdem kann ich mir als Mutter eines Grundschülers vorstellen, dass Kinder bei dem ein oder anderen   Wort/Zusammenhang nachfragen. Das ist nicht schlimm, denn so gibt es Gesprächsstoff für die Familie. Etwas störend für den Lesefluss sind allerdings mehrere Tippfehler. Ich persönlich hätte auch eine kleine Einleitung im Heft gut gefunden, die Mädchen und Jungen auf das Thema einstimmt. Kostenpunkt des Heftes: 4, 50 Euro, was für das, was geboten wird, in Ordnung ist.

Insgesamt ein gelungenes Heft, das übersichtlich und auf möglichst breiter Basis versucht, Kinder mit dem Thema Spione und Agenten bekannt zu machen.


Genre: Comics, Kinderzeitschrift
Illustrated by Egmont Ehapa

Die Elixiere des Teufels

Klösterliche Identitätssuche

Der erste Roman des vielseitig begabten E.T.A. Hoffmann, der erfolgreich als Jurist, Schriftsteller, Kapellmeister, Komponist und Zeichner tätig war, gilt als eines der bedeutendsten literarischen Werke der Schwarzen Romantik. In zwei Teilen 1815/16 erschienen, hat diese fiktive Autobiografie eines Kapuzinermönches zunächst eine sehr zwiespältige Aufnahme gefunden. Goethe nannte, als Sprachrohr quasi für die breite Ablehnung in der Wissenschaft, den Autor einen «krankhaft Verirrten» und warnte ausdrücklich vor der Wirkung seiner verderblichen Phantasie. Hebbel hingegen lobte in seinem Tagebuch den Roman als «ein höchst bedeutendes Buch», das eine eigene Gattung begründe. Wie auch immer, sein Status als Klassiker der Weltliteratur wird auch nach zweihundert Jahre eindeutig bestätigt durch regelmäßige Neuauflagen, die das anhaltende Interesse der Leser widerspiegeln, meines eingeschlossen!

Franz findet nach einer glücklichen Kindheit Aufnahme in einem Kapuzinerkloster, nimmt dort den Namen Medardus an und wird wegen seiner beispielhaften Frömmigkeit mit der Verwaltung der Reliquien betraut, unter denen sich auch ein Elixier befindet, das vom heiligen Antonius stammen soll. Er wird zudem weithin berühmt für seine aufwühlenden Predigten, was ihn bald hochmütig werden lässt. Als nun eines Tages die schöne Aurelie, die dem Bildnis der heiligen Rosalia in der Kapelle zum Verwechseln ähnlich sieht, ihm im Beichtstuhl ihre Liebe gesteht, stürzt der fromme Mann in einen verheerenden Strudel von leiblicher Begierde und quälenden Schuldgefühlen. In seiner Verzweiflung trinkt er von dem Teufelselixier, er will Aurelie unbedingt wiederfinden. Als der Abt aber seinen inneren Zwiespalt bemerkt, schickt er ihn kurzerhand mit einem Auftrag nach Rom.

Was folgt ist eine verwirrende Geschichte mit vielen Figuren, von denen sich nach und nach herausstellt, dass die meisten entfernt verwandt sind mit Bruder Medardus. Wobei sein Ururgroßvater Francesco der Maler, der auch öfter mal als Untoter im violetten Mantel erscheint, durch eine teuflische Buhlschaft schwere Schuld auf sich geladen hat, ein in der väterlichen Linie weitervererbtes Verhängnis, das auch auf ihn selbst fällt. In einem nebulös zwischen Traum und Wirklichkeit wechselnden Geschehen begegnen ihm auf seinen Wanderungen die wundersamsten Menschen. Zu denen gehört auch sein wahnsinniger Doppelgänger, der fortan, in buntem Wechsel mit ihm, kaum unterscheidbar als Protagonist des Romans fungiert. Als Tochter eines Schlossherrn findet er auch Aurelie wieder, schließlich aber verführt ihn deren lüsterne Stiefmutter. Sein teuflischer Doppelgänger schlüpft in die Rolle des Grafen Viktorin, vormals Liebhaber der Schlossherrin, und ermordet sie.

