Chinese Propaganda Posters

Chinese Propaganda Posters by  Stefan R. Landsberger (Hg.)

Die Olympischen Spiele in China sind in aller Munde: Willkommen in der kommunistischen Utopie! Die vorliegende Publikation des Kölner TASCHEN Verlages zeigt im XL-Format chinesische Propagandaposter aus der Zeit des kommunistischen Aufbruchs. Die vorliegenden Bilder, entstanden zwischen der Gründung der Volksrepublik 1949 und den frühen Achtzigerjahren. Sie zeigen die utopischen Träume Rotchinas sowie seiner Kampagnen, um die Hirne und Herzen der Bevölkerung zu gewinnen. Weiterlesen


Genre: Comics, Grafikdesign, Politik
Illustrated by Taschen Köln

Carolin Summer – Die WeltenWechsler Akten I: Narrenlauf

Carolin Summer - Die WeltenWechsler Akten I: Narrenlauf

(Copyright Cover: Carolin Summer / Copyright Foto: Das Bambusblatt)

 

»Narrenlauf« ist der erste Band der Urban Fantasy Krimi Tetralogie »Die WeltenWechsler Akten« von Carolin Summer. In der Erstauflage erschien er bereits im Januar 2018. Inzwischen gibt es eine neue Auflage, ebenso wie Sondereditionen zu jedem Band. Veröffentlicht wurde die Reihe im Selfpublishing über Tredition. Weiterlesen


Genre: Roman, Urban Fantasy Krimi
Illustrated by tredition

My Roomate is a Cat 7

Verantwortungsvoller Umgang mit Tieren

Der introvertierte Schriftsteller Subaru hat unter seiner Terrasse Katzenbabys gefunden. Die möchte er jetzt in gute Hände vermitteln. Allerdings fällt es ihm schwer, Zettel mit Infos zu den Kätzchen zu verteilen, da er kontaktscheu ist. Aber er bekommt überraschend Hilfe von Verkäufer*innen, die seine Zettel bei sich aushängen. Schon bald darauf melden sich Interessent*innen, die zwei von den drei Katzenbabys mitnehmen – auch wenn die Vermittlung nicht immer glatt verläuft. Und Subaru überlegt, ob er das letzte Kätzchen nicht selbst behalten soll.

 

Selbstüberwindung und Elternqualitäten

Der 7. Band erzählt wieder sowohl aus der Perspektive von Mensch als auch Katze die Geschichte und bietet dabei unterschiedliche Blickwinkel. Katze Haru hat alle Pfoten voll zu tun, die kleinen Energiebündel in Schach zu halten, während Subaru seine Scheu erneut überwinden muss, um den Katzenbabys zu helfen. Haru lernt auch hier, ein gutes Vorbild zu sein, während Subaru erfährt, dass die Außenwelt besser und hilfsbereiter ist als er angenommen hat. Insgesamt wird auch in diesem Band wieder ein stiller Optimismus vermittelt, der wie warme, weiche Wattewolken die Leser*innen einhüllt. Dieser Optimismus ist zwar nicht unbedingt realistisch – es gibt an jeder Ecke Menschen mit schlechtem Charakter, für die Charaktere wie Subaru ein willkommenes Opfer sind – aber wer Realität von Fiktion unterscheiden kann, ist mit dieser liebevollen Geschichte über Selbstfindung und Tierliebe gut bedient. Allerdings muss man dazu sagen, dass die Sicht der Katzen sehr menschlich ist und daher eher keine echte Katzenperspektive bietet. Die Serie erscheint in Japan seit 2015, in Deutschland sei 2020. Seit 2019 gibt es sie auch als Anime.


Genre: Katzen, Manga, Schriftsteller*innen
Illustrated by Carlsen Manga!

Carole & Tuesday

Selbstverwirklichung

Die 17-Jährige Tuesday hat nur einen Wunsch: Sie will Musik machen! Aber innerhalb ihres strengen Elternhauses ist das nicht möglich. Deshalb reißt sie von zuhause aus und versucht ihr Glück in der Mars-Hauptstadt Alba City. Dort trifft sie zufällig auf Carole, die als Straßenmusikerin versucht, ein wenig Geld in die Kasse zu spülen. Tuesday ist von Caroles gefühlvollen Keyboardklängen begeistert und hat sofort einen Liedtext im Kopf. Sie zieht bei Carole ein und beide versuchen mit ihren Stimmen, der Gitarre und dem Keyboard sich anzunähern. Um die Akustik zu testen, spielen sie ihr neues Lied schließlich illegal in einer Konzerthalle. Dort nimmt ein Mitarbeiter ein Video der beiden auf, das sofort viral geht. Die Zuhörer*innen spüren trotz aller Anfängerfehler sofort die Seele (den Soul) der Musik, der durch die KI-produzierten Lieder abhandengekommen ist.

Der Soul der Musik

Der 1. Band der Reihe, die auf dem gleichnamigen Anime beruht – ansonsten ist es meist umgekehrt, denn zuerst wird der Manga veröffentlicht, auf den bei Erfolg ein Anime folgt – ist eine Mischung aus Science-Fiction-Manga und einem Manga über das Künstler*innendasein, in dem Fall über Musikerinnen und die Schwierigkeiten, einer Leidenschaft nachzugehen und damit auch noch Geld zu verdienen. Er zeigt schon im ersten Band, welche Hindernisse überwunden werden müssen, um bekannt zu werden. Dabei geht es hauptsächlich um das Künstlerische; die Science-Fiction bildet nur den Rahmen der Geschichte.

Bemerkenswert finde ich, dass nicht nur zwei Frauen die Hauptfiguren stellen, sondern dass eine der beiden auch noch dunkelhäutig ist. Das findet man in Manga, v.a. als Hauptperson, selten. Aufgrund der vielen Hautfarben, die es schon seit jeher gibt, und wenn man bedenkt, dass die helle Hautfarbe eigentlich nur eine Mutation der dunklen ist, um sich an nordische Klimaverhältnisse anzupassen, sowie weiter sinniert, dass die Vorfahren der Menschheit aus Afrika stammen, sollte es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, dass man diese Vielfalt an menschlichem Dasein auch in der Literatur abbildet. Dem ist aber leider nicht so; es gibt hier noch viel Handlungsbedarf.

Spinnt man den Faden weiter, ist es aufgrund der düsteren Geschichte nicht selbstverständlich, dass eine dunkelhäutige und eine weißhäutige Figur quasi sofort eine Freundschaft eingehen. Sie bilden zwar ein schwarz-weißes Duo, aber dieses ist nicht im Sinne des engstirnigen Schwarz-Weiß-Denkens zu verstehen, sondern ganz im Gegenteil wie die beiden sich ergänzenden Teile des Yin und Yang.

Ebenfalls ein wichtiges Thema ist die Seele der Musik (Soul). Man denke an die Musikrichtung Soul, die mit afroamerikanischen Menschen verknüpft wird. Da schon in der Gegenwart Musik gern technisiert wird, nimmt der Manga diesen Trend auf und führt ihn in letzter Konsequenz ad absurdum: Technik, selbst wenn sie noch so ausgefeilt ist, kann menschlichen Soul nicht ersetzen. Wenn der Soul fehlt, ist die Musik letztlich leer und bietet keine Seelennahrung, was eigentlich ihre Aufgabe ist.

Insgesamt ein gelungener, schöner Manga zum Thema Musik und Künstler*innendasein im Setting der Science-Fiction.


