Die Erstgeborenen: Wie sie ihre Kindheit den Geschwistern opfern

Die Erstgeborenen. Wer (ältere) Geschwister hat, wird das weitverbreitete Klischee kennen, dass diese es schwerer gehabt hätten. Wegen der Zeit, der Gesellschaft, der Eltern. Sie hätten vorgekämpft, wovon die jüngeren nun profitieren würden. Aber oft ist genau das Gegenteil der Fall: die Jüngeren müssen das Kreuz der Älteren tragen.

Auf dem Thron: der Erstgeborene

Der deutsche Psychologe, Psychoanalytiker und Schriftsteller Wolfgang Schmidbauer, Jahrgang 1941, ist ein Zweitgeborener. Als sein Bruder, der Erstgeborene, diese Welt verließ, begann sich der Autor mit dem Thema zu beschäftigen, das ihn offensichtlich auch mit 83 noch zu interessieren scheint. Wie so oft in seinen Büchern wird auch der vorliegende Text durch Fälle aus der Praxis des Therapeuten mit eigenen Erfahrungen angereichert. So entsteht ein komplexeres Bild einer ohnehin vielseitigen Situation, die sicherlich nicht immer gleich verläuft. “Der Eindruck, den das Geschehene auf mich gemacht hatte, mischte sich mit der aktuellen Trauer über Ernsts Tod. Jedenfalls traf mich der tragische Aspekt der Geschichte des Erstgeborenen wie ein Schlag. Ich war unschuldig und doch Täter. Ich hatte ihm etwas kaputt gemacht.” Da der Vater der beiden Söhne im Krieg gefallen war, wuchsen sie bei ihrer Mutter auf. In so einer Situation werden Erstgeborene oft in “die Rolle des Vorbilds gedrängt und geben sich dann auch Mühe, diese auszufüllen”, so Schmidbauer. Die Jüngeren würden dann oft als “ansprüchlich und undankbar” von den Älteren empfunden.

Böser Ackerbauer vs guter Hirte

Der eine teilt, der andere wählt. So hätten sie es als Kinder oft gehandhabt, wenn es etwa um das Teilen einer Schokolade ging: ersterer bemüht sich dann natürlich möglichst gleich und gerecht zu teilen, weil zweiterer sonst ja das größere Stück bekommt. Aber was, wenn der eine Ackerbauer ist, dem die Schafe des Hirten alles wegfressen? So geschehen BC als der Erstgeborene Kain genau deswegen seinen jüngeren Bruder Abel kurzerhand erschlug. Trotz der gemeinsamen Haltungen (“Sparsamkeit, Liebe zur Natur, Abneigung gegen Pathos und Geschwätz“) hätten die beiden Schmidbauer-Brüder als Erwachsene aber nie mehr richtig zusammen gefunden. Den Grund dafür zu finden mag auch eine Motivation gewesen sein, dieses Buch zu schreiben. Im dritten Kapitel, “animalische und narzisstische Dimension” betitelt, definiert der Autor den Begriff Wahrnehmung auf eine interessante Weise. “Wahrnehmung ist generell kein passiver Prozess, sondern ein aktives, schöpferisches Geschehen in dem wir Reize entlang unserer Erwartungen und Wünsche interpretieren“, in der Psychologie auch als Attribution bezeichnet. So bezeichnet sich der jüngere Sohn des britischen Königs als “spare“, Ersatzteil, der ältere als “heir“, Erbe. Aber diese Vorstellung stammt aus einer Zeit, als das Leben noch kurz und kriegerisch war. Heutzutage stehen wir vor ein gänzlich anderen Situation.