Wir lesen als Buch die Aufzeichnungen des Bruders Medardus, E.T.A. Hoffmann versteckt sich in seinem virtuosen Plot hinter der Rolle des Herausgebers, ein typisches Merkmal dieses Romans. Denn auch der Mönch erfährt vieles aus seiner eigenen Lebensgeschichte nur durch Berichte anderer, zu denen vor allem aufgefundene Schriften des Malers gehören, die seine Triebhaftigkeit als Erbschuld aufzeigen. In einer barock ausgeschmückten Sprache wird hier von Wiedergängern und Nebelgestalten berichtet, von wundersamen und grausigen Erscheinungen, von tiefster Frömmigkeit und Selbstgeißelung. Die zum Teil lustigen Figuren sind allesamt sehr anschaulich beschrieben, ihre Dialoge werden in einer überhöhten Kunstsprache geführt, die blumenreich, aber mit gedanklicher Tiefe, das irrlichternde Geschehen vorantreiben. Natürlich ist all das nicht nur sprachlich abgehoben von der schnöden Lebensrealität, alles scheint sich total durchgeistigt in höheren Sphären abzuspielen. Selbst der Kampf des Protagonisten mit seinem teuflischen Doppelgänger findet zumeist rein gedanklich im tiefsten Inneren statt. Die verzweifelte Suche des Kapuziners nach seiner wahren Identität ist auch stilistisch als bereichernde Lektüre durchaus zu empfehlen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Spitzentitel

Nestbeschmutzer

Mit «Spitzentitel» weist der italienische Schriftsteller Antonio Manzini in seiner gleichnamigen Novelle auf ein in der Branche beliebtes Schlagwort hin, das den Verlagen in ihrer Werbung für Neuerscheinungen dazu dient, ein Buch schon vor seinem Erscheinen hochzupushen. Dabei stehen jeweils die Starautoren im Fokus, Schriftsteller also, die eine Art Markenstatus besitzen aufgrund ihres Renommees und der bisherigen Verkaufserfolge, ihre Bücher selbst rücken dadurch immer mehr in den Hintergrund. Sie werden zu Bestsellern allein durch den Namen des Autors, egal wie es um ihre literarische Qualität bestellt ist. Der Fachhandel spricht von ‹Selbstläufern›, Bücher also, die problemlos ohne verkäuferisches Zutun über die Theke gehen.

Ein solcher Bestsellerautor ist der italienische Schriftsteller Giorgio Volpe, einer der bedeutendsten Autoren seines Lande, der nach zweieinhalb Jahren harter Arbeit das Wort ‹Ende› unter sein achthundertseitiges Manuskript schreibt. Es ist die Geschichte seiner Familie, und er schätzt, «dass ihn dieses Buch entweder ins Grab bringen oder heiligsprechen würde». Er hat niemanden in sein neues Buch schauen lassen, nicht einmal seinen Freund Maurizio, der «ein ebenso beeindruckender Listenerklimmer und Preiseinheimser war wie er selbst». Auch seiner Lektorin beim größten Verlag des Landes hat er keinen Einblick gewährt, obwohl sie schon seit fünfundzwanzig Jahren mit ihm bestens zusammenarbeitet. Er überrascht sie also am nächsten Morgen damit, dass sein neues Buch fertig ist, und schickt es ihr als PDF-Datei. In den Nachrichten ist die Fusion der drei größten Verlage Italiens das Hauptthema, Giorgio aber packt seine Koffer, um endlich mal eine Woche Urlaub mit seiner Frau zu machen, – das Handy bleibt ausgeschaltet, hat er ihr versprochen. Als er zurückkommt, beglückwünscht ihn seine Lektorin telefonisch, sein Buch sei ein Meisterwerk, das sie in zwei Tagen ausgelesen habe. Frohgemut fährt er nach Mailand zu einem Treffen beim Verlag, wo ihn der Big Boss und alle an der Veröffentlichung beteiligten Mitarbeiter als ihren wichtigsten Autor feiern.

Statt seiner Lektorin, die für drei Tage zu ihm kommen wollte, um an letzten Feinheiten des Romans zu feilen, suchen ihn zwei merkwürdige Typen auf. Sie seien in dem neu entstandenen Großverlag nun für ihn zuständig und wollen die erforderlichen Korrekturen mit ihm besprechen, – einer der beiden ist Russe und beherrscht kaum die Landessprache. Es wehe nun ein neuer Wind in dem Großverlag, erklären sie ihm ungerührt. Zum Beispiel würde Tolstois «Krieg und Frieden», um die ja nur negativen Kriegsszenen gekürzt, unter dem Titel «Frieden» neu herausgebracht, «Oblomow» ist in der neuen Fassung ein umtriebiger Unternehmer, und «Anna Karenina» landet nicht vor dem Zug. Die Neuübersetzung von Alessandro Manzonis berühmtem Roman «Die Verlobten» würde radikal modernisiert in einem massentauglichen Neusprech erscheinen, und aus dem «Zauberberg» würde alles gestrichen, was mit Tuberkulose zu tun hat und nur die Stimmung vermiest. Giorgio Volpe fühlt sich, als sei er ein Opfer der TV-Sendung «Versteckte Kamera».