Genre: Manga, Musik, SF

Die Jahre der wahren Empfindung

Vom Scheintod der Literatur

Helmut Böttiger hat mit «Die Jahre der wahren Empfindung» und dem ergänzenden Untertitel «Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur» ein grandioses neues Sachbuch vorgelegt. Es dürfte für all Jene eine ergiebige Informationsquelle sein, die sich über den Deckelrand ihres Buches hinaus auch für Literatur als Kunstgattung interessieren. Für Leser also, die Näheres wissen wollen über die Schöpfer jener fiktiven Welten, die sie als Lektüre bereichern und im günstigsten Fall auch erfreuen. Und die schließlich sogar noch wissen wollen, unter welchen äußeren Bedingungen und in welchem kreativen Prozess diese Kunstwerke entstehen, – wenn es denn welche sind!

Es beginnt mit einem «Vorspiel», in dem darlegt wird, dass Enzensberger, Johnson und Grass Ende der 1960er Jahre drei «sehr unterschiedliche politisch-literarische Kraftfelder» vermessen hätten, die vieles enthielten, was sich dann nach 1968 entladen sollte. Politisch gehörte dazu auch die «Kommune 1» in Berlin, die damals in der Wohnung von Uwe Johnson ihr «Pudding-Attentat» plante. Das von Enzensberger herausgegebene «Kursbuch» habe mit seiner berühmt gewordenen Nummer 15 in der allgemeinen Wahrnehmung den «Tod der Literatur» apostrophiert. Im nächsten der 27 Kapitel widmet sich der Autor anschließend der Erzählung «Lenz» von Peter Schneider und deutet sie als Fanal: «Der auf sich selbst zurückgeworfene Einzelne – das wurde zum großen Thema der siebziger Jahre». Vom Tod konnte da nun wirklich keine Rede mehr sein, im Gegenteil, es folgte eine «wilde Blütezeit» mit neuen Autoren, Verlagen, Buchhandlungen und Literatur-Zeitschriften. Kreativ, wagemutig und unkonventionell wurden die literarischen Prozesse dem veränderten Bewusstsein angepasst, wurden neue Themenfelder besetzt. Eine radikale Politisierung vor allem, aber auch die Abrechnung mit den Nazi-Vätern, das Eindringen von Beat-Elementen, der lauter werdende Feminismus, die vorbehaltlose Einbeziehung der Subkultur, eine Durchmischung von Tragik und Komik setzten ganz neue Akzente in der Literatur dieses Jahrzehnts. Und sogar in der DDR gab es damals Lockerungen, die dann allerdings 1976 mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann ein jähes Ende fanden.

In großartigen Porträts erzählt Helmut Böttiger von der Neuen Innerlichkeit als beherrschende Literatur-Strömung der siebziger Jahre, die sich bei allen diese Epoche prägenden Schriftstellern in verschiedenen Spielarten artikuliert. Unter anderen werden Karin Struck und Ingeborg Bachmann als typische Vertreterinnen der schreibenden Frauen gewürdigt, es folgt der junge Peter Handke. Sodann stehen Bernward Vesper und Christoph Meckel exemplarisch für die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, und die Trennung der Verlage Klaus Wagenbach und Rotbuch wird unter dem Stichwort «Linke Verwerfungen» behandelt. Ein Kapitel ist Wolf Biermann gewidmet, es folgt das «Nicht Druckbare» in der DDR, sodann wird Christa Wolf als Lichtgestalt der DDR-Literatur gewürdigt. Weiter geht es mit Heiner Müller, gefolgt von dem aufmüpfigen Fritz Rudolf Fries. Als «heraus gemeißeltes Jahrhundertwerk» feiert Helmut Böttiger «Die Ästhetik des Widerstands» von Peter Weiss, dessen zentrale Aussage die «Mehrdeutigkeit der Kunst» sei. Nicht ohne Spott werden schließlich die schwierigen Beziehungen zwischen Marcel Reich-Ranicki und Martin Walser sowie die desaströsen zwischen  Siegfried Unselt und Thomas Bernhard geschildert. Es folgen Uwe Johnson mit »Jahrestage» und die Nobelpreisträger Heinrich Böll und Günter Grass mit ihren Werken aus diesem Zeitraum, und auch Arno Schmidt mit «Zettels Traum» wird ausführlich gewürdigt.

Diese anekdotenreichen Porträts sind als lehrhafte Chronik für ambitionierte Leser äußerst nützlich. Zudem vermittelt die oft amüsante Lektüre en passant eine Fülle von Interna der Branche und verdeutlicht Prozeduren zum besseren Verständnis einer Kunstgattung, die den Intellekt fordert wie keine zweite, und all das wird dann auch noch sehr unterhaltsam erzählt!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Sachbuch
Illustrated by Wallstein Göttingen

Leben mit dem Stern

Leben mit dem Stern. “Gestern wurde ich 53 Jahre alt, denn ich bin so alt wie dieses seltsame Jahrhundert“, schrieb Weil 1953 an einen Freund. Diesen Satz liest man mit Freude, denn so weiß man sogleich, dass der Autor sowohl die nationalsozialistische als auch die stalinistische Katastrophe “dieses seltsamen Jahrhunderts” überlebt hat. Für bedeutende tschechoslowakische Schriftsteller wie Josef Škvorecký, Ladislav Fuks, Ivan Klíma oder Jiří Kolář ist Jiří Weil heute ein großes Vorbild. Allerdings galt er in der ehemaligen Tschechoslowakei, seit der Veröffentlichung seines hier vorliegenden Romans 1949 bis zu seinem Tod 1959, als Unperson, ja sogar als “Schädling“.

Zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus

Wer diesen Roman “Leben mit dem Stern” liest, wird alsbald verstehen warum. Die totalitäre Katastrophe, die er in seinem Roman beschreibt, könnte sowohl eine kommunistische als auch eine faschistische Diktatur meinen. Tatsächlich saß der Autor schon in den Dreißiger Jahren in der Sowjetunion im Gulag, später dann als Jude im “Protektorat Böhmen und Mähren” ebenso in der Falle, wenn auch nicht im Lager, dem er sich zu entziehen wusste. 1933, vom Kommunismus begeistert, ging er nach Moskau, um dort als Journalist und Übersetzer marxistischer Literatur zu arbeiten. Nach dem Ausschluss aus der Partei und der Deportation nach Mittelasien im Zuge der ersten stalinistischen Säuberungen kehrte Weil 1935 dann aber doch wieder nach Prag zurück. “Leben mit dem Stern” beschreibt minutiös den Zeitraum der Umsiedlung bis zur Flucht in den Untergrund des Protagonisten Josef Roubíček. Dabei geht es aber vor allem um den Bewußtwerdungsprozess, ob er sich – so wie die anderen – in sein Schicksal fügen soll oder doch dagegen aufstehen soll. Hätte Jiří Weil es dann nicht getan, könnten wir dieses unglaubliche Zeugnis der wohl größten Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts heute nicht mehr lesen. Wie sich dann der Protagonist Josef Roubíček entscheidet, erfahren Sie auf den letzten Seiten des Romans. Jiri Weil gelang es durch einen vorgetäuschten Selbstmord.