Aggression, Progression, Regression

Anhand des berühmten Briefes Kafkas an seinen Vater, Tolkiens Hobbit oder der Konflikte zwischen Sigmund Freud (ein Erstgeborener) und seinen Jüngern sowie Ludwig van Beethoven und Greta Thunberg exemplifiziert Schmidbauer, dass die familiäre Rolle auch große Auswirkungen auf das gesellschaftliche und soziale Auftreten einer Person haben. Wer aber immer voller Sanftmut alles richtig mache, keine eigene Bosheit kenne und sich vor seinen Mitmenschen fürchte, werde nicht glücklich, sondern depressive, schreibt Schmidbauer über die Aggression. Progression wiederum ist bei ihm die “Freude an der aktiven Bewältigung des Lebens” und Regression der kindliche Genuss der Abhängigkeit. Oft wird das eine erreicht, aber das andere ersehnt. Und was das Verhältnis der beiden Brüder betrifft, bleibt Schmidbauer bis zum Ende des Buches offenherzig und nachdenklich. Sicherlich eines der persönlichsten Bücher des großen Psychologen, der sich nicht länger den Kopf drüber zerbrechen möchte, warum etwas “nicht” passiert ist. Manchmal liegt zwischen einem Gedanken und seiner Ausführung eben ein ganzes Leben. Die Dynamiken zwischen Geschwistern sind oft sehr unterschiedlich und nur unter Umständen vergleichbar. Modelle wie “Der Erstgeborene” spielen dabei eine Rolle, aber sicher nicht die einzige. Die Lektüre von Schmidbauer ist wie immer eine äußerst inspirierende und bietet Raum zur Interpretation. Was übrigens, wenn die Erstgeborenen ihre Rolle gar nicht übernehmen wollen? Wie man an Kain sieht, sind das gar nicht so tolle Gesellen, diese Erstgeborenen…

Wolfgang Schmidbauer
Die Erstgeborenen: Wie sie ihre Kindheit den Geschwistern opfern
2024, Hardcover, 176 Seiten
ISBN-10 3987900555
Bonifatius Verlag
€ 18,5.-


Genre: Psychologie, Ratgeber
Illustrated by Bonifatius

Gefühle in Zeiten des Kapitalismus

Gefühle in Zeiten des Kapitalismus Eva Illouz

Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Auch wenn der Originaltext schon vor einigen Jahren erschienen ist, ist dieses Buch aktueller denn je. Die erstmals bei Suhrkamp 2023 erschienene Ausgabe gliedert sich in drei Teile von denen einer besser ist als der andere. Denn die israelische Soziologin versteht ihr Handwerk. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Anneliese-Meier-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung und den EMET-Preis für Sozialwissenschaften. Ein Manifest der Postmoderne, das Buch des beginnenden 21. Jahrhunderts!

Ein Bruch mit der Tradition der Liebe

Für wen “emotionaler Kapitalismus” bisher eine contradictio in eo ipso gewesen ist, der wird hier eines besseren belehrt. Denn gerade die Emotionen sind zum Startkapital eines neuen kapitalistischen Akkumulationsmodells geworden, mit dem sich nicht nur start ups wie Datingseiten finanzieren lassen. Die neue Technologie des Internets versteht sich einerseits zwar als eine Technologie der Entkörperlichung und so begegnen sich in diversen Internetforen “entkörpertlichte wahre Selbst“, aber in Wahrheit entscheidet dann doch der Körper. Das Internet mache den Menschen zu einer “ausgestellten Ware mit bewußten Manipulationen des Körpers, der eigenen Sprechmuster, des Benehmens und des Kleidungsstils“. Nichts wird dem Zufall – dem eigentlichen Geburtshelfer der romantischen Liebe – überlassen: “Der Prozess der Selbstbeschreibung bedient sich kultureller Skripte der wünschenswerten Persönlichkeit.

Kosten-Nutzen-Rechnung der Liebe

Die Folgen seien ironischerweise “Uniformität, Standardisierung und Verdinglichung, wie Illouz schreibt. Allerdings Verdinglichung im Nicht-Marxschen Sinne, denn es behandelt den abstrakten Begriff als wäre er die reale Sache. Romantische Begegnungen werden durch das Internet in die konsumistische Logik des Kapitalismus integriert, das Selbst wird zu einem “verpackten Produkt, das mit anderen auf dem offenen Markt konkurriere, der nur durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage reguliert wird”. Aus Romantik wird Routinebildung und Administration, Kosten-Nutzen-Rechnung und Zeitökonomie. Manche Dater und Liebessuchende legen sogar Ordner nach bestimmten Kategorien an, so überwältigend und beliebig ist der Response.

