50 Jahre Der Pate

50 Jahre Der Pate. 14. März 1972: Weltpremiere “Der Pate“. Der Pate auch als The Godfather im deutschen Sprachraum bekannt wird 50. Gemeint ist weder die Figur des Vito “Don” Corleone” noch die Romanvorlage, sondern der Film von Francis Ford Coppola, der 1972 veröffentlicht wurde. Der Roman selbst kam wenige Jahre vorher, 1969, auf den Markt. Ein guter Grund für eine Re-Lektüre. “Jeder kennt den grandiosen Film. Nur wenige wissen: Der Film ist so gut, weil die Romanvorlage genial ist. Jetzt zum Wiederentdecken!” So wirbt der Verlag für seine schöne Ausgabe in scharlachrotem Cover. Mit Blutstropfen am Revere.

Geschichte eines Aufstiegs in Amerika

Als ich als Jugendlicher den Roman vor beinahe ebenfalls 50 Jahren das erste Mal las, blieben mir vor allem zwei Szenen in Erinnerung: Der abgeschnittene Pferdekopf im Ehebett und die Verengungsoperation einer gewissen Signora. Was mir auch in Erinnerung blieb ist die Tatsache, dass viele Sizilianer ihre Insel für besetzt hielten und sich deswegen zu einer Mafia zusammenschlossen, die nur Einheimischen offen stand. Damals hatte ich allerdings noch keinen Begriff von der Mafia und ihren Geschäftszweigen und machte mir kein Kopfzerbrechen über Corleones Ablehnung mit Drogen zu handeln. Der Anschlag auf sein Leben wird nämlich dadurch verursacht. Seine Söhne Michael und Sonny rächen zwar ihren Vater, können die Entwicklung, die das organisierte Verbrechen nach der Aufhebung der Prohibition aber auch nicht aufhalten. Haben sie also eine andere Wahl?

50 Jahre Der Pate

Don Vito Corleone war noch ein Mafiaboss der alten Schule: Er setzte sich für Hilfsbedürftige ein und kämpfte für Gerechtigkeit für die Seinen. Aber natürlich sind seine Einnahmequellen nicht mit dem katholischen Glaubensbekenntnis vereinbar: Don Vito Corleone verdient sein Geld mit Glücksspiel, Bestechung, Erpressung, Schmuggel und Alkoholhandel. Er hatte nach seiner Flucht aus Sizilien ein Imperium aufgebaut und nun sollen es seine Söhne übernehmen. Aber nicht um jeden Preis.

Lieblingszitate aus dem Paten für den Alltagsgebrauch

Der Pate wurde zu einem internationalen Bestseller mit mehreren Millionen verkauften Exemplaren. Die Verfilmungen von Francis Ford Coppola, für die Mario Puzo mit ihm die Drehbücher schrieb, wurden weltweit sogar von über eine Milliarde Zuschauer gesehen. Gerne werden immer wieder Zitate aus dem Buch und den Filmen im Alltag verwendet. Und es gibt längst mehrere Best of Listen der beliebtesten Zitate aus dem Paten. Wir halten uns hier an die Originalsprache. Das bekannteste ist wohl: “Some Day, And That Day May Never Come, I Will Call Upon You To Do A Service For Me.” Wer einen Gefallen verlangt, der muss auch damit einverstanden sein, dass er eines Tages zurückgefordert wird. Der Satz klingt wie eine Drohung, ist aber ein offenes Versprechen, denn der Tag kommt ja vielleicht doch nicht. “Revenge Is A Dish Best Served Cold.” Ein Zitat das auch Tarantino in “Kill Bill” verwendete mag zwar nicht vom Paten erfunden worden sein, aber er machte es mit Sicherheit populär.

I Believe In America.

Zuletzt vielleicht sei noch das kürzeste Zitat aus dem Paten erwähnt: “I Believe In America.” Die Worte in dessen Zusammenhang dieser Satz fällt sind voll beißender Ironie und Zynismus, denn Amerika, das Land der Verheißung, kann für manche auch das genaue Gegenteil bedeuten. Und für die Rache für das Geschehene ist es dann wohl doch gut, einen Vito Corleone zu haben. Wer macht sich schon gerne selbst die Hände schmutzig?

