Die Erstgeborenen: Wie sie ihre Kindheit den Geschwistern opfern

Die Erstgeborenen. Wer (ältere) Geschwister hat, wird das weitverbreitete Klischee kennen, dass diese es schwerer gehabt hätten. Wegen der Zeit, der Gesellschaft, der Eltern. Sie hätten vorgekämpft, wovon die jüngeren nun profitieren würden. Aber oft ist genau das Gegenteil der Fall: die Jüngeren müssen das Kreuz der Älteren tragen.

Auf dem Thron: der Erstgeborene

Der deutsche Psychologe, Psychoanalytiker und Schriftsteller Wolfgang Schmidbauer, Jahrgang 1941, ist ein Zweitgeborener. Als sein Bruder, der Erstgeborene, diese Welt verließ, begann sich der Autor mit dem Thema zu beschäftigen, das ihn offensichtlich auch mit 83 noch zu interessieren scheint. Wie so oft in seinen Büchern wird auch der vorliegende Text durch Fälle aus der Praxis des Therapeuten mit eigenen Erfahrungen angereichert. So entsteht ein komplexeres Bild einer ohnehin vielseitigen Situation, die sicherlich nicht immer gleich verläuft. “Der Eindruck, den das Geschehene auf mich gemacht hatte, mischte sich mit der aktuellen Trauer über Ernsts Tod. Jedenfalls traf mich der tragische Aspekt der Geschichte des Erstgeborenen wie ein Schlag. Ich war unschuldig und doch Täter. Ich hatte ihm etwas kaputt gemacht.” Da der Vater der beiden Söhne im Krieg gefallen war, wuchsen sie bei ihrer Mutter auf. In so einer Situation werden Erstgeborene oft in “die Rolle des Vorbilds gedrängt und geben sich dann auch Mühe, diese auszufüllen”, so Schmidbauer. Die Jüngeren würden dann oft als “ansprüchlich und undankbar” von den Älteren empfunden.

Böser Ackerbauer vs guter Hirte

Der eine teilt, der andere wählt. So hätten sie es als Kinder oft gehandhabt, wenn es etwa um das Teilen einer Schokolade ging: ersterer bemüht sich dann natürlich möglichst gleich und gerecht zu teilen, weil zweiterer sonst ja das größere Stück bekommt. Aber was, wenn der eine Ackerbauer ist, dem die Schafe des Hirten alles wegfressen? So geschehen BC als der Erstgeborene Kain genau deswegen seinen jüngeren Bruder Abel kurzerhand erschlug. Trotz der gemeinsamen Haltungen (“Sparsamkeit, Liebe zur Natur, Abneigung gegen Pathos und Geschwätz“) hätten die beiden Schmidbauer-Brüder als Erwachsene aber nie mehr richtig zusammen gefunden. Den Grund dafür zu finden mag auch eine Motivation gewesen sein, dieses Buch zu schreiben. Im dritten Kapitel, “animalische und narzisstische Dimension” betitelt, definiert der Autor den Begriff Wahrnehmung auf eine interessante Weise. “Wahrnehmung ist generell kein passiver Prozess, sondern ein aktives, schöpferisches Geschehen in dem wir Reize entlang unserer Erwartungen und Wünsche interpretieren“, in der Psychologie auch als Attribution bezeichnet. So bezeichnet sich der jüngere Sohn des britischen Königs als “spare“, Ersatzteil, der ältere als “heir“, Erbe. Aber diese Vorstellung stammt aus einer Zeit, als das Leben noch kurz und kriegerisch war. Heutzutage stehen wir vor ein gänzlich anderen Situation.

Aggression, Progression, Regression

Anhand des berühmten Briefes Kafkas an seinen Vater, Tolkiens Hobbit oder der Konflikte zwischen Sigmund Freud (ein Erstgeborener) und seinen Jüngern sowie Ludwig van Beethoven und Greta Thunberg exemplifiziert Schmidbauer, dass die familiäre Rolle auch große Auswirkungen auf das gesellschaftliche und soziale Auftreten einer Person haben. Wer aber immer voller Sanftmut alles richtig mache, keine eigene Bosheit kenne und sich vor seinen Mitmenschen fürchte, werde nicht glücklich, sondern depressive, schreibt Schmidbauer über die Aggression. Progression wiederum ist bei ihm die “Freude an der aktiven Bewältigung des Lebens” und Regression der kindliche Genuss der Abhängigkeit. Oft wird das eine erreicht, aber das andere ersehnt. Und was das Verhältnis der beiden Brüder betrifft, bleibt Schmidbauer bis zum Ende des Buches offenherzig und nachdenklich. Sicherlich eines der persönlichsten Bücher des großen Psychologen, der sich nicht länger den Kopf drüber zerbrechen möchte, warum etwas “nicht” passiert ist. Manchmal liegt zwischen einem Gedanken und seiner Ausführung eben ein ganzes Leben. Die Dynamiken zwischen Geschwistern sind oft sehr unterschiedlich und nur unter Umständen vergleichbar. Modelle wie “Der Erstgeborene” spielen dabei eine Rolle, aber sicher nicht die einzige. Die Lektüre von Schmidbauer ist wie immer eine äußerst inspirierende und bietet Raum zur Interpretation. Was übrigens, wenn die Erstgeborenen ihre Rolle gar nicht übernehmen wollen? Wie man an Kain sieht, sind das gar nicht so tolle Gesellen, diese Erstgeborenen…

Wolfgang Schmidbauer
Die Erstgeborenen: Wie sie ihre Kindheit den Geschwistern opfern
2024, Hardcover, 176 Seiten
ISBN-10 3987900555
Bonifatius Verlag
€ 18,5.-


Genre: Psychologie, Ratgeber
Illustrated by Bonifatius