Mit seinem Autoren-Ratgeber »Klare Charaktere. Wie ich Figuren für einen Roman entwickle« gibt Autor Lutz Kreutzer Hinweise und Anregungen aus dem Handwerkskasten des Praktikers. Er stellt Herangehensweisen sowohl seiner eigenen Romane als auch diejenigen anderer Profiautoren vor, die dazu beitragen wollen, einem Roman Leben einzuhauchen. Weiterlesen
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Klare Charaktere
Am Seil
Fanal selbstbestimmten Sterbens
Den Text, der als erfolgreiche Kurzgeschichte 2005 den Ingeborg Bachmann Preis gewann, hat Thomas Lang mit fünf vorgeschalteten Kapiteln zu dem Roman «Am Seil» ergänzt. Darin wird nun in einem kammerspiel-artigen Setting geschildert, wie es zu dem in Klagenfurt prämierten, ebenso komplexen wie dramatischen Ende einer schwierigen Vater/Sohn-Beziehung kam.
Auf einem gestohlenen Motorrad kommt der bekannte TV-Moderator Gert nach jahrelanger ‹Funkstille› zum ersten Mal zu Besuch ins Altenpflegeheim seines Vaters Bert. Beide sind an einem Punkt ihres Lebens angelangt, aus dem nur noch der Tod als Ausweg zu bleiben scheint, was denn auch den Buchtitel erklärt. Vater Bert war Lehrer für Englisch und Sport, ist schon seit Jahren von seiner Frau geschieden und inzwischen körperlich sehr hinfällig. Sein 45jähriger Sohn Gert hatte durch eine für ihn glückliche Verwechslung überraschend Karriere beim Fernsehen gemacht. Er wurde aber nach vielen erfolgreichen Jahren fristlos gefeuert, weil er sexuell übergriffig wurde und kurz darauf dann auch noch einen Autounfall verschuldet hat, bei dem seine minderjährige Geliebte umkam. Er ist nicht nur seelisch, sondern auch finanziell in ein tiefes Loch gefallen.
Mit scharfem Blick für Details wird die Figuren-Konstellation von einem sportlichen, herrischen Vater, der seinen körperlichen Verfall nicht akzeptieren kann, und seinem kunstbeflissenen, aber völlig untalentierten Sohn entwickelt. Letzterer ein Verlierer-Typ, dem das Glück nur einmal im Leben hold war und der nun in Selbstmitleid zerfließt. Beide Männer stehen vor einem Scherbenhaufen und haben sich absolut nichts mehr zu sagen. Thomas Lang erzählt multi-perspektivisch abwechselnd aus Sicht des penetrant besserwisserischen Vaters und des verweichlichten Sohnes vom Hass der Beiden aufeinander, der sich in einem Plot artikuliert, der chronologisch nicht länger als ein kurzes Zweipersonen-Stück beim Theater andauert. Die phonetische Ähnlichkeit der beiden Vornamen deutet trotz allem auf eine gewisse Charakter-Verwandtschaft der ungleichen Protagonisten hin. Denn Bert und Gert haben beide, so kristallisiert es sich für den Leser allmählich heraus, und der Buchtitel deutet es ja auch an, nur noch ein Ziel, welches sie ganz unerwartet doch noch eint. Bert ist nämlich bis ins Mark erschüttert, weil ‹seine› ihn besonders liebevoll umsorgende Pflegerin niedergeschlagen verkündet hat, dass sie entlassen wurde. Die Beschreibungen der Alters-Gebrechen und die Ohnmacht des in dem Pflegeheim nur noch dahinvegetierenden Vaters werden durch die wortkargen, geradezu zynisch knappen Dialoge mit dem Sohn eindrucksvoll verdeutlicht.
In der minutiösen Schilderung des auf pure Zweckmäßigkeit hin ausgerichteten Pflegeheims fällt besonders ein Gemälde des Russen Kasimir Malewitsch auf, das den Titel «Das schwarze Quadrat» trägt und im Buch, nicht ohne tieferen Grund, erwähnt wird. Es unterstreicht nämlich auf optische Weise die ganz ähnlich auf eine narrative «Empfindung der Gegenstandslosigkeit» ausgerichtete Diktion des Autors. Die psychisch desolate Verfassung der Figuren korrespondiert mit einer stilistischen Kargheit, deren wie in Zeitlupe ablaufende Beschreibungen einer Seniorenheim-Tristesse sich weitgehend an scheinbar Insignifikantem abarbeiten. Ohne Zweifel handelt es sich hier vom Genre her übrigens um eine geradezu archetypische Novelle, nicht um einen Roman, auch wenn das sich weit besser verkauft. Mit der Thematik des selbstbestimmten Todes nach einem langen, ereignislosen Leben, dem konträr beim Sohn ein intensives, in vollen Zügen genossenes gegenübersteht, wird hier ein uraltes moralisches Problem behandelt. Die wahrhaft groteske Schlussszene ist wie das Fanal eines völlig unhaltbaren, gesetzlichen Zustandes, der schmerzlich an das einst erbittert umkämpfte Abtreibungs-Verbot erinnert. Literarisch allerdings wirkt dieses Buch leider ziemlich willkürlich zusammen montiert, sprachlich oft misslungen und als Ganzes völlig inhomogen.
Fazit: miserabel
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Das schwarze Königreich

Das schwarze Königreich von Szczepan Twardoch
Das 2019 ebenfalls bei Rowohlt erschienene Werk „Der Boxer“ zeigte Twardochs Protagonisten, Jakub Shapiro, am Höhepunkt seines Lebens und Wirkens. In „Das schwarze Königreich“, der Fortsetzung, ist er nur mehr ein Schatten seiner selbst und auf fremde Hilfe angewiesen.
Das schwarze Königreich des Jakub Shapiro
„Aus Zorn und Hass ist mein Lebenswille gewebt, Zorn und Hass sind schwer und nicht leicht zu tragen, doch mitnehmen muss man sie, denn ohne sie endet man vorzeitig dort, wo ohnehin alle enden.“ Der einstige „König der Warschauer Unterwelt“ muss zusehen wie nicht nur sein Reich zerfällt, sondern auch das Warschau, das er kannte. Die deutsche Besatzung Polens 1939, die Warschauer Aufstände, das Ghetto sind die Echokammern eines Romans, der nicht nur intelligent gebaut ist, sondern auch den Leser in einen Strudel hinabreißt, aus dem es kein Entrinnen gibt. Twardoch erzählt den vorliegenden 2020 erstmals bei Rowohlt auf Deutsch erschienen Roman aus zwei Perspektiven, die er immer wieder wechselt. Der halbwüchsige Sohn David, der sich nach der Trennung seiner Mutter Emilia von seinem Vater Jakub um seinen Bruder Daniel und seine Mutter kümmert ist die eine Stimme des Romans. Die andere Stimme des Romans ist Ryfka, die einst ein Bordell leitete, wo Jakub in seinen besseren Zeiten Stammgast war. Sie liebt ihn so sehr, dass sie sich auch um den kranken Mann kümmert, der er jetzt geworden ist. Ihr Zorn und ihr Hass sind es, die das gemeinsame Überleben sichern.