Das Internet: “Glamour of Misery”

Während die traditionelle Liebe von einer Exklusivität aufgrund von Knappheit maßgeblich war und der Zufall eine maßgebliche Rolle spielte, basiere die Partnersuche im Internet “auf einer Ökonomie der Fülle, der endlosen Wahlfreiheit, der Effizienz, der Rationalisierung, der selektiven Auswahl und der auf Standardisierung basierenden Prinzipien des Massenkonsums”. Freilich ist auch in der Realität Liebe von Illusion und Idealisierung geprägt, aber nirgends tritt es so offensichtlich zu Tage, als wenn zwei Chatpartner sich das erste Mal begegnen: Enttäuschung, ein Hilfsbegriff. Dass die moderne Psychologie wesentlich dazu beigetragen hat, dass Privatheit, Emotion und Intimität in einer Arena der Öffentlichkeit zur Schau getragen werden ist zu konstatieren. Nicht zuletzt Oprah Winfrey, ein Buch von Illouz über Oprah trägt den entlarvenden Titel “Glamour of Misery” und tauchte tief ein in die Welt des Showbiz und wie Psychologie und Konsumkultur zu einem perfekten Zusammenspiel aufgeigen können.

Das therapeutische Narrativ des Leidens

Das Narrativ der Krankheit, das therapeutische Narrativ oder auch das Opfernarrativ trugen wesentlich zu Umsatzboosts für Pharmaindustrie und klinische Psychologen bei. “Pharmaunternehmen haben ein großes Interesse an der Ausweitung psychischer Pathologen, die mit Psychopharmaka behandelt werden müssen”, schreibt Illouz. Auch Versicherungsgesellschaften profitieren von der Ware “Gesundheit” und deren monetärer Akkumulation. Das therapeutische Narrativ produziere geradezu vielfältige Formen des Leidens, wie schon Foucault wusste und um mit dem Anthropologen Shweder zu sprechen, mitverursache die kausale Ontologie des Leidens das von ihr erklärte Leiden geradezu. “Sie verursachen ironischerweise viel von dem Leiden, das zu lindern sie vorgeben”, so Illouz. We are all a happy family.

Eva Illouz
Gefühle in Zeiten des Kapitalismus.
Adorno-Vorlesungen 2004.
Aus dem Englischen von Martin Hartmann
2023, Broschur, 170 Seiten
ISBN: 978-3-518-30023-7
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2423
Suhrkamp Verlag, 1. Auflage
16,00 € (D), 16,50 € (A), 23,50 Fr. (CH)


Genre: Kapitalismus, Krankheit, Psychologie, Soziologie
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Die Lösung ist immer der beste Fehler: Typische Probleme der Kommunikation im Alltag

Das kleine Büchlein ist 2021 erschienen, zum 100. Geburtstag des Autors. Es ist eine Wiedergabe eines 1995 gehaltenen Vortrags, und schon darin besteht ein Reiz: Watzlawick nimmt Beispiele von gelungener Kommunikation auf weltpolitischer Ebene aus dieser Gegenwart: damals, als der eiserne Vorhang am Verrosten war.

Er erläutert die Theorie des Konstruktivismus mit Beispielen für Kommunikation, gerne mit nicht-gelungener. Erst einmal wird festgehalten, dass man nicht nicht kommunizieren kann; wenn zwei Menschen in einem Raum sind, ist auch das Schweigen Kommunikation.

Mich sprachen besonders die Zitate bekannter Denker an, etwa Einstein (1926): „Es ist falsch anzunehmen, dass die Theorie sich auf Beobachtungen aufbaut. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: Die Theorie bestimmt, was wir beobachten können.“

Typische Aspekte problematischer Kommunikation werden dargestellt, etwa wenn die Firma Rolls-Royce ein Auto Silver Mist nennt und damit in deutschsprachigen Ländern aneckte, oder wenn in einem Feine Leute-Club in Südamerika die Treppe ein höheres Geländer braucht, nachdem erwachsene Männer heruntergestürzt waren: Die als richtig empfundenen Abstände beim Gespräch sind bei Südamerikanern größer als bei denen aus dem Norden des Kontinents: Sie wichen zurück und stürzten, ironisch warnt Watzlawick davor, dass für eine kulturspezifische Todessehnsucht zu halten.

Sein großer Erfahrungsschatz ist ihm in seiner Arbeit als systemischer Psychotherapeut zugewachsen, dazu gibt es Beispiele, wie in einem Beratungsgespräch Klienten verblüfft werden können.