Diese dystopische Satire auf die Buchbranche weist mit ihren scharfen Seitenhieben auf das radikal profitorientierte Marketing der Konzerne einen erschreckend hohen Realitätsgehalt auf, auch wenn sie zum Teil so grob überzeichnet ist, dass sie ins Lächerliche abgleitet. Gleichwohl stimmt es, dass Autoren letztendlich, wie hier in dieser amüsanten Novelle, gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, die heraufbeschworene Banalisierung ist längst bittere Realität geworden. Der Roman übrigens, den der tragische Protagonist geschrieben hat, trägt den bezeichnenden Titel «Am Rande des Abgrunds», und so fühlt sich sein gedemütigter Autor auch. Gott sei dank aber gibt es heute und in der Realität noch engagierte Verlage, die ein amüsantes Buch wie dieses frei von Bestsellererwartungen herausbringen, ganz ohne Angst, als Nestbeschmutzer zu gelten.

Fazit: lesenswert

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Genre: Novelle
Illustrated by Wagenbach

Dunkle Gesellschaft

Im Bann der Untoten

Die «Dunkle Gesellschaft», ein «Roman in zehn Regennächten», wie es im Untertitel heißt, nimmt im vielseitigen Œuvre von Gert Loschütz durch seine virtuose Erzähltechnik eine Sonderrolle ein. Es ist ein Erinnerungsroman, der in zehn Kapiteln aus dem bewegten Leben eines Binnenschiffers erzählt, dem in jeder Episode immer wieder die schwarz gekleideten Männer und Frauen mit weißen Gesichtern begegnen. Vor diesen Gestalten hatte ihn schon sein Großvater gewarnt, weil sie Unglück bedeuten.

Der alleinstehende Ich-Erzähler Thomas hat sich nach dem Verlust seines Patents für Fluss- und Küstenmotorschiffe resigniert in die ländliche Einsamkeit der niedersächsischen Provinz zurückgezogen. Die ungewohnte Ereignislosigkeit auf dem flachen Lande jedoch treibt den ruhelosen Mann, der die längste Zeit seines Lebens an Bord verbracht und auch immer nur am Wasser gewohnt hat, in schlaflosen Nächten zu langen Spaziergängen aus dem Haus, bei Wind und Wetter. Dabei erinnert er sich an mysteriöse Begebenheiten in seinem unsteten Leben zurück, in denen die «Dunkle Gesellschaft» der Schwarzgekleideten jeweils bevorstehendes Unheil symbolisiert, – Menschen verschwinden spurlos, Morde geschehen, Unglücke und Katastrophen ereignen sich. Ebenso symbolisch bildet der pausenlose, allmählich sintflutartig anschwellende Regen bei all diesen Episoden den Hintergrund. Er bringt dem lebenslang mit diesem Element Verbundenen das Wasser zurück in sein binnenländisches Refugium und vertreibt ihn schließlich nach zehntägiger Dauer, als Opfer einer verheerenden Überschwemmung, fluchtartig wieder von dort.

Geradezu symptomatisch beginnen die Erinnerungen während der Ausbildung von Thomas auf dem Naval College mit der Geschichte von einem Geisterschiff auf der Themse. Er erzählt ferner von seinen mysteriösen Erlebnissen als Schlafwagenschaffner, von undurchsichtigen Ereignissen auf einem Schloss und von einem geheimnisvollen Verwechslungsspiel um den vermeintlichen, messiasähnlichen Erlöser einer Geheimgesellschaft von Flagellanten. Mit Katharina kommt eine rätselhafte Frau ins Spiel, deren Eltern eine große Sammlung historischer Rechenmaschinen besitzen, sie will ihn durch ein selbstgestochenes Tattoo an sich binden. Auf seinem Laptop erscheint plötzlich beim Einschalten die anonyme, orakelhafte Nachricht «Null vierzig», ein merkwürdiger Junge hält Thomas für seinen Vater und verfolgt ihn. Beim wetterbedingten, unfreiwilligen Stopp im Wiener Hafen Albern gerät er zufällig in eine Live-Sexshow und trifft in einer Werkstatt auf eine seltsame Frau, die Opfer eines für Freitag angekündigten Mordes wird. In der letzten Geschichte hat er eine aufs rein Sexuelle reduzierte Affäre mit der Frau des Nachbarn, der offensichtlich einverstanden ist und heimlich voyeuristisch partizipiert. Als Thomas schließlich wegen der Überflutungen evakuiert wird, ist auch dieses Nachbarpaar im Bus und steigt am Ziel zögernd in einen anderen Bus mit schwarzen Scheiben um, der rasch davonfährt.

