Wilde Saat

Quellbild anzeigenZucht und Ordnung

Der Unsterbliche Doro züchtet schon seit Jahrtausenden Menschen mit außergewöhnlichen Merkmalen. Deshalb ist er ständig auf der Suche nach vermeintlichen Hexen oder Hexern („wilde Saat“), die frisches Blut in seine Zuchtdörfer bringen. Eines Tages folgt er der Spur einer ganz besonderen Frau: Sie ist wie er unsterblich, besitzt darüber hinaus aber noch die Fähigkeiten einer Gestaltwandlerin und einer außergewöhnlichen Heilerin. Anyanwu ist zunächst von der Aussicht begeistert, endlich nicht mehr von ihren Nachfahren mit dem Tod bedroht zu werden und unter ihresgleichen leben zu können. Deshalb folgt sie Doro in eines seiner Zuchtdörfer. Aber sie muss schnell feststellen, dass auch dieses vermeintliche Paradies seine Schattenseiten hat. Doro herrscht wie ein Gott über seine Nachfahren. Er hat despotische Züge, duldet keine Widerrede und verlangt, dass man klaglos seinen Zucht- und sonstigen Wünschen nachkommt. Das bedeutet auch, dass sich die Menschen von ihm töten lassen müssen, wenn Doro einen neuen Körper braucht. Seine Seele kann nicht ins Jenseits eingehen, sondern wechselt automatisch den Körper, wenn der alte verbraucht ist. Und das passiert spätestens nach zwei bis drei Jahren. Das Töten ist ihm zur Gewohnheit geworden, was Anyanwu als Heilerin entsetzlich findet. Sie selbst ist aus anderem Holz geschnitzt als Doro: Ihre Nachfahren dürfen sich ihre Partner*innen selbst wählen, erhalten Hilfe, Heilung, Schutz und Rat von ihrer Ahnin, und Anyanwu zieht all ihre zahlreichen Kinder eigenhändig und liebevoll auf. Überhaupt herrscht bei ihr Liebe und soziales Verhalten, wenn sie ein Dorf gründet. Nach ihren Möglichkeiten versucht sie Doro zum Positiven hin zu beeinflussen, aber dieser erweist sich als resistent gegen ihre Versuche, seine Praktiken sozialverträglicher zu machen. Da sie selbst vom Tod bedroht ist, wenn sie Doro nicht gehorcht – er würde schlicht und einfach ihren Körper übernehmen, was ihren Tod nach sich ziehen würde – verzweifelt sie allmählich an ihrer Machtlosigkeit Doro gegenüber. Schließlich entzieht sie sich ihm durch Flucht. Aber da Anyanwu für Doro gefährlich werden könnte, nimmt er die Verfolgung auf.

Patriarchat versus Matriarchat

Dieser von einer Frau geschriebene Science-Fiction-Roman ist in mehrerlei Hinsicht ungewöhnlich. Zum einen sind die Hauptpersonen schwarzhäutig, auch wenn Doro immer mal wieder weiße Körper benutzt. Schwarzhäutige Menschen, v.a. als Hautpersonen, kommen leider viel zu wenig in Romanen vor, weshalb schon dieser Umstand eine positive Hervorhebung wert ist. Dementsprechend spielt ein Teil der Geschichte in Afrika, und zwar vor und während der Kolonialzeit und der Versklavung der Schwarzafrikaner*innen. Hier wird die grausame Geschichte der Schwarzafrikaner*innen aufgezeigt, auch wie die Menschen darunter leiden. Und Doro wird als Mittäter dargestellt, da er aufgrund seiner eigenen Sichtweise kaum noch Menschlichkeit an den Tag legt. Er will zwar, dass es seinen Zuchtobjekten gut geht, sortiert aber auch gnadenlos aus, wenn sie ihm nicht mehr von Nutzen erscheinen. Nur Anyanwu macht all dies etwas aus. Sie möchte Menschlichkeit und positives soziales Verhalten um sich herum. Sie stellt damit einen Gegenentwurf zu Doro dar, dem seine Menschlichkeit immer mehr abhanden kommt.

Afrika ist die Wiege der Menschheit, und irgendwie schwingt das in dieser Geschichte mit. Dabei wird aber auch nicht verschwiegen, dass auch Schwarzafrikaner*innen ihren Anteil an der Versklavung hatten, wenn sie andere Stämme unterwarfen und verkauften oder ihresgleichen als Hexen brandmarkten und sogar zu töten versuchten. Das wird zwar eher nebenbei erwähnt, aber es hat Einfluss auf den weiteren Verlauf der Geschichte. Butler wollte wohl möglichst realistisch und nicht in im wahrsten Sinne des Wortes schwarz-weiß denken, sondern eine facettenreiche Story entwerfen, was ihr auch gelungen ist. Ihre Charaktere sind plausibel und nicht eindimensional, egal ob schwarz- oder weißhäutig.

