Das verlorene Paradies

Verklärte historische Sicht

Der im Original 1994 erschienene, in der deutschen Übersetzung «Das verlorene Paradies» betitelte Roman hat dem in Sansibar geborenen und in England lebenden Schriftsteller Abdulrazak Gurnah den Durchbruch gebracht. «Für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten» wurde 2021 sein Œuvre mit dem Nobelpreis geehrt. In Deutschland löste die Preisvergabe ziemliche Beschämung aus, war doch hierzulande selbst den Insidern weder der Preisträger noch sein Werk bekannt, vieles davon war auch nie ins Deutsche übersetzt worden. Mit einer eiligst nachgedruckten Neuauflage ist der erfolgreiche Entwicklungs-Roman nun wieder auf Deutsch erhältlich. In seiner Reise-Episode habe dieser Roman deutliche Bezüge zum «Herz der Finsternis» von Joseph Conrad, hat das Nobel-Komitee konstatiert. Er habe zudem, vor dem Hintergrund der Kolonisation in Ostafrika Ende des 19ten Jahrhunderts, Anklänge an die Geschichte von Yusuv aus dem Koran.

In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg muss der zwölfjährige Yusuf, dessen Vater sich bei einem reichen Araber Geld geliehen hat, welches er nicht zurückzahlen kann, sein armseliges Elternhaus verlassen. In der fernen Stadt soll er bei ‹Onkel Aziz› so lange in dessen Krämerladen arbeiten, bis diese Schulden abgetragen sind. Angeleitet von seinem Kollegen Khalil, der für den Laden verantwortlich ist, wird der aufgeweckte Junge wegen seiner Menschen-Freundlichkeit bei allen Kunden schnell sehr beliebt. Insbesondere bei den Frauen, von denen einige schon bald ein Auge auf den schönen Jüngling geworfen haben. Der hinter dem Haus des Händlers gelegene Garten erscheint Yusuf mit seinen exotischen Pflanzen und dem Teich in der Mitte wie ein Paradies. In seinem epikureischen Denken sieht er sich, innerlich frei, als glücklicher Mensch. Wie sich schließlich herausstellt, sind sowohl Khalil als auch der alte Gärtner wie er ebenfalls quasi Eigentum von Aziz. Sie arbeiten als Sklaven für ihn, ohne sich ein anderes Leben auch nur vorstellen zu können.

In größeren Abständen unternimmt Aziz ausgedehnte Handelsreisen ins Landesinnere, er treibt mit den dort lebenden Völkern einen lukrativen Tauschhandel. An einer solchen Handels-Karawane in besonders entfernte, unbekannte Länder muss schließlich auch Yusuf teilnehmen. Er wird dabei mit unsäglichen Strapazen, Krankheit und Tod konfrontiert, aber auch mit unsäglichen Grausamkeiten. Seine naiv unbeschwerte Jugend endet abrupt, seine innere Freiheit geht verloren. Diese letzte Reise wird auch finanziell ein Fiasko, Aziz hat größte Mühe, seine Leute zu bezahlen und die an der erfolglosen Expedition beteiligten Geldgeber zu vertrösten. Der von prophetischen Träumen geplagte Yusuf verliebt sich schließlich in Anima, die einst als Mädchen mit Khalil zusammen ins Haus von Aziz gekommen war und von ihm als blutjunge zweite Frau geheiratet wurde. Wie oft bei Abdulrazak Gurnah gibt es aber auch hier kein versöhnliches Ende. Die Kolonial-Mächte verändern brutal das Leben der unterdrückten Völker, der traditionelle Tauschhandel kommt zum Erliegen. Damit verschwindet auch das bisher friedliche, ausbalancierte Nebeneinander der verschiedenen Ethnien, Religionen und des in munterem Durcheinander gesprochenen Kisuaheli und Arabisch.

Das Besondere des Romans ist die Perspektive der Unterdrückten, aus der heraus, mit elegischer Grundstimmung, illusionslos erzählt wird. Ziemlich ungewohnt für westliche Leser ist ferner auch die religiöse Bezugnahme auf den Koran statt auf die Bibel. In bunten Bildern wird hier einerseits ein Paradies genügsamer Menschen geschildert, die sich allen Zumutungen resigniert unterwerfen, andererseits gibt es aber auch keine Grausamkeit, keinen Gewaltexzess, keinen Ekel, den der Autor seinen Lesern erspart. Seine einseitig verklärte Sicht auf die historische Realität trübt den positiven Eindruck von diesem Roman zudem beträchtlich.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Das verlorene Paradies

Der kleine Yusuf himmelt den großen Kaufmann an, dem seine Eltern immer ein Festmahl kredenzen, wenn er, der Onkel Aziz, erscheint. Er schenkt ihm zum Abschied auch immer ein Geldstück. An anderen Tagen gibt es nicht immer etwas zu essen, seine Mutter meint, er solle doch den Staub essen, den der Holzbock hinterlässt. Richtig unangenehm wird sie ihm, als sie ihn herzt und küsst wie ein kleines Kind, er ist doch schon zwölf Jahre alt!