Die disparaten Motive dieses Romans erlauben keine stimmige Deutung, gemeinsames Merkmal ist ihre unheilschwangere Atmosphäre, die das rätselhafte, düstere Geschehen permanent mit einer geradezu albtraumhaften Spannung auflädt. In dieser finsteren Welt tauchen als geisterhafte Figuren immer wieder Schattengestalten oder Wiedergänger auf, die das phantastische Geschehen für den Leser vollends undurchschaubar machen. Anders als beim Erzählstil des magischen Realismus fehlt hier jedwede rationale Grundlage. Gert Loschütz benutzt eine unprätentiöse, klare Sprache für seine oft unscharfen, manchmal lose verbundenen Traumbilder, die fragmentarisch die Erfahrungen seines Protagonisten schildern, ohne sie in einen nachvollziehbaren Zusammenhang zu bringen oder gar zu deuten. Das also bleibt dem Leser selbst überlassen, – falls der sich nicht lieber ganz einfach dem Rausch der Bilder in seinem Kopfkino überlässt, die ihm einige anregende Stunden im Bann der Untoten bescheren.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Macht und Widerstand

Ungleichheit als Nährboden

Mit dem Gegensatzpaar «Macht und Widerstand» hat Ilija Trojanow treffend bereits im Titel seines Romans den Kern seiner Geschichte umrissen. In Bulgarien stehen sich während der kommunistischen Diktatur der Apparatschik Metodi Popow als Geheimdienstagent und der Anarchist Konstantin Scheitanow unversöhnlich gegenüber, – selbst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs noch. Es sind keine historisch verbürgten Figuren, die hier aufeinandertreffen, die Beiden repräsentieren vielmehr als Archetypen zwei konträre politische und moralische Geisteshaltungen. In den Figuren des opportunistischen, bestens vernetzten Geheimdienstlers und späteren skrupellosen Geschäftsmannes und des intellektuellen Regimekritikers und unbeugsamen Widerstandskämpfers als Antipoden verkörpert sich exemplarisch die politische Gemengelage Bulgariens über eine Zeitraum von mehr sechzig Jahren hinweg, bis ins beginnende neue Jahrtausend hinein.

Schon während der Schulzeit fällt Konstantin den Organen der Staatssicherheit wegen seiner aufrührerischen Gesinnung auf und wird fortan permanent beobachtet. Als er zusammen mit einigen Komplizen 1953 ein Stalindenkmal sprengt, wird er zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, die er in Gefängnissen und Arbeitslagern verbringt. Sein Verfolger vom Geheimdienst, den er schon als Schüler kannte, ist als Major an den vielen Verhören beteiligt, mit denen die kommunistischen Schergen Auskünfte über seine Komplizen und die Ziele ihrer oppositionellen Bewegung aus ihm herauspressen wollen. Konstantin erweist sich als harter Brocken, der Überzeugungstäter bleibt standhaft auch in den härtesten Verhören und während der schlimmsten Schikanen und Strafen. An dieser Unbeugsamkeit scheitert später auch seine Ehe, als seine Frau in ihrer Dissertation wider besseres Wissen auf die offizielle Linie der Staatsmacht einschwenkt in einer moralischen Frage. Metodi Popow als sein skrupelloser Antagonist weiß sich geschickt allen Richtungswechseln und Stimmungslagen im Geheimdienst-Apparat anzupassen und macht unaufhaltsam Karriere, er heiratet sogar die unnahbare Sekretärin des allmächtigen Staatschefs. Während Metodi nach dem Zusammenbruch des Ostblocks als Geschäftsmann mit Hilfe alter Seilschaften in dem neu etablierten, mafiosen Kapitalismus reüssiert, führt Konstantin einen jahrelangen, erbitterten Kampf um seine Rehabilitierung. Er erlangt als scharfzüngiger Kritiker in der Öffentlichkeit den Status eines politisch außergewöhnlich gebildeten, unangepassten Querdenkers, der alle Repressalien überstanden hat, weil er jederzeit bereit war, für seine Überzeugungen auch zu sterben.

In Ich-Form wird hier aus ständig wechselnder Perspektive, mit großen Zeitsprüngen in beide Richtungen, kapitelweise in relativ kurzen Abschnitten und unter deren Vornamen aus dem Leben der beiden Antagonisten berichtet. Ergänzt werden diese vielen, oft als innere Monologe angelegten Schilderungen durch typografisch kenntlich gemachte Schriftstücke der Behörden. Zusätzlich gibt es noch diverse, jeweils mit den Jahreszahlen betitelte Berichte über historische Geschehnisse dieser Zeit, in denen es meist ebenfalls um den Antagonismus «Macht und Widerstand» geht.