Wir lernen, was Konfusionstechnik und was die Illusion der Alternativen ist: In der Nazizeit wurden von der Regierung große Plakate gedruckt mit: Nationalsozialismus oder Bolschewismus. Widerständler hatten sie mit Aufklebern versehen: Erdäpfel oder Kartoffeln. Und wir verstehen, warum US-Soldaten im Ersten Weltkrieg die englischen Girls für Schlampen hielten, während sie selbst bei denen als Lüstlinge galten …

Beim systemischen Denken wird die Veränderbarkeit von Ursachen im Laufe eines Prozesses beachtet und wie sich Wirkungen auf die Ursache auswirken.

Als Ergebnis von Kommunikation kommt es zu Wirklichkeitsauffassungen, „von denen wir alle naiverweise annehmen, dass sie die wahren, richtigen, objektiv ewig gültigen sind.“

Im Schlusssatz des kleinen, lesenswerten Büchleins entwickelt Watzlawick die Titelthese zu: Die Wahrheit ist nur der zweckmäßigste Irrtum. Stimmt doch, oder?


Genre: Beziehungen, Glück, Kommunikation, Psychologie
Illustrated by Carl-Auer Verlag

Das lachende Baby: Fröhliche Wissenschaft: Was Babys glücklich macht

Der Autor ist Psychologe und forscht zur neuronalen Entwicklung der Babys. Als Wissenschaftler kennt er die einschlägigen Publikationen der letzten Jahrzehnte und belegt seine Aussagen: Die Literaturliste bringt es auf über dreißig der knapp vierhundert Seiten. Es geht ihm nicht um die motorische Entwicklung, sondern um Gedanken und Gefühle der Babys, und: Warum lachen wir Menschen eigentlich? Manchmal erzählt er auch aus dem Nähkästchen, was Wissenschaftler voneinander halten. Laien bezieht er mithilfe des Internets in seine Forschung ein, manche Eltern erzählen von sich und ihren Gefühlen, die die Babys auslösen und geizen nicht mit Beiträgen über die Leistungen ihrer Kinder.

Im Vorwort Was ist so lustig?

wird die Darstellungsweise vorgestellt, die Entwicklung des Lachens bei Kindern wird chronologisch beschrieben: „Letzten Endes soll dieses Buch jedoch das Unmögliche leisten und den wunderbaren Klang eines Babylachens noch zauberhafter machen. Wenn mir das nicht gelingt, suchen Sie sich am besten ein Baby und lassen sie sich von ihm unterhalten.“

An dieser Stelle möchte ich, die Rezensentin, die eigene Entwicklung meiner Wahrnehmung und meines Verstehens von Säuglingen beschreiben. Meine Eltern hatten noch die Bibel der schwarzen Pädagogik von Frau Harrer: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ im Schrank, auch als ich in den siebziger Jahren Kinderärztin wurde, und bald auch Mutter, wurde den Müttern in Entbindungskliniken das Füttern zu festen Zeiten, mit festen Mengen und auch Fertigmilchproben mit auf den Weg gegeben.

Wenn ich in dieser Zeit die Kampagne „Nestlé tötet Babys“ unterstützte, dann hatte ich die körperliche Entwicklung im Auge: Gerade in Entwicklungsländern war die hohe Säuglingssterblichkeit auch dadurch bedingt, dass hygienische und oft auch finanzielle Mängel dazu führten, dass Flaschenkinder verhungerten oder an Durchfall starben.

Als ich dann mehrere Jahre in Afrika arbeitete, begriff ich, wie viel mehr Fürsorge afrikanische Kinder erfahren durften, auch, welche emotionale Bedeutung das Stillen hat. Mehr noch: Die Kinder hatten kein Gitterbettchen, in das sie abgelegt wurden zum Schlafen, sondern schliefen ein, wo sie gerade saßen, meist war es irgendein Schoß bei Menschen, die mit ihnen in Kontakt waren. Ich ahnte, wie falsch, ja schädlich, viele unserer kinderärztlich begründeten Weisheiten gewesen waren.

Bei Addyman lese ich nun, wie inzwischen einige der Vorstellungen dieser Zeit, auch die „großer Denker“, widerlegt wurden, und, wie es ihn mit Freude und Genugtuung erfüllt, wenn die Bedeutung des Lachens für unsere Seelen bewiesen wird. Ich freue mich dann immer mit.