Mario Puzo hat mit seinem Roman ein Werk geschaffen, von dem man wohl noch in 100 Jahren sprechen wird. Wer dann noch mitreden möchte, sollte so bald wie möglich das Buch lesen.

 

MARIO PUZO
Der Pate. Roman
(Originaltitel: The Godfather)
Aus dem amerikanischen Englisch von Gisela Stege
Mit einem Vorwort von Francis Ford Coppola
640 Seiten | Gebunden mit Farbschnitt | Großformat 12,5 x 20,5 cm
€ (D) 24,90 | sFr 34,– | € (A) 25,60
ISBN 978 3 311 12510
Kampa Verlag


Genre: Amerika, Aufstieg, Krimi, Literaturverfilmung, Mafia, Roman
Illustrated by Kampa

Ludwigshöhe

Der Tod als Programmfehler

Seinem Roman «Ludwigshöhe» hat Hans Pleschinski ein an den ‹Zauberberg› erinnerndes Setting zugrunde gelegt, eine in die Jahre gekommene, einst pompöse Jugendstil-Villa, die aber hier von keinen Patienten, sondern von Lebensmüden bevölkert wird. Der Autor benutzt sie für seine originelle Versuchs-Anordnung, Suizid-Kandidaten einen letzten Zufluchtsort zu bieten, an dem sie ohne bürokratische Hürden völlig ungehindert aus dem Leben scheiden können. Das Ganze wird durch eine riesige Erbschaft ausgelöst, die nur unter der Bedingung wirksam wird, dass die drei Erben dieses Hospiz ein Jahr lang ausschließlich zu diesem sehr speziellen Zweck betreiben.

Der reiche Onkel aus Brasilien hat diese Hürde für drei Geschwister aufgebaut. Sie alle sind wenig zufrieden mit ihren persönlichen Lebensumständen und träumen von dem Luxusleben, das sie erwartet, wenn sie unter den strengen Augen des Notars die makabre Erbauflage erfüllen. Aber wie an die Kandidaten kommen? Jede öffentliche Werbung wäre ja sittenwidrig und würde die Behörden auf den Plan rufen! Also stecken sie im Wartebereich von Arztpraxen und Arbeitsagenturen in die dort ausliegenden Zeitschriften und Broschüren diskret schwarze Visitenkarten, auf denen Folgendes geschrieben steht: «Reicht es? Reicht es wirklich? Und nicht mehr weiter? Kein Weg mehr? Aber prüfen Sie sich. Alles in Ruhe. Wenn Sie verstehen, verstehen Sie», gefolgt von einer Telefonnummer. Und es melden sich auch tatsächlich Interessenten für diesen notgedrungen so verklausuliert angebotenen Service. Nach und nach füllt sich die Villa mit fast zwanzig «Finalisten», wie die Kranken, Verbitterten, Enttäuschten, Gescheiterten und Mutlosen hausintern genannt werden. Da ist zum Beispiel die von ihrem Lover verlassene Domina, ferner eine abgehalfterte, ehemals bekannte Schauspielerin, die nervlich an ihren Schülern gescheiterte Lehrerin, ein bankrotter Verleger, eine vom Alltagsstress ausgebrannte Verkäuferin, die medikamentensüchtige Witwe, der verzweifelte Bühnenbildner und ein medienmüder Radioredakteur. Wie zu erwarten folgen aber, von zwei Ausnahmen abgesehen, die im Keller tiefgekühlt gelagert sind, die Moribunden kaum noch ihrem ursprünglichen Ziel. Es entwickeln sich neue Beziehungen in diesem seltsamen Mikrokosmos, das Leben scheint weniger unerträglich zu sein als ursprünglich angenommen.