Erschütternd authentisch über den Alltag des Holocaust

Philip Roth nannte “Zivot s hvezdou“, so der tschechische Originaltitel, “einen der herausragendsten Romane über das Schicksal der Juden unter den Nazis. Ich kenne keinen vergleichbaren“. Weils Roman ist nämlich nicht nur ein sprachlich exzellent geschriebener Roman, sondern auch ein großes Stück Literatur mit seltenem Tiefgang. Josef Roubíček, ein ehemaliger Bankangestellter, darf aufgrund der Rassengesetze im besetzten Prag nicht mehr arbeiten. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich sein Essen zum Überleben selbst zu organisieren. Da es ein kalter Winter ist, verheizt er nach und nach alle Möbel seiner kleinen Mansarde am Stadtrand. Zigaretten dreht er sich aus gefundenen Kippenresten und getrocknetem Laub, als Angehörige hat er nur noch einen Onkel und eine Tante, die im Prager Zentrum leben. Tagsüber ist er mit der Essensbeschaffung beschäftigt, abends füttert er einen ihm zugelaufenen Kater und träumt von Růžena. Sie kann nicht bei ihm sein, da sie verheiratet ist. Es wird aber nie ganz klar, ob sie nicht nur ein Tagtraum ist. Auch wenn sie es ist, die ihm stets rät zu fliehen. Rührend ist die Geschichte von seinem Kater, den er den (ungläubigen) Thomas nennt. Denn ebenso ungläubig und absurd ist das, was Josi (so nennt ihn Růžena) jeden Tag passiert. Auf allem liegt ein feiner Hauch von (absurdem) Humor und das, obwohl Jiří Weil das Schrecklichste beschreibt, was Menschen anderen Menschen je angetan haben. Angesichts des unglaublichen Leids, das ihm und anderen Verfolgten widerfahren ist, staunt man über die feine Feder dieses Schriftstellers, der beschreibt ohne anzuklagen, ohne Wut oder Hass, aber mit sehr viel Liebe und Verständnis für die Seinigen.

Gemeint: Totalitarismus von links und rechts

Die Sprache in der Jiří Weil den Weg in den Untergang des jüdischen Volkes schildert ist sehr schön und steht in krassem Widerspruch zur Handlung. Denn die Dystopie, die er beschreibt ist präzise beobachtet und könnte  in jedem Jahrhundert in jedem Land der Welt spielen. Natürlich ist das Protektorat und die deutsche Besetzung der Tschechoslowakei gemeint, aber stets vermeidet es Weil, die Deutschen direkt anzusprechen. Selbst wenn er von “ihrer Sprache” spricht, nennt er “sie” nie beim Namen. Dieser dramaturgische Kniff macht seine schreckliche Gegenwart zu einer noch erschreckenderen Zukunftsvision als etwa “1984” oder “Fahrenheit 451”. Der Totalitarismus und die Verfolgung einer Minderheit, im vorliegenden Fall die Juden, ist austauschbar und könnte überall passieren: Es kann jeden treffen. In der Absurdität der Anordnungen der Behörden liegt der eigentliche Terror und Schrecken. Die Besetzer behandeln die Bewohner der besetzten Gebiete wie Tiere, ihr Interesse und ihre Gier gilt allein ihren “Dingen”. Sie sehen keine Menschen, sondern nur Mittel zur Bereicherung und wen sie daran beteiligen, der wird mitkorrumpiert. “Teile und herrsche” wird zu einem Schreckensszenario des Alltags und schuld daran ist nur die “Hoffnung“. Und das perfideste daran ist, dass jene, die Widerstand leisten, zu den eigentlichen Schuldigen erklärt werden. So funktioniert eine totalitäre Gesellschaft.

Jiří Weil arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg am Jüdischen Museum in Prag. Als Redakteur und Autor, war er in seiner schriftstellerischen Tätigkeit durch ein siebenjähriges Publikationsverbot stark eingeschränkt. Erst 1956 wurde er rehabilitiert, starb aber leider schon drei Jahre später an Leukämie. Aber seine Stimme ist immer noch zu hören: in seinen Büchern. Seit 2020 wird an einer ersten Gesamtausgabe seines Werkes in Prag gearbeitet. Im Wagenbach Verlag ist auch sein Buch “Mendelsohn auf dem Dach” erschienen und hoffentlich bald auch seine anderen Werke, wie etwa “Moskau – Die Grenze” (1937) u.a. Ein großes Werk, das mehr Beachtung verdient.

Jiří Weil
Leben mit dem Stern
Aus dem Tschechischen von Gustav Just
2020, Broschur, 256 Seiten
ISBN 978-3-8031-2825-6
Wagenbach Verlag
14,– €


Genre: Holocaust, Nationalsozialismus, Protektorat, Roman, Stalinismus, Tschechoslowakei
Illustrated by Wagenbach

Klare Charaktere

Klare CharaktereMit seinem Autoren-Ratgeber »Klare Charaktere. Wie ich Figuren für einen Roman entwickle« gibt Autor Lutz Kreutzer Hinweise und Anregungen aus dem Handwerkskasten des Praktikers. Er stellt Herangehensweisen sowohl seiner eigenen Romane als auch diejenigen anderer Profiautoren vor, die dazu beitragen wollen, einem Roman Leben einzuhauchen. Weiterlesen


Genre: Ratgeber, Sachbuch
Illustrated by Kampenwand

Am Seil

Fanal selbstbestimmten Sterbens

Den Text, der als erfolgreiche Kurzgeschichte 2005 den Ingeborg Bachmann Preis gewann, hat Thomas Lang mit fünf vorgeschalteten Kapiteln zu dem Roman «Am Seil» ergänzt. Darin wird nun in einem kammerspiel-artigen Setting geschildert, wie es zu dem in Klagenfurt prämierten, ebenso komplexen wie dramatischen Ende einer schwierigen Vater/Sohn-Beziehung kam.

Auf einem gestohlenen Motorrad kommt der bekannte TV-Moderator Gert nach jahrelanger ‹Funkstille› zum ersten Mal zu Besuch ins Altenpflegeheim seines Vaters Bert. Beide sind an einem Punkt ihres Lebens angelangt, aus dem nur noch der Tod als Ausweg zu bleiben scheint, was denn auch den Buchtitel erklärt. Vater Bert war Lehrer für Englisch und Sport, ist schon seit Jahren von seiner Frau geschieden und inzwischen körperlich sehr hinfällig. Sein 45jähriger Sohn Gert hatte durch eine für ihn glückliche Verwechslung überraschend Karriere beim Fernsehen gemacht. Er wurde aber nach vielen erfolgreichen Jahren fristlos gefeuert, weil er sexuell übergriffig wurde und kurz darauf dann auch noch einen Autounfall verschuldet hat, bei dem seine minderjährige Geliebte umkam. Er ist nicht nur seelisch, sondern auch finanziell in ein tiefes Loch gefallen.

Mit scharfem Blick für Details wird die Figuren-Konstellation von einem sportlichen, herrischen Vater, der seinen körperlichen Verfall nicht akzeptieren kann, und seinem kunstbeflissenen, aber völlig untalentierten Sohn entwickelt. Letzterer ein Verlierer-Typ, dem das Glück nur einmal im Leben hold war und der nun in Selbstmitleid zerfließt. Beide Männer stehen vor einem Scherbenhaufen und haben sich absolut nichts mehr zu sagen. Thomas Lang erzählt multi-perspektivisch abwechselnd aus Sicht des penetrant besserwisserischen Vaters und des verweichlichten Sohnes vom Hass der Beiden aufeinander, der sich in einem Plot artikuliert, der chronologisch nicht länger als ein kurzes Zweipersonen-Stück beim Theater andauert. Die phonetische Ähnlichkeit der beiden Vornamen deutet trotz allem auf eine gewisse Charakter-Verwandtschaft der ungleichen Protagonisten hin. Denn Bert und Gert haben beide, so kristallisiert es sich für den Leser allmählich heraus, und der Buchtitel deutet es ja auch an, nur noch ein Ziel, welches sie ganz unerwartet doch noch eint. Bert ist nämlich bis ins Mark erschüttert, weil ‹seine› ihn besonders liebevoll umsorgende Pflegerin niedergeschlagen verkündet hat, dass sie entlassen wurde. Die Beschreibungen der Alters-Gebrechen und die Ohnmacht des in dem Pflegeheim nur noch dahinvegetierenden Vaters werden durch die wortkargen, geradezu zynisch knappen Dialoge mit dem Sohn eindrucksvoll verdeutlicht.