Eine Zeit vor dem Lächeln

In diesem Kapitel wird das Wissen über die vorgeburtliche Entwicklung zusammengefasst: Vor allem die 4D Ultraschalldiagnostik zeigt, dass Babys etwa 90 % der Zeit Schlafen, dass sie Lächeln und Schmerzen in ihrem Gesicht ausdrücken. Und nach der Geburt werden Babys beruhigt, wenn sie Melodien wiedererkennen, sie sie noch im Mutterleib gehört hatten.

Alles Gute zum Geburtstag

Hier wird das geburtshilfliche Wissen auf dem neuesten Stand beschrieben, wir lesen, dass Kaiserschnittgeburten die Bindung zwischen Mutter und Kind erschweren. Der vor allem im englischen Schrifttum geführte Streit zwischen nature (angeboren) und nurture (erlernt) wird dargestellt, aber auch, der Unterschied zwischen einem echten und einem erzwungenen Lächeln. Das erstere kommt mit einem Muskel weniger aus! Das echte Lächeln zeigt, dass ein Baby glücklich ist. „Aber wenn Neugeborene lächeln, weil sie glücklich sind, lautet die nächste Frage: Was macht sie glücklich?“

Die kleinen Vergnügungen

Alle Primatenbabys mögen Süßes und ziehen Grimassen, wenn sie etwas Bitteres bekommen, wir Menschen also auch. Glück stellt sich auch ein beim Pinkeln oder einem „guten Schiss“. In diesem Kapitel werden Definitionen des Glücks von der Antike bis zur Gegenwart behandelt, auch von Aristoteles und Epikur. Am schlechtesten kommen Ökonomen und Philosophen weg: „Ökonomen und Philosophen machen viel Aufheben um Vergnügen und Lust, aber ich habe den Verdacht, dass das hauptsächlich widerspiegelt, wie langweilig es ist, ein Ökonom oder Philosoph zu sein.“

Freud hat nicht viel zu Kindern geschrieben, und er hielt das Lachen, wie das Kacken, für Triebabfuhr. Auch die Freudschülerinnen Anna Freud und vor allem Melanie Klein mit einem dystopischen Blick auf die Säuglingszeit werden als Anhängerinnen von Vorurteilen dargestellt.

Schlafen?

Hier wurde mir wieder der Unterschied zu den afrikanischen Dorfkindern deutlich: Säuglinge schlafen oder sie sind eben wach, aber an diesem Wachsein zur gefühlten Unzeit leiden hier die Eltern. Es werden viele Studien zum Träumen vorgestellt: „Die beiden Nutzen des Träumens scheinen Lernen und Glück zu sein“ und die meist sinnlosen Ratgeber zum Schlaftraining. Am besten nimmt man die Schlafgewohnheiten des Babys als Eltern mit Humor und „das Aufwachen als das, was es ist: eine abgeschlossene Schlafperiode.“

Die erste Berührung

Hier wird die von Descartes (ein ganz unglücklicher Eigenbrötler war das! Hatte nicht mal eine Frau!) postulierte Trennung zwischen Körper und Geist auseinandergenommen und zusammengefügt, was zusammengehört. Und für die Kleinen gilt: Massage ist Kommunikation, bevor es Sprache gibt.

Spielzeugfreuden

Spielen ist Lernen, es gibt eine Fülle von Studien nicht nur mit Tieren, auch mit Babys, in denen bewiesen wird, wie etwa das dreidimensionale Sehen, das Abschätzen von Entfernung oder die Tiefen von Abgründen durch andauernde Versuche erlernt werden. Gestaunt habe ich (und so ganz will ich es noch nicht glauben), dass es einen großen Unterschied gäbe zwischen dem passiven Sitzen und Ansehen einer Fernsehsendung und dem aktiven Nutzen eines Smartphones schon bei Kleinkindern.

Wir sehen, wie US-amerikanische Pädiater ihre Empfehlungen dazu in den letzten Jahren schrittweise geändert haben. Eine Studie TABLET (Toddler Attentional Behaviours and Learning with Touchscreens) zeigt, dass sie in allen Entwicklungsschritten gleichauf waren mit denen, die nicht mit Smartphones „lernen“ konnten, und dass sie über mehr Kompetenzen verfügten. Ganz allgemein gilt aber, wie für auch Ernährung oder Sport, es nicht zu übertreiben und Kinder dabei zu begleiten!