Überleben als Rache und Sühne

“Der Boxer” erschienen bei Rowohlt 2019
Auffallend am Stil dieses Romans ist aber auch die Konzeption. Die Tempuswechsel in der Erzählung von Ryfka Kij, die stets zwischen Präsens und Präteritum wechselt, charakterisieren die Brisanz ihres Narrativs. Denn sie ist noch am Leben und nur deswegen kann sie all die Schrecken und den Terror des Krieges uns Nachgeborenen schildern. Sie war dabei und hat überlebt. An der Seite eines „bösen Mannes“, der nicht nur seine Frau und die Zwillinge enttäuschte. „Auf diese Art kann ich ihn bestrafen, indem ich ihn am Leben halte, so kann ich mich selbst strafen, und nur so kann ich auch weiter lieben. Die Liebe zu diesem bösen Mann ist alles, was mir geblieben ist.“ Szczepan Twardoch, Jahrgang 1979, erzählt von Juden, Polen, Deutschen, von Tätern und Opfern, Kollaboration und Terror und macht auch vor den Sowjets nicht halt. Denn von diesen von Hitlers Wehrmacht befreit zu werden ist wahrlich kein einfaches Schicksal. Twardoch erzählt nämlich auch vom Holodomor, der Hungerkatastrophe, die durch Stalins Zwangskollektivierung Millionen Opfer nicht nur in der Ukraine forderte. „Der Krieg wird irgendwann zu Ende sein, und die Deutschen werden ihn verlieren, dann wird es gut sein, ans Licht zu kommen und wieder Mensch zu sein.“
Ein erschütternder und auch trauriger Roman, der dennoch Hoffnung macht, weil er zeigt, dass man trotz der vielen Opfer überleben kann und muss. Um diese und andere Geschichten zu erzählen und Sühne zu verlangen.
Szczepan Twardoch
Das schwarze Königreich
Übersetzt von: Olaf Kühl
2020, Hardcover, 416 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0073-1
24,00 €
Verlag: Rowohlt Berlin
Der lange Atem der Bäume
Der lange Atem der Bäume von Peter Wohlleben: Wie Bäume lernen, mit dem Klimawandel umzugehen – und warum der Wald uns retten wird, wenn wir es zulassen
Der aussagekräftige Untertitel könnte schon eine Zusammenfassung des Buches sein. Es ist in drei recht unterschiedliche Kapitel aufgebaut: Die Weisheit der Bäume, die Ignoranz der Forstwirtschaft und der Wald der Zukunft.
Das Nachwort von Prof. Dr. Pierre Ibisch bringt das Geschriebene auf den Punkt: Wir können nicht mehr glauben, wir wüssten, was der Natur guttut. Also: Lasst die Wälder in Ruhe, die Natur hat in Millionen Jahren herausgefunden, was sie zum Leben braucht.
Im ersten Kapitel werden Beobachtungen des Försters Wohlleben dargestellt, manche untermauert durch wissenschaftliche Studien. Es geht um Grundsätzliches: Wie der Stoffwechsel der Bäume Zucker aus dem im Überfluss vorhandenen CO₂ produziert und aus Wasser, an dem es durch die Veränderungen des Klimas zunehmend mangelt. Dabei sind Unterschiede zu beobachten bei Baumarten, bei Bodenverhältnissen, aber auch, ob es sich um den Nord- oder Südhang desselben Hügels handelt. Viele der Beobachtungen stammen aus den letzten Jahren, als das Wetter unvorhersagbar wurde. Neben der Trockenheit zeigt auch andauernde Feuchtigkeit ihre Spuren, etwa durch vermehrten Pilzbefall.
Es geht vor allem um die Gemeinschaft aller Lebewesen, auch im Wald: um „den komplex zusammengesetzten Holobionten.“ Wir lernen die Bedeutung des Zusammenspiels vieler Faktoren kennen, dabei zeigen gerade die alten Laubbäume, dass sie sich besser auf das Weiterleben trotz widriger Umstände verstehen.
Ein Jahrhunderte alter Baum hat schon einiges durchgemacht und Überlebenstechniken entwickelt, vor allem in seinem Wasserhaushalt. Nachdem ein Brand einen Wald im regenarmen Nordosten Deutschlands zerstört hatte, zeigt sich bei Begehungen, dass sich die Natur mit vielen Ansätzen erholt.
Durch menschliche Eingriffe nach der Lehre der Forstwirtschaft ist das Zusammenspiel der Natur durcheinandergeraten, vor allem durch die Plantagenwälder, die aus Nadelbäumen bestehen. Auch die schweren Maschinen, mit denen die Plantagen abgeerntet werden, schaden den Milliarden Lebewesen, die in der Erde leben.
Diese wichtigste Erkenntnis wird häufig wiederholt: Laubbäume, vor allem Buchen, sind für Deutschland besser geeignet. Dennoch werden Nadelhölzer in Plantagen angebaut und dienen dem Ziel der Holzwirtschaft. Diese strebt ein Abholzen nach 40 Jahren an. Danach fehlt der schützende Schatten, es fällt zu viel Licht auf den Boden, was der Zusammensetzung der Lebewesen in und auf dem Boden schadet.
Mit vielen Beispielen wird in Der lange Atem der Bäume der Irrsinn der etablierten „verbeamteten Waldwächter“ beschrieben, auch der Einfluss, den sie auf die Politik, im Beispiel die frühere Landwirtschaftsministerin, hatte. Mehr als 50 % der Wälder in Deutschland bestehen aus „gebietsfremden“ Nadelbäumen. Man pflanzt Nadelbäume aus Baumschulen, die möglichst gerade gewachsen sind, denn das gibt lange gerade Bretter, hofft man jedenfalls, aber diese vorgezogenen Setzlinge können im abgeholzten Wald, ohne den Schutz der alten Bäume nicht gedeihen. Es gibt Hinweise auf das „Greenwashing“ der Baumpflanzaktionen.
Da gibt es Universitätsprofessoren, die raten, man solle alte Bäume fällen um den neuen Platz zu geben, aber auch, im Land Rheinland-Pfalz ein Verbot bis Ende 2021 diese zu fällen: ein „Abschlagverbot.“
Nachdem in den drei Kapiteln nicht immer der rote Faden zu erkennen war und sich manches wiederholte, rundet das Nachwort das Geschriebene ab: Niemand weiß, was richtig ist, auch Wissenschaftlern steht besser Demut als Rechthaberei. Bäume haben den längeren Atem!
Love and Fortune 2
Gefühlschaos
Als Yumeaki Wako fragt, ob sie seine Freundin sein will, weiß Wako keine Antwort. Sie ist zwar in den 15-jährigen Jungen verliebt, aber der Altersunterschied macht ihr zu schaffen. Außerdem muss sie sich darüber klarwerden, wie sie zu ihrem langjährigen Freund Futa steht. Als sie sich nach langem Hin und Her dafür entscheidet, Futa zu verlassen, merkt Wako, dass das nicht so einfach geht. Sie bleibt daraufhin bei ihm. Die beiden wollen sogar heiraten. Aber Futa schöpft Verdacht. Er kommt Wako schließlich auf die Schliche und trennt sich. Als seine Freunde ihn aber nicht bei sich aufnehmen wollen und ihm ins Gewissen reden, geht er zu Wako zurück und die beiden kommen wieder zusammen. Aber dann trifft Wako Yumeaki im Kino wieder.
Die Konsequenzen einer Affäre
Der 2. Band beleuchtet die Irrungen und Wirrungen einer Affäre. Er geht auf das Gefühlschaos ein, das in allen Beteiligten vorgeht, wenn eine Affäre herauskommt. Indirekt wird auch das Toy-Boy-Vorurteil erwähnt, denn Futa nimmt Yumeaki nicht ernst und beleidigt ihn wegen seines jugendlichen Alters. Gezeigt wird aber auch, dass Wako trotz einer unguten Beziehung entscheidungsschwach ist und letztlich die Macht der Gewohnheit siegt. Dabei hätte sie als diejenige, die das Geld verdient, alle Freiheiten: entweder sich zu trennen und Single zu bleiben oder sich eine Beziehung zu suchen, in der sie wertgeschätzt wird. Für sie ist eine Beziehung mit dem minderjährigen Yumeaki allerdings mit Gefahren verbunden, weswegen sie die bestehende vermeintlich ungefährliche vorzieht. Da Yumeaki sich aber nicht abweisen lässt, findet Wako keine Ruhe, sondern wird zwischen den beiden Männern hin und her gezerrt. Sie endet in diesem Band im Gegensatz zum ersten als passiver Teil der Dreiecksgeschichte. Was der Band ebenfalls anspricht: Affären entstehen, wenn eine Frau sich nicht geliebt fühlt und nicht wertgeschätzt wird. Sie nimmt sich dann das, was ihr fehlt, bei einem anderen Mann. Das Rollenklischee des wortkargen, gefühlsarmen Mannes wird in einem Gespräch Futas mit der Frau seines Freundes kritisiert. Beziehungen leben von respektvoller Kommunikation, Wertschätzung und dem Zeigen von liebevollen Gefühlen. Sie scheitern, wenn das alles nicht gelebt wird. Deshalb versteht eine Leserin einerseits die schwankende Wako, andererseits möchte frau ihr aber auch einen Schubs in Richtung Selbstständigkeit geben und ihr sagen, dass eine Zeit als Single nur guttun kann, um sich selbst und die eigenen Bedürfnisse besser kennenzulernen. Anders ausgedrückt: Der Manga schafft es, dass man sich in die Geschichte hineinversetzt und mit den Figuren mitfiebert.