In der minutiösen Schilderung des auf pure Zweckmäßigkeit hin ausgerichteten Pflegeheims fällt besonders ein Gemälde des Russen Kasimir Malewitsch auf, das den Titel «Das schwarze Quadrat» trägt und im Buch, nicht ohne tieferen Grund, erwähnt wird. Es unterstreicht nämlich auf optische Weise die ganz ähnlich auf eine narrative «Empfindung der Gegenstandslosigkeit» ausgerichtete Diktion des Autors. Die psychisch desolate Verfassung der Figuren korrespondiert mit einer stilistischen Kargheit, deren wie in Zeitlupe ablaufende Beschreibungen einer Seniorenheim-Tristesse sich weitgehend an scheinbar Insignifikantem abarbeiten. Ohne Zweifel handelt es sich hier vom Genre her übrigens um eine geradezu archetypische Novelle, nicht um einen Roman, auch wenn das sich weit besser verkauft. Mit der Thematik des selbstbestimmten Todes nach einem langen, ereignislosen Leben, dem konträr beim Sohn ein intensives, in vollen Zügen genossenes gegenübersteht, wird hier ein uraltes moralisches Problem behandelt. Die wahrhaft groteske Schlussszene ist wie das Fanal eines völlig unhaltbaren, gesetzlichen Zustandes, der schmerzlich an das einst erbittert umkämpfte Abtreibungs-Verbot erinnert. Literarisch allerdings wirkt dieses Buch leider ziemlich willkürlich zusammen montiert, sprachlich oft misslungen und als Ganzes völlig inhomogen.

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München

Das schwarze Königreich

Das schwarze Königreich von Szczepan Twardoch

Das 2019 ebenfalls bei Rowohlt erschienene Werk „Der Boxer“ zeigte Twardochs Protagonisten, Jakub Shapiro, am Höhepunkt seines Lebens und Wirkens. In „Das schwarze Königreich“, der Fortsetzung,  ist er nur mehr ein Schatten seiner selbst und auf fremde Hilfe angewiesen.

Das schwarze Königreich des Jakub Shapiro

Aus Zorn und Hass ist mein Lebenswille gewebt, Zorn und Hass sind schwer und nicht leicht zu tragen, doch mitnehmen muss man sie, denn ohne sie endet man vorzeitig dort, wo ohnehin alle enden.“ Der einstige „König der Warschauer Unterwelt“ muss zusehen wie nicht nur sein Reich zerfällt, sondern auch das Warschau, das er kannte. Die deutsche Besatzung Polens 1939, die Warschauer Aufstände, das Ghetto sind die Echokammern eines Romans, der nicht nur intelligent gebaut ist, sondern auch den Leser in einen Strudel hinabreißt, aus dem es kein Entrinnen gibt. Twardoch erzählt den vorliegenden 2020 erstmals bei Rowohlt auf Deutsch erschienen Roman aus zwei Perspektiven, die er immer wieder wechselt. Der halbwüchsige Sohn David, der sich nach der Trennung seiner Mutter Emilia von seinem Vater Jakub um seinen Bruder Daniel und seine Mutter kümmert ist die eine Stimme des Romans. Die andere Stimme des Romans ist Ryfka, die einst ein Bordell leitete, wo Jakub in seinen besseren Zeiten Stammgast war. Sie liebt ihn so sehr, dass sie sich auch um den kranken Mann kümmert, der er jetzt geworden ist.  Ihr Zorn und ihr Hass sind es, die das gemeinsame Überleben sichern.

Überleben als Rache und Sühne

“Der Boxer” erschienen bei Rowohlt 2019

Auffallend am Stil dieses Romans ist aber auch die Konzeption. Die Tempuswechsel in der Erzählung von Ryfka Kij, die stets zwischen Präsens und Präteritum wechselt, charakterisieren die Brisanz ihres Narrativs.  Denn sie ist noch am Leben und nur deswegen kann sie all die Schrecken und den Terror des Krieges uns Nachgeborenen schildern. Sie war dabei und hat überlebt. An der Seite eines „bösen Mannes“, der nicht nur seine Frau und die Zwillinge enttäuschte. „Auf diese Art kann ich ihn bestrafen, indem ich ihn am Leben halte, so kann ich mich selbst strafen, und nur so kann ich auch weiter lieben. Die Liebe zu diesem bösen Mann ist alles, was mir geblieben ist.“ Szczepan Twardoch, Jahrgang 1979,  erzählt von Juden, Polen, Deutschen, von Tätern und Opfern, Kollaboration und Terror und macht auch vor den Sowjets nicht halt. Denn von diesen von Hitlers Wehrmacht befreit zu werden ist wahrlich kein einfaches Schicksal. Twardoch erzählt nämlich auch vom Holodomor, der Hungerkatastrophe, die durch Stalins Zwangskollektivierung Millionen Opfer nicht nur in der Ukraine forderte. „Der Krieg wird irgendwann zu Ende sein, und die Deutschen werden ihn verlieren, dann wird es gut sein, ans Licht zu kommen und wieder Mensch zu sein.“

Ein erschütternder und auch trauriger Roman, der dennoch Hoffnung macht, weil er zeigt, dass man trotz der vielen Opfer überleben kann und muss. Um diese und andere Geschichten zu erzählen und Sühne zu verlangen.

Szczepan Twardoch

Das schwarze Königreich

Übersetzt von: Olaf Kühl

2020, Hardcover, 416 Seiten

ISBN: 978-3-7371-0073-1

24,00 €

Verlag: Rowohlt Berlin


Genre: Deutsche, Juden, Noir, Polen, Warschauer Ghetto, Weltkrieg
Illustrated by Rowohlt

Der lange Atem der Bäume

Der lange Atem der Bäume von Peter Wohlleben: Wie Bäume lernen, mit dem Klimawandel umzugehen – und warum der Wald uns retten wird, wenn wir es zulassen

Der aussagekräftige Untertitel könnte schon eine Zusammenfassung des Buches sein. Es ist in drei recht unterschiedliche Kapitel aufgebaut: Die Weisheit der Bäume, die Ignoranz der Forstwirtschaft und der Wald der Zukunft.

Das Nachwort von Prof. Dr. Pierre Ibisch bringt das Geschriebene auf den Punkt: Wir können nicht mehr glauben, wir wüssten, was der Natur guttut. Also: Lasst die Wälder in Ruhe, die Natur hat in Millionen Jahren herausgefunden, was sie zum Leben braucht.

Im ersten Kapitel werden Beobachtungen des Försters Wohlleben dargestellt, manche untermauert durch wissenschaftliche Studien. Es geht um Grundsätzliches: Wie der Stoffwechsel der Bäume Zucker aus dem im Überfluss vorhandenen CO₂ produziert und aus Wasser, an dem es durch die Veränderungen des Klimas zunehmend mangelt. Dabei sind Unterschiede zu beobachten bei Baumarten, bei Bodenverhältnissen, aber auch, ob es sich um den Nord- oder Südhang desselben Hügels handelt. Viele der Beobachtungen stammen aus den letzten Jahren, als das Wetter unvorhersagbar wurde. Neben der Trockenheit zeigt auch andauernde Feuchtigkeit ihre Spuren, etwa durch vermehrten Pilzbefall.

Es geht vor allem um die Gemeinschaft aller Lebewesen, auch im Wald: um „den komplex zusammengesetzten Holobionten.“ Wir lernen die Bedeutung des Zusammenspiels vieler Faktoren kennen, dabei zeigen gerade die alten Laubbäume, dass sie sich besser auf das Weiterleben trotz widriger Umstände verstehen.

Ein Jahrhunderte alter Baum hat schon einiges durchgemacht und Überlebenstechniken entwickelt, vor allem in seinem Wasserhaushalt. Nachdem ein Brand einen Wald im regenarmen Nordosten Deutschlands zerstört hatte, zeigt sich bei Begehungen, dass sich die Natur mit vielen Ansätzen erholt.

