It’s magic – Magie ist keine Zauberei

Bild 1 - It's magic Annekatrin PuhleMagie ist keine Hexerei

Annekatrin Puhle setzt sich in ihrem Buch “It’s magic” nicht mit Fantasy, sondern mit allen Facetten des sechsten Sinnes auseinander und bezeichnet diese als Magie. Dieser kann auf Dinge in der realen Welt zugreifen, die sonst verborgen sind. Sie nennt die Fähigkeit des sechsten Sinnes “innere Magiern”, die jeder Mensch in sich berge; Frauen insbesondere, da ihnen über die Jahrtausende hinweg eher Zugang zu ihrer Intuition zugesprochen wurde. Deshalb spricht Puhle wohl davon, dass sich das “magische Potential aktivieren” ließe. Nach ihr erfahre man Magie am häufigsten und natürlichsten im Traum. Der Zugriff auf die verborgene Wirklichkeit berge aber auch Machtpotential, weswegen damit verantwortungsvoll umgegangen werden müsse. Sonst ergeht es einem wie dem Zauberlehrling in Goethes Gedicht. Wer sein magisches Potential nutzen wolle, solle sich am Guten orientieren.

Mit der inneren Magierin als Medium könne man u.a. auch mit Verstorbenen Kontakt aufnehmen oder andere als parawissenschaftlich empfundene Fähigkeiten aktivieren, wie z.B. ASW (außersinnliche Wahrnehmung). Sie geht außerdem auf die Kraft der Gedanken ein, die großes magisches Potential hätten, v.a. wenn man sie ausspricht. Auch Numerologie spielt nicht nur in diesem Zusammenhang eine Rolle. Gedanken müssen allerdings frei von Negtionen sein und gesprochene Worte können abgeschwächt, angefochten und wieder aufgehoben werden. Ebenso wirken Emotionen magisch, sowohl die positiven als auch die negativen. Man solle sich also eher in Liebe, Dankbarkeit und Hoffnung üben als z.B. in Hass oder Neid. Gedanken und Emotionen zusammen sind demnach Magie in Hochpotenz.

Zahlen, geometrische Symbole und Zeichen können ebenfalls magisch wirken. Auch der Alltag kann magisch wirken durch besondere Nahrungsmittel, Fasten, Getränke, Pflanzen, Steine und Edelsteine, Amulette, Gebete, Gesang, Meditation usw. In Stille und Meditation könne sich Magie besonders gut entfalten. Außerdem schreibt Puhle bestimmten Zeiten eine magische Qualität zu, wie z.B. Geburt, Pubertät, Partnerwahl, Krisen, Tod oder im Jahreslauf die Jahreszeiten (besonders die Übergänge), auch Tagesanbruch und Abenddämmerung seien magische Zeiten. Ebenso können Orte magisch sein, wie z.B. Türschwellen, Wegkreuzungen, Quellen, Seen, Bäume, Hecken (Heck-se = die Heckensitzerin, die Grenzwächterin zwischen Diesseits und Jenseits ist), spirituelle, religiöse, heilige Orte. Licht sei ebenso magisch (Kerzenlicht, Licht, dass die Verstorbenen sehen, Heilung mit Licht…), runde Formen wie der Kreis oder die Kugel (z.B. die Seele als Kugel, der Ring oder die magische Kugel der Wahrsagerin).

Puhle plädiert dafür, in unserer rationalen Welt wieder den sechsten Sinn zu entdecken, der in unserer Vergangenheit und bei Naturvölkern selbstverständlich war und ist und ohne den diese Welt nicht vollständig ist. Sie gibt den Leser*innen Übrungen an die Hand , mit deren Hilfe sie wieder ihr eigenes magisches Potential entfalten können. Allerdings sieht sie die Intuition im Gegensatz zu anderen wohltuend kritisch (sie nennt mehrere Gründe dafür) und ist auch dafür, den Verstand zu Rate zu ziehen. Intuition kann nach der Autorin hilfreich sein, wenn sie auf fundierten Erfahrungen und Wissen beruht. Bei der Einschätzung von fremden Menschen dagegen wirkt sie sich nachteilig aus. Innere Stimmen snd mit Vorsicht zu genießen, v.a. bei negativen Inhalten; die Stimme des Herzens auch nur dann, wenn diese aus dem reinen Herzen kommt. Stürmische Emotionen seien keine guten Ratgeber. Ebenso rät sie davon ab, z.B. Pflanzen ohne fachkundige Anleitung als Rauschmittel zu genießen.

Am Ende jeden Kapitels fasst sie ihre Erkenntnisse unter dem Stichwort “Magische Essenz” zusammen. Außerdem gibt sie ebenfalls am Ende eines jeden Kapitels Tipps und “Rezepte”, also Anleitungen, für einen gelingenden Zugang zur inneren Magierin.

Das Buch ist übersichtlich und verständlich geschrieben und gibt einen guten Überblick über das, was man normalerweise als Grenzwissenschaften bezeichnen würde. Puhle bezieht hier auch die Traditionen mit ein, weil unsere Vorfahren magisch dachten. Ob man diese Dinge glaubt oder nicht, bleibt jeder und jedem selbst überlassen. Puhle nennt aber auch Beispiele für den sechsten Sinn, wie er im alltäglichen Leben schon erfahren worden ist. Die Beispiele sind zur besseren Übersichtlichkeit im Text abgesetzt und grau hinterlegt, sodass man einen schnellen Zugriff auf sie hat.

Fazit

Übersichtliches, verständliches Buch über den sechsten Sinn, der auch (evtl. mit ein wenig Übung) im Alltag erfahren werden kann. Die Autorin gibt hierzu leicht durchzuführende Übungen. Sie ist aber auch wohltuend kritisch z.B. bzgl. der unreflektierten Intuition und der Anwendung von Rauschmitteln.


Genre: Sachbuch Esoterik
Illustrated by Neue Erde

Die Nibelungen

Uns ist in alten mæren wunders vil geseit

Die Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe hat mit ihrem neuen Buch «Die Nibelungen» ein weiteres originelles Werk vorgelegt, das Mythen auf eine ganz eigene Art erzählt. Waren es bisher die Jungfrau von Orleans oder der Rattenfänger von Hameln, so ist es nun das in Worms beginnende Heldenepos, ein deutscher Stummfilm, wie es im Untertitel heißt, welches die Autorin auf ihre Weise neu bearbeitet hat. Sie bietet damit einen ungewöhnlichen Zugang zu dem mythologischen Stoff, dessen Inhalt sie als bekannt voraussetzt. Sie sei inspiriert worden «von dem verqueren Wunsch, ihn noch einmal ganz von vorn, bis hinein in die Gegenwart aufzurollen, jenseits von Aktualisierung und Kitsch, den größten Feinden der Rezeption eines Mittelalters, von dem wir nach wie vor wenig wissen», hatte sie vorab in einem ‹Werkstattbericht› erläutert.

In drei Kapiteln wird die sattsam bekannte, kanonische Geschichte in groben Zügen nacherzählt, unterbrochen jeweils von einem Kapitel «Pause». Zur Erläuterung der einzelnen Szenen werden, quasi als Reminiszenz an den Stummfilm, viele erläuternde Texttafeln zwischengeschaltet, was die Orientierung in der manchmal slapstickartig turbulenten Handlung durchaus erleichtert. Das mythische Geschehen selbst wird als alljährliches Festspiel in Worms unter freiem Himmel aufgeführt, ein wichtiges, touristisches Event. In den beiden langen Pausen werden die zahlreichen Darsteller, in einem erfrischend witzigen Plauderton, zu ihrer Rolle und ihrer Haltung zu dem Epos befragt. Als «Zeuge im Beiboot» beobachtet die im Abspann als Drehbuchautorin aufgeführte Felicitas Hoppe das kitschig inszenierte Schauspiel aus einer kritischen Distanz. Der vielbeschäftigte Tod wird dabei von einem «Laien aus Worms in einem Trainingsanzug von Woolworth» verkörpert, die Begleitmusik liefert der örtliche Männer-Gesangsverein, der Drache ist aus Pappmaschee. Mit «Die goldene Dreizehn» als Metapher bezeichnet die Autorin den im Rhein versenkten Schatz, der sich als ständig mutierender, unentwegt herum streunender Algorithmus erweist. Er ist der eigentliche Mittelpunkt in diesem blutrünstigen Tanz ums Goldene Kalb, denn darauf laufe es letzten Endes ja immer hinaus, macht uns die Autorin deutlich.