Mit der Geschwindigkeit des Sommers
Bedrückendes Psychogramm
Es ist ein DDR-Roman der besonderen Art, in dem Julia Schoch unter dem kryptischen Titel «Mit der Geschwindigkeit des Sommers» über die Folgen der politischen Wende auf die Psyche einer Frau berichtet. Die Geschichte schildert aus einer ungewöhnlichen Perspektive die Auswirkungen dieser Zäsur, mit der sich für Viele ein neues, aber nicht immer auch besseres Leben abzeichnete. «Bevor sich meine Schwester in New York das Leben nahm oder, den Ahnungslosen zufolge, zufällig dort starb, hatte ich das immergleiche Bild von ihr im Kopf». So lautet, das Ende vorwegnehmend, der erste Satz, der Roman beschreibt nur den einsamen Weg ins Verhängnis.
Im Rückblick berichtet hier eine namenlose Ich-Erzählerin, die jüngere der beiden Schwestern, von der gemeinsamen Jugend in einer eiligst aus dem Boden gestampften Garnisonsstadt am Stettiner Haff. Der strategisch günstige, aber in einer öden Gegend gelegene Stützpunkt bestimmt das Alltagsleben in dem Städtchen. Einmal, erinnert sich die Erzählerin, sei sie mit ihrer älteren Schwester im Kino gewesen, umringt ausschließlich von Soldaten in ihren grauen Uniformen. Den vielen jungen Männern konnte der trostlose Ort kaum mehr Unterhaltung bieten als den Kinobesuch oder den Versuch, mit hübschen Mädchen anzubandeln. Und so habe ihr die ältere Schwester eines Tages denn auch von einem Schäferstündchen mit einem der Soldaten berichtet. Als nach der Wende die Garnison aber verkleinert und schließlich aufgegeben wurde, hatte ihr Soldat schon bald den Dienst quittiert und sich in den Westen abgesetzt. Die Ich-Erzählerin, deren Profession mit dem Stichwort ‹Drehbuch› nur an einer Stelle indirekt angedeutet wird, hat ihrer Heimat nach der Wende ebenfalls den Rücken gekehrt. Ihre ältere Schwester hingegen ist geblieben, hat geheiratet, zwei Kinder bekommen und führt nun ein langweiliges Leben als Hausfrau und Mutter. Die jüngere Schwester besucht sie ab und zu, und so erzählt die ältere ihr dann auch, dass ihr «Soldat», der inzwischen ebenfalls verheiratet ist, nach vielen Jahren den Kontakt mit ihr wieder aufgenommen habe. Seither besuche er sie häufig, ihre rauschhafte Beziehung sei sexuell für beide unvergleichlich intensiv.
Erzählt wird diese beklemmende Geschichte überwiegend in Form der inneren Rede, die der Ich-Erzählerin allerdings fiktiv ein Wissen unterstellt, dass niemand von den Gedanken eines anderen haben kann. «Hatte nicht der inzwischen verschwundene Staat verhindert, dass man zu irgendwas Großem in der Lage war», sinniert zum Beispiel die depressive ältere Schwester. Geradezu schwärmerisch gibt sie sich der verlockenden Vorstellung hin, «dass in diesem anderen Staat ein anderer Lebenslauf für sie bereitgestanden hätte». Und bei ihrem letzten Telefonat hatte die Ich-Erzählerin sie gefragt, wie sie denn «plötzlich auf die Idee gekommen sei, einfach ihren Liebhaber abzustoßen». Und bekommt zur Antwort: «Das habe sich ‹mit der Geschwindigkeit des Sommers› in ihr festgesetzt». Selbstkritisch merkt die Jüngere an: «Wäre ich aufmerksamer gewesen, hätte ich ihre verhängnisvolle Entscheidung vielleicht rückgängig machen können».
Diese Geschichte eines aus dem Lot geratenen Lebens wird in einem lakonisch knappen Stil erzählt, der intensiv das Psychogramm einer rätselhaft bleibenden Frau und ihrer fatal gescheiterten Befreiung aus bedrückenden staatlichen Zwängen zeichnet. Der Roman ist eine einzige Suche nach dem Motiv für die Verzweiflungstat. Dabei entspricht die nüchterne, unterkühlte Erzählsprache zwar dem trostlos kargen Ambiente des Handlungsortes, nicht aber das zutiefst menschliche Thema, um das es hier geht. Es ist dieser Kontrast zwischen einer knappen, zögerlichen Sprache und der unter die Haut gehenden Tragik eines unwiderruflich gescheiterten Lebensentwurfs, der dieses bedrückende Psychogramm zu einer intensiven, lang nachwirkenden Lektüre macht. Damit wird, das sei noch angemerkt, der gängigen DDR-Thematik eine neue Facette hinzugefügt.
Fazit: erfreulich
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Das Jahr, in dem ich aufhörte …
Unvereinbar konträre Welten
Schon der epische Titel «Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen» des post-kapitalistischen Romans von Thomas von Steinaecker weist auf eine positive Entwicklung hin. Was als realistische Beschreibung des Turbo-Kapitalismus beginnt, endet in einem futuristischen Vergnügungspark in Samara, der seine Besucher zum Träumen einlädt und seine Ich-Erzählerin schließlich dazu bringt, das Buch zu schreiben, das wir in Händen halten.
Die 42jährige Renate, alleinstehend und kinderlos, erfolgreiche Versicherungs-Agentin, wird zur Key-Account-Managerin befördert und von Frankfurt nach München versetzt. Sie befindet sich gerade in einer emotional schwierigen Phase, ihre Mutter ist erst vor kurzem verstorben und ihr verheirateter Chef und Lover hat sie kürzlich eiskalt abserviert. Der Roman beginnt mit ihrem ersten Arbeitstag am 1. Oktober 2008, kurz nach der Pleite von Lehman Brothers. Die emotional vereinsamte Frau stürzt sich mit vollem Elan in die Arbeit, sie gewinnt auch sehr schnell einen neuen Premium-Kunden. Und dann ist auch noch eine interne Revision angesetzt, wobei der Controller Renate als Beisitzende zu den Einzelgesprächen mit der Belegschaft hinzuzieht. Schließlich vermittelt ihr der zufriedene Premium-Neukunde einen Riesenauftrag, ein russischer Großkonzern will in München einen ultramodernen Vergnügungspark errichten und bei ihr versichern. Sie fliegt zu einem ersten Gespräch nach Samara in die Firmenzentrale und besichtigt den dortigen Park. Von ihrem Chef aus München erhält sie am nächsten Tag telefonisch die Nachricht, dass die ganze Abteilung aufgelöst wird und alle Mitarbeiter ab sofort den Arbeitsplatz verlieren.
