Die Transgender-Frage: Ein Aufruf zu mehr Gerechtigkeit

Nach Lektüre (und Rezension bei Literaturzeitschrift.de) des Buches Material Girls von Kathleen Stock, der Transphobie nachgesagt wurde, wollte ich „Transphiles“ lesen, um meinen Horizont zu erweitern.

Das Buch verschafft einen Einblick in die Schwierigkeiten von Transmenschen und in die Debatten dazu, mit dem Schwerpunkt im UK, der Heimat der Autorin. In zehn Kapiteln werden verschiedene Aspekte abgearbeitet, die Quellenangaben sind eher Zeitungsberichte, kaum theoretische Beiträge. Das Patriarchat und der Kapitalismus werden durchgehend als Ursache des gemeinsamen Leids vieler Menschen benannt.

Auf über 300 Seiten werden Ereignisse und Begegnungen beschrieben. Beim Lesen lernen wir den Werdegang der Autorin kennen, die sich als privilegiert bezeichnet, da sie weiß ist, studieren konnte und von ihrer Familie in ihrem Wunsch, zu transitionieren, unterstützt wurde.

Im Kapitel Klassenkampf berichtet die Autorin über die Medien, und von ihren eigenen Anfängen als Journalistin: Sie hätte lieber längere Hintergrundartikel geschrieben, aber von ihr als geoutete Transfrau wollte man lieber persönliche Statements, von Banalem, etwa wie sie sich schminkt, so wie es auch anderen Frauen geht, auf deren Aufmachung mehr Wert gelegt wird, als auf Taten. So machte sie eher Interviews mit Betroffenen, was ihr den Zugang zu einer Fülle von Biografien verschaffte, die das Buch bereichern.

In Der Staat beschreibt sie den Zusammenhang zwischen Diktaturen und gezielter Diskriminierung, hier am Beispiel USA unter Trump und Ungarn. Trump hatte die gesundheitliche Versorgung von Transmenschen in der Armee ausgesetzt. Und fundamentalistische christliche Glaubensgemeinschaften erfreute er mit seinen Besuchen. Ein anderer Aspekt ist der hohe Anteil von Sexarbeitern unter Transmenschen, das Kapitel dazu heißt plakativ „Sex Sells“, es wird aber auch beschrieben, dass Prostitution für viele von ihnen zu den wenigen Möglichkeiten gehört, Geld zu verdienen.

Bei den anderen Gruppierungen, die unter dem Patriarchat leiden, hätte ich mir Konkreteres über ihre Lage, über ihre Klagen, oder Konzepte gewünscht, so las man nur, dass deren Positionen (meist aus moralischen Gründen) abzulehnen seien.

Um das Ausmaß der Leiden von Transmenschen zu ermessen, empfehle ich das Buch, als politische Strategieempfehlung oder „Aufruf zur Gerechtigkeit“ weniger, es fordert diese gezielt für Transmenschen, die anderen Minderheiten, die das Patriarchat unterdrückt, werden in Untergruppen sortiert.

So lese ich von einer Maya Forstater, der gekündigt worden sei, weil sie einen „transfeindlichen Tweet“ geschrieben hätte, den Frau Rowling unterstützt hätte. Was die beiden Transphobisches geschrieben haben, wird nicht benannt, ich muss im Internet nachlesen. Sie hatte in einem Tweet gemeint, das biologische Geschlecht sei eine Realität, und Frau Rowling, hatte sie unterstützt. Ist das ein Kündigungsgrund? Und weiter lese ich, dass sie in 2. Instanz den Prozess gegen den Arbeitgeber gewonnen hatte.

Wir Alt Achtundsechziger sind dafür, dass Freiheit die Freiheit der Andersdenkenden ist, wem gewähren woke Menschen Meinungsfreiheit?

Allerdings sehe ich, dass die Biografien der Transmenschen sehr vielfältig und divers sind, und sie, zu Recht, in ihrem Sosein verstanden werden wollen. Und warum sollte ich einer äußerlich männlich erscheinenden Transfrau nicht am Waschbecken beim Damenklo begegnen? Dann begegne ich auch endlich mal einem Transmenschen persönlich …


Genre: Gesellschaft, Transgender
Illustrated by ‎ hanserblau

Boys run the Riot 2

Boys Run the Riot 2: Ein persönlicher, aufrichtiger und inspirierender Coming-of-Age-Manga (2)„Aus tiefster Seele sträubt sich alles in mir gegen den Anblick meiner selbst“ (Ryo)