Sie benutzt dafür sehr virtuos drei Erzählebenen: Zum einen die Wormser Freilichtbühne mit ihrer massentauglichen, modernen Inszenierung der uralten Sage, die von ihr kräftig durch den Kakao gezogen wird, ferner der Stummfilm als dialogloser, künstlerisch anspruchsvoller Plot mit den Fakten sowie, kontemplativ besonders ergiebig, die schlagfertigen Pausen-Interviews, in denen auch das Theaterleben als solches karikiert wird. In einer Mischung aus intellektuell höchst anspruchsvollen Reflexionen mit immer wieder eingestreuten Späßen und Albernheiten brennt die Autorin ein erzählerisches Feuerwerk ab, das seinesgleichen sucht in der deutschsprachigen Literatur. Basis für Zitate ist die 2006 erschienene Übertragung des Nibelungenliedes von Uwe Johnson, szenisch wird auf den künstlerisch unerreichten Stummfilm von Fritz Lang Bezug genommen, der als einziger kitschfrei mit dem Stoff umgeht.

Stilistisch wortmächtig, thematisch anspruchsvoll, zugleich aber auch wohltuend albern, gelingt diesem Buch das Kunststück, mit fließenden Grenzen der abgedroschenen Sage nicht nur eine neue Sichtweise abzugewinnen, sondern auch auf witzige Art angenehm zu unterhalten. Alles in allem also ein raffiniert angelegtes literarisches Vergnügen, das im Nebeneffekt auch so manchen Leser dazu animieren dürfte, erstmals, oder mal wieder, entweder zum Original zu greifen oder diese Sage in moderner Übertragung nachzulesen, notfalls auch als Sachbuch. Und dabei stößt er womöglich dann auf den in Mittelhochdeutsch geschriebenen, ersten Satz des handschriftlich überlieferten Textes, den man früher in der Schule sogar auswendig gelernt hat: «Uns ist in alten mæren wunders vil geseit, von helden lobebæren, von grôzer arebeit».

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Besichtigung eines Unglücks

Fünf Richards

Dem neuen Roman von Gert Loschütz mit dem distanziert wirkenden Titel «Besichtigung eines Unglücks» liegt thematisch das schwere Eisenbahn-Unglück im Bahnhof von Genthin am 22. Dezember 1939 zugrunde. Eine Vorstufe zu dem Buch war das vor zwanzig Jahren zu dieser Katastrophe produzierte Hörspiel des Autors. Als dort Geborener erzählt er neben den sorgsam recherchierten Umständen, die zu dem Unglück führten, nicht nur die fiktive Geschichte eines weiblichen Unfallopfers, er unterlegt seinem Ich-Erzähler auch etliche autobiografische Details.

Im ersten der fünf Kapitel wird unter der Überschrift «Vier Sekunden» vom bis heute schwersten Eisenbahn-Unglück auf deutschem Boden berichtet. Dabei ergibt sich tatsächlich aus einer Reihe der verschiedensten, unglücklich zusammen treffenden Faktoren, dass letztendlich ein vier Sekunden zu früh gegebenes, manuelles Not-Haltesignal aus dem Stellwerk zum verhängnisvollen Stopp eines vollbesetzten D-Zug führte, auf den dann ein ebenso vollbesetzter, nachfolgender D-Zug ungebremst mit über 100 km/h auffuhr. Der sich aus den Gerichtsunterlagen und den Akten der Reichsbahn ergebende und für den Roman aufbereitete Ablauf des Geschehens ist spannend wie ein Krimi, auch was die archaisch anmutende Signaltechnik anbelangt. Aber Vorsicht! Wer da glaubt, das alles wäre heute mit modernster Elektronik nicht mehr möglich, der sei an die beiden Regionalzüge erinnert, die am 9. Februar 2016 nahe Kolbermoor frontal aufeinanderprallten. Schuld war modernste Technik, das Smartphone nämlich, von dem der Fahrdienstleiter abgelenkt war, als er manuell beide Züge in die einspurige Strecke einfahren ließ (aber das nur nebenbei!).

Im zweiten Kapitel wird von Carla berichtet, einem der Unfallopfer, die schwerverletzt überlebt. Sie ist mit dem Juden Richard Kuiper verlobt, der von den Nazis gesucht wird. Vor der verhängnisvollen Zugfahrt lernt sie einen Italiener kennen, mit dem sie zwei Tage später nach Berlin fährt, er überlebt das Unglück nicht. Im Krankenhaus gibt sie sich dann als seine Frau aus, ohne dass erkennbar wird, warum. Es darf spekuliert werden! Sie ist‹Halbjüdin›, nach der Ehe wäre sie ‹Volljüdin› mit allen negativen Konsequenzen, das ruft dann sogar die Gestapo auf den Plan. Mit dem Ladenmädchen Lisa kommt schließlich die Mutter des Journalisten und Ich-Erzählers Thomas Vandersee ins Spiel, sie versorgt Carla vor der Entlassung mit neuer Kleidung. Als junge Frau lernt Lisa mit dem namenlos bleibenden «Begabten» einen Violin-Virtuosen kennen und lieben, der sie unterrichtet. Er nimmt sie dann aber doch nicht mit in die USA, als er von dort ein lukratives Angebot bekommt. Denn er hat leider noch eine andere Geliebte, eine Ménage-à-trois aber kommt für Lisa nicht in Frage.

Als Journalist, lässt uns der Ich-Erzähler wissen, wurde er nach einem Vortrag von einem hochbetagten Zuhörer angesprochen und auf das Zugunglück in seiner Heimatstadt hingewiesen. Zunächst widerstrebend, dann aber immer eifriger habe er zu recherchieren begonnen und sich diverse Notizen gemacht, aus denen dann im vierten Kapitel zitiert wird. Eine journalistisch anmutende, eher unsichere Erzählhaltung ist das typische Merkmal dieser Spurensuche. Es bleibt reichlich Raum für Spekulationen, die Hauptrolle spielt bei alledem immer der Zufall. Kein Zufall aber ist es, wie sich erst ganz am Schluss herausstellt, dass die fünfmal verheiratete Carla immer Ehemänner mit Namen Richard hatte: Ryszard Wósz, Ricardo Fuchs, Richard Lessnik, Richard White, Richard Oettinger. Ein beredtes und auch betroffen machendes Zeichen lebenslanger Reue, Zeugnis ewiger Verbundenheit zudem mit ihrem einstigen Verlobten, den sie so schmählich seinem Schicksal überlassen hat. Dieser aus einer Verzahnung von Fakten und Fiktion entwickelte Roman wird reportageartig erzählt, mit einer elegischen Grundierung natürlich. Ein wenig leidet er jedoch an seinen disparaten Erzählebenen, es fehlt ihm ein stimmiger Erzählbogen als narrativer Überbau.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Schöffling & Co Frankfurt am Main

Drei Kameradinnen

Ambivalente Leserbeschimpfung

Fünf Jahre nach ihrem vielbeachteten Debüt hat Shida Bazyar, Tochter iranischer Eltern, unter dem Titel «Drei Kameradinnen» ihren zweiten Roman veröffentlicht. Er wurde jüngst für den Deutschen Buchpreis nominiert und thematisiert den Alltags-Rassismus im Deutschland unserer Tage, hier geschildert aus der Perspektive dreier «nichtweißer» Mädchen. Mit ‹Identitti› von Mithu Sanyal, der auf der Shortlist gelandet ist und sich ebenfalls mit dieser Thematik beschäftigt, sind gleich zwei derartige Romane unter den diesjährigen Nominierten.