Mit genauem Blick für Details schildert der Autor die moderne Arbeitswelt in der Assekuranz mit ihrem ständigen Zwang zu Wachstum, mit neidischen Kollegen und oft schwierigen Kunden. Die müssen mit ausgeklügelten psychologischen Tricks nicht nur zum Abschluss überredet, sondern möglichst auch noch dazu gebracht werden, durch unrealistische Risiko-Analysen überhöhte Prämien für die jeweilige Police zu akzeptieren. All das vollzieht sich in einem abstoßend desillusionierenden Fachjargon. In diesem technokratischen Milieu entwickelt die emotional unterentwickelte, aber gut bezahlte Heldin permanent neue Absturzängste, gegen die auch ihre vielen Psychopharmaka kaum noch helfen. Das artikuliert sich in ihrem mehr als peinlichen Zwang zum Pfandflaschen-Sammeln in öffentlichen Abfallkörben. Mit dem Vergnügungspark setzt der Autor dem bedingungslos auf Rationalität getrimmten Versicherungs-Milieu eine märchenhafte Traumwelt entgegen, die in ihrer Nutzlosigkeit den Alternativ-Entwurf darstellt für eine menschlichen Urbedürfnissen gerecht werdende Lebensweise. Dazu gehört dann auch, dass die Heldin in Samara bleibt, sich eine bescheidene Unterkunft sucht und anfängt, ihre Geschichte aufzuschreiben. Sie tut das mit Bleistift, eine nicht nur symbolische Rebellion gegen den nervenden Technologie-Druck.
Thomas von Steinaecker lässt seine extrem rationale Romanheldin resigniert aus ihrer zermürbenden, ausschließlich dem schnöden Mammon gewidmeten Erwerbswelt aussteigen. Animiert durch die Traumwelten des Vergnügungsparks widmet sie sich nunmehr einer kontemplativen, dem eigenen Seelenheil dienenden Beschäftigung, dem Schreiben über das eigene Leben. Ein Akt der Selbstvergewisserung und der psychischen Gesundung, welcher, Authentizität vortäuschend, durch in den Text eingestreute Bilder aus dem Nachlass der Mutter illustriert wird. Zu dieser toughen Heldin gewinnt man allerdings keine emotionale Nähe als Leser, und auch die anderen Figuren wirken seltsam blutleer. Vieles an der anfangs mitreißenden Geschichte ist zudem zweifelhaft oder bleibt offen. Die konträren Welten des Romans stehen ohne jede Verbindung für sich allein, als Abbild der Widersprüche unserer modernen Gesellschaft ist dieser Roman jedenfalls ziemlich misslungen.
Fazit: mäßig
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Venedig. Wintertage in der Serenissima
Venedig. Wintertage in der Serenissima.
Venedig Connaisseur und Liebhaber Wolfgang Salomon lädt wieder zu einer Reise in die Lagune ein, dieses Mal im Winter. Er bietet dem/r geneigten Leser/in einen “Slowtravel” mit Tonspur an, denn zusätzlich zu den zumeist selbst geschossenen anmutenden Bildern und Texten, ergänzt er seine Ausführungen mit Empfehlungen aus seinem ganz persönlichen Venedig Soundtrack.
Venedig für Liebhaber
Salomon beginnt seinen Lagunenreigen mit einem Inselhüpfen und landet als erstes auf der Friedhofsinsel San Michele, die 2019 einmalig mit einer Pontonbrücke mit Venedig verbunden wurde. Das Wahlgeschenk des Bürgermeisters kam aber schlecht an und wurde sogleich wieder abgeschafft. Aber dafür gibt es ja die beiden anderen traditionellen Pontonbrücken im Juli und November an anderen Stellen in Venedig. San Michele jedenfalls steht bei Salomon nicht für Thomas Manns Novelle “Tod in Venedig”, sondern für Baron Corvo auch bekannt als Frederick Rolfe, der offener und skandalöser über Homosexualität schrieb, als der deutsche Schriftsteller es sich je zu träumen gewagt hätte. Das teils autobiographische Werk des Engländers Rolfe “The Desiree and Pursuit of the Whole” (1909) schildert die Liebe zu einem hermaphroditen Gondoliere. Der Autor selbst blieb bis zum bitteren Ende ein Bewohner Venedigs, schlief am Strand von Lido oder auf seiner privaten Gondola. Dafür wurde er aber in Hugo Pratt’s Corto Maltese (Favola di Venezia) als Baron Corvo verewigt und zumindest so unsterblich. Selbst der große Cantautore Paolo Conto verneigt sich in seinem Song “Sirat Al Bunduqiyyah” vor Rolfe und Pratt, was Salomon einen eigenen Tonspur-Tipp wert ist.
Venedig. Wintertage in der Serenissima.
“Orte zum Aufwärmen” nennt Salomon seine Hinweise für kalte Wintertage, an denen man zwischen ausgedehnten Spaziergängen auch einmal ein “Bedürfnis” verspürt. Dem kann zum Beispiel im kürzlich neu eröffneten Sisi-Trakt des Museo Correr nachgegangen werden, oder aber in der Area Forte Marghera, das mit dem Pendelzug vom Bahnhof Santa Lucia bis Mestre und dann mit dem Bus 15 vom Bahnhof Mestre aus erreichbar ist. Dort haben schon länger einige kreative Köpfe ihren Platz gefunden, mittlerweile aber auch die Kunstbiennale einige Pavillons bespielt. Erinnerungen an Edgar Allen Poe’s Erzählung “Das Fass Amontillado“, in der der Erzähler seinen Erzfeind zur Zeit des venezianischen Karnevals in einen Keller lockt, werden beim Autor wach, als er sich in die Krypta der Chiesa die Santi Simeone e Giuda verirrt. Die Kirche, die vis a vis vom Bahnhof Santa Lucia steht, kennt jeder Tourist vom Warten auf seinen Zug, aber wenige die wenigsten haben sie wohl je betreten. Wer sich lieber in einem Café oder einer Bar aufwärmt den führt Wolfgang Salomon zu den Klängen von Angelo Badalamenti, dem Soundtrack zur Novelle “The Comfort of Strangers” von Ian McEwans Verfilmung durch Paul Schrader zur besten Pizzeria Venedigs. Pizzeria Aciugheta (Campo Santi Filippo e Giacomo) befindet sich in der Nähe des Ristorante Albiubagiò (Fondamente Nove 5039) in einer weniger touristischen Gegend Venedigs. Wer lieber Süßes mag, dem empfiehlt Salomon etwa die Pasticceria Tonolo, die die einzigartigen Martinsfritelle erfunden hat. Mit Rosinen, Zabaione-Creme oder Chantilly. Aber nur im November, wenn der Hl. Martin Geburtstag hat. So wie es auch die Castradina nur zum zur selben Zeit stattfindenden Salute Fest gibt. Im Grandhotel Palazzo dei Dogi gibt es noch ein Unikum, den letzten Eiskeller Venedigs, die Grottin del Giasso. Für die ganz Mutigen hier ein letzter Tipp: Venice Kayak, auf der gleichnamigen Homepage gibt es Bootstouren im Angebot, es sei denn die Kanäle sind mal wieder zugefroren. Zuletzt passierte das 1929, wovon man sich im Netz unter “Laguna Ghiacciata” überzeugen kann. Aber viele weitere brauchbare Tipps finden sich ohnehin in vorliegendem Reiseführer der besonderen Art.
Auch wenn Venedig seinen dekadenten Höhepunkt im 18. Jahrhundert hatte und damals Feste gefeiert wurden von denen man heute nur mehr träumen kann, spielt die Stadt doch auch bei den Celebrities des 21. Jahrhunderts immer noch eine Rolle, weiß Salomon. So heiratete etwa George Clooney seine Frau im Palazzo Papadopoli oder Cole Porter sorgte mit einem Auftritt von Josephine Baker für einen Skandal. “Wintertage in Venedig” bietet aber auch einen Livebericht vom 12.11.2019 als 90% der Stadt unter Wasser standen: Salomon war vor Ort! Weiters: Einkaufstipps wie Dogen-Schlapfen aus Radgummireifen bei Piedàterre Rialto, Antiche Drogerie Màscari, WEnice, etc.