Nachdem trans Junge Ryo und seine Freunde Jin und Itsuka eine klare Absage bei einem großen Verkäufer für ihre selbst kreierte Mode erhalten haben, beschließen sie, das Geld für deren Vermarktung selbst zu verdienen. Ryo will in seiner Trans-Identität einen Job bekommen, scheitert aber. Schließlich findet er eine Arbeit in einem Lokal, das als Arbeitskleidung unisex-Kleidung anbietet. Gleich am ersten Tag durchschaut ihn seine Kollegin Mitsuki sofort – sie spürt, dass Ryo äußerlich zwar ein Mädchen, aber innerlich ein Junge ist. Von da an scheint es für Ryo gut zu laufen, denn Mitsukis spielerische Art, mit diesem Faktum umzugehen, hilft ihm auch bei seinen Arbeitskollegen. Dann aber verliebt sich einer der Kollegen in Ryo – und zwar in Ryo als Mädchen. Ryo ist zunächst verzweifelt und gibt dem Mann einen Korb, aber nach einem Gespräch mit Mitsuki entwickelt er eine Strategie, um wieder unbefangen mit seinem Kollegen umgehen zu können. Außerdem lernt er die Trangender-Frau Tsubasa kennen, die im Gegensatz zu ihm offen mit ihrer Identität umgeht. Tsubasa will den drei Freunden helfen, ihr Modelabel bekannter zu machen – und stößt unerwartet an Ryos Grenzen.

Anderssein verlangt Mut und (Selbst-)Reflexion – tagtäglich

Der 2. Band geht wieder einfühlsam auf die inneren und äußeren Turbulenzen ein, die Ryo durchmachen muss, und wie mühsam und (zu) oft frustrierend das Leben tagtäglich ist, wenn man anders ist als andere. Ryo hat große Selbstwertprobleme, weil sein Erscheinungsbild nicht mit seinem inneren Geschlecht übereinstimmt und seine Umgebung ihm normalerweise spiegelt, dass er ein Mädchen ist und sich dementsprechend anzuziehen und zu verhalten hat. Wie Shimada, der Ryo ganz deutlich sagt, dass er ihn nur als Mädchen sieht und zudem unkritisch Rollenklischees transportiert. Nur ganz wenige Menschen nehmen Ryo so, wie er ist – und das ebenso selbstverständlich wie alle anderen ihn leider nicht so nehmen, wie er ist. Durch seine Art und den Zuspruch seiner Freunde erweitert Ryo aber allmählich seinen Radius und findet langsam mehr Zugang zur Welt und die Welt Zugang zu ihm.

Zu den fundamentalen Identitätsproblemen kommen noch Liebeswirren. Dass Ryo ein Liebesgeständnis von einem Mann, Shimada, erhält – der in ihm aber nur die Frau sieht – verwirrt und verletzt ihn. Er hatte sich auf eine gute neue Freundschaft eingestellt und nicht auf eine Liebesbeziehung. Dass dieser Mann nach Ryos Zurückweisung nicht mehr normal mit Ryo umgeht, verletzt den Transgender-Jungen. Aber da macht der Manga Mut, seinen eigenen Weg des Umgangs mit einer solchen Situation zu finden und sich u.a. Rat bei anderen zu holen, die einem wohlgesinnt sind. In diesem Fall sind das sowohl Mitsuki als auch Tsubasa. Mitsuki macht Ryo klar, dass dessen Herz für Frauen schlägt. Außerdem stellt sie ihm die Frage, ob Ryo auch äußerlich ein Mann sein muss, um Frauen zu lieben. Tsubasa stellt Ryo die Frage, was so schlimm daran wäre, sich in Männer zu verlieben. Allerdings sagt sie dann etwas, was wohl kein*e Trangender über das eigene biologische Geschlecht sagen würde: „Ich bin ein Mann und ich stehe auf Männer!“ Das irritiert, denn dann würde sich die Transgenderfrau in ihrem männlichen Körper wohlfühlen, was normalerweise nicht der Fall ist.

Aber abgesehen von diesem nicht unwesentlichen Fauxpas ist das ein gelungener Manga über das Thema Transgender, verbunden mit den Themen Mode und Kunst als Selbstverwirklichung, Freundschaft und Liebe


Genre: Manga, Mode, Selbstverwirklichung, Transgender
Illustrated by Carlsen Manga!

Boys run the Riot 1

Darf ich mich zeigen, so wie ich bin?