Der Roman beginnt mit dem vorgeschalteten Zeitungsartikel «Jahrhundertbrand in der Bornemannstraße», in dem von vielen Todesopfern berichtet wird. Die radikalisierte Islamistin Saya M. wird der Brandstiftung in der Mietskaserne verdächtigt, sie hatte einen Streit mit dem dort wohnenden Volker M., dem Anhänger einer ‹patriotisch› orientierten Gruppierung, was als mögliches Tatmotiv gedeutet wird. Ich-Erzählerin ist Kasih, Teil des Dreierbundes mit Saya und Hani, mit denen sie seit frühester Jugend eine unverbrüchliche Freundschaft verbindet. Sie stammen aus einem ghettoartigen Stadtbezirk, der überwiegend von Migranten bewohnt wird. Trotz ihrer Herkunft aus prekären Verhältnissen finden alle drei ihren Weg, als Mitte-Zwanzigjährige haben sie sich allerdings ein wenig aus den Augen verloren und wollen nun mal wieder einige Tage zusammen verbringen, um die alten Zeiten aufleben zu lassen. Kashi hat Soziologie studiert, eine brotlose Kunst, sie ist trotz erstklassigem Abschluss arbeitslos und fast ohne Chancen auf eine adäquate Stellung. Die aufmüpfige Saya veranstaltet erfolgreich Workshops zur Berufswahl und Rassismus-Prävention, und die bienenfleißige, aber eher zurückhaltende Hani ist als umsichtige rechte Hand der Firmenchefin unersetzlich.

Mit vielen Rückblenden entwickelt Shida Bazyar in diesem Setting ihre Geschichte vom Leben in einer den Migranten oft feindlich, zumindest aber skeptisch gegenüber stehenden Gesellschaft. Auf dem Flug zum Treffen der «drei Kameradinnen» beobachtet Saya die unschöne Szene einer Kopftuchfrau mit einem feindseligen Deutschen auf dem Sitzplatz neben ihr. Im Internet findet sie ihn anschließend unter seinem Namen, er stellt sich tatsächlich als einschlägig bekannter, rassistischer Blogger heraus. Als Hintergrund dieser Geschichte dient der ein wenig verfremdete NSU-Prozess. Der Alltag der Freundinnen, deren fremdländische Abstammung nach wie vor zu Ressentiments ihnen gegenüber führt, ist geprägt von unausrottbaren Vorurteilen und haltlosen Verdächtigungen, denen sie, mehr oder wenig deutlich erkennbar, unentwegt ausgesetzt sind. «Uns gibt es in dieser Welt nicht. Hier sind wir weder Deutsche noch Flüchtlinge, wir sprechen nicht die Nachrichten und wir sind nicht die Expertinnen», heißt es im Roman. Sie sind in Deutschland geboren, werden aber nicht als Deutsche wahrgenommen. Schon der fremdländische Name ist bei jeder Stellen- oder Wohnungssuche ein verhängnisvolles Handicap, sehr oft sogar der alleinige Ausschluss-Faktor.

Mit deutlichem Furor entwickelt sich aus den Perspektiven der handelnden Figuren ein wenig schmeichelhaftes Bild deutscher Ressentiments allem Fremden gegenüber. Dabei erweist sich die den Leser zuweilen direkt ansprechende und auch anklagende Autorin als unzuverlässige Erzählerin, die zuweilen sogar über den Schreibprozess als solchen berichtet. So bemerkt sie an einer Stelle, als ihre Heldinnen sich die Folge einer seichten TV-Serie reinziehen, sie würde sich «auch viel lieber mit Serien ablenken, statt weiterzuschreiben, oder habt ihr gedacht, ich mache das hier gerne?» Dieser kreativen Umkehrung feindseliger Anwürfe auf die ‹weiße› Leserschaft in Form einer veritablen ‹Leser-Beschimpfung› wird der ambivalente Roman stilistisch allerdings nicht gerecht, seine Figuren sind wenig glaubwürdig. Er wirkt zudem eher rüde und unbeholfen berichtend, als dass er wirklich unterhaltsam oder bereichend erzählen würde.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

My Genderless Boyfriend 2

My Genderless Boyfriend 2Vermarktung des gar nicht mehr so individuellen Genders

Meguru soll bei einer bekannten Reality-Show mitmachen. Er bittet seine Freundin Wako um Rat. Diese ist begeistert, aber Meguru lehnt letztlich das Angebot ab. Dafür erinnert sich Wako an die Zeit, als Meguru immer mehr Fans im Internet gewonnen hat. Als aber Fans sehen, wie gut eine süße Influencerin und Meguru zusammenpassen würden, ist Wako gegen ihren Willen verletzt.  Der sympathische Genderless Boy bemerkt ihre Traurigkeit und nutzt die Gelegenheit, um Wako endlich zu fragen, ob sie seine Freundin sein will. Zurück in der Gegenwart: Megurus Manager plant ein neues Projekt. Er hat einen weiteren Genderless Boy, Sasame, ausfindig gemacht. Mit Sasame soll Meguru eine Duo bilden, das den Namen “Unicorn Boys” trägt. Da Sasame aber nur äußerlich niedlich aussieht, in Wahrheit aber auf ausgeprägt Maskulines steht, muss sich der Manager Tricks einfallen lassen, um Sasame zu diesem Projekt zu überreden.

Oberlächlichkeit versus das, was wirklich im Leben zählt

Da ich diesen Band erst jetzt erhalten habe – die Post hatte mein Päckchen verloren – ist die Reihenfolge etwas durcheinandergeraten. Band 3 habe ich also schon rezensiert.

Neben der Karriere Megurus stehen auch diesmal wieder andere Themen im Mittelpunkt, u.a. ein Mangaka, der seine Leidenschaft für seinen Beruf im Dschungel der Erwartungen von Redaktion und Fans verloren hat. Sensibel wird er auch durch die Wahl der Perspektive in den Panels durch seine Sinnkrise begleitet, bis er wieder für ein neues Thema Feuer gefangen hat. Dieses Kapitel zeigt, wie auslaugend und entfremdend es sein kann, wenn der Beruf nur noch zum Broterwerb verkommt und man sich an die Erwartungen der Gesellschaft anpassen zu müssen glaubt. Depressionen und Sinnkrisen sind die Folge – die aber eben auch die Leistungsfähigkeit ausbremsen. Intrinsische Motivation erhalten und ggf. wecken heißt also das Zauberwort für die Wirtschaft, ebenso wie eine gute Work-Live-Balance.

Die hat Meguru anscheinend für sich gefunden, denn seine Urlaubs- und Alltagserlebnisse mit Wako geben ihm immer wieder neuen Schwung. Aber auch er fragt sich, ob all das, was er gerade beruflich macht, ihn mit genügend Sinn erfüllt: Oberflächlichkeiten sind eben nicht alles im Leben. Er selbst beweist in seiner Beziehung mit Wako, dass er sehr einfühlsam ist und ernsthaft an seiner Beziehung zu ihr arbeitet. Auch Freundschaften pflegen ist ihm wichtig. Die wirklich wichtigen Dinge im Leben sind also immateriell und innerlich, nicht äußerlich. Außerdem wird in diesem Band angedeutet, was sich im dritten Band weiter herauskristallisiert: Der Äußerlichkeit wird im Showbiz alles untergeordnet. Es kommt nicht auf Individualität an, sondern auf das, was sich gerade gut vermarktet. Dafür wird Individulität und das, was einem wirklich wichtig ist, rücksichtslos dem Image geopfert. Die Reihe zeigt, wenn auch zum Thema passend auf eher leichtfüßige Art, dass die Welt der social media extrem oberflächlich ist und man zu dieser Oberflächlichkeit und dem schönen Schein einen bodenständigen Gegenpart im Alltag braucht. Meguru selbst sind, wie gesagt, die nicht-materiellen Dinge wie Liebe und Freundschaft besonders wichtig und er legt auch Wert auf Praktisches, Bodenständiges.