Die alte Villa dient als Bühne für menschliche Verrücktheiten und als Laboratorium für Wege aus dem ewigen Dilemma allen Lebens, seiner unabweisbaren Endlichkeit. Kann man dem denn wenigstens mit passiver Sterbehilfe beikommen, weil die aktive ja doch nur theoretisch möglich ist? Will man ein Fazit ziehen aus all den Gedanken, die in diesem lebensprallen Gesellschafts-Roman angesprochen und oft auch durchdekliniert werden, so kommt man letztendlich auf die einfache Formel: Unsterblichkeit wäre ein Fluch!

Humorvoll nutzt Hans Pleschinski seine Satire zu einem Feuerwerk an herber Gesellschafts-Kritik und zu verschmitzt vorgetragenen, philosophischen Diskursen über ein im Kern ja durchaus ernstes Thema. Aber wie eine Finalistin im Roman es sich wünscht, nämlich tot zu sein ohne sterben zu müssen, das funktioniert leider auch auf der «Ludwigshöhe» nicht. Es sind solche Verrücktheiten, die bei der Lektüre dieses makabren Plots immer wieder ein Schmunzeln erzeugen, den Leser aber öfter auch laut auflachen lassen. Sprachlich nutzt der fabulierlustige Autor mit seinem ironischen Plauderton alle Register seines Könnens. Er bleibt auch im Fiktionalen dem Realismus verhaftet, überzeugt zudem mit vielerlei intellektuellen Betrachtungen, aber auch mit fundiertem Alltagswissen. Dabei verzeiht man ihm dann, dass er seinen Stoff derart über Gebühr ausgewalzt hat, weniger wäre hier mehr gewesen. Das Wichtigste an dieser Moralsatire aber ist die beißende Kritik an einem Zeitgeist der intellektuellen Verflachung, in welchem der Tod, wie es im Roman heißt, «zum Programmfehler heruntergekommen ist».

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Rauschzeit

Redundanter Lebensgefühls-Roman

Das Opus magnum des Büchner-Preisträgers Arnold Stadler mit dem Titel «Rauschzeit» ist ein Roman ohne Plot, der allein von seinem eigenwilligen Stil lebt und genau damit eine sehr konträre Rezeption in Feuilleton und Leserschaft erzeugt hat. Am Beispiel eines Paares in der Beziehungskrise wird hier resignierend eine illusionslose Weltsicht thematisiert, die ihr Vorbild in Jean Paul hat, auf den der Autor in seinem intertextuell reich ausgeschmückten Roman häufig Bezug nimmt.

Der Buchtitel spielt auf die begrenzte Paarungszeit der Wildschweine an, die ihre Entsprechung findet im Sexualverhalten von Alain und Mausi, die eigentlich Irene heißt. Das in Berlin lebende, kinderlose Ehepaar, beide vierzigjährig und als Übersetzer tätig, hat sexuell seine «vegetarische Zeit» erreicht, sie beschimpft ihn, nicht ganz zu Unrecht, als «Waldschrat». Die sich über zwei Mittsommer-Tage, den 25. und 26. Juni 2004, erstreckende Handlung ist schnell erzählt: Alain reist zu einem Symposium nach Köln und trifft dort zufällig nach langer Zeit erstmals wieder auf seine Jugendliebe Babette. Mausi hat von Freunden eine Karte für ‹Toska› geschenkt bekommen und fiebert schon dem Opernabend entgegen, die zweite Karte ging nämlich an einen ihr unbekannten Dänen, der dann ja neben ihr sitzen wird. Und wie vorauszusehen finden Alain und Babette wieder zueinander, und Mausi und der blonde Däne werden ebenfalls ein Paar. So weit, so profan, – denn mehr ist da nicht! Der Autor hält sich an Mark Twain, den er häufig mit dem bezeichnenden Satz aus «Huckleberry Finn» zitiert: «Persons attempting to find a plot in will be shot». Also Vorsicht, verehrter Leser!