Wolfgang Salomon
Venedig. Wintertage in der Serenissima.
2021, Broschur, 16,8 x 24 cm; 176 Seiten
ISBN 978-3-222-13664-1
Styria Verlag
€ 28,00
Illustrated by Styria Verlag Graz
Wilde Saat
Zucht und Ordnung
Der Unsterbliche Doro züchtet schon seit Jahrtausenden Menschen mit außergewöhnlichen Merkmalen. Deshalb ist er ständig auf der Suche nach vermeintlichen Hexen oder Hexern („wilde Saat“), die frisches Blut in seine Zuchtdörfer bringen. Eines Tages folgt er der Spur einer ganz besonderen Frau: Sie ist wie er unsterblich, besitzt darüber hinaus aber noch die Fähigkeiten einer Gestaltwandlerin und einer außergewöhnlichen Heilerin. Anyanwu ist zunächst von der Aussicht begeistert, endlich nicht mehr von ihren Nachfahren mit dem Tod bedroht zu werden und unter ihresgleichen leben zu können. Deshalb folgt sie Doro in eines seiner Zuchtdörfer. Aber sie muss schnell feststellen, dass auch dieses vermeintliche Paradies seine Schattenseiten hat. Doro herrscht wie ein Gott über seine Nachfahren. Er hat despotische Züge, duldet keine Widerrede und verlangt, dass man klaglos seinen Zucht- und sonstigen Wünschen nachkommt. Das bedeutet auch, dass sich die Menschen von ihm töten lassen müssen, wenn Doro einen neuen Körper braucht. Seine Seele kann nicht ins Jenseits eingehen, sondern wechselt automatisch den Körper, wenn der alte verbraucht ist. Und das passiert spätestens nach zwei bis drei Jahren. Das Töten ist ihm zur Gewohnheit geworden, was Anyanwu als Heilerin entsetzlich findet. Sie selbst ist aus anderem Holz geschnitzt als Doro: Ihre Nachfahren dürfen sich ihre Partner*innen selbst wählen, erhalten Hilfe, Heilung, Schutz und Rat von ihrer Ahnin, und Anyanwu zieht all ihre zahlreichen Kinder eigenhändig und liebevoll auf. Überhaupt herrscht bei ihr Liebe und soziales Verhalten, wenn sie ein Dorf gründet. Nach ihren Möglichkeiten versucht sie Doro zum Positiven hin zu beeinflussen, aber dieser erweist sich als resistent gegen ihre Versuche, seine Praktiken sozialverträglicher zu machen. Da sie selbst vom Tod bedroht ist, wenn sie Doro nicht gehorcht – er würde schlicht und einfach ihren Körper übernehmen, was ihren Tod nach sich ziehen würde – verzweifelt sie allmählich an ihrer Machtlosigkeit Doro gegenüber. Schließlich entzieht sie sich ihm durch Flucht. Aber da Anyanwu für Doro gefährlich werden könnte, nimmt er die Verfolgung auf.
Patriarchat versus Matriarchat
Dieser von einer Frau geschriebene Science-Fiction-Roman ist in mehrerlei Hinsicht ungewöhnlich. Zum einen sind die Hauptpersonen schwarzhäutig, auch wenn Doro immer mal wieder weiße Körper benutzt. Schwarzhäutige Menschen, v.a. als Hautpersonen, kommen leider viel zu wenig in Romanen vor, weshalb schon dieser Umstand eine positive Hervorhebung wert ist. Dementsprechend spielt ein Teil der Geschichte in Afrika, und zwar vor und während der Kolonialzeit und der Versklavung der Schwarzafrikaner*innen. Hier wird die grausame Geschichte der Schwarzafrikaner*innen aufgezeigt, auch wie die Menschen darunter leiden. Und Doro wird als Mittäter dargestellt, da er aufgrund seiner eigenen Sichtweise kaum noch Menschlichkeit an den Tag legt. Er will zwar, dass es seinen Zuchtobjekten gut geht, sortiert aber auch gnadenlos aus, wenn sie ihm nicht mehr von Nutzen erscheinen. Nur Anyanwu macht all dies etwas aus. Sie möchte Menschlichkeit und positives soziales Verhalten um sich herum. Sie stellt damit einen Gegenentwurf zu Doro dar, dem seine Menschlichkeit immer mehr abhanden kommt.
Afrika ist die Wiege der Menschheit, und irgendwie schwingt das in dieser Geschichte mit. Dabei wird aber auch nicht verschwiegen, dass auch Schwarzafrikaner*innen ihren Anteil an der Versklavung hatten, wenn sie andere Stämme unterwarfen und verkauften oder ihresgleichen als Hexen brandmarkten und sogar zu töten versuchten. Das wird zwar eher nebenbei erwähnt, aber es hat Einfluss auf den weiteren Verlauf der Geschichte. Butler wollte wohl möglichst realistisch und nicht in im wahrsten Sinne des Wortes schwarz-weiß denken, sondern eine facettenreiche Story entwerfen, was ihr auch gelungen ist. Ihre Charaktere sind plausibel und nicht eindimensional, egal ob schwarz- oder weißhäutig.
Insgesamt entwirft Butler eine Geschichte des Patriarchats versus des Matriarchats. Sie zeigt das anhand ihrer beiden Hauptpersonen Doro und Anyanwu. Wenn man sich die Story genauer betrachtet, erinnert sie an die Theorie von Marija Gambutas: Vertreter des Patriarchats fallen in Gebiete ein, in denen das deutlich sozialere Matriarchat vertreten ist, und löschen diese Kultur trotz erbitterter Gegenwehr durch Frauen und Männer mit brutaler Gewalt aus. Doro vertritt in seinem gesamten Gehabe das Patriarchat. Seine Position als Familienoberhaupt ist unanfechtbar, sein Wort Gesetz. Wer sich an seine Vorschriften hält, führt ein einigermaßen gutes Leben, gibt dafür aber alle Freiheiten auf. Wer sich nicht daran hält, wird bestraft bis hin zum Tod. Es ist letztlich eine Gewaltherrschaft, die darauf beruht, dass Doro weiß, dass er den anderen überlegen ist. Die Menschen bleiben nicht freiwillig und gern bei ihm, sondern weil sie Angst vor ihm haben.
Anyanwu als Gegenentwurf zu Doro ist auch sehr mächtig, aber sie setzt ihre Macht nicht gegen, sondern für die Menschen ein, auch wenn diese sie als Bedrohung sehen. Sie setzt nicht auf Angriff, sondern auf Verteidigung, wenn es nicht mehr anders geht. Sie bevorzugt weder Gewalt noch Tod, sondern Heilung in allen Facetten. Sie denkt nicht wie Doro destruktiv, sondern konstruktiv. Sie agiert positiv sozial, indem ihr etwas an ihren Mitmenschen liegt, und sie ihnen mit Rat und Tat zur Seite steht. Sie lebt mit ihnen und nicht über ihnen. Sie liebt ihre Nachkommen und alle, die in ihrem Dorf Zuflucht gefunden haben. Sie vernetzt sich mit den Menschen und sie vernetzt die Menschen untereinander. Sie verhält sich wie eine gute Mutter zu ihren Kindern, hegt und pflegt die Gemeinschaft. Sie agiert mit der Natur und nicht gegen die Natur. Sie fügt sich in das Große Ganze ein und lebt nicht als herrschaftlicher, despotischer Parasit wie Doro. Doros Sohn trägt ihr auf, Doro zum Positiven zu beeinflussen, damit er seine Menschlichkeit nicht ganz verliert – was sich zu einer Mammutaufgabe auswächst, die aber aufgrund der Rettung der Welt notwendig ist.