Fazit

Die Reihe kommt zwar vordergründig leichtfüßig daher, aber wenn man zwischen den Zeilen lesen kann, sieht man auch die versteckte Kritik an der Oberflächlichkeit von social media und dem engen Korsett des Showbiz, das nur auf Vermarktung aus ist und individuelles Verhalten und Äußeres in gerade angesagte Schemata presst. Meguru stellt durch die Art und Weise, wie er lebt, einen Gegenpol zum schönen (konstruierten) Schein dar: Er setzt auf Werte wie echte Liebe und Freundschaft.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

Der Alchimist

Der Alchimist. Erstmals erschien die vorliegende Geschichte 1988 in der Originalsprache. Die deutsche Erstausgabe folgte 1993. Die hier nun vorliegende folgt der 1996 im Diogenes erschienenen Version und wurde für die 22. Auflage 2020 ergänzt und überarbeitet. Der bunte Umschlag sowie das schöne Leinen auf der Innenseite des Buchcovers und das praktische Format zeichnen diese Ausgabe, dessen Design von Harper One stammt, besonders aus. Auch Oprah Winfrey hat sie am Nachtkästchen liegen – allerdings auf Englisch.

Seinem Traum folgen

Santiago ist ein andalusischer Hirte mit einem wiederkehrenden Traum: Am Fuß der Pyramiden liege ein Schatz für ihn bereit. Aber eigentlich hat er schon lange den Wunsch seßhaft zu werden. Und er kennt auch schon ein Mädchen, das in einem Dorf auf ihn wartet. Sein Vater wollte einen Priester aus ihm machen, aber er wollte immer reisen. Deswegen besorgte er sich 60 Schafe und tingelte durch Spanien. Bis er den Traum hatte und ihn einer Zigeunerin mitteilt. Diese macht ihm die Prophezeiung und schließlich siegt die Neugierige und er macht sich auf den Weg, indem er die Schafe verkauft und nach Tanger übersetzt. Aber Santiago wird gleich auf der ersten Station seiner Reise bestohlen. Soll er jetzt schon umkehren? Oder seinem Traum folgen? Aber wer ist schon so naiv und macht sich auf eine so lange Reise nur wegen einem Traum? Jedoch ist sein Traum auch seine Bestimmung und das Glück immer mit denen, die ihrer Bestimmung folgen, so Coelho.

Der Weg ist das Ziel

Träume sind die Sprache Gottes und wer Zeit und Muße findet, sollte ihnen zuhören. Ein alter Mann, ein ehemaliger König, übergibt Santiago zwei Steine, Urim und Thummim, schwarz heißt ja und weiß heißt nein. Die beiden Steine helfen Santiago auf seiner langen Reise seine Entscheidungen zu treffen. Denn es vergeht mehr als ein Jahr, bis er sein Ziel erkennt. Aber oft führt einen das Erreichen eines Zieles wieder an den Anfang zurück. Man kennt das von dem Brettspiel „Mensch, ärgere Dich nicht“. „Der Alchimist“ steckt voller Weisheit und das lange bevor Santiago ihm begegnet. Die Geschichte ist hilfreich in kritischen Lebenssituationen und wenn Orientierung notwendig wird. Denn oft vergisst man den Weg zur eigenen Bestimmung, kommt vom Weg ab und landet in einer Sackgasse. Aus dieser Sackgasse führt die vorliegende Lektüre heraus. Obwohl es natürlich schon schön ist, die Pyramiden wirklich gesehen zu haben.

Paulo Coelho
Der Alchimist
Aus dem Brasilianischen von Cordula Swoboda Herzog
2021, Hardcover Leinen, 176 Seiten
ISBN: 978-3-257-07155-9
€ (D) 18.00 / sFr 24.00 / € (A) 18.50
Diogenes


Genre: Belletristik, Esoterik und Grenzwissenschaften, Philosophie
Illustrated by Diogenes Zürich

Batman – Die Maske im Spiegel 2/3

Batman – Die Maske im Spiegel. Eine dunkel-düstere Alben-Trilogie im Zeichen des DC Black Labels legen Filmemacher Mattson Tomlin (Project Power) und Zeichner Andrea Sorrentino (JOKER: KILLER SMILE) mit „The Imposter“ (dt.: der Nachahmer) vor.

Aufsehenerregendes Artwork und aufregende neue Batman Trilogie

Bruce Wayne ist erst seit drei Jahren Batman und hat sich trotz Vorurteilen gegenüber ihm gerade erst als Verbrechensbekämpfer etabliert. Da taucht plötzlich ein Batman-Doppelgänger auf, der drei Kriminelle ermordet, indem er sie von einem Häuserdach schubst. Die Szene kommt einer öffentlichen Hinrichtung gleich, beschädigt aber vor allem das Image des Dunklen Ritters, der seine Gegner niemals töten würde. Alsbald wird der Dunkle Ritter vom Jäger zum Gejagten. Die Situation spitzt sich zu, als die Ärztin Leslie Thompkins und die Polizistin Blair Wong Bruce Waynes Geheimnis auf die Schliche kommen. Die Trilogie ist eine Geschichte, die in drei Alben abgeschlossen ist. Teil 1 eröffnet den Spannungsbogen in alptraumhaften Bildern, denn Zeichner Andrea Sorrentino durchbricht die gängigen Comic-Vorgaben in revolutionärer Bildstrategie und -folge. Die Texte und Blasendialoge werden vor dem Hintergrund großformatiger „Gemälde“ als Kleinbilder eingefügt. So entsteht ein Bildpuzzle, das der Leser allein durch sein Gehirn richtig zusammenfügen kann. Denn wer will sich schon ausschließlich auf seine Augen verlassen?

Batman als Graphic Novel und Film (2022)

Zwölf Motorräder sind nicht billig. Die Stahlkabel der Seilrutschen auch nicht. Das ist kein obdachloser Irrer“, attestiert Blair Wong dem Dunklen Ritter. Wong weiß, dass man nur dem Geld folgen muss, um gute Polizeiarbeit zu leisten. Aber gerade das führt oft in die Irre. Aber natürlich macht sich auch Batman selbst Gedanken über seinen Doppelgänger und versucht eine Spur zu entdecken, die schlüssig ist. Ob es sich nur um eine persönliche Vendetta gegen die drei Opfer handelt und die Sache damit schon erledigt ist, erfahren wir vielleicht in Teil 3, der jetzt schon angekündigt wurde. Aber wie sagte schon die Psychologin über den jungen Bruce Wayne: “Er muss lernen, seine Dämonen zu kontrollieren…oder er wird sein eigener Feind.

Das Artwork und der Spannungsbogen, die die die ersten beiden Bände auszeichnen, lässt auf die beste Batman-Story dieses Jahres hoffen. Das liegt aber nicht nur an dem Zeichner Sorrentino, sondern auch dem Autor und Filmemacher Mattson Tomlin, der auch schon fleißig an dem für 2022 angekündigten Batman Film unter der Regie von Matt Reeves mitarbeitet. In der Rolle des Titelhelden: Robert Pattinson. Wer da wohl in den Spiegel schaut?