Dem Roman ist mit «Wir wissen wenig voneinander» ein Zitat von Georg Büchner vorangestellt. Und Arnold Stadler selbst beginnt seinen sechsteiligen Roman mit den sinnigen Worten: «Was ist Glück? Nachher weiß man es», den er später immer wieder mal zitiert und variiert. In oft kurzen, mit ihrem Namen überschriebenen Kapiteln lässt er jeweils abwechselnd seine zwei Protagonisten zu Wort kommen, Alain als Ich-Erzähler, die Mausi-Kapitel werden auktorial erzählt. Nur im vierten Teil schildert Alain unter dem Titel «Ma vie» auf fast zweihundert Seiten ohne jede Gliederung sein Leben. Das Besondere daran sind jedoch nicht die Inhalte, die erzählerisch wenig hergeben, es ist der alle Konventionen negierende Stil, in dem da erzählt wird. Er ist, typisch für Stadler, gekennzeichnet durch eigenwillige Sprachbilder, häufige Selbstzitate und Wiederholungen, aphoristische Irrwege oder Sackgassen und oft ins Groteske verzerrte Figuren. Und deren ständiger Begleiter auf ihrer unentwegten Suche nach Glück und Lebenssinn ist der Schmerz, der in ständigen Vor- und Rückblenden und mit vielen, meist wörtlichen Wiederholungen thematisiert wird. Besonders der mutmaßliche Freitod von Mausis bester Freundin, der trucksüchtigen Fotografin Elfi Rauschzeit (oh wie sinnig, dieser Nachname!) wächst sich im Roman schon fast zu einer Art Totenklage aus.

Erzählt wird in einer an Neologismen reichen Sprache, in der das unbekümmerte Wortspiel tragendes Element ist sowie die ungehemmte Lust am Verschieben von Buchstaben oder das eifrige Variieren zusammengesetzter Wörter mit phonetisch ähnlichen. Ein gleichartiges Spiel wird auch mit ganzen Sätzen veranstaltet, was zu bestenfalls komischen, aber auch zu oft völlig sinnlosen Aussagen führt. Befremdlich wirken zudem viele der vom Autor eingestreuten Aphorismen aus eigener Feder, deren tieferer Sinn sich oft nicht erschließt. «Mein Leben war eine Vermeidungsstrategie, damit es glückte» wird da verkündet, oder, ebenso sinnig: « Ich? Ein Joint Venture aus Schmutzfink und Sprachgitter». Als alles beherrschendes Formschema aber bläht ausufernde Redundanz die Textmasse des Romans unnötig auf und ärgert den geplagten Leser. Als stilistisch holperiger Lebensgefühls-Roman spricht «Rauschzeit» allenfalls einen äußerst kleinen, esoterischen Leserkreis an!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Brooklyn soll mein Name sein

Kontemplative Hochliteratur

Als Roman eines Romans ist «Brooklyn soll mein Name sein» von Eduardo Lago, der nun erstmals auch auf Deutsch vorliegt, ein typisch selbst-referenzielles Werk, das insbesondere auch die Lust und den Frust beim Schreiben thematisiert. Der in Deutschland weitgehend unbekannte, in Madrid geborene und in New York lebende Schriftsteller und Hochschullehrer gewann für seinen kritischen Vergleich dreier spanischer Übersetzungen des «Ulysses» den ältesten und prestige-trächtigsten spanischen Literaturpreis, den ‹Premio Nadal›. Er ist zudem Gründungs-Mitglied des ‹Order of Finnegans›, kein Wunder also, dass sein grandioser erster Roman als intellektuelle Hochliteratur in manchem an James Joyce erinnert.