Durch menschliche Eingriffe nach der Lehre der Forstwirtschaft ist das Zusammenspiel der Natur durcheinandergeraten, vor allem durch die Plantagenwälder, die aus Nadelbäumen bestehen. Auch die schweren Maschinen, mit denen die Plantagen abgeerntet werden, schaden den Milliarden Lebewesen, die in der Erde leben.

Diese wichtigste Erkenntnis wird häufig wiederholt: Laubbäume, vor allem Buchen, sind für Deutschland besser geeignet. Dennoch werden Nadelhölzer in Plantagen angebaut und dienen dem Ziel der Holzwirtschaft. Diese strebt ein Abholzen nach 40 Jahren an. Danach fehlt der schützende Schatten, es fällt zu viel Licht auf den Boden, was der Zusammensetzung der Lebewesen in und auf dem Boden schadet.

Mit vielen Beispielen wird in Der lange Atem der Bäume der Irrsinn der etablierten „verbeamteten Waldwächter“ beschrieben, auch der Einfluss, den sie auf die Politik, im Beispiel die frühere Landwirtschaftsministerin, hatte. Mehr als 50 % der Wälder in Deutschland bestehen aus „gebietsfremden“ Nadelbäumen. Man pflanzt Nadelbäume aus Baumschulen, die möglichst gerade gewachsen sind, denn das gibt lange gerade Bretter, hofft man jedenfalls, aber diese vorgezogenen Setzlinge können im abgeholzten Wald, ohne den Schutz der alten Bäume nicht gedeihen. Es gibt Hinweise auf das „Greenwashing“ der Baumpflanzaktionen.

Da gibt es Universitätsprofessoren, die raten, man solle alte Bäume fällen um den neuen Platz zu geben, aber auch, im Land Rheinland-Pfalz ein Verbot bis Ende 2021 diese zu fällen: ein „Abschlagverbot.“

Nachdem in den drei Kapiteln nicht immer der rote Faden zu erkennen war und sich manches wiederholte, rundet das Nachwort das Geschriebene ab: Niemand weiß, was richtig ist, auch Wissenschaftlern steht besser Demut als Rechthaberei. Bäume haben den längeren Atem!


Genre: Landwirtschaft, Umwelt, Wald
Illustrated by Ludwig Buchverlag

Love and Fortune 2

Gefühlschaos

Als Yumeaki Wako fragt, ob sie seine Freundin sein will, weiß Wako keine Antwort. Sie ist zwar in den 15-jährigen Jungen verliebt, aber der Altersunterschied macht ihr zu schaffen. Außerdem muss sie sich darüber klarwerden, wie sie zu ihrem langjährigen Freund Futa steht. Als sie sich nach langem Hin und Her dafür entscheidet, Futa zu verlassen, merkt Wako, dass das nicht so einfach geht. Sie bleibt daraufhin bei ihm. Die beiden wollen sogar heiraten. Aber Futa schöpft Verdacht. Er kommt Wako schließlich auf die Schliche und trennt sich. Als seine Freunde ihn aber nicht bei sich aufnehmen wollen und ihm ins Gewissen reden, geht er zu Wako zurück und die beiden kommen wieder zusammen. Aber dann trifft Wako Yumeaki im Kino wieder.

Die Konsequenzen einer Affäre

Der 2. Band beleuchtet die Irrungen und Wirrungen einer Affäre. Er geht auf das Gefühlschaos ein, das in allen Beteiligten vorgeht, wenn eine Affäre herauskommt. Indirekt wird auch das Toy-Boy-Vorurteil erwähnt, denn Futa nimmt Yumeaki nicht ernst und beleidigt ihn wegen seines jugendlichen Alters. Gezeigt wird aber auch, dass Wako trotz einer unguten Beziehung entscheidungsschwach ist und letztlich die Macht der Gewohnheit siegt. Dabei hätte sie als diejenige, die das Geld verdient, alle Freiheiten: entweder sich zu trennen und Single zu bleiben oder sich eine Beziehung zu suchen, in der sie wertgeschätzt wird. Für sie ist eine Beziehung mit dem minderjährigen Yumeaki allerdings mit Gefahren verbunden, weswegen sie die bestehende vermeintlich ungefährliche vorzieht. Da Yumeaki sich aber nicht abweisen lässt, findet Wako keine Ruhe, sondern wird zwischen den beiden Männern hin und her gezerrt. Sie endet in diesem Band im Gegensatz zum ersten als passiver Teil der Dreiecksgeschichte. Was der Band ebenfalls anspricht: Affären entstehen, wenn eine Frau sich nicht geliebt fühlt und nicht wertgeschätzt wird. Sie nimmt sich dann das, was ihr fehlt, bei einem anderen Mann. Das Rollenklischee des wortkargen, gefühlsarmen Mannes wird in einem Gespräch Futas mit der Frau seines Freundes kritisiert. Beziehungen leben von respektvoller Kommunikation, Wertschätzung und dem Zeigen von liebevollen Gefühlen. Sie scheitern, wenn das alles nicht gelebt wird. Deshalb versteht eine Leserin einerseits die schwankende Wako, andererseits möchte frau ihr aber auch einen Schubs in Richtung Selbstständigkeit geben und ihr sagen, dass eine Zeit als Single nur guttun kann, um sich selbst und die eigenen Bedürfnisse besser kennenzulernen. Anders ausgedrückt: Der Manga schafft es, dass man sich in die Geschichte hineinversetzt und mit den Figuren mitfiebert.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

Mit der Geschwindigkeit des Sommers

Bedrückendes Psychogramm

Es ist ein DDR-Roman der besonderen Art, in dem Julia Schoch unter dem kryptischen Titel «Mit der Geschwindigkeit des Sommers» über die Folgen der politischen Wende auf die Psyche einer Frau berichtet. Die Geschichte schildert aus einer ungewöhnlichen Perspektive die Auswirkungen dieser Zäsur, mit der sich für Viele ein neues, aber nicht immer auch besseres Leben abzeichnete. «Bevor sich meine Schwester in New York das Leben nahm oder, den Ahnungslosen zufolge, zufällig dort starb, hatte ich das immergleiche Bild von ihr im Kopf». So lautet, das Ende vorwegnehmend, der erste Satz, der Roman beschreibt nur den einsamen Weg ins Verhängnis.

Im Rückblick berichtet hier eine namenlose Ich-Erzählerin, die jüngere der beiden Schwestern, von der gemeinsamen Jugend in einer eiligst aus dem Boden gestampften Garnisonsstadt am Stettiner Haff. Der strategisch günstige, aber in einer öden Gegend gelegene Stützpunkt bestimmt das Alltagsleben in dem Städtchen. Einmal, erinnert sich die Erzählerin, sei sie mit ihrer älteren Schwester im Kino gewesen, umringt ausschließlich von Soldaten in ihren grauen Uniformen. Den vielen jungen Männern konnte der trostlose Ort kaum mehr Unterhaltung bieten als den Kinobesuch oder den Versuch, mit hübschen Mädchen anzubandeln. Und so habe ihr die ältere Schwester eines Tages denn auch von einem Schäferstündchen mit einem der Soldaten berichtet. Als nach der Wende die Garnison aber verkleinert und schließlich aufgegeben wurde, hatte ihr Soldat schon bald den Dienst quittiert und sich in den Westen abgesetzt. Die Ich-Erzählerin, deren Profession mit dem Stichwort ‹Drehbuch› nur an einer Stelle indirekt angedeutet wird, hat ihrer Heimat nach der Wende ebenfalls den Rücken gekehrt. Ihre ältere Schwester hingegen ist geblieben, hat geheiratet, zwei Kinder bekommen und führt nun ein langweiliges Leben als Hausfrau und Mutter. Die jüngere Schwester besucht sie ab und zu, und so erzählt die ältere ihr dann auch, dass ihr «Soldat», der inzwischen ebenfalls verheiratet ist, nach vielen Jahren den Kontakt mit ihr wieder aufgenommen habe. Seither besuche er sie häufig, ihre rauschhafte Beziehung sei sexuell für beide unvergleichlich intensiv.