Das erinnert sehr an Mythen und deren Kämpfe, die die realen Kämpfe des Patriarchats gegen das Matriarchat abbilden. Man sehe sich z.B. nur einmal die griechischen Mythen an, von der zunächst von einer weiblichen, großen Urgottheit die Rede ist, bis hin zur Entwicklung zum männerdominierten göttlichen Olymp, auf dem die Göttinnen eine den Göttern untergeordnete Rolle spielen. Doros Übernahme erfolgt zwar vergleichsweise sanft, aber die Drohung ist latent bis deutlich immer vorhanden. Die einst eigenständige Anyanwu wird regelrecht unterjocht, hört aber nie auf sich zu wehren, bis sie von Doro ernst genommen wird. Das wird sie allerdings erst, als sie den Tod nicht mehr fürchtet, denn erst durch diese Entscheidung wird sie wieder unabhängig.
Doro regiert seine Zuchtdörfer mit strenger Hand. Er fordert Unterwerfung. In seinen Dörfern ist es zwar egal, welcher „Rasse“ die Menschen angehören, trotzdem existiert eine Hierarchie. Die Hierarchie beruht auf geeigneten und ungeeigneten Zuchtobjekten. Je mehr „Hexen“-Potential seine Zuchtmenschen haben, desto wertvoller sind sie für ihn. Eine echte Bindung zu seinen Kindern besteht nicht, nur ein Sohn darf ihm wirklich nahekommen. Dem gegenüber steht die Gleichrangigkeit der Menschen bei Anyanwu. Sie behandelt die Menschen mit Menschlichkeit und der einzelne Mensch ist ihr wertvoll. Wenn sie urteilt, dann nach dem Charakter. Ein Mensch, der ihrer Gemeinschaft Schaden zufügt, wird ausgeschlossen. Sie handelt damit nach matriarchalischen und Jäger-Sammler-Mustern.
Science-Fiction ist hier wörtlich zu verstehen: Nach Art der Alternative History wird gezeigt, was genetische Versuche positiv und negativ bewirken, auch und gerade in ethischer Hinsicht.
Fazit
Der Science-Fiction-Roman handelt nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit. Er nimmt die Wissenschaftsfiktion wörtlich, indem er beleuchtet, wie genetische Zuchtversuche am Menschen in körperlicher und ethischer Hinsicht aussehen und ausgehen können. Dabei beleuchtet er zwei Systeme: das des Patriarchats und das des Matriarchats. Der Roman behandelt in Kombination dazu Andersartigkeit und wie damit umgegangen wird. Außerdem stellt er afrikanische und afroamerikanische Menschen in den Vordergrund, was leider immer noch viel zu selten vorkommt. Ein in vielerlei Hinsicht vielschichtiger und wertvoller SF-Roman.
Robinson Crusoe. Neu übersetzt und ungekürzt.
Robinson Crusoe, der Roman in Neuübersetzung. “To be born is to be wrecked on an island“, schrieb James Matthew Barrie und meinte damit vielleicht nicht unbedingt Robinson Crusoe alleine, wiewohl er bestimmt schon von ihm gehört hatte. Denn jede/r kennt Robinson Crusoe. Aber die wenigsten kennen ihn im Original oder ungekürzt, was die hier vorliegende Prachtausgabe in Leinen des mare Verlages nun erstmals auch deutschen Leser/innnen ermöglicht.
300 Jahre Robinson Crusoe
Der Roman (Erstveröffentlichung 1719), der vor rund 300 Jahren von Daniel Defoe (1660-1731) geschrieben wurde, wird zumeist der Abenteuer- oder Jugendliteratur zugerechnet. Jedoch wurde sowohl dem Autor als auch dem Werk damit großes Unrecht zugefügt. Schließlich war Defoe schon 59 Jahre alt als er Robinson Crusoe verfasste und hatte durchaus auch ein reales Vorbild in der Person von Alexander Selkirk, den der Journalist in der Bahia Cumberland kennenlernte, gefunden. Zudem war Defoe ja schon zuvor, also vor Robinson Crusoe, als Journalist und Autor in Erscheinung getreten. Dennoch gilt sein Spätwerk als der “erste Abenteuerroman” der europäischen Literaturgeschichte. Dies ist vor allem den zumeist gekürzten und vereinfachten Versionen, die in deutschsprachigen Ländern in Umlauf sind, verschuldet. Wer sich dem “Klassiker der Meeresliteratur” in seiner ganzen epischen Breite widmet, wird feststellen, dass zwischen seinen Buchdeckeln auch sehr viel Weisheit liegt und nicht nur die Sprache, sondern auch das Denken, das darin enthalten ist, sehr modern ist. Natürlich ist eine deutsche Übersetzung immer noch kein Original, aber dem hält Günther Wessel im lesenswerten Nachwort entgegen, dass die englische Sprache sich – in den letzten 300 Jahren – sehr viel weniger verändert habe als die deutsche. Gerade das habe aber eine Neuübersetzung des zuletzt 1973 (!)
ins Deutsche übersetzten Textes zwingend erforderlich gemacht. Und so können wir in der Version von Rudolf Mast endlich einen Text in Händen halten, der so nahe wie möglich am Original ist und so vielleicht für weniger Missverständnisse sorgt wie bisher. Denn auch der Defoe angekreidete “Kolonialismus eines Konquistadors” (Crusoe “benennt” Freitag und sich “Herr”) kann dadurch relativiert werden, dass Defoe sich Zeit seines Lebens gegen die damals und heute durchaus übliche Ausländerfeindlichkeit einsetzte in seinem Gedicht “The true-born Englishman” diesen Ausdruck als “a contradiction in terms, in speech an irony, in fact fiction” bezeichnete. Das klingt doch sehr modern für 17. Jahrhundert. Eine klare Absage an Rassismus und Rassenlehre also.
Neuübersetzung nahe am Original
Daniel Defoe hat aber nicht nur eine literarische Gattung begründet, sondern sie zugleich auch lust- und absichtsvoll zerstört, wie ich Günther Wessel beipflichten möchte. Denn nicht nur dass eigentlich sehr wenig Abenteuer im Abenteuerroman schlechthin enthalten ist (genau genommen nämlich nur am Anfang und am Ende), sondern vielmehr noch steckt in Robinson Crusoe, dem Roman, die Sehnsucht nach der Ferne, zugleich aber auch die Weltflucht und Kontemplation, die vielleicht einige Jahrhunderte später genau jene Revolution auslöste, die die Herrschaft der Könige und Kaiser beendete. Denn die 28 Jahre, die Robinson Crusoe, der Mensch, auf der Insel verbrachte hatten ihm vielleicht genau jene Einsicht eingebracht, die vielen von uns auch heute noch fehlt: schau nicht auf das, was dir fehlt, sondern auf das, was du hast. Und so gesehen sind wir alle Glückliche, egal auf welcher Seite des Lebens wir stehen, denn leben selbst ist das größte Geschenk, das uns nur einmal (im Leben) gereicht wird. Wenn wir auch nicht alle das (Un-)Glück haben, auf einer einsamen Insel zu stranden, um uns der wesentlichen Dinge des Lebens bewusst zu werden, ist Robinson Crusoe, der Roman, doch eine gute Gelegenheit eben dorthin zu entfliehen. Zumal die Ausgabe des mare Verlages nicht nur ungekürzt und so nahe am Original wie möglich ist, sondern auch noch in einer wunderbaren bibliophilen Ausgabe gedruckt wurde und im Schmuckschuber auch Reisen schadlos überstehen kann.