Als Zeitdokument einer totalitärer Diktatur und ihrer noch Jahrzehnte andauernden Nachwirkungen ist das Opus magnum von Ilija Trojanow eher ein historisches Werk als ein unterhaltsamer, bereichernder Roman. Überraschend ist, dass die Figur des selbstzufriedenen Bösewichts sympathischer ‹rüberkommt› als die des verbiesterten Anarchisten, dessen persönliche Tragik nicht mal ansatzweise thematisiert wird. Das Ganze wirkt völlig statisch, die beiden Erzählstränge laufen nahezu verbindungslos nebeneinander her. Zur Katharsis mag letztendlich die Erkenntnis Konstantins dienen, dass unabhängig von der Staatsform, also auch in der Demokratie, die Ungleichheit zwischen den Privilegierten und der Masse fortbesteht und unverändert als fruchtbarer Nährboden für den Widerstand wirkt.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Applaus für Bronikowski

Finale als Klamauk

Der zweite Roman «Applaus für Bronikowski» von Kai Weyand ist für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert worden, der bislang größte Erfolg für den Schriftsteller aus Freiburg. Durchaus ungewöhnlich ist das Milieu, in dem seine Geschichte angesiedelt ist und von der schon das Buchcover kündet, das Gewerbe der Bestattungsunternehmen. Eine sensible Thematik, die hier mit großem Einfühlungsvermögen als Geschichte eines liebenswerten Außenseiters erzählt wird, ein Balanceakt zwischen Pietät und Komik.

Protagonist des Romans ist der 31jährige Nies, dessen Eltern den Halbwüchsigen nach ihrem Lottogewinn in die Obhut seines fünf Jahre älteren, gerade volljährig gewordenen Bruders gegeben haben und nach Kanada ausgewandert sind. NC, wie er sich seitdem trotzig nennt, Abkürzung für No Canadian, seinen Protest bekräftigend, findet nach Irr- und Umwegen in anderen Berufen durch puren Zufall einen Job als Bestatter. Zum Entsetzen seines Bruders, der inzwischen als Banker in London Karriere gemacht hat. Und auch seine Eltern sind ebenso entsetzt, er hat sie seit langem nicht gesehen und nur noch losen Briefkontakt mit ihnen. Seine Ex-Freundin ist ebenfalls ohne jedes Verständnis für diese in ihren Augen makabre Tätigkeit und bricht den sporadischen E-Mail-Kontakt mit ihm endgültig ab. Der Inhaber seiner neuen Firma erweist sich als netter, verständnisvoller Chef, wie übrigens auch dessen kleinwüchsige Frau, die auf jeden Kalauer über ihre Körpergröße eine schlagfertige Replik parat hat. Mit der molligen Frau März in der Bäckerei verbindet ihn ein absonderlicher Einkaufsritus, bei dem er ihr die Auswahl seiner täglichen ‹Süßen Stückchen› überlässt. Auf dem Weg zur Arbeit hilft er in der Straßenbahn einem Schüler, der von seinen Kameraden ständig gehänselt und gemobbt wird, indem er dem Rädelsführer die Nase blutig schlägt. Er begegnet auch häufig einem alten Mann, der mit seinem dreibeinigen Hund spazieren geht.

Wunderbar stimmig ist sein bärtiger Chef als Abraham Lincoln-Typ umschrieben, ein kluger, nachdenklicher Mann, für den die Würde der Toten allerhöchste Priorität hat bei der Arbeit. NC findet sich schnell zurecht in seiner neuen Tätigkeit, erlernt die thanatopraktischen Arbeiten, – er arbeitet nicht nur zur Zufriedenheit seines Chefs, sondern auch der Hinterbliebenen. Die erkennen dankbar an, mit welch tiefem Respekt und Einfühlungsvermögen er äußerst pietätvoll seinen Aufgaben nachkommt. In seinem ereignislosen Privatleben hingegen baut der lebensuntüchtige, verschrobene junge Mann Wut oder Frust durch kindliche Streiche ab, indem er zum Beispiel in dunkler Nacht die Fassade des gegenüberliegenden Hauses mit Eiern oder Tomaten bewirft. Er ist ein genauer Beobachter, zerlegt und hinterfragt sprachsensibel Wörter wie Bäckerei-fach-verkäuferin, nimmt scheinbar naiv Diskrepanzen wahr zwischen den Dingen und den Wörtern, die sie bezeichnen. So wundert er sich auch über den Namen Frühlingsstraße, denn die besteht nur aus hässlichen, trostlosen grauen Häusern.

In einer bildhaften, leicht lesbaren Sprache erzählt Kai Weyand amüsant, oft in grotesken Szenen, von der schwierigen Selbstverwirklichung seines Antihelden. Erstaunlich ist, wie poetisch hier die Verlorenheit eines melancholischen jungen Mannes beschrieben wird und wie selbstverständlich der Autor mit einem so sensiblen Thema wie dem Tod umgeht. Stärkste Momente waren für mich die kontemplativen Gedankengänge des sinnierenden Helden, der permanent die Welt hinterfragt, was dem Roman letztendlich einiges an Tiefgang verleiht. Diese tragikkomische Geschichte verliert sich aber leider zum Ende hin in eindeutig überzeichneter Absurdität. Beim Erfüllen eines mutmaßlich letzten Wunsches nach Seebestattung und beim desaströsen Abgang des titelgebenden Schauspielers Bronikowski, der von Applaus gekrönt wird, gerät der Plot im Finale zum puren Klamauk, mit dem wenig überzeugend die partielle Unzurechnungsfähigkeit des Helden verdeutlicht werden soll. Schade!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Wallstein Göttingen

Der Pfau

Manchmal ist weniger mehr: Das beweist Isabel Bogdan (1968) in ihrer schottischen Gesellschaftssatire um einen hormonverwirrten Pfau, der alles Blaue und Glänzende attackiert, da er in besonnten Müllsäcken und frisch lackierten Autos „Konkurrenz auf dem Heiratsmarkt“ wittert (S. 1).