Mit «Die Toten leben einzig in uns» als Begleitzitat von Marcel Proust beginnt der Roman am ‹Fenners Point›, einem längst aufgelassenen Friedhof von dänischen Matrosen, die einst an dieser gefährlichen Steilküste des Atlantiks zu Tode kamen. Nur mit einer Sonder-Genehmigung darf der Schriftsteller Gal Ackerman dort, seinem Wunsch entsprechend, bestattet werden. Ich-Erzähler des Romans ist sein bester Freund, der von seinen Freunden nur Ness genannte Journalist Néstor Chapman. Er hat Gal versprochen, dessen unvollendeten Lebens-Roman an Hand des hinterlassenen Materials unter dem Titel «Brooklyn» fertig zu schreiben. So wollte Gal post mortem erreichen, dass seine seit Jahren verschollene, große Liebe, die in Sibirien geborene Pianistin Nadja Orlov, ihn als Einzige lesen kann. Es gibt mehrere Erzählstränge in diesem Roman, einer davon ist die Amour fou mit der deutlich jüngeren, geheimnisvollen Nadja, ferner die Herkunfts-Geschichte von Gal, die er erst mit 14 Jahren erfährt und die ein düsteres Geheimnis birgt. In einer Bar in Brooklyn, dem Oakland, laufen viele weitere Handlungsfäden zusammen. Dort ist quasi der Lebens-Mittelpunkt nicht nur für den Ich-Erzähler, sondern auch für eine illustre Schar von Stammgästen verschiedenster Couleur. Unter ihnen viele Seeleute, kaputte Typen, Getriebene, Aussteiger und Gestrandete, die untereinander ein enges Gefecht von Beziehungen und Abhängigkeiten verbindet, – und ein unbändiger Durst auf Alkohol, der nicht selten in Trunkenheits-Exzessen endet. Weitere Episoden beschäftigen sich zum Beispiel mit dem Chelsea, einem legendären Hotel mit berühmten Gästen, oder mit Coney Island und seinen Attraktionen, einst «Insel der Träume» für den jungen Gal.

Quelle für all diese Episoden ist die «letzte Ruhestätte», Gals unerschöpfliches Archiv direkt über der Bar, wo er geschrieben hat und woher nun all die Tagebücher, Briefe, Notizen und Zeitungs-Ausschnitte stammen, die Ness als sein Testaments-Vollstrecker in den Roman einbringt. Mit einer ausgeprägten Intertextualität verbunden sind hier außer den Schriftsteller- auch viele Künstler-Geschichten. Gal hat Thomas Pynchon und Dylan Thomas im Chelsea getroffen, und er berichtet zum Beispiel auch vom Freitod des manisch-depressiven Mark Rothko in seinem Atelier.

Es ist nicht leicht, sich in diesem Mikrokosmos des Autors zurechtzufinden, weil eine Überfülle von Motiven, Szenen und Gedanken auf den Leser einstürzt und zum Verständnis dessen volle Konzentration fordert. Ein wenig hilft dabei das angeschlossene Register, das in der Reihenfolge ihres Erscheinens nicht weniger als 148 Personen verzeichnet, womit sogar Tolstois «Krieg und Frieden» in den Schatten gestellt wird. Hilfreich ist auch eine Chronologie der Ereignisse in Kurzform sowie ein siebenseitiges Glossar mit erläuternden Anmerkungen, so zum Beispiel zu Sacco und Vanzetti, die ebenfalls ihren Platz finden in diesem labyrinthischen Roman. Was Dublin im Ulysses ist, ist New York in diesem fragmentiert angelegten Exil-Roman, dessen Protagonist den ‹Big Apple› rastlos durchstreift und seine Wege und Beobachtungen minutiös beschreibt. Wer sich darauf einlässt als Leser, der wird hier kontemplativ herausgefordert, aber literarisch auch überreich belohnt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Kröner Verlag

Kazimira

Baltisches Epos

Der neue Roman von Svenja Leiber weist mit dem slawischen Frauennamen «Kazimira» als Titel auf eine starke Frau als Protagonistin hin. Auf dem Umschlag ist Bernstein abgebildet, ein einst beliebter Schmuckstein, in dessen Abbaugebiet an der Kurischen Nehrung die Handlung räumlich angesiedelt ist. Der zeitliche Rahmen der Geschichte reicht von der Reichsgründung 1871 über beide Weltkriege bis 1945, und ergänzend ist dann auch noch ein Handlungsstrang im Jahre 2012 mit eingebaut.