Daniel Defoe
Robinson Crusoe
Roman
(Originaltitel: The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe)
Aus dem Englischen von Rudolf Mast
2019, Leineneinband im Schuber, 416 Seiten
ISBN: 978-3-86648-291-3
Mare Verlag
42,00 €
Das verlorene Paradies
Verklärte historische Sicht
Der im Original 1994 erschienene, in der deutschen Übersetzung «Das verlorene Paradies» betitelte Roman hat dem in Sansibar geborenen und in England lebenden Schriftsteller Abdulrazak Gurnah den Durchbruch gebracht. «Für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten» wurde 2021 sein Œuvre mit dem Nobelpreis geehrt. In Deutschland löste die Preisvergabe ziemliche Beschämung aus, war doch hierzulande selbst den Insidern weder der Preisträger noch sein Werk bekannt, vieles davon war auch nie ins Deutsche übersetzt worden. Mit einer eiligst nachgedruckten Neuauflage ist der erfolgreiche Entwicklungs-Roman nun wieder auf Deutsch erhältlich. In seiner Reise-Episode habe dieser Roman deutliche Bezüge zum «Herz der Finsternis» von Joseph Conrad, hat das Nobel-Komitee konstatiert. Er habe zudem, vor dem Hintergrund der Kolonisation in Ostafrika Ende des 19ten Jahrhunderts, Anklänge an die Geschichte von Yusuv aus dem Koran.
In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg muss der zwölfjährige Yusuf, dessen Vater sich bei einem reichen Araber Geld geliehen hat, welches er nicht zurückzahlen kann, sein armseliges Elternhaus verlassen. In der fernen Stadt soll er bei ‹Onkel Aziz› so lange in dessen Krämerladen arbeiten, bis diese Schulden abgetragen sind. Angeleitet von seinem Kollegen Khalil, der für den Laden verantwortlich ist, wird der aufgeweckte Junge wegen seiner Menschen-Freundlichkeit bei allen Kunden schnell sehr beliebt. Insbesondere bei den Frauen, von denen einige schon bald ein Auge auf den schönen Jüngling geworfen haben. Der hinter dem Haus des Händlers gelegene Garten erscheint Yusuf mit seinen exotischen Pflanzen und dem Teich in der Mitte wie ein Paradies. In seinem epikureischen Denken sieht er sich, innerlich frei, als glücklicher Mensch. Wie sich schließlich herausstellt, sind sowohl Khalil als auch der alte Gärtner wie er ebenfalls quasi Eigentum von Aziz. Sie arbeiten als Sklaven für ihn, ohne sich ein anderes Leben auch nur vorstellen zu können.
In größeren Abständen unternimmt Aziz ausgedehnte Handelsreisen ins Landesinnere, er treibt mit den dort lebenden Völkern einen lukrativen Tauschhandel. An einer solchen Handels-Karawane in besonders entfernte, unbekannte Länder muss schließlich auch Yusuf teilnehmen. Er wird dabei mit unsäglichen Strapazen, Krankheit und Tod konfrontiert, aber auch mit unsäglichen Grausamkeiten. Seine naiv unbeschwerte Jugend endet abrupt, seine innere Freiheit geht verloren. Diese letzte Reise wird auch finanziell ein Fiasko, Aziz hat größte Mühe, seine Leute zu bezahlen und die an der erfolglosen Expedition beteiligten Geldgeber zu vertrösten. Der von prophetischen Träumen geplagte Yusuf verliebt sich schließlich in Anima, die einst als Mädchen mit Khalil zusammen ins Haus von Aziz gekommen war und von ihm als blutjunge zweite Frau geheiratet wurde. Wie oft bei Abdulrazak Gurnah gibt es aber auch hier kein versöhnliches Ende. Die Kolonial-Mächte verändern brutal das Leben der unterdrückten Völker, der traditionelle Tauschhandel kommt zum Erliegen. Damit verschwindet auch das bisher friedliche, ausbalancierte Nebeneinander der verschiedenen Ethnien, Religionen und des in munterem Durcheinander gesprochenen Kisuaheli und Arabisch.
Das Besondere des Romans ist die Perspektive der Unterdrückten, aus der heraus, mit elegischer Grundstimmung, illusionslos erzählt wird. Ziemlich ungewohnt für westliche Leser ist ferner auch die religiöse Bezugnahme auf den Koran statt auf die Bibel. In bunten Bildern wird hier einerseits ein Paradies genügsamer Menschen geschildert, die sich allen Zumutungen resigniert unterwerfen, andererseits gibt es aber auch keine Grausamkeit, keinen Gewaltexzess, keinen Ekel, den der Autor seinen Lesern erspart. Seine einseitig verklärte Sicht auf die historische Realität trübt den positiven Eindruck von diesem Roman zudem beträchtlich.
Fazit: lesenswert
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Der Turm
Zweitlektüre zu empfehlen
Im Jahre 2008 erschien unter dem Titel «Der Turm» von Uwe Tellkamp der ‹ultimative Wenderoman›, er wurde mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Vier Jahre später erreichte die ARD mit ihrer Verfilmung des Stoffs mehr als sieben Millionen Zuschauer. In seinem Opus magnum hat der Autor die letzten sieben Jahre der DDR bis zum unblutigen Volksaufstand im ersten Arbeiter- und Bauerparadies auf deutschem Boden thematisiert. Und er hat es aus einer ungewöhnlichen Perspektive geschildert, dem auch im Sozialismus durchaus vorhandenen Bildungs-Bürgertum eines noblen Dresdner Villenviertels.
Als Erzähler aus der Mitte einer oppositionell eingestellten, systemfernen Bourgeoisie fungieren dabei der zu Beginn 17jährige Schüler Christian, der Arzt werden will, ferner sein Vater Richard, Oberarzt in einer chirurgischen Klinik, sowie sein Onkel, der studierte Biologe Meno, der fachfremd als Lektor in einem renommierten Verlag tätig ist. In unzähligen Episoden mit einer Hundertschaft von Figuren werden hier Geschichten aus den verschiedensten Milieus erzählt, die in einem dichten Geflecht von Verbindungen allen möglichen Kreisen der Gesellschaft angehören. Neben dem familiären und nachbarschaftlichen Verbund sind dies das Gesundheits-Wesen, für das der Vater steht, ferner das Bildungs-Wesen und die Nationale Volks-Armee, die der Sohn durchläuft und durchleidet, und schließlich auch das Verlagswesen, in dem sich der Onkel zu behaupten hat. Alle Drei sind dabei den bekannt fiesen Pressionen des diktatorischen Regimes ausgesetzt und kämpfen mit dessen sich überall zeigenden, grotesken Unzulänglichkeiten. Über allem wacht als permanente Bedrohung ein Spitzelsystem, das jederzeit mit einem Schlage eine erfolgreiche Karriere endgültig zerstören oder eine sich abzeichnende von vornherein verhindern kann. Im privaten Leben kommt es neben dem täglichen Kampf mit der Mangelwirtschaft und jederzeit drohenden Denunziationen natürlich auch zu amourösen Verwicklungen, die so weit gehen, dass der Vater dem Sohn die Freundin ausspannt. Onkel Meno liegt in ständigem Kampf mit den literarischen Betonköpfen der Kulturbehörden, den er in einem geradezu poetischen Tagebuch festhält, aus dem im Roman immer wieder mal zitiert wird.
Uwe Tellkamp schildert das bourgeoise Milieu, dem er ja ebenfalls entstammt, mit scharfem Blick für kleinste Details durchaus selbstkritisch. Bei allem Realismus wird dem Geschehen aber auch die eine oder andere eher märchenhafte Szene auflockernd beigemischt. In diesem Kaleidoskop sind die einzelnen Textteile, oft in unterschiedlicher Diktion, locker aneinander gereiht. Neben fachsprachlichen Begriffen finden sich da auch Militär- oder Stasi-Jargon, ein lautgetreu geschriebenes, breites Sächsisch, zuweilen aber auch eine poetische, nur in der gehobenen Literatur anzutreffende Ausdrucksweise. «Der Turm» enthält Elemente des Schlüsselromans, mehr als ein Dutzend Figuren sind da mehr oder weniger deutlich erkennbar, ein Who-is-Who der DDR-Literatur-Schaffenden bis hin zu einigen aus dem dekadenten Westen.