Erzählt wird diese beklemmende Geschichte überwiegend in Form der inneren Rede, die der Ich-Erzählerin allerdings fiktiv ein Wissen unterstellt, dass niemand von den Gedanken eines anderen haben kann. «Hatte nicht der inzwischen verschwundene Staat verhindert, dass man zu irgendwas Großem in der Lage war», sinniert zum Beispiel die depressive ältere Schwester. Geradezu schwärmerisch gibt sie sich der verlockenden Vorstellung hin, «dass in diesem anderen Staat ein anderer Lebenslauf für sie bereitgestanden hätte». Und bei ihrem letzten Telefonat hatte die Ich-Erzählerin sie gefragt, wie sie denn «plötzlich auf die Idee gekommen sei, einfach ihren Liebhaber abzustoßen». Und bekommt zur Antwort: «Das habe sich ‹mit der Geschwindigkeit des Sommers› in ihr festgesetzt». Selbstkritisch merkt die Jüngere an: «Wäre ich aufmerksamer gewesen, hätte ich ihre verhängnisvolle Entscheidung vielleicht rückgängig machen können».

Diese Geschichte eines aus dem Lot geratenen Lebens wird in einem lakonisch knappen Stil erzählt, der intensiv das Psychogramm einer rätselhaft bleibenden Frau und ihrer fatal gescheiterten Befreiung aus bedrückenden staatlichen Zwängen zeichnet. Der Roman ist eine einzige Suche nach dem Motiv für die Verzweiflungstat. Dabei entspricht die nüchterne, unterkühlte Erzählsprache zwar dem trostlos kargen Ambiente des Handlungsortes, nicht aber das zutiefst menschliche Thema, um das es hier geht. Es ist dieser Kontrast zwischen einer knappen, zögerlichen Sprache und der unter die Haut gehenden Tragik eines unwiderruflich gescheiterten Lebensentwurfs, der dieses bedrückende Psychogramm zu einer intensiven, lang nachwirkenden Lektüre macht. Damit wird, das sei noch angemerkt, der gängigen DDR-Thematik eine neue Facette hinzugefügt.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Das Jahr, in dem ich aufhörte …

Unvereinbar konträre Welten

Schon der epische Titel «Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen» des post-kapitalistischen Romans von Thomas von Steinaecker weist auf eine positive Entwicklung hin. Was als realistische Beschreibung des Turbo-Kapitalismus beginnt, endet in einem futuristischen Vergnügungspark in Samara, der seine Besucher zum Träumen einlädt und seine Ich-Erzählerin schließlich dazu bringt, das Buch zu schreiben, das wir in Händen halten.

Die 42jährige Renate, alleinstehend und kinderlos, erfolgreiche Versicherungs-Agentin, wird zur Key-Account-Managerin befördert und von Frankfurt nach München versetzt. Sie befindet sich gerade in einer emotional schwierigen Phase, ihre Mutter ist erst vor kurzem verstorben und ihr verheirateter Chef und Lover hat sie kürzlich eiskalt abserviert. Der Roman beginnt mit ihrem ersten Arbeitstag am 1. Oktober 2008, kurz nach der Pleite von Lehman Brothers. Die emotional vereinsamte Frau stürzt sich mit vollem Elan in die Arbeit, sie gewinnt auch sehr schnell einen neuen Premium-Kunden. Und dann ist auch noch eine interne Revision angesetzt, wobei der Controller Renate als Beisitzende zu den Einzelgesprächen mit der Belegschaft hinzuzieht. Schließlich vermittelt ihr der zufriedene Premium-Neukunde einen Riesenauftrag, ein russischer Großkonzern will in München einen ultramodernen Vergnügungspark errichten und bei ihr versichern. Sie fliegt zu einem ersten Gespräch nach Samara in die Firmenzentrale und besichtigt den dortigen Park. Von ihrem Chef aus München erhält sie am nächsten Tag telefonisch die Nachricht, dass die ganze Abteilung aufgelöst wird und alle Mitarbeiter ab sofort den Arbeitsplatz verlieren.

Mit genauem Blick für Details schildert der Autor die moderne Arbeitswelt in der Assekuranz mit ihrem ständigen Zwang zu Wachstum, mit neidischen Kollegen und oft schwierigen Kunden. Die müssen mit ausgeklügelten psychologischen Tricks nicht nur zum Abschluss überredet, sondern möglichst auch noch dazu gebracht werden, durch unrealistische Risiko-Analysen überhöhte Prämien für die jeweilige Police zu akzeptieren. All das vollzieht sich in einem abstoßend desillusionierenden Fachjargon. In diesem technokratischen Milieu entwickelt die emotional unterentwickelte, aber gut bezahlte Heldin permanent neue Absturzängste, gegen die auch ihre vielen Psychopharmaka kaum noch helfen. Das artikuliert sich in ihrem mehr als peinlichen Zwang zum Pfandflaschen-Sammeln in öffentlichen Abfallkörben. Mit dem Vergnügungspark setzt der Autor dem bedingungslos auf Rationalität getrimmten Versicherungs-Milieu eine märchenhafte Traumwelt entgegen, die in ihrer Nutzlosigkeit den Alternativ-Entwurf darstellt für eine menschlichen Urbedürfnissen gerecht werdende Lebensweise. Dazu gehört dann auch, dass die Heldin in Samara bleibt, sich eine bescheidene Unterkunft sucht und anfängt, ihre Geschichte aufzuschreiben. Sie tut das mit Bleistift, eine nicht nur symbolische Rebellion gegen den nervenden Technologie-Druck.

Thomas von Steinaecker lässt seine extrem rationale Romanheldin resigniert aus ihrer zermürbenden, ausschließlich dem schnöden Mammon gewidmeten Erwerbswelt aussteigen. Animiert durch die Traumwelten des Vergnügungsparks widmet sie sich nunmehr einer kontemplativen, dem eigenen Seelenheil dienenden Beschäftigung, dem Schreiben über das eigene Leben. Ein Akt der Selbstvergewisserung und der psychischen Gesundung, welcher, Authentizität vortäuschend, durch in den Text eingestreute Bilder aus dem Nachlass der Mutter illustriert wird. Zu dieser toughen Heldin gewinnt man allerdings keine emotionale Nähe als Leser, und auch die anderen Figuren wirken seltsam blutleer. Vieles an der anfangs mitreißenden Geschichte ist zudem zweifelhaft oder bleibt offen. Die konträren Welten des Romans stehen ohne jede Verbindung für sich allein, als Abbild der Widersprüche unserer modernen Gesellschaft ist dieser Roman jedenfalls ziemlich misslungen.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Venedig. Wintertage in der Serenissima


Venedig. Wintertage in der Serenissima.
Venedig Connaisseur und Liebhaber Wolfgang Salomon lädt wieder zu einer Reise in die Lagune ein, dieses Mal im Winter. Er bietet dem/r geneigten Leser/in einen “Slowtravel” mit Tonspur an, denn zusätzlich zu den zumeist selbst geschossenen anmutenden Bildern und Texten, ergänzt er seine Ausführungen mit Empfehlungen aus seinem ganz persönlichen Venedig Soundtrack.