Mattson Tomlin

Batman – Die Maske im Spiegel 2/3

(Originalstorys: Batman: The Imposter 1)

Mit Zeichnungen von Andrea Sorrentino (JOKER: KILLER SMILE, Gideon Falls)

2021, Hardcover, 60 Seiten

ISBN: 9783741625558

Panini

13,00 €

 

 


Genre: Batman, Comic, Film, Graphic Novel
Illustrated by Panini Comics

Hell strahlt die Dunkelheit

Hell strahlt die Dunkelheit – der vierte Roman (2021)

Hell strahlt die Dunkelheit. Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller Ethan Hawke legt in seinem vierten bei Kiepenheuer&Witsch auf Deutsch erschienen Roman die Latte hoch. In einer Melange aus seinen eigenen Eheproblemen und dem Shakespeare-Stück „Henry IV“ schreibt Hawke ein Stück Weltliteratur über die Dilemmata des modernen Mannes in einer ehrlichen, aber auch sehr lyrischen Sprache, die ihresgleichen sucht. Ein fiktiver Roman, so authentisch wie die eigene Biographie und zugleich witzig und voller intrinsischer Kraft.

Ein Roman zur Ehetherapie

2016 bei KiWi erschienen: das dritte Werk von Ethan Hawke

Natürlich ist dieses Stück Prosa Fiction. Aber wer die Biographie des Tausendsassas Hawke kennt, weiß, dass er mit Uma Thurmann (der Uma, ja!) verheiratet war und sich dann mit der Kindersitterin – nicht ganz freiwillig – aus seiner Ehe verabschiedete. Aber alle autobiographischen Übereinstimmungen sind natürlich rein zufällig und unbeabsichtigt. Sein Protagonist der 32-jährigeWilliam Harding ist mit dem Rockstar Mary verheiratet und sie haben zwei Kinder. Als er bei einem Dreh in Kapstadt der Untreue überführt wird und die Medien die Affäre aufbauschen, will Mary sich trennen. Auf seinem Rückweg nach New York ist er praktisch schon geschieden, denn selbst sein Taxifahrer vom JFK zum Mercury Hotel in downtown weiß Bescheid und kennt ihn und seine ganze Geschichte. Die Schattenseiten des Berühmtseins eben. Allein diese Taxifahrt vom Flughafen in die Stadt ist schon so kurzweilig und witzig geschrieben, dass sie alleine schon ein Sketch sein könnte. Mühelos versteht es Hawke die witzigsten Dialoge rauszuhauen und eine subtile Ironie über die Situation seines Protagonisten zu legen. Aber es gibt auch viele Dinge über die man genauer nachdenken sollte.

Humor ohne Grenzen

Aschermittwoch – 2002 bei KiWi auf Deutsch erschienen

Das Stück in dem William am Broadway mitwirkt, ist für das Ohr und nicht für das Auge bestimmt. Denn nur das Ohr ist immer in der Gegenwart. „Der Schauspieler musst die Absicht des Autors für die Zuhörer `sichtbar´ machen. Das erreicht man durch klare Aussprache und durch Atmen – am Ende, nie in der Mitte – eines Verses.“, rät ihm sein Regisseur. Henry Percy, genannt Hotspur, ist die für William reservierte Rolle in Shakespeares Henry IV., also der Rebell gegen den König, der schließlich sterben muss, um die alte Ordnung wiederherzustellen. Ähnlich wird es auch William im realen Leben ergehen, denn er muss am Ende auch sterben, weil er sich gegen seine Königin auflehnt, aber selbstverständlich nur als Metapher. „Da draußen tobt ein Krieg der Geschlechter“, berät ihn Dean Deadwilder, ein Freund, und William müsse endlich kapieren, dass alles bedeutungslos sei und alles Reale nur in einem selbst passiere. Der sympathische Looser und Slacker William, der gerne weint, erzählt seine Probleme nämlich jedem, der zuhört. Aber das ist kein Jammern, sondern Melancholie. Mary vergnügt sich in der Zwischenzeit mit Valentino Calvino, sie ist kein Kind von Traurigkeit, auch wenn sie am Telefon heult.

Hin und weg – 1996 erschienen

Ethan Hawkes sprachliche Bilder sind fantastisch, die Dialoge süffisant, der Erzählstrang schlüssig und die vermittelte Philosophie erleuchtend. „Hell strahlt die Dunkelheit“ erleuchtet auch die dunkelsten Gemüter und ist nicht nur eine Hommage an das Theater und den Beruf des Schauspielers, sondern ein ehrliches Stück Weltliteratur, das man auf keinen Fall versäumen sollte, so hell strahlt es in der Dunkelheit.

Ethan Hawke

Hell strahlt die Dunkelheit. Roman

Übersetzt von: Kristian Lutze

2021, Hardcover, 336 Seiten

ISBN: 978-3-462-00165-5

Kiepenheuer&Witsch

23.-€


Genre: der moderne Mann, Dilemmata, Ehe, Fiction, Partnerschaft, Philosophie, Roman, Slacker
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Gentzen oder: Betrunken aufräumen

Thematisch überfrachtet

Der vielseitige, produktive Schriftsteller Dietmar Dath lässt auch in seinem neuen Roman «Gentzen oder betrunken aufräumen» keine formalen Schranken für das Denken gelten. Die inhaltliche Themenpalette des linken Querdenkers, der die Abschaffung des Kapitalismus als Ziel formuliert hat, reicht über Wissenschafts-Theorie, Politik und Ökonomie bis zu Science-Fiction und Fantasy. Mit der Bezeichnung «Kalkülroman» weist er auf den titelgebenden Mathematiker hin, dessen Gentzentypkalküle ein formales System darstellen, bei dem sich in der Logik aus vorgegebenen Aussagen weitere Aussagen ergeben. Das logische Denken also steht im Mittelpunkt dieses ungewöhnlichen, anspruchsvollen Romans, der an einer Textstelle dann auch erklärt: «Denken heißt: Betrunken aufräumen». Seine Nominierung für den Deutschen Buchpreis hat denn auch einiges Erstaunen ausgelöst.

Unter dem Titel «Schmerz und Programm» beginnt das erste der 140 kurzen Kapitel in einem Gefängnis, wo Gerhard Gentzen im August 1945 in Prag verhungert. Die dabei ablaufenden medizinischen Prozesse werden minutiös geschildert und weisen schon gleich am Anfang auf eine schwierige Lektüre hin. Die Idee zu dem Buch kam dem Autor, der als nebulöse Erzählinstanz im Roman auch als Figur fungiert, bei einer Gedenk-Veranstaltung für den Mathematiker Kurt Gödel im ZKM Karlsruhe. Beide, Gentzen und Gödel, hätten wichtige Vorarbeiten für die darauf basierenden Maschinen geleistet, denen wir in einem «sehr grundsätzlichen Sinn eigentlich nicht vertrauen» dürften, auch weil sie «Meinungen machen und sie verbreiten», lässt Dath seine Leser wissen. «An einer davon schreibe ich, was du jetzt liest». Er schreibe Texte, «die nicht davon handeln, wie es ist, sondern davon, wie es sein sollte, wie es hoffentlich nicht sein wird oder wie es ganz neutral sein könnte. Und das sind nun mal spekulative oder phantastische Texte».