Der Megabestseller handelt von einer Gruppe Investmentbanker aus London, die den Westflügel eines heruntergekommenen Anwesens in den schottischen Highlands beziehen. Die ländliche Idylle wollen sie für ein Teambuilding-Seminar nutzen, um nachhaltig ihre Zusammenarbeit zu fördern. Dafür haben sie die Psychologin Rachel engagiert, sowie die Köchin Helen, die für ihr leibliches Wohl sorgen soll. Verwöhnte Kapitalisten in primitiver Umgebung, meilenweit abgeschnitten von Zivilisation, ohne funktionierende Internetverbindung: Soweit die vielversprechende Ausgangssituation in „Der Pfau“ von Isabel Bogdan, die sich bislang als Übersetzerin von Schriftstellern wie Jane Gardam und Nick Hornby einen Namen gemacht hat und 2016 mit diesem humoristischen Kammerspiel ihr Romandebüt gab.

Lord und Lady McIntosh, die Erben dieses ehemals luxuriösen Landsitzes samt einer Handvoll Cottages, sind erfreut über so hohen Besuch, wo sie doch die Einnahmen für eine umfassende Sanierung dringend benötigen. Als der verrückt gewordene Pfau wieder einmal Probleme bereitet, da er den metallic-blauen Sportwagen der Investmentbankchefin Liz demoliert, sind die McIntoshs alarmiert. Der Lord beschließt kurzerhand, dem Viech ein für alle Mal den Garaus zu machen. Diese Art der Problemlösung bleibt nicht ohne Folgen, denn auch im nicht-lebendigen Zustand bringt der Vogel das Zusammenleben aller Beteiligten aus dem Gleichgewicht.

Die überschaubare, aber kurzweilige Handlung zeichnet sich durch menschlich agierende Figuren aus, die allesamt Macken und Schwächen besitzen, für die man sie schnell lieb gewinnt. Bogdan zeigt Beobachtungsgabe, da sie stets einen prägnanten Typus Mensch einzufangen vermag, den jeder Leser aus seinem Umfeld her kennt. Die individuellen Figuren und inneren Monologe, ihre Interaktionen und Beziehungen zueinander sowie das Netz aus Intrigen und Lügen, in das man sich verstrickt, sorgen für ein subtil-witziges Klima, das durchweg zum Schmunzeln anregt. Um einen „Reigen an unvergesslichen Figuren“ zu erschaffen, wie die Jury des Hamburger Förderpreises lobpreist, bedarf es allerdings einer detaillierteren Ausarbeitung der Figuren, die auf 248 Seiten schwer umzusetzen ist.

Die gute Laune, die Bogdans warmherziger Schreibstil versprüht, macht dieses Werk zu einem amüsanten Lesevergnügen, das auch dadurch nicht beträchtlich gedämpft wird, dass statt direkter ausschließlich indirekte Rede verwendet wird, wodurch die Konversationen weniger lebhaft erscheinen. Auch negativ fällt die Umgangssprache und sprachliche Redundanz auf, die den britischen Charme unterstreichen soll, nichtsdestominder den Eindruck banaler Prosa erweckt.

Wenngleich die Lektüre intellektuell nicht sonderlich bereichernd ist, gelingt Bogdan mit geringem Aufwand und verknappter Handlung ein erheiterndes Gute-Laune-Buch mit kulinarischen Inspirationen und einer netten Schlusspointe.

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Genre: Humor und Satire, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Asterix – Tempus fugit: Wahre Mythen und falsche Fakten

Dieser Sonderband widmet sich der Frage, welche Fakten in den Asterix-Bänden tatsächlich historisch belegt sind und welche nicht. Aßen die Gallier – wie Obelix – hauptsächlich Wildschwein? Galt das Rausstrecken der Zunge als gallische Provokation? Hätte Asterix Olympiasieger werden können? Traten Gallier in die römische Legion ein? Führten alle Wege nach Rom? Gab es “echte” unbeugsame Gallier? Wurde aus gallischen Männerfreundschaften manchmal Liebe? Organisierten die Römer einen Teil ihres Lebens in den Thermen? Waren die gallischen Barden gefürchtet? Spielten die Briten damals schon Rugby? War das Essen der römischen Legionäre miserabel? Weiterlesen