Als Tausendseiter hat dieser Roman mit seinen familiären Erzählern nicht nur vom Umfang her gewisse Ähnlichkeiten mit den Buddenbrooks. Besonders deutlich wird das im ersten Teil durch dem vergleichbar bildungssatten wie auch beschaulichen Erzählgestus. Diesem bürgerlichen Realismus mit seinen vielen literarischen Anspielungen und Symbolen steht im zweiten Teil unter dem Titel «Die Schwerkraft» ein eher sozialistisch geprägter Realismus gegenüber. Der zielt, deutlich politischer, auf die sich abzeichnende Wende hin, jene am 9. November 1989 bevorstehende Zäsur, in die der Leser an diesem historischen Tag abrupt entlassen wird. Die gigantische Materialfülle ist letztendlich auch erdrückend, sie übersteigt in ihrer Vielfalt deutlich das Aufnahmevermögen. Was man dann erst beim zweiten Lesen merkt, denn nach mehr als zehn Jahren ist davon kaum noch etwas erinnerlich. Es lohnt sich also jede erneute Lektüre, eine erste aber ist geradezu Pflicht!
Fazit: erstklassig
Meine Website: http://ortaia.de
Grenzenlose Sinne – Intuition, Empathie, Hellsehen
Erweiterte Wahrnehmung
Stefan Brönnle will mit diesem Buch darauf aufmerksam machen, dass unsere Wahrnehmung weiter geht als wir annehmen. Wir filtern vieles, was in der Realität existiert, u.a. aufgrund unserer Erwartungen und Weltbilder aus. Er nennt als Beispiel Darwin, der beobachtete, dass Eingeborene, die noch nie ein großes Schiff gesehen hatten, dieses deshalb nicht wahrnahmen. Die kleinen Landungsboote dagegen konnten sie sehen. Auch die Quantenphysik lässt er in seine Betrachtungsweisen einfließen. Diese besagt, dass jede*r Beobachter*in das zu beobachtende System beeinflusst. Er schließt daraus, dass wir keine unabhängigen Zeugen der äußeren Realität sind, sondern diese beeinflussen und sogar erschaffen. Das Bindeglied zwischen unserem Bewusstsein und der Realität ist also die Wahrnehmung. Und diese möchte Brönnle mit diesem Buch erweitern. Dazu bietet er den Leser*innen zahlreiche Übungen an, u.a. zur Fernwahrnehmung, deren Lösungen am Ende des Buches aufgeschlagen und mit den eigenen Wahrnehmungen verglichen werden können.
Brönnle erläutert systematisch die im Titel genannten Wahrnehmungsarten, untergliedert diese, bietet dazu Übungen an und fasst das Wichtigste eines jeden Kapitels an dessen Ende kurz und prägnant zusammen. Dabei geht er aber auch auf Gefahren ein, z.B. dass man im anderen Extrem von inneren Bildern überschwemmt werden könne und diese dann für historische Realität halte. Brönnle beginnt ganz von vorn, nämlich mit dem Aufbau des Gehirns, welches grundlegend für die Wahrnehmung ist, und erklärt dessen Funktionen. Seine Erläuterungen nicht nur am Hirn unterlegt er mit vielen Bildern, Fotos und Zeichnungen. Er widmet sich den Wirklichkeits- und Wahrnehmungsebenen (Gehirnwellen, physische und geistige Welt) und wie wir Wirklichkeit mithilfe von Wahrnehmungsfiltern erschaffen. Dann geht er auf die fünf Sinne ein und bietet für jeden Wahrnehmungstyp (z.B. die Kinästetiker*innen) Übungen an. Er gibt auch Tipps, wie man mit inneren Bildern umgehen kann und weist auf Fallen hin. Er erläutert den Focusing-Prozess, beschreibt, wie man den Assoziativ-Speicher entleert und sich insgesamt freimacht von störenden Einflüssen, die die Wahrnehmung beeinträchtigen oder davon ablenken. Er beschreibt immer sehr anschaulich, z.B. wie man mit schnellen Techniken die Alpha- und Theta-Hirnwellen aktiviert, die für eine erweiterte Wahrnehmung wichtig sind. Auch die Traumdeutung und wie man insgesamt mit Träumen umgeht und sie evtl. auch lenken kann, findet in seinem Buch Platz. Da sind bei vielen Themen oft schon einigermaßen bekannte Techniken darunter, aber er erklärt auch unbekannte, wie die kinästhetische Primärbewegung, den Rapport oder was das automatische Zeichnen für die Wahrnehmung bringt. Wahrnehmungshaltungen (dominant, rezeptiv, Identifikation) gewähren verschiedene Zugänge zu dem, was wahrgenommen wird.
Bei all dem vergisst er nicht, an Schutzmaßnahmen zu denken, damit wir uns bei unschönen Wahrnehmungen zurückziehen bzw. davor schützen können, z.B. über Übungen, die die eigene Mitte finden lassen, heilende Laute wie das gehauchte „Hhhhiiiii“ oder die Übung zur Verbindung mit Himmel und Erde.
Das Buch schließt ab mit weiterführender Literatur und Adressen, an die man sich bei Interesse wenden kann.
Männliche Brille
Auffällig an diesem Buch: Brönnle verwendet nicht nur das generische Maskulinum, sondern auch Bilder, die v.a. Männer zeigen. Das war lange genug Usus, ist aber zum Glück nicht mehr zeitgemäß. Ich bin eine Frau und ich fühle mich nicht durch das generische Maskulinum angesprochen und mindestens genauso wenig durch Fotos und Bilder mit Männerkörpern. Sie repräsentieren mich nicht, haben es auch nie. Warum wird nicht beides oder ein neutraler Körper angeboten? Es gibt schließlich auch Hermaphroditen, Transsexuelle usw. Bilder wirken direkt. Und Sprache spiegelt Welt nicht nur wider, sondern erschafft sie auch. Das könnte Brönnle eigentlich wissen. Wenn wir schon bei Wahrnehmung und Wahrnehmungsbeschränkung sind: Brönnle sieht durch die männliche Brille. Aber die Welt ist deutlich vielgestaltiger als die bloße männliche Sicht, die den Leser*innen hier ganz konservativ als Neutrum untergejubelt wird.
Fazit
Brönnle gibt in diesem Buch einen prägnanten, systematisch geordneten Überblick über verschiedene Arten von Wahrnehmung, wie man diese erlangt, wie man sich schützt und welche Grundlagen für eine erweiterte Wahrnehmung Voraussetzung sind. Aber seine eigene Wahrnehmung, die er bei anderen zu erweitern versucht, beschränkt sich auf das Männliche. Ich fühle mich z.B. nicht angesprochen, wenn ich mich als Frau ständig mit Männerkörpern identifizieren soll.
Die Anomalie
Vordergründig könnte man meinen, dass es sich um einen Abklatsch eines nicht ganz neuen Science-Fiction-Themas handelt. Aber weit gefehlt. Eingefleischte Literatur-Utopisten scheinen eher enttäuscht, wie manche Rezension monoman orientierter Leser zeigen. Weiterlesen
Imperium
Christian Kracht schildert in seinem Roman »Imperium« die Lebensgeschichte des deutschen Auswanderers August Karl Engelhardt (1875 bis 1919). Engelhardt gründete auf einer kleinen Insel im heutigen Papua-Neuguinea eine spirituelle Gemeinschaft, die er »Sonnenorden« nannte. Charakteristikum war die Ernährungsweise, die ausschließlich aus den auf der Insel reichlich wachsenden Kokosnüssen bestand. Weiterlesen