Die mit einem Bernstein-Schnitzer verheiratete Titelheldin hat eine geniale Idee. Man könnte doch, erklärt sie ihrem Mann, das mühsame und verlustreiche Säubern der landeinwärts geförderten, aber stark verschmutzten Steine mit Hilfe einer künstlich erzeugten Brandung erledigen. In der würden sie dann automatisch ebenso sauber gewaschen werden wie die Zufallsfunde am Strand ja auch. Der jüdische Unternehmer Hirschberg greift diese Idee gerne auf und begründet damit in Weststrand, dem heutigen russischen Jantarny, eine lukrative Bernstein-Förderung im großen Stil, die ihm und auch seinen Arbeitern einigen Wohlstand bescheren. Neben diesem primären Handlungsstrang erzählt die Autorin im Rahmen einer breit angelegten Familiengeschichte über vier Generationen hinweg auch vom Ringen ihrer Heldin um Anerkennung und ein frei bestimmtes Leben. Sie will partout «kein Kindchen» und bekommt doch eins. Auch eine lesbische Episode wird erzählt, in der Kazimira die in ihr schlummernden, männlichen Anlagen entdeckt und mit einer Freundin auslebt. Als sie sich aber die Haare kurz schneidet und Hosen trägt, löst das einen Skandal aus, sie wird fortan von allen geächtet. Und auch der zunehmende Antisemitismus in Ostpreußen wird thematisiert. Die Unternehmer-Familie wird immer öfter angefeindet, verkauft schließlich den Betrieb und flieht in das vermeintlich weltoffenere Berlin, – bis die Nazis an die Macht kommen.

Es gibt als Binnenhandlungen etliche weitere Geschichten, von denen am meisten bedrückend die von Kazimiras Urenkelin mit Down-Syndrom ist. Eines Tages wird das Kind unter falschen Versprechungen zu einem Heimaufenthalt abgeholt. Sie kommt nie wieder, denn in Wahrheit fällt sie für die Nazis in die Kategorie «lebensunwertes Leben». Auch ein SS-Massaker kurz vor Kriegsende wird thematisiert, die greise Kazimira ist hilflose Zeugin des Mordens. Und die nachrückenden Russen bringen bald wieder neues Unheil. Ein weiterer Handlungs-Strang im Jahre 2012 berichtet von einem plötzlichen Boom für Bernstein. Nachdem dieser Anfang des Jahrhunderts völlig aus der Mode gekommen war und die Förderung eingestellt wurde, entstand durch die hohe Nachfrage aus China ein neuer Markt mit hohen Profiten. An denen wollen auch Kazimiras Ururenkelin und ihr Mann beteiligt sein, sie werden dabei aber in kriminelle Machenschaften hinein gezogen.

Das Leben in diesem abgelegenen Landstrich Ostpreußens wird sehr anschaulich, detailliert und teilweise in geradezu poetischen Sätzen beschrieben, man fühlt sich mittendrin im Geschehen. Allerdings ist es ein gewagtes Unterfangen, eine Familiengeschichte über mehr als ein Jahrhundert in all den gravierenden historischen Umbrüchen zu spiegeln. Zumal eine kaum noch überschaubare Anzahl von Figuren in immer neuen Episoden und unterschiedlichen Handlungs-Strängen auftritt. Die werden für sich genommen alle einfühlsam erzählt und sind zudem bereichernd, in Summe aber ist der Plot dadurch deutlich überfrachtet. Nicht zuletzt stören auch die vielen Zeitsprünge, sie tragen nicht gerade zu einem angenehmen Lesefluss bei und erfordern immer wieder ein lästiges gedankliches Umschalten. Svenja Leiber erzählt in weiten räumlichen und zeitlichen Bögen eine Geschichte, die in Teilen von Grausamkeiten berichtet und dann wieder, fast schon lyrisch, eine scheinbar heile, ländliche Welt beschreibt, die in eine raue Natur eingebettet ist. Leider ist es ihr nicht gelungen, ihre überbordende Stofffülle  zu einem stimmigen Ganzen zu fügen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Abby – Auf der Seite des Gesetzes (Band 3)