Ryo hat ein Problem: Er findet die Mädchenuniform seiner Schule fürchterlich – v.a. weil er sie selbst tragen muss. Denn Ryo ist transgender, ein Junge im Körper eines Mädchens. So ist er tagtäglich gezwungen, sich Ausreden zu überlegen, warum er nicht in Uniform sondern in Sportkleidung in die Schule kommt, muss die schrägen Blicke ertragen, wenn er mit Jungs abhängt und Mädchen toll findet. Nur seine Kumpeline Chika ist vom Charakter her offen und gegen jede Ungerechtigkeit. Aber selbst ihr kann Ryo seine wahre Identität nicht anvertrauen. Dann allerdings ändert sich sein Leben grundlegend, als Sitzenbleiber Jin in die Klasse kommt. Jin pfeift auf Konventionen, er will sein eigenes Leben leben – und er sieht Ryo, wie Ryo wirklich ist. Weil Rin alles so sieht, wie es wirklich ist, hat er auch keine Vorurteile und ist in der Lage, die Qualitäten und den Charakter eines jeden Menschen sofort wahrzunehmen. Deshalb bietet er Ryo spontan an, mit ihm ein Modelabel zu gründen, denn Ryo hat eine Begabung für alles Künstlerische. Aber Ryo ist noch misstrauisch, denn er hat mittlerweile zu viele Narben davongetragen, um noch jemandem zu vertrauen.

 

Der Gesellschaft einen unbequemen Spiegel vorhalten

Der 1. Band der Reihe lässt sich sehr gut an. Er bietet Einblicke in die Gedankenwelt derjenigen, die am Rande der Gesellschaft stehen – und entlarvt gleichzeitig durch die reine Präsentation der Charaktere, wie die Gesellschaft wirklich tickt: arrogant, egoistisch, engstirnig, diskriminierend, gewalttätig. Diese Charakterzüge nämlich tragen die besonders beliebten Jungen der Schule, während Ryo, Rin und im weiteren Verlauf der begabte Fotograf und ebenfalls Außenseiter Todo zwar menschliche Schwächen und Macken haben, aber in der Lage sind, sich selbst und anderes zu reflektieren, den Mut zur Selbstfindung aufbringen, einen guten Kern haben, den eigenen Schwächen ins Auge zu blicken und den Mut anderer wertzuschätzen, ebenso wie sie lernen, nicht nur sich selbst, sondern auch andere aufgrund ihrer menschlichen Qualitäten zu schätzen. Und ausgerechnet Rin, der vom Aussehen her das Schlägerklischee in jeder Hinsicht erfüllt, ist Lehrmeister für Ryo und Todo. So lernen die beiden, ehrlich zu sich selbst und anderen zu sein und sich für ihre Werte einzusetzen.

Der Manga bringt also allmählich ans Licht, worauf es wirklich ankommt: Menschlichkeit, Selbstfindung und das Kämpfen für eine gerechte und barmherzige Welt. Denn die jetzige ist noch weit davon entfernt, wenn sie Gewalttätigkeit und Diskriminierung nicht nur zulässt, sondern sogar gutheißt und destruktive Menschen hohes Ansehen genießen. Der Manga hält der Welt den Spiegel vor und zeigt die Destruktivität der Menschen, für die das zum normalen Leben gehört. Und er bricht eine Lanze für die Kunst, die schon immer Selbstausdruck war, intelligent die Geschehnisse der Zeit beleuchtet, bricht, kritisiert, seziert, mögliche (Lösungs-)Wege aufzeigt und damit ein fundamental wichtiger Teil der Gesellschaft und deren Gewissen ist. Da Mangas ebenfalls Ausdruck von Kunst sind, kann man hier also von der Form her eine Ebene in der Ebene beobachten. Kunst drückt sich in diesem Manga nicht nur in qualitativ hochwertigen Graffitis und Fotos aus, sondern auch in der Mode – sofern diese eine Botschaft hat, dem Selbstausdruck dient und die Herzen der Menschen berührt. Natürlich wollen die drei mit ihrem Traum auch Geld verdienen, aber für Geld verbiegen sie sich nicht, sondern nutzen die Mode als ihr Sprachrohr.

 

Insgesamt also ein sehr gelungener, tiefgründiger Auftakt einer hoffentlich im weiteren Verlauf guten und wichtigen Serie!


Genre: Anderssein, Kunst, Manga, Mode, Selbstfindung, Transgender
Illustrated by Carlsen Manga!