Genre: Comic
Illustrated by Egmont Comic Collection

Lucia Binar und die russische Seele

Psychotherapeut ohne Waffenschein

Der österreichische Schriftsteller Vladimir Vertlib hat in seinem 2015 publizierten Roman «Lucia Binar und die russische Seele» nach der Migration als autobiografisch grundierte Thematik hier ein eher gesellschaftskritisches Thema aufgegriffen. Seine Geschichte ist im zweiten Wiener Gemeindebezirk Leopoldstadt angesiedelt, einst Zentrum des jüdischen Lebens in Österreichs Hauptstadt. Aber auch hier prägen die russisch-jüdischen Wurzeln des Autors wieder seinen Erzählstoff, «Ich habe mich bemüht, die einzigartige, gleichsam irritierende wie inspirierende Atmosphäre des zweiten Bezirks in meinem Roman einzufangen». Die Nominierung für den Deutschen Buchpreis bedeutete für ihn, wie er bekannte, «eine große Bestätigung für mein Schreiben, die mir auch viel Kraft für die Zukunft gibt».

In zwei Handlungssträngen entwickelt Vladimir Vertlib seine amüsante Geschichte um eine 83jährige ehemalige Lehrerin, die von einem androgynen Wesen an der Wohnungstür um ihre Unterschrift für eine Petition gebeten wird. Lucia Binar ist empört, will doch eine örtliche Anti-Rassismus-Initiative aus falsch verstandener Political Correctness ernstlich die Große Mohrengasse, in der sie von Geburt an wohnt und auch zu sterben gedenkt, in große Möhrengasse umbenennen lassen. Die schlagfertige alte Dame verweigert mit bissigen Bemerkungen ihre Unterschrift und schickt den Aktivisten empört weg, nicht ohne das androgyne Wesen vorher noch nach seinem Vornamen gefragt zu haben. Moritz ist Student, und wie sich schon bald herausstellt, ein netter, hilfsbreiter Mensch, mit dem sie sich bald anfreundet und später sogar duzt. Und er steht ihr dann auch bei, als ihr gewissenloser Vermieter auf perfide Art versucht, durch kostenlose Überlassung bereits lange leerstehender, heruntergekommener Wohnungen an üble, asoziale Störenfriede die Altmieter aus dem Haus zu ekeln, um es nach einer Luxus-Sanierung dann teuer wieder neu vermieten zu können. Diese Handlungsebene wird von der resoluten Ich-Erzählerin mit dem wahrhaft denkwürdigen ersten Satz eingeleitet: «Wenn ich jetzt sterbe, dann kann ich damit leben».

Von einem auktorialen Erzähler werden in der zweiten Handlungsebene weitere zum Teil sehr skurrile Figuren eingeführt. Zu denen gehört auch die unfreundliche Call-Center-Dame, bei der sich Lucia Binar über die ausgebliebene Lieferung von ‹Essen-auf-Rädern› beschwert hatte. Mit der hat sie noch ein Hühnchen zu rupfen, weiß aber leider nur ihren Vornamen, und wie sich bald herausstellt, gibt es nicht weniger als sechs Mitarbeiterinnen mit dem Namen Christine. Die sucht sie nun alle nacheinander auf, wobei Moritz sie begleitet. In einem turbulenten, slapstickartigen Plot münden die eng ineinander verschlungenen Handlungsfäden in ein ins Absurde abgleitendes Finale, bei einer wahrlich aberwitzigen Séance ist Viktor Viktorowitsch Vint die zentrale Figur. Nach eigenem Bekunden «Magier, Vermittler von Selbsterfahrungen, Experte für die russische Seele, Psychotherapeut ohne Waffenschein, also ein Scharlatan auf hohem Niveau», oder, wie er an anderer Stelle beschrieben wird, «eine Mischung aus Rasputin und Wladimir Kaminer». Er erinnert den Leser ein bisschen an Bulgakows faunische Figur ‹Wolant› in «Meister und Margarita».

Mit viel schwarzem Humor und in den soziologischen Aspekten oft sarkastisch wird hier leichtfüßig eine Geschichte erzählt, deren realistische Komplexität aber im Verlauf immer deutlicher wird. Ziemlich störend sind die vielen eingestreuten Lyrik-Zitate, die sich einem eingeschworenen Prosaleser kaum erschließen können. Sogar die Protagonistin Lucia Binar ist lyrikbegeistert und vermag bei Gelegenheit jeweils einige passende Gedichtzeilen zu rezitieren. Größte Stärke des Romans ist jedenfalls diese zentrale Figur, die sich ebenso tapfer wie schlau allen Widrigkeiten entgegenstellt und schlagfertig niemandem eine – oft ironische – Antwort schuldig bleibt, man kommt aus dem Schmunzeln kaum noch raus als Leser.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Deuticke Wien

89/90

Baseballschläger und Punkrock

Schon vom Titel her als Wende-Roman erkennbar, wurde Peter Richters autobiografisch geprägte Coming-of-Age-Geschichte «89/90» für den Frankfurter Buchpreis 2015 nominiert. Er gehört zu einem literarischen Genre, das sich offensichtlich großer Beliebtheit erfreut, auch der diesjährige Preisträger der Leipziger Buchmesse schildert ja in seinem prämierten Roman die Zeit vor und nach der Wende. Von Ostalgie kann dabei aber keine Rede sein, das unrühmliche Ende der DDR wird in beiden Romanen eher als heilloses Chaos beschrieben.