Von Outlaws zu gesetzestreuen Bürger*innen

Abigail Clearwater Williams, genannt Abby, hat sich mit ihrem Mann Butch Cassidy, jetzt bekannt unter dem Namen Robert Williams, eine Ranch gekauft. Beide wollen nach ihrem Dasein als Outlaws ein ruhiges, gesetzestreues Leben führen. Deshalb geht Robert seiner zweiten Leidenschaft, dem Hegen und Pflegen von Tieren, nach: Er züchtet und verkauft Pferde. Ihre gemeinsame Tochter Elisabeth, kurz Betty, liebt Tiere ebenfalls und liegt ihren Eltern schon seit geraumer Zeit mit eigenen Pferden und Hunden in den Ohren. Betty weiß nichts von der Outlaw-Vergangenheit ihrer Eltern und das soll nach dem Willen von Abby und Robert auch so bleiben. Sie haben extra ihre Spuren verwischt, damit man ihren ruhigen Lebensabend nicht gefährden kann. Das bedeutet aber auch, dass Abby auf ihre erste Tochter Alison verzichten muss, denn diese kennt die Vergangenheit ihrer Mutter. Alison lebt mittlerweile in dem Glauben, Butch Cassidy und Abby seien gestorben. Aber durch Abbys und Roberts Freunde Mary und Elzy, die mit Alison in Kontakt stehen, ist Abby immer über ihre Tochter informiert, sodass sie zumindest aus der Ferne an Alisons Leben teilhaben kann. Dann aber erleidet Alison einen lebensbedrohlichen Unfall und Abby beschließt, sie im Krankenhaus zu besuchen. Das ist leider nicht das einzige Unheil, dass den Frieden der Familie gefährdet: Auch Betty, die mit ihrer lebhaften Art ihrer Mutter nachschlägt, erleidet einen Unfall, der sie an den Rand des Todes bringt. Außerdem müssen sich Abby und Robert gegen einen Pater wehren, der Kinder missbraucht. Ihr Leben gestaltet sich also weiterhin alles andere als ruhig.

Wahre Begebenheiten

Ich bin erst mit Band 3 in die Reihe eingestiegen. Schon erhältlich sind die Bände „Abby – Mit Butch Cassidy auf dem Outlaw Trail“ und „Abby – Totgesagte leben länger“. Ein 4. Band ist geplant. Mir ist der Einstieg in die Reihe leichtgefallen, da kurze Rückblicke an gegebener Stelle einiges erklären, was sonst unklar geblieben wäre.

Die Autorin hat sich mit dieser Reihe dem Western verschrieben, und zwar aus Frauensicht. Ihre Protagonistin Abby ist zwar eine Fantasiefigur, aber Fischer lehnt ihre Geschichte an wahre Begebenheiten an. Butch Cassidy und Elzy Lay z.B. waren reale Outlaws, über die sich die Autorin mithilfe von Büchern informierte, wie sie im Nachwort schreibt. Ihr ist es auch wichtig, zwischen Realität und Fiktion zu trennen und aufzuzeigen, wo bei ihr die Fiktion beginnt. Sie weist aber auch darauf hin, dass sie behutsam ihre Fiktion mit der Realität verbunden hat, um ein rundes Ganzes zu schaffen. Das ist ihr gelungen. Die Geschichte liest sich spannend, man kann gut in die Story eintauchen und mit den Figuren mitfühlen. Die Figuren selbst hat Fischer lebendig und sympathisch gestaltet.

Frauenbild

Um noch einmal auf das Genre “Western” aus Frauensicht zurückzukommen: Meist sind Western aus Männersicht geschrieben oder verfilmt. Frauen kommt dabei eher die Rolle von Nebendarstellerinnen zu, die entweder die gute Hausfrau mimen, in Salons den männlichen Voyeurismus bedienen oder als „schwaches“ Geschlecht z.B. als evtl. zu rettendes Opfer herhalten müssen. Kurz: Die Rolle der Frau in einer solchen Sicht des Westerns hat zumindest bei mir als Mädchen und später als Frau keine Begeisterungsstürme ausgelöst. Ich konnte mich aus guten Gründen mit keiner dieser negativ und einseitig besetzten Frauenrollen identifizieren, sodass mir dieses Genre weitgehend fremd geblieben ist. Mit einer selbstbestimmten und gleichwertigen Frau als Hauptfigur sieht das aber schon ganz anders aus. Abby ist selbstbestimmt; sie lässt sich auch in sexueller Hinsicht