Dieser zeitlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einschließende Gesellschaftsroman widmet sich besonders dem Computer mit seinen komplizierten Algorithmen. Dessen scheinbar ewig wachsende Rechenleistung stelle quasi die Grundlage unseres modernen Lebens dar. Aber es seien eben nicht nur sinnvolle und nützliche Beiträge, die er leiste. In den sozialen Netzwerken zum Beispiel generiere er eine «Zerstörung der Vernunft», die sich dort ungehindert in Kaufrausch, Genderstreit oder Rassismus artikuliere und wahre Probleme wie Klimakatastrophe oder Datensammelwut negiere. In verschiedenen Handlungs-Strängen agiert ein bunt gemischtes Figuren-Ensemble, zu dem eine Aktivisten-Gruppe gehört, die dem vergessenen Logiker nachforscht. Sie besteht aus Dietmar, der an einem Roman über ihn schreibt, sowie Laura und Jan. In einer vorangestellten, mit «Wer hier lebt» betitelten Aufstellung finden sich Figuren mit seltsamen Zuschreibungen wie «Sohn verarschter Eltern» oder «Verdächtige Nichtpräsenz» und auch bekannte wie Jeff Bezos, Geldheini oder Frank Schirrmacher, Mitherausgeber einer Zeitung oder auch Clemens J. Setz, Souffleur. Letzterer steht wie der Autor selbst für den Mut zu literarischer Eigenwilligkeit, die aus einer Nerd-Attitüde heraus den Leser auf diversen Meta-Ebenen vor den Kopf stößt mit einer Sturzflut abstruser Ideen und verklausulierter Verweise.

Man stößt auch auf allerlei amüsante Szenen, so wenn beispielsweise die Titelfigur mit Lady Gaga in einem Café zusammentrifft und über Primzahlen diskutiert. Andererseits öffnet der theorieversessene Autor einen Gedankenraum, zu dem er schreibt: «Es gibt Wahrheiten, die sind so eisig, dass der Verstand an ihnen zerreißt wie biologisches Gewebe, das einen allzu kühlen Stoff berührt: eine extrem schnelle Nekrose». Leider ist dieser dickleibige Roman thematisch total überfrachtet, er verwirrt zudem durch seine übergangslose Verschmelzung des Emotionalen mit dem Wissenschaftlichen. Ihn zu lesen setzt beim Leser die unbedingte Bereitschaft voraus, sich mit hochkomplizierten Theorien auseinander zu setzen.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Matthes & Seitz

Batman – The World

Gleich zwei Batman-Sammelbände mit vielen unterschiedlichen Autoren und Zeichnern sind bei Panini erschienen. „Im Zeichen der Fledermaus“ und „The World“ ermöglichen einen Überblick und Kurzeinstieg zur Einführung, wie vielseitig die Batman-Interpretationen schon geworden sind. Wer dann noch mehr will, der folge dann seinen neuen Lieblings-Autoren oder -Zeichnern.

Batman – The World

In „Batman – The World” werden auf 188 Seiten immerhin 14 Stories des Fledermaushelden veröffentlicht. Aber dieses Mal unter einem ganz besonderen Stern: mehr als 20 Künstler aus 14 verschiedenen Ländern haben sich zusammengetan, um ein Projekt zu verwirklichen, das es so noch nie gab. Die Autoren Benjamin von Eckartsberg, Brian Azzarello, Paco Roca, u.a. und Zeichner Lee Bermejo, Paco Roca, Thomas von Kummant, u.a. Die ganze Welt feiert Batman! Die Anthologie präsentiert eigenständige Kurzgeschichten, die den Dunklen Ritter in einem Abenteuer in ihrem jeweiligen Heimatland zeigen. Mit dabei sind Beiträge aus USA, Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, Tschechien, Japan, Polen, Türkei, Mexiko, China, Russland, Brasilien und Korea. Der vorliegende Sammelband erschien als Erstveröffentlichung zum Batman-Tag am 18. September 2021. Passend zum weltweiten Klima-Hype spielt der deutsche Beitrag übrigens in den Bayrischen Alpen, wo der Joker eine Gruppe fanatischer Klimaaktivisten um sich schart. Ein Duell im Tiefschnee rückt die Dinge wieder in die richtige Perspektive.

Im Zeichen der Fledermaus

Der zweite, „Im Zeichen der Fledermaus“, von den Zeichnern Denys Cowan, Kyle Hotz, Scot Eaton, Tom Mandrake und Autoren John Arcudi, John Layman, Mark Russell, Tom Taylor beinhaltet ganze 15 eigenständige Stories auf 172 Seiten, das meiste davon deutsche Erstveröffentlichungen. Mit dabei sind neben Killer Croc, dem Joker, Pinguin und Scarecrow auch der ehemalige Rechtsanwalt Two-Face, von dem leider länger schon keine langen eigenständigen Stories mehr erschienen sind, obwohl er in der Christopher Nolan Trilogie doch ganz gut angekommen ist. In der hier vorliegenden Episode sitzt Two-Face in Arkham Asylum ein und schmeißt den „wichtigsten Wurf seines Lebens“ – mit seiner Münze. Es geht immerhin um „das einzige Gute was mir je im Leben passiert ist“, seine Gefängniswärterin Anna. Kenner wissen, das seine alles entscheidende Münze, anders als Two-Face’s Gesicht – keine „andere Seite der Medaille“ kennt. Vielleicht darf man demnächst auf neue Veröffentlichungen von Two-Face Abenteuern hoffen? Im englischen Sprachraum erschien zuletzt immerhin „Two Face: A Celebration of 75 Years“ (2017). Der vorliegende Batman-Sammelband entführt die Leser in einen Zoo, zeigt Red Hood und Nightwing beim Handshake und einer Kooperation in Action, alle Robins und einen falschen, Commissioner Gordon beim Whiskey-Trinken mit Two-Face in einer Bar oder Jimmy Olsen auf der Flucht. Auch ein Wiedersehen mit Supergirl sowie eine weitere unkonventionelle Liebesepisode zwischen Cat und Bat.

Alles in allem mehr als 300 Seiten Batman-Abenteur, die neue Perspektiven eröffnen und auch andere Kreative zu noch weit mehr inspirieren wird.

Benjamin von Eckartsberg, Brian Azzarello, Paco Roca, u.a.

Batman – The World

20,00 € *

2021, Softcover, 188 Seiten

ISBN: 9783741624636

Panini

John Arcudi, John Layman, Mark Russell, Tom Taylor

Batman – Im Zeichen der Fledermaus

(Original Storys:         Batman: Gotham Nights 9-17)

2021, Softcover, 172 Seiten

ISBN: 9783741624698

19,00 €

Panini


Genre: Batman, Comics, Sammelband
Illustrated by Panini Comics

DC Celebration – Der Joker

DC Celebration – Der Joker. Schon in der ersten Batman-Ausgabe von 1939 debütierte auch sein Konterpart, der Clownprinz des Verbrechens, besser bekannt als der Joker. Der wohl größte Widersacher von Gotham Citys Mitternachtsdetektiv, Erzfeind und Nemesis unseres Helden und dunklen Ritters hat aber etwas gemein mit allen Superhelden: er trägt eine Maske, hinter der er seine wahre Identität verbirgt.

DC Celebration – Der Joker

Wir wachsen damit auf, dass ihr uns ins Ohr flüstert, dass wir alles sein können, was wir nur wollen. Die Nachteile dessen sind euch aber allerdings nicht bewusst. (…) Diese ganze schöne Welt, die ihr uns hinterlasst, bricht zusammen (…) .“ Auch Batman trägt so eine Maske. Mehr als 80 Jahre Rivalität feiert DC mit dieser Ausgabe, einer Anthologie, die erstmals auf Deutsch erscheint. Erstmals lernen wir auch Joker’s neues Poopsie kennen. Nachdem sich Harley Quinn endgültig zu den Guten verabschiedet hat (ein ähnlicher Verrat wie Catwoman, die auch die Seiten gewechselt hat) lernen wir hier erstmals Joker’s neue Gefährtin kennen, die sich Punchline nennt. Eingeweihte wissen, dass Punchline nichts anderes als Pointe bedeutet, also wohl eine – die einzige – die über des Jokers Witze lachen kann. Auch des Jokers Anklage an die Welt umreißt die Gedanken einer jungen Generation: „(…) zu meinen, Leben sei was anderes als Grausamkeit und Chaos und Furcht… DAS ist der große Witz“. Und zwischen all den verschiedenen Abenteuern der verschiedensten Autoren und Zeichner befinden sich in diesem Band zur Aufmunterung die besten Batman/Joker Covers der 80-jährigen Geschichte des Duos wider Willen.