Venedig für Liebhaber

Salomon beginnt seinen Lagunenreigen mit einem Inselhüpfen und landet als erstes auf der Friedhofsinsel San Michele, die 2019 einmalig mit einer Pontonbrücke mit Venedig verbunden wurde. Das Wahlgeschenk des Bürgermeisters kam aber schlecht an und wurde sogleich wieder abgeschafft. Aber dafür gibt es ja die beiden anderen traditionellen Pontonbrücken im Juli und November an anderen Stellen in Venedig. San Michele jedenfalls steht bei Salomon nicht für Thomas Manns Novelle “Tod in Venedig”, sondern für Baron Corvo auch bekannt als Frederick Rolfe, der offener und skandalöser über Homosexualität schrieb, als der deutsche Schriftsteller es sich je zu träumen gewagt hätte. Das teils autobiographische Werk des Engländers Rolfe “The Desiree and Pursuit of the Whole” (1909) schildert die Liebe zu einem hermaphroditen Gondoliere. Der Autor selbst blieb bis zum bitteren Ende ein Bewohner Venedigs, schlief am Strand von Lido oder auf seiner privaten Gondola. Dafür wurde er aber in Hugo Pratt’s Corto Maltese (Favola di Venezia) als Baron Corvo verewigt und zumindest so unsterblich. Selbst der große Cantautore Paolo Conto verneigt sich in seinem Song “Sirat Al Bunduqiyyah” vor Rolfe und Pratt, was Salomon einen eigenen Tonspur-Tipp wert ist.

Venedig. Wintertage in der Serenissima.

Orte zum Aufwärmen” nennt Salomon seine Hinweise für kalte Wintertage, an denen man zwischen ausgedehnten Spaziergängen auch einmal ein “Bedürfnis” verspürt. Dem kann zum Beispiel im kürzlich neu eröffneten Sisi-Trakt des Museo Correr nachgegangen werden, oder aber in der Area Forte Marghera, das mit dem Pendelzug vom Bahnhof Santa Lucia bis Mestre und dann mit dem Bus 15 vom Bahnhof Mestre aus erreichbar ist. Dort haben schon länger einige kreative Köpfe ihren Platz gefunden, mittlerweile aber auch die Kunstbiennale einige Pavillons bespielt. Erinnerungen an Edgar Allen Poe’s Erzählung “Das Fass Amontillado“, in der der Erzähler seinen Erzfeind zur Zeit des venezianischen Karnevals in einen Keller lockt, werden beim Autor wach, als er sich in die Krypta der Chiesa die Santi Simeone e Giuda verirrt. Die Kirche, die vis a vis vom Bahnhof Santa Lucia steht, kennt jeder Tourist vom Warten auf seinen Zug, aber wenige die wenigsten haben sie wohl je betreten. Wer sich lieber in einem Café oder einer Bar aufwärmt den führt Wolfgang Salomon zu den Klängen von Angelo Badalamenti, dem Soundtrack zur Novelle “The Comfort of Strangers” von Ian McEwans Verfilmung durch Paul Schrader zur besten Pizzeria Venedigs. Pizzeria Aciugheta (Campo Santi Filippo e Giacomo) befindet sich in der Nähe des Ristorante Albiubagiò (Fondamente Nove 5039) in einer weniger touristischen Gegend Venedigs. Wer lieber Süßes mag, dem empfiehlt Salomon etwa die Pasticceria Tonolo, die die einzigartigen Martinsfritelle erfunden hat. Mit Rosinen, Zabaione-Creme oder Chantilly. Aber nur im November, wenn der Hl. Martin Geburtstag hat. So wie es auch die Castradina nur zum zur selben Zeit stattfindenden Salute Fest gibt. Im Grandhotel Palazzo dei Dogi gibt es noch ein Unikum, den letzten Eiskeller Venedigs, die Grottin del Giasso. Für die ganz Mutigen hier ein letzter Tipp: Venice Kayak, auf der gleichnamigen Homepage gibt es Bootstouren im Angebot, es sei denn die Kanäle sind mal wieder zugefroren. Zuletzt passierte das 1929, wovon man sich im Netz unter “Laguna Ghiacciata” überzeugen kann. Aber viele weitere brauchbare Tipps finden sich ohnehin in vorliegendem Reiseführer der besonderen Art.

Auch wenn Venedig seinen dekadenten Höhepunkt im 18. Jahrhundert hatte und damals Feste gefeiert wurden von denen man heute nur mehr träumen kann, spielt die Stadt doch auch bei den Celebrities des 21. Jahrhunderts immer noch eine Rolle, weiß Salomon. So heiratete etwa George Clooney seine Frau im Palazzo Papadopoli oder Cole Porter sorgte mit einem Auftritt von Josephine Baker für einen Skandal. “Wintertage in Venedig” bietet aber auch einen Livebericht vom 12.11.2019 als 90% der Stadt unter Wasser standen: Salomon war vor Ort! Weiters: Einkaufstipps wie Dogen-Schlapfen aus Radgummireifen bei Piedàterre Rialto, Antiche Drogerie Màscari, WEnice, etc.

Wolfgang Salomon
Venedig. Wintertage in der Serenissima.
2021, Broschur, 16,8 x 24 cm; 176 Seiten
ISBN 978-3-222-13664-1
Styria Verlag
€ 28,00

 


Genre: Kulinarik, Lagune, off the beaten track, Reiseführer, Sightseeing, Venedig
Illustrated by Styria Verlag Graz

Wilde Saat

Quellbild anzeigenZucht und Ordnung

Der Unsterbliche Doro züchtet schon seit Jahrtausenden Menschen mit außergewöhnlichen Merkmalen. Deshalb ist er ständig auf der Suche nach vermeintlichen Hexen oder Hexern („wilde Saat“), die frisches Blut in seine Zuchtdörfer bringen. Eines Tages folgt er der Spur einer ganz besonderen Frau: Sie ist wie er unsterblich, besitzt darüber hinaus aber noch die Fähigkeiten einer Gestaltwandlerin und einer außergewöhnlichen Heilerin. Anyanwu ist zunächst von der Aussicht begeistert, endlich nicht mehr von ihren Nachfahren mit dem Tod bedroht zu werden und unter ihresgleichen leben zu können. Deshalb folgt sie Doro in eines seiner Zuchtdörfer. Aber sie muss schnell feststellen, dass auch dieses vermeintliche Paradies seine Schattenseiten hat. Doro herrscht wie ein Gott über seine Nachfahren. Er hat despotische Züge, duldet keine Widerrede und verlangt, dass man klaglos seinen Zucht- und sonstigen Wünschen nachkommt. Das bedeutet auch, dass sich die Menschen von ihm töten lassen müssen, wenn Doro einen neuen Körper braucht. Seine Seele kann nicht ins Jenseits eingehen, sondern wechselt automatisch den Körper, wenn der alte verbraucht ist. Und das passiert spätestens nach zwei bis drei Jahren. Das Töten ist ihm zur Gewohnheit geworden, was Anyanwu als Heilerin entsetzlich findet. Sie selbst ist aus anderem Holz geschnitzt als Doro: Ihre Nachfahren dürfen sich ihre Partner*innen selbst wählen, erhalten Hilfe, Heilung, Schutz und Rat von ihrer Ahnin, und Anyanwu zieht all ihre zahlreichen Kinder eigenhändig und liebevoll auf. Überhaupt herrscht bei ihr Liebe und soziales Verhalten, wenn sie ein Dorf gründet. Nach ihren Möglichkeiten versucht sie Doro zum Positiven hin zu beeinflussen, aber dieser erweist sich als resistent gegen ihre Versuche, seine Praktiken sozialverträglicher zu machen. Da sie selbst vom Tod bedroht ist, wenn sie Doro nicht gehorcht – er würde schlicht und einfach ihren Körper übernehmen, was ihren Tod nach sich ziehen würde – verzweifelt sie allmählich an ihrer Machtlosigkeit Doro gegenüber. Schließlich entzieht sie sich ihm durch Flucht. Aber da Anyanwu für Doro gefährlich werden könnte, nimmt er die Verfolgung auf.