Er ahnt nicht, dass dies zum Abschied ist, denn am selben Tag nimmt ihn Onkel Aziz mit und er wird seine Eltern nie wieder sehen. Er lebt dann als Gehilfe von Khahil im Laden des Kaufmanns, auf dessen Grundstück.

Er wird heimisch, neben dem Haus ist ein eingemauerter Garten, (walled garden), den er besucht, dort fühlt er sich wohl und kann träumen. Eigentlich gehört der Garten der Mistress, der Ehefrau des Kaufmanns, die er aber nie zu Gesicht bekommt. Khalil deutet an, dass er dieser gut gefalle, wie überhaupt: alle Männer und Frauen werden immer und überall Yusufs Schönheit betonen.

Es ist die Männerwelt von vor einhundertundfünfzig Jahren in Tanganjika, in der er zum Mann werden wird. Seine Vorbilder werden neben Onkel Aziz und Khalil die anderen Männer der Handelstruppe, mit der der Kaufmann das tansanische Festland bereist, um seine Geschäfte zu machen.

Bei der nächsten Reise wird er mitgenommen. Er teilt mit den Männern Freud und Leid, Tage und Nächte. Er lernt die Rangordnungen respektieren, die in der multikulturellen Truppe herrschen, auch die derben Schimpfwörter, meist mit phallischen Bezügen, mit denen die jeweils anderen tituliert werden. Dabei bleibt er immer der aufmerksame Jüngling, der die Welt noch etwas besser verstehen lernt.

Einige Jahre bleibt er in der Familie eines Kaufmanns, der erschrocken ist, dass er den Koran noch nicht gelesen hat, also besucht er eine Koranschule und lernt dazu. Bei der nächsten großen Reise in das Innere des Landes wird er, nun groß geworden, mitgenommen. Onkel Aziz ist stolz auf ihn und erzählt von der Geschichte des Handels in Ostafrika, von den Omani, den Indern und dass die neuen, die europäischen, die gefährlichsten Konkurrenten sind. Irgendwann sagt einer der Männer: „Die Europäer sind aus dem gleichen Grund hier wie wir.“ So kommt es denn auch: Diese Reise wird ein Fiasko, keines der erhofften Erlöse wird eingebracht. Lug und Betrug und viel Gewalt mit ungleichen Waffen bedrohen das Wohlleben des Kaufmanns.

Zurück im Hain der Sehnsucht, so der Titel des Kapitels, kann Yusuf die Wirklichkeit erkennen: Sein Vater musste ihn dem „Onkel Aziz“ als Pfand für Schulden überlassen, so wie auch Khalil, und dessen Schwester Amina, die die Magd der Mistress ist, Schulden ihrer Väter begleichen mussten.

Sie ist die einzige weibliche Person mit Verstand. Doch auch sie lässt der Autor sagen, dass der Kaufmann weiß, dass Frauen die Hölle sind. Yusuf träumt lieber, er möchte fliehen, gerne mit Amina. Denn in dieser harten Welt der Männerfantasien hat er sich seine Unschuld erhalten. Aber die Geschichte wendet sich: Nichts bleibt, die Deutschen kommen.

Ich habe das Buch auf Englisch gelesen, die Sprache ist so schön, dass selbst Muttersprachler neidisch werden könnten. Yusuf erzählt in herrlichen Bildern von der Natur, den Begegnungen, die sie auf der Reise machte. Es gibt treffende Dialoge, wenn Männer reden. Leider, außer bei Amina, nie, wenn Frauen reden.

Die Übersetzung ist gelungen, bei der vorliegenden Ausgabe gibt es ein Glossar für die vielen Fremdwörter in Kiswahili und Arabisch, auch einiges aus den Religionen wird erläutert. Dazu eine kurze „Editorische Notiz“, die erläutert, wie wichtig es ist, die abfälligen Bemerkungen über die jeweils anderen auch noch heute zu verwenden.

Im Englischen ist der Titel schlicht: Paradise, im Deutschen: Das verlorene Paradies. Glaubte die Übersetzerin wirklich, dass das Leben damals ein Paradies war, das nun verloren ist? Es war der doch eher der Traum von einem Paradies, und das hat der Autor treffend ausgedrückt mit einfach: “Paradise“.


Genre: Gesellschaftsroman
Illustrated by Penguin