Insgesamt entwirft Butler eine Geschichte des Patriarchats versus des Matriarchats. Sie zeigt das anhand ihrer beiden Hauptpersonen Doro und Anyanwu. Wenn man sich die Story genauer betrachtet, erinnert sie an die Theorie von Marija Gambutas: Vertreter des Patriarchats fallen in Gebiete ein, in denen das deutlich sozialere Matriarchat vertreten ist, und löschen diese Kultur trotz erbitterter Gegenwehr durch Frauen und Männer mit brutaler Gewalt aus. Doro vertritt in seinem gesamten Gehabe das Patriarchat. Seine Position als Familienoberhaupt ist unanfechtbar, sein Wort Gesetz. Wer sich an seine Vorschriften hält, führt ein einigermaßen gutes Leben, gibt dafür aber alle Freiheiten auf. Wer sich nicht daran hält, wird bestraft bis hin zum Tod. Es ist letztlich eine Gewaltherrschaft, die darauf beruht, dass Doro weiß, dass er den anderen überlegen ist. Die Menschen bleiben nicht freiwillig und gern bei ihm, sondern weil sie Angst vor ihm haben.

Anyanwu als Gegenentwurf zu Doro ist auch sehr mächtig, aber sie setzt ihre Macht nicht gegen, sondern für die Menschen ein, auch wenn diese sie als Bedrohung sehen. Sie setzt nicht auf Angriff, sondern auf Verteidigung, wenn es nicht mehr anders geht. Sie bevorzugt weder Gewalt noch Tod, sondern Heilung in allen Facetten. Sie denkt nicht wie Doro destruktiv, sondern konstruktiv. Sie agiert positiv sozial, indem ihr etwas an ihren Mitmenschen liegt, und sie ihnen mit Rat und Tat zur Seite steht. Sie lebt mit ihnen und nicht über ihnen. Sie liebt ihre Nachkommen und alle, die in ihrem Dorf Zuflucht gefunden haben. Sie vernetzt sich mit den Menschen und sie vernetzt die Menschen untereinander. Sie verhält sich wie eine gute Mutter zu ihren Kindern, hegt und pflegt die Gemeinschaft. Sie agiert mit der Natur und nicht gegen die Natur. Sie fügt sich in das Große Ganze ein und lebt nicht als herrschaftlicher, despotischer Parasit wie Doro. Doros Sohn trägt ihr auf, Doro zum Positiven zu beeinflussen, damit er seine Menschlichkeit nicht ganz verliert – was sich zu einer Mammutaufgabe auswächst, die aber aufgrund der Rettung der Welt notwendig ist.

Das erinnert sehr an Mythen und deren Kämpfe, die die realen Kämpfe des Patriarchats gegen das Matriarchat abbilden. Man sehe sich z.B. nur einmal die griechischen Mythen an, von der zunächst von einer weiblichen, großen Urgottheit die Rede ist, bis hin zur Entwicklung zum männerdominierten göttlichen Olymp, auf dem die Göttinnen eine den Göttern untergeordnete Rolle spielen. Doros Übernahme erfolgt zwar vergleichsweise sanft, aber die Drohung ist latent bis deutlich immer vorhanden. Die einst eigenständige Anyanwu wird regelrecht unterjocht, hört aber nie auf sich zu wehren, bis sie von Doro ernst genommen wird. Das wird sie allerdings erst, als sie den Tod nicht mehr fürchtet, denn erst durch diese Entscheidung wird sie wieder unabhängig.

Doro regiert seine Zuchtdörfer mit strenger Hand. Er fordert Unterwerfung. In seinen Dörfern ist es zwar egal, welcher „Rasse“ die Menschen angehören, trotzdem existiert eine Hierarchie. Die Hierarchie beruht auf geeigneten und ungeeigneten Zuchtobjekten. Je mehr „Hexen“-Potential seine Zuchtmenschen haben, desto wertvoller sind sie für ihn. Eine echte Bindung zu seinen Kindern besteht nicht, nur ein Sohn darf ihm wirklich nahekommen. Dem gegenüber steht die Gleichrangigkeit der Menschen bei Anyanwu. Sie behandelt die Menschen mit Menschlichkeit und der einzelne Mensch ist ihr wertvoll. Wenn sie urteilt, dann nach dem Charakter. Ein Mensch, der ihrer Gemeinschaft Schaden zufügt, wird ausgeschlossen. Sie handelt damit nach matriarchalischen und Jäger-Sammler-Mustern.

Science-Fiction ist hier wörtlich zu verstehen: Nach Art der Alternative History wird gezeigt, was genetische Versuche positiv und negativ bewirken, auch und gerade in ethischer Hinsicht.

Fazit

Der Science-Fiction-Roman handelt nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit. Er nimmt die Wissenschaftsfiktion wörtlich, indem er beleuchtet, wie genetische Zuchtversuche am Menschen in körperlicher und ethischer Hinsicht aussehen und ausgehen können. Dabei beleuchtet er zwei Systeme: das des Patriarchats und das des Matriarchats. Der Roman behandelt in Kombination dazu Andersartigkeit und wie damit umgegangen wird. Außerdem stellt er afrikanische und afroamerikanische Menschen in den Vordergrund, was leider immer noch viel zu selten vorkommt. Ein in vielerlei Hinsicht vielschichtiger und wertvoller SF-Roman.


Genre: Science-fiction
Illustrated by Heyne München