Dialog mit dem Joker

In einem Dialog mit einem Kind, eine weitere Story in diesem Band, offenbart sich auch die Seele des Clownprinzen des Verbrechens. „Nur wenn sie aus der Kiste wollen. Wenn man sie tötet, kann man nicht mehr mit ihnen spielen“, antwortet der Junge auf Jokers Frage, warum er den Krabblern die Füße ausreißt. Ganz schön düster ist auch die folgende Geschichte über Ronald Fergunson, der von einer Bande Clowns überfallen und festgehalten wird. Der Joker gibt ihm eine zweite Chance, weil er den Zufall liebt und sich gerne als Allmächtiger aufspielt. Als könne er das Schicksal beeinflussen. Dabei ist er selber ein Opfer desselben. Wenn auch ein sehr prominentes. Eine Vielzahl von Zeichenstilen und Interpretationen finden sich in dieser vielfältigen Auswahl an Joker-Geschichten, die mit einigen weiteren Buchcovers im Anhang abgerundet werden und die ganze Schaffenskraft und Inspiration zeigt, die der Joker du Batman seit 80 Jahren ausgelöst haben. Die Storys stammen von Dennis O’Neil (Detective Comics), Paul Dini (Harley Quinn_ Mad Love), Scott Snyder (Batman Metal), Brian Azzarello (Batman : Kaputte Stadt), James Tynion IV (Batman ), Eduardo Risso (Dark Night: Eine wahre Batman-Geschichte), Lee Bermejo (Batman: Damned), Gary Whitta (Rogue One: A Star Wars Story). Der Band enthält auch die letzte Arbeit von Comic-Legende Dennis O’Neil (1939-2020) und die Herkunftsgeschichte von Jokers neuer Gehilfin Punchline.

Autor: Dennis O’Neil, James Tynion IV, Paul Dini, Scott Snyder

Zeichner: Dan Mora, Eduardo Risso, Jock, Lee Bermejo, Rafael Albuquerque

DC Celebration – Der Joker

Originalstorys:   The Joker 80th Anniversary 100-Page Super Spectacular

2020, Hardcover, 124 Seiten, Format: 19 x 28,5 cm.

ISBN: 9783741622564

Panini

24,00 €


Genre: Batman, Comics, Joker, Sammelband
Illustrated by Panini Comics

Lesen als Medizin

Lesen als Medizin. Die wundersame Wirkung der Literatur

„Wenn du liest, spricht Gott mit dir“, meinte schon Augustinus und wenn man einen modernen, pantheistischen Gottesdefinition meint, trifft dies auch heute noch dazu. Denn Gott ist oft die Stimme im Kopf, die man hört, wenn man liest, da Lesen auch mit Hören von Sprache zu tun hat. Ein ganzes Buch als Hommage an die Literatur hat die in Berlin lebende Autorin und Radiomoderatorin hier verfasst, das wahrlich wieder Lust aufs Lesen macht und die therapeutische Wirkung von Büchern hervorhebt.

Lesen als Medizin

Bis ins späte Mittelalter wurde noch sotto voce gelesen, denn die Akzentuierung der Worte mit den Lippen, trug wesentlich dazu bei, von der Sprache emporgetragen zu werden. Weswegen auch heute von führenden Therapeuten das gegenseitige Vorlesen auch bei Ehekrisen empfohlen wird. Das Tröstliche der Literatur ist aber vor allem auch ein Segen, der einem alleine zuteil wird, denn kaum einer wagt es, einen Menschen zu stören, der zwei Buchdeckel zwischen sich und die Welt schiebt. Dass Literatur etwas ganz Frühes („im besten Sinn Primitives“) anspreche, meinte auch schon Fritz Senn, da das Lesen ähnlich wie Wiegenlieder etwas aus einer vorsprachlichen Zeit in uns berühre. Von einer Schutzfunktion der Literatur werden jene sprechen, die das Abtauchen in eine fiktive Welt als wohltuender empfinden, als das Schnarchen, Jammern oder Schimpfen unerwünschter Gesprächspartner. Schon Michel de Montaigne (1533-1592), der von Gerk als Internetvorläufer genannt wird, interpretierte Texte und ließ andere in seinen Aphorismen daran teilhaben. Im Schloss seiner Familie hatte er sich seinen berühmten Turm eingerichtet, in dem er um seinen Schreibtisch alles seine Bücher anordnete und so mit den Autoren, Dichtern und Denkern, ständig in Zwiesprache treten konnte. Vor allem also natürlich mit sich selbst.

Der Don Quijote Effektv

Und genau das ist auch die eigentliche Macht der Literatur. Sie eröffnet intime Räume anderer und erschließt sie für sich selbst. Der praktische Nutzen ist augenscheinlich: die Fehler anderer braucht man dann nicht mehr zu wiederholen. Andrea Gerk hat in der Geschichte der Literatur der letzten Tausend Jahre nach wahren Fundstücken gegraben und diese auch gefunden. Dass Literatur nicht nur in Klöstern, sondern auch in Gefängnissen für die Resozialisierung und Rehabilitation verwendet wurde, unterstreicht sie ebenso, wie den therapeutischen Nutzen für das lesende Individuum selbst. Darüber hinaus widmet sie sich auch der Psychoanalyse, die, selbst ein Kind der Literatur, sich den unendlichen Reichtum und der Schätze der Literatur bediente, wie etwa Freud, der seine antiken Mythen einfach auf die Seele des Menschen anwandte. Nicht zuletzt bedeuteten Bücher aber vor allem auch sozialen Aufstieg und Freiheit. Von den engen Familienbanden oder den Zumutungen des Ehepartners. „Mit einem Buch war man jedenfalls endlich allein. Lesen bedeutete für sich sein zu dürfen.“ Ob diese unendliche Freiheit im Zeitalter des Internet noch weiter Bestand haben wird ist fraglich. Wer sich freiwillig in den ständigen Stand-by Modus versetzen lässt und ständig auf Abruf ist, im Glauben man könnte etwas versäumen, das für das eigene Leben von essentieller Bedeutung sei, wird niemals das kostbare Glück, das sich zwischen zwei Buchdeckeln befindet kosten. Vielleicht ist es genau das, was die Götter einst Ambrosia nannten.

Ein wirklich inspirierendes Buch voll genialer Zitate, Ideen und Einfälle wie man Literatur auch in den Alltag integrieren kann. Und wer weiß, vielleicht auch aus Ihnen einen Don Quijote macht. Dieser war nämlich selbst ein Bücherwurm bevor er auszog, gegen Windmühlen zu kämpfen. Est quod legit.

Andrea Gerk

Lesen als Medizin. Die wundersame Wirkung der Literatur

2021, Hardcover, 352 Seiten

ISBN: 978-3-0369-5856-9

Kein & Aber Verlag

25,70 EUR


Genre: Gefängnis, Klausur, Kloster, Lesen, Literatur, Therapie, Über Literatur
Illustrated by Kein & Aber Zürich

The Gender of Mona Lisa 1

Genderless und Rollenklischees

Hinase lebt in einer Welt, in der die Kinder bis zum 12 Lebensjahr ohne Geschlecht aufwachsen. Erst dann entscheiden sie sich, ob sie Frau oder Mann werden möchten. Hinase ist mittlerweile 17 Jahre alt und hat sich immer noch nicht entschieden. Eigentlich ist sier mit der Geschlechtslosigkeit zufrieden und möchte nichts ändern. Aber dann gestehen Hinase sowohl Shiori als auch Ritsu ihre Liebe und die Karten werden neu gemischt.