Überraschung

Warum spielen die kleinen so gerne Kuckuck und Verstecken? Addyman zieht Vergleiche zwischen der Neugier der Babys und der von Wissenschaftler/innen. Dann werden Wissenschaftstheorien vorgestellt.

Lache, und die Welt lacht mit dir

Bei den Navajos gibt es eine Party, wenn ein Baby zum ersten Mal gelacht hat, so als wäre das Baby nun Teil der menschlichen Gemeinschaft geworden. Zum besseren Verständnis der Rolle des Lachens bei Menschen sehen wir uns wieder die Unterschiede zu Primaten an: Unsere Augen haben mehr Weiß als Hintergrund, und das erleichtert den Blickkontakt. Wir machen keine Fellpflege, aber das Lachen ersetzt diese intensive Beziehungspflege. Am besten gefällt mir als Oma die wichtige Rolle der menschlichen Großmütter bei der Weitergabe von Kultur. Durch das jahrzehntelange Leben nach der eigenen Fortpflanzungsphase können wir uns um die Enkel kümmern. Primatinnen gebären bis zu ihrem Tode. Und wir lesen, dass Väter (oder Großväter) in unserer Geschichte kaum eine Rolle als Kulturübermittler spielen: sie sind ja auf der Jagd!

Der Klang des Glückes

Hier geht es um Musik und Tanz. Am besten sehen sie sich die Videos an, als Addyman mit Imogen Heap eine Oper komponiert und dann auch den Happy Song dazu. Auch hier beeindruckt die partizipative Forschungsweise, mit der Eltern als „Mitarbeiter“ gewonnen werden.

Fröhliches Geplauder

Zur Entwicklung der Sprache gibt es beeindruckende Studien, bei denen Schimpansen unter Laborbedingungen Sprache, auch als Gebärdensprache, beigebracht wurde. Ein für Addyman wichtiger Punkt ist die Auseinandersetzung Noam Chomskys mit den Behavouristen. Und er berichtet, was ihn, den Banker, veranlasst hatte, noch einmal mit dem Psychologiestudium anzufangen.

Ja, Nein, Maybe Baby

Bei der Sprachentwicklung gibt es, über die Kulturen hinaus, Muster. Das Wort „nein“ wird früher erlernt, vielleicht, weil die Babys es von ihren Eltern so oft gehört haben? Zum Trost für manche Eltern: während der Trotzphase entwickelt sich auch die Fähigkeit zur Empathie. In seiner Doktorarbeit ging es um die Fähigkeit der Babys, Unterschiede wahrzunehmen. Was für die 8 Monate alten eine leichte Übung ist, überfordert 4 Monate alte. Und wir erfahren, warum seine Arbeit von der angestrebten Zeitschrift nicht publiziert wurde, zum Glück dann aber in einer für Tierforscher …

Freunde

Babys werden geliebt und sie lieben es, andere zum Lachen zu bringen. Gemeinsames Lachen ist Grundlage für Freundschaften. In diesem Kapitel geht es um die Theory of mind, um Autismus als eine andere Form von Empathie zu zeigen. Babys sind hilfsbereit und haben Sinn für Gerechtigkeit. Wie haben wir Erwachsene unsere Freundschaften geschlossen? Das letzte Kapitel endet mit einem Schlusswort: „Freundschaft macht uns glücklich, und Glück bewirkt, dass wir bessere Freunde sind. Freunde sind für uns da, weil wir für sie da sind und das beginnt, sobald wir lächeln können.“


Genre: Pädagogik, Psychologie
Illustrated by Kunstmann München

Mein Kompass ist der Eigensinn

Eigensinn – was ist das eigentlich, fragt Autorin Maria Almana. Gelegentlich hören wir von eigensinnigen Kindern, auch eigensinnige Jugendliche sind vor allem in der Pubertät keine Seltenheit. Der »Trotzkopf« galt lange als Standardbegriff für aufbegehrende junge Menschen, die erst geformt und dann gebrochen werden sollten. Erwachsene, die eigensinnig sind, werden hingegen weit seltener erwähnt. In der Altersgruppe der Senioren spricht man dann wohl eher abwertend von »seltsam« oder »verschroben«. Weiterlesen


Genre: Literatur, Psychologie, Sachbuch
Illustrated by Edition Texthandwerk

Männer, die in Schränken sitzen

christoph_kesslerBei Titel und Genre des Buches musste ich spontan an Oliver Sacks wundervolles Buch »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte« denken. Und tatsächlich ist Sacks Werk über die dunklen Seiten der menschlichen Seele durchaus vergleichbar mit den Geschichten, die Christof Kessler erzählt.

