33 literarische Fluchthelfer
Im Œuvre Thomas Manns nehmen seine Erzählungen und Novellen neben den Romanen einen wichtigen Platz ein. Nach seinem Debütroman «Buddenbrooks» von 1901 folgten zunächst 28 solcher Kurzprosa-Werke, ehe dann mit «Der Zauberberg» 1924 endlich sein beim Lesepublikum besonders erfolgreicher, dritter Roman erschienen ist. Ebenso positiv aufgenommen wurden aber auch Novellen wie «Tristan», «Mario und der Zauberer», «Tod in Venedig» und «Tonio Kröger». In der vorliegenden Taschenbuch-Ausgabe sind alle 33 Werke mit Kurzprosa Thomas Manns nach der Reihenfolge ihres Erscheinens zusammengefasst.
Es beginnt mit «Vision», einer 1893 noch für die Schülerzeitung geschriebenen Prosa-Skizze über verlorene Liebe. Dann folgt «Gefallen», seine erste größere Erzählung, Thema: Frauen-Emanzipation. In «Der Wille zum Glück» berichtet ein Ich-Erzähler von der tragischen Liebe eines in der Hochzeitsnacht verstorbenen Mannes. Auf dem Markusplatz in Venedig erzählt ein Unbekannter von den Enttäuschungen, die das Leben für ihn bedeutet. In «Der Tod» berichtet ein Graf in 15 Tagebuch-Einträgen von der fixen Idee eines ihm prophezeiten Todes. «Der kleine Herr Friedemann» scheitert als Krüppel daran, ein epikureisches Leben zu führen. Durchaus selbstironisch wird in «Der Bajazzo» ein junger Bonvivant geschildert, dem jede Anstrengung zuviel ist, «Tobias Mindernickel» ist ein menschenscheuer Mann, der vergebens Trost bei seinem Hund sucht. ‹Eine Geschichte voller Rätsel› lautet der Untertitel zu «Der Kleiderschrank, in der es um Visionen eines Todkranken geht, und «Gerächt» ist eine ‹novellistische Studie› über das zynische Verhalten eines jungen Mannes zum Erotischen. In «Luischen» macht sich ein Ehemann lächerlich, ähnlich wie «Professor Unrat» bei Heinrich Mann. Grotesk geht es zu in «Der Weg zum Friedhof», einer Novelle um einen verspotteten Choleriker, und in «Gladius Dei» wird der damalige Kunstbetrieb karikiert.
Zu den bedeutenderen und inhaltlich komplexeren Novellen gehört «Tonio Kröger», der von der tiefen Freundschaft des Protagonisten zu seinem Klassenkameraden Hans erzählt, den er wegen seiner Talente und seiner Unkompliziertheit sehr bewundert. In der Liebe hat er Pech, die lustige Inge ignoriert ihn völlig, sie bleibt unerreichbar. Tonio wird ein erfolgreicher Schriftsteller. Auf einer Reise nach Dänemark trifft er Jahre später auf ein Paar, das Hans und Inge sein könnten, der vergeistigte Künstler beneidet sie um ihre robuste Natürlichkeit. «Ich bin erledigt» konstatiert er resignierend in einem Brief an eine befreundete Malerin. In «Tristan» geht es, angelehnt an das Motiv aus Wagners Oper, um unglückliche Liebe, die in den Tod führt. Thematisiert wird hier parodistisch der Gegensatz zwischen zweifelndem, verletzlichem Künstlertum und selbstbewusster, vitaler Bürgerlichkeit. Auch vom Film her bekannt ist natürlich die Novelle «Der Tod in Venedig», in der ein asketisch lebender, 50jähriger Schriftsteller am Lido Urlaub macht und dort in verzehrender Liebe zu einem schönen Knaben entbrennt. Als Reiseerlebnis der besonderen Art entwickelt sich in «Mario und der Zauberer» während ihres Italienurlaubs der Besuch eines Paares mit zwei Kindern in einer Zauberschau, die ganz unerwartet tragisch endet.
Auch die übrigen, weniger bekannten Erzählungen Thomas Manns überraschen mit Motiven, die gedankliche Tiefe aufweisen, selbst wenn sie zuweilen eher parodistisch anmuten. Er sei, hat Doris Lessing angemerkt, der letzte Schriftsteller, der seine Werke für philosophische Aussagen benutzte. Erzählt wird all das in dem für ihn so typischen, von Kritikern als altväterlich bezeichneten, anspruchsvollen Stil. Dessen Merkmal ist nicht nur die syntaktisch komplexe Sprache, sondern auch ein im Deutschen von niemand anderem je erreichter, unglaublich üppiger Wortschatz. Dieser Sammelband bietet dem Leser folglich 33 ideale Möglichkeiten zur erquickenden Flucht aus den Niederungen der zeitgenössischen Erzählkunst!
Fazit: erstklassig
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