Der erste Band spricht ein aktuelles Thema an: Braucht es eigentlich ein Geschlecht, um in einer Gesellschaft zufrieden zu sein? Aufgrund der extrem einengenden und strikten Rollenklischees auf der einen Seite und Geschlechtsidentitäten, die über Transgender, Transfluid, Hermaphrodit usw. reichen, auf der anderen Seite ist der Manga spannend zu lesen, zumal sowohl Ritsu als auch Shiori wollen, dass Hinase für sie entweder zum Mann oder zur Frau wird. Sobald sich die Kinder entschieden haben, stecken sie also in den Rollenklischees fest und leben diese ganz traditionell fort. Hinase dagegen will sich nicht in etwas reinzwängen lassen und ist mit den Freiheiten als geschlechtslose Person zufrieden. Angelehnt wird das Ganze an die berühmte Mona Lisa, der im Manga als Theorie Zweigeschlechtlichkeit zugesprochen wird. Die Geschlechtlichkeit und Geschlechtslosigkeit wird im Manga durch türkisfarbene Elemente indirekt betont. Hinases Augen z.B. sind türkis, während Shioris Krawatte und Ritsus Schleife ebenfalls türkis sind. Diese beiden Kleidungselemente weisen auf die Geschlechterrollen hin, während bei Hinase die Augen als Sitz der Seele auf das eigentlich Wichtige deuten: Wie jemand von seinem Innersten her ist und nicht, wie sie oder er aussieht. Um die Geschlechtsneutralität weiter hervorzuheben, werden eigene Pronomen wie “sier” gebraucht, um Hinases Status zu beschreiben. Hinase benimmt sich in manchen Szenen nicht nur neutral, sondern auch je nach Situation männlich oder weiblich. Die Geschlechtsneutralität sieht man auch an den Zeichnungen der Kinder: Man kann sie weder von der Kleidung und von den Haaren noch vom Verhalten her als weiblich oder männlich zuordnen. Manche scheinen aber Präferenzen zu haben – die die Umwelt im Sinne der Rollenklischees promt fehlinterpretiert.

Die Manga-Reihe macht also deutlich, dass sowohl Geschlechtsneutralität oder beide Geschlechter in einem normal sein kann (und auch sollte) als auch die sofort greifenden Rollenlischees, wenn sich ein Kind für ein Geschlecht entschieden hat. In diesem Spannungsbogen bewegt sich die Geschichte. Sehr schön ist der Ansatz, dass man selbst entscheiden darf, welches Geschlecht man haben will – was aber wieder hinterfragt wird durch die strikte Vorgabe, dass man sich ein Geschlecht aussuchen muss, weil ansonsten diverse Konsequenzen drohen, wenn man es nicht tut.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

Glitterschnitter

 

Die Geschichte von Herrn Lehmann war weitestgehend auserzählt, er war ja auch nicht wirklich ein Typ, um den man sich hätte Sorgen machen müssen. Doch Sven Regener nutzt ihn auch in seinem mittlerweile sechsten Buch als heimlichen Hauptdarsteller und präsentiert die Hilfskraft als Barmann eines kleinen Westberliner Cafés, das sich dem Kreuzberger Trend der 80-er Jahre, Milchkaffee in französischen Schalen überteuert zu servieren, anschließen will. Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by Galiani Berlin bei Ki-Wi

Kairos

Entscheidende Momente in Liebe und Politik

Der jüngst erschienene Roman von Jenny Erpenbeck mit dem deskriptiven Titel «Kairos» bestätigt eindrucksvoll eine Kritik in der gestrigen Rede von Angela Merkel zum Tag der Deutschen Einheit, in der sich die Bundeskanzlerin dagegen verwahrt hat, Lebenserfahrungen in der DDR als Ballast zu bezeichnen. Vor dem Hintergrund der untergehenden DDR erzählt die in Ostdeutschland sozialisierte Schriftstellerin von der Liebe eines ungleichen Paares, die in ihrer Intensität an die Worte von Heinrich Heine erinnert: «Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu; und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei».

Genau das passiert den beiden Protagonisten dieses Romans, der 53jährige Schriftsteller Hans und die 19jährige Katharina verlieben sich in einem Linienbus auf den ersten Blick unsterblich ineinander, ihr Kairos also, jener in der griechischen Mythologie für eine schicksalhafte Entscheidung als günstig geltende Augenblick! Leitmotivisch häufig wiederkehrend begehen sie diesen entscheidenden Moment ihres Lebens wie einen persönlichen Feiertag, indem sie an die Bushaltestelle zurückkehren und das damalige Geschehen wie bei einer Prozession wiederholen. Der nachfolgende Liebestaumel entwickelt sich mit der Zeit allerdings zur Amour fou, aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Ort des Geschehens ist Ost-Berlin, wo Hans in den achtziger Jahren neben seiner Schriftstellerei als «fester Freier» beim Rundfunk arbeitet und Katharina nach dem Abitur eine Lehre als Setzerin im Staatsverlag absolviert. Hans ist zwar verheiratet, mit seiner Frau hat er sich aber dahingehend arrangiert, dem jeweils anderen seine Freiheiten zu lassen. Im Bett findet zwischen ihnen seit zehn Jahren nichts mehr statt, aber eine Trennung wollen sie beide nicht. Hans und Katharina hingegen verbindet neben rauschhaftem Sex ihr kulturelles Interesse, sie leben in einer privilegierten Boheme, interessieren sich für Kunst, lieben gutes Essen in den angesagten Restaurants Ost-Berlins.

Ineinander verschachtelt werden hier, autobiografisch grundiert, die Probleme der beiden Protagonisten und die Geschichte der untergehenden DDR erzählt. In Hans ist der überzeugte Sozialist verkörpert, der als junger Nazi-Sympatisant bewusst in die DDR gegangen ist. Auch nach der Wende noch ist der charakterlich eher widersprüchliche Literat von der prinzipiellen Überlegenheit dieses staatlichen Systems überzeugt. Katharina ist fasziniert vom Intellekt ihres Geliebten, sie hängt an seinen Lippen, wenn er zu politischen oder kulturellen Themen mit ihr spricht oder ihr aus Büchern vorliest, er beflügelt regelrecht ihr Interesse an der Kunst und beeinflusst damit ihre Berufswahl. In ihrer Beziehung ist er dominant, lebt sogar sado-masochistische Gelüste an ihr aus, bis sie ihm einen einmaligen Fehltritt mit einem jungen Kollegen beichtet. Hans zerbricht daran, für ihn stürzt eine Welt zusammen, er glaubte an die einmalige, ewige Liebe zwischen ihnen. Schließlich begibt er sich sogar in psychiatrische Behandlung, kann sich aber trotz allem nicht von ihr trennen. Jahrelang finden sie immer wieder zueinander, eine Zeit seelischer Quälerei für alle beide.

Als atmosphärisch dichte Milieustudie aus der Ostberliner Kulturszene ermöglicht «Kairos» einen tiefen Einblick in das untergegangene Staatsgebilde, dem heute noch so mancher nachtrauert. Im Prolog und Epilog enthüllt die Autorin klammerartig als Katharsis den verstörenden Charakter des intellektuellen Schriftstellers. Dieser mit vielen heute schon fast vergessenen Details aus der deutschen Vergangenheit aufwartende, beklemmende Roman ist dramaturgisch geschickt aufgebaut und sprachlich adäquat umgesetzt. Im Mittelteil stören einige Längen in der Liebesbeziehung mit ihrem ewigen Aufs und Abs, zudem auch mit häufigen szenischen Wiederholungen, ein wenig den ansonsten aber durchaus gegebenen Lesegenuss. «Kairos» ist als Wenderoman wie als Liebesdrama gleichermaßen überzeugend!

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Penguin