Kessler, ein Neurologe, schildert mehrheitlich Fälle aus dem angrenzenden Fachgebiet, der Psychiatrie. Als Chef einer Greifswalder Klinik begegnete er beispielsweise einem Lokomotivführer, den seine Kollegen anfangs für einen Schlaganfallpatienten hielten, der jedoch durch einen blutigen Unfall traumatisiert und daraufhin eines Teils seiner Erinnerung beraubt wurde.

In einem weiteren Fallbeispiel präsentiert er den zwangsgestörten Nachbarn, der seine Frau verliert, weil er sich gegen die Behndlung seines Ordnungswahns wehrt. Einem vermögenden Ossi, dessen raffgieriger Sohn den Vater lieber tot als lebendig sähe, konnte er indes nicht helfen; der Filius verhinderte dies und bedrohte den Kliniker.

In der titelgebenden Story beschreibt Kessler einen Patienten, der Erstickungsanfälle in Aufzügen, Flugzeugen, Restaurants und Sälen bekommt und nach langem Widerstand durch eine Therapie geheilt wird, bei der der Patient kontrolliert in einen Schrank gesperrt wird.

Überhaupt scheinen die psychisch Erkrankten eine panische Angst davor zu haben, für »verrückt« erklärt zu werdenu und hoffen geradezu auf eine organische Erklärung ihrer Leiden. Nach der Devise, lieber ein Schlaganfall als ein »Dachschaden«, geben sie sich größte Mühe, eine »richtige« Krankheit diagnostiziert zu bekommen. Und Patienten mit einer ernsthaften neurologischen Erkrankung wie Hirntumor oder Multiple Sklerose würden am liebsten hören, es liege eine psychische Störung vor.

Immer wieder erinnert die Lektüre der Kesslerschen Erinnerungen daran, wie gut es Patienten hatten, die in seine Klinik kamen. Ganz offensichtlich arbeitete der Neurologe mit einem Team hochqualifizierter, motivierter Kollegen. Typisch ist das eher nicht, das Elend von Neurologie und Psychiatrie in deutschen Praxen und Krankenhäuser ist weithin bekannt. Monatelange Wartezeiten auf einen Gesprächstermin bei vielfach überforderten Therapeuten wetteifern mit einem Streit der Schulen und Lehrmeinungen von der klassischen Psychoanalyse über die Verhaltens-, Gestalt- bis hin zur Schematherapie. Bevorzugt wird derjenige, der sich hilfesuchend an einen Seelenklempner wendet, mit Psychopharmaka vollgestopft, deren Nebenwirkungen die Persönlichkeit teilweis bizarr verändert, ihm aber scheinbar »hilft«. Diese Aspekte spart Christof Kessler aus, obwohl sie ihm zweifellos bekannt sein dürften.

Bei einigen Geschichten drängt sich das literarische Bestreben des Autors in den Vordergrund. In »MRSA« beispielsweise baut er eine mehr oder weniger wilde Kriminalgeschichte um eine Hähnchenmastanlage auf, die er laut polizeilichen Ermittlungen angeblich in Brand gesteckt haben soll, weil seine Visitienkarte am Tatort gefunden wurde. Kesslers Versuche, Kurzgeschichten zu schreiben, treten hinter den spannend geschriebenen Fallschilderungen zurück.

Christof Kesslers Buch bietet jedem, der an den Grenzbereichen zwischen Neurologie und Psychiatrie interessiert ist, vielfältige Ansätze, seine Umwelt wie auch das eigene Sein zu betrachten und verfügt dabei über einen hohen Unterhaltungswert.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Neurologie, Psychologie
Illustrated by Eichborn Verlag