Patriarchat versus Matriarchat

Dieser von einer Frau geschriebene Science-Fiction-Roman ist in mehrerlei Hinsicht ungewöhnlich. Zum einen sind die Hauptpersonen schwarzhäutig, auch wenn Doro immer mal wieder weiße Körper benutzt. Schwarzhäutige Menschen, v.a. als Hautpersonen, kommen leider viel zu wenig in Romanen vor, weshalb schon dieser Umstand eine positive Hervorhebung wert ist. Dementsprechend spielt ein Teil der Geschichte in Afrika, und zwar vor und während der Kolonialzeit und der Versklavung der Schwarzafrikaner*innen. Hier wird die grausame Geschichte der Schwarzafrikaner*innen aufgezeigt, auch wie die Menschen darunter leiden. Und Doro wird als Mittäter dargestellt, da er aufgrund seiner eigenen Sichtweise kaum noch Menschlichkeit an den Tag legt. Er will zwar, dass es seinen Zuchtobjekten gut geht, sortiert aber auch gnadenlos aus, wenn sie ihm nicht mehr von Nutzen erscheinen. Nur Anyanwu macht all dies etwas aus. Sie möchte Menschlichkeit und positives soziales Verhalten um sich herum. Sie stellt damit einen Gegenentwurf zu Doro dar, dem seine Menschlichkeit immer mehr abhanden kommt.

Afrika ist die Wiege der Menschheit, und irgendwie schwingt das in dieser Geschichte mit. Dabei wird aber auch nicht verschwiegen, dass auch Schwarzafrikaner*innen ihren Anteil an der Versklavung hatten, wenn sie andere Stämme unterwarfen und verkauften oder ihresgleichen als Hexen brandmarkten und sogar zu töten versuchten. Das wird zwar eher nebenbei erwähnt, aber es hat Einfluss auf den weiteren Verlauf der Geschichte. Butler wollte wohl möglichst realistisch und nicht in im wahrsten Sinne des Wortes schwarz-weiß denken, sondern eine facettenreiche Story entwerfen, was ihr auch gelungen ist. Ihre Charaktere sind plausibel und nicht eindimensional, egal ob schwarz- oder weißhäutig.

Insgesamt entwirft Butler eine Geschichte des Patriarchats versus des Matriarchats. Sie zeigt das anhand ihrer beiden Hauptpersonen Doro und Anyanwu. Wenn man sich die Story genauer betrachtet, erinnert sie an die Theorie von Marija Gambutas: Vertreter des Patriarchats fallen in Gebiete ein, in denen das deutlich sozialere Matriarchat vertreten ist, und löschen diese Kultur trotz erbitterter Gegenwehr durch Frauen und Männer mit brutaler Gewalt aus. Doro vertritt in seinem gesamten Gehabe das Patriarchat. Seine Position als Familienoberhaupt ist unanfechtbar, sein Wort Gesetz. Wer sich an seine Vorschriften hält, führt ein einigermaßen gutes Leben, gibt dafür aber alle Freiheiten auf. Wer sich nicht daran hält, wird bestraft bis hin zum Tod. Es ist letztlich eine Gewaltherrschaft, die darauf beruht, dass Doro weiß, dass er den anderen überlegen ist. Die Menschen bleiben nicht freiwillig und gern bei ihm, sondern weil sie Angst vor ihm haben.

Anyanwu als Gegenentwurf zu Doro ist auch sehr mächtig, aber sie setzt ihre Macht nicht gegen, sondern für die Menschen ein, auch wenn diese sie als Bedrohung sehen. Sie setzt nicht auf Angriff, sondern auf Verteidigung, wenn es nicht mehr anders geht. Sie bevorzugt weder Gewalt noch Tod, sondern Heilung in allen Facetten. Sie denkt nicht wie Doro destruktiv, sondern konstruktiv. Sie agiert positiv sozial, indem ihr etwas an ihren Mitmenschen liegt, und sie ihnen mit Rat und Tat zur Seite steht. Sie lebt mit ihnen und nicht über ihnen. Sie liebt ihre Nachkommen und alle, die in ihrem Dorf Zuflucht gefunden haben. Sie vernetzt sich mit den Menschen und sie vernetzt die Menschen untereinander. Sie verhält sich wie eine gute Mutter zu ihren Kindern, hegt und pflegt die Gemeinschaft. Sie agiert mit der Natur und nicht gegen die Natur. Sie fügt sich in das Große Ganze ein und lebt nicht als herrschaftlicher, despotischer Parasit wie Doro. Doros Sohn trägt ihr auf, Doro zum Positiven zu beeinflussen, damit er seine Menschlichkeit nicht ganz verliert – was sich zu einer Mammutaufgabe auswächst, die aber aufgrund der Rettung der Welt notwendig ist.

Das erinnert sehr an Mythen und deren Kämpfe, die die realen Kämpfe des Patriarchats gegen das Matriarchat abbilden. Man sehe sich z.B. nur einmal die griechischen Mythen an, von der zunächst von einer weiblichen, großen Urgottheit die Rede ist, bis hin zur Entwicklung zum männerdominierten göttlichen Olymp, auf dem die Göttinnen eine den Göttern untergeordnete Rolle spielen. Doros Übernahme erfolgt zwar vergleichsweise sanft, aber die Drohung ist latent bis deutlich immer vorhanden. Die einst eigenständige Anyanwu wird regelrecht unterjocht, hört aber nie auf sich zu wehren, bis sie von Doro ernst genommen wird. Das wird sie allerdings erst, als sie den Tod nicht mehr fürchtet, denn erst durch diese Entscheidung wird sie wieder unabhängig.

Doro regiert seine Zuchtdörfer mit strenger Hand. Er fordert Unterwerfung. In seinen Dörfern ist es zwar egal, welcher „Rasse“ die Menschen angehören, trotzdem existiert eine Hierarchie. Die Hierarchie beruht auf geeigneten und ungeeigneten Zuchtobjekten. Je mehr „Hexen“-Potential seine Zuchtmenschen haben, desto wertvoller sind sie für ihn. Eine echte Bindung zu seinen Kindern besteht nicht, nur ein Sohn darf ihm wirklich nahekommen. Dem gegenüber steht die Gleichrangigkeit der Menschen bei Anyanwu. Sie behandelt die Menschen mit Menschlichkeit und der einzelne Mensch ist ihr wertvoll. Wenn sie urteilt, dann nach dem Charakter. Ein Mensch, der ihrer Gemeinschaft Schaden zufügt, wird ausgeschlossen. Sie handelt damit nach matriarchalischen und Jäger-Sammler-Mustern.

Science-Fiction ist hier wörtlich zu verstehen: Nach Art der Alternative History wird gezeigt, was genetische Versuche positiv und negativ bewirken, auch und gerade in ethischer Hinsicht.

Fazit

Der Science-Fiction-Roman handelt nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit. Er nimmt die Wissenschaftsfiktion wörtlich, indem er beleuchtet, wie genetische Zuchtversuche am Menschen in körperlicher und ethischer Hinsicht aussehen und ausgehen können. Dabei beleuchtet er zwei Systeme: das des Patriarchats und das des Matriarchats. Der Roman behandelt in Kombination dazu Andersartigkeit und wie damit umgegangen wird. Außerdem stellt er afrikanische und afroamerikanische Menschen in den Vordergrund, was leider immer noch viel zu selten vorkommt. Ein in vielerlei Hinsicht vielschichtiger und wertvoller SF-Roman.


Genre: Science-fiction
Illustrated by Heyne München