Der Ich-Erzähler ist ein wohlbehüteter, zu Beginn 15jähriger Schüler aus dem Mittelstand, dessen rebellische Adoleszenz vom Punkrock im FDJ-Jugendklub sowie von den erbitterten Straßenkämpfen mit den glatzköpfigen Neonazis geprägt ist. Zeitlicher Rahmen der Handlung ist der Sommer vor der Wende, mit dem Mauerfall am 9. November 1989 als Zäsur, und endend beim gesetzlichen Vollzug der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990, von Stund an ‹Tag der Deutschen Einheit›. Seine Generation erlebt – und erleidet – als letzter Jahrgang, neben dem Wehrunterricht als Schulfach, dann auch noch das zweiwöchige Wehrlager bei der Nationalen Volksarmee. Eine erzählbare Handlung gibt es praktisch nicht in diesem Wenderoman, der Plot folgt emotionslos, ziemlich ungerührt aus sicherer Distanz, dem historischen Geschehen aus der grotesk verengten Perspektive eines aufmüpfigen Schülers. Man erfährt gleichwohl herzlich wenig von ihm, es wird über seine Reisen berichtet, auch ins sozialistische Ausland natürlich, zum Balaton beispielsweise, und nach dem Mauerfall besucht er mit Freundin L. sogar Paris. Sie ist allerdings wenig beeindruckt und stellt ihm die ketzerische Frage, was daran so wichtig sei, nach Paris reisen zu können, welcher Zuwachs an Lebensqualität sich daraus für ihn denn wirklich ergebe.

Und Frau K. schließlich fragt im Staatskundeunterricht, «was die Leute eigentlich treibt, für ein paar Bananen und Fernreisen alles einfach wegzuschmeißen, was wirklich wichtig ist im Leben: Familie, Sicherheit, Zukunft, einen Arbeitsplatz, Heimat, nicht zuletzt ihren Anstand und ihre Würde». Immer wieder von solchen dialektischen Diskursen unterbrochen wird hier anekdotenreich und mit unglaublich vielen Details das DDR-Leben aus der sehr speziellen Perspektive eines Heranwachsenden beschrieben, der als Figur jedoch ziemlich konturlos bleibt – und namenlos obendrein. Aber auch für alle anderen Figuren im Roman gibt es keine Namen, alle werden nur mit ihrem Anfangsbuchstaben benannt. Da läuft dann der beste Freund S. mit der Pfarrerstochter G. auf der ‹Rue› genannten Hauptstrasse der Stadt und trifft den T., der ihn auffordert, heute Nacht doch ins Freibad zu kommen, der W. käme auch. Und obwohl dort nackt gebadet wird, findet Sex nicht statt in diesem Roman, trotz des testosteronträchtigen Alters des Helden. Der ist neben den brutal ausgetragenen, blutigen Gruppenrivalitäten nur noch am Punkrock interessiert, zusammen mit S. träumt er von einer Musikerkarriere, obwohl sie beide ja nur zwei Akkorde spielen können auf der Gitarre. Die Erzählung nervt geradezu mit der nicht enden wollenden, sinnlosen Nennung gefühlt hunderter obskurer Bandnamen wie ‹Die Faschisten› oder ‹Hammer und Eichel›.

In einer jugendlich frischen Sprache wird hier, zuweilen recht amüsant, mit lexikalischer Ausführlichkeit durchaus Erwartbares erzählt, wobei den Wessis unter den Lesern ein umfangreicher Fußnotenapparat den fehlenden Erfahrungshintergrund ersetzen muss. Formal ziemlich willkürlich, mit fehlender Kohärenz, werden gesellschaftliche Umbrüche aus der Sicht eines Baseballschläger schwingenden, jugendlichen Anarchisten beschrieben, ohne dass sich daraus irgendwelche relevanten Erkenntnisse ergeben würden. Hingegen ahnt man als Leser am Ende, wie sich aus dieser sozialen Gemengelage heraus, scheinbar aus dem Nichts, eine bisher erfolgreich unterdrückte, politisch ultrarechte Gesinnung derart ausbreiten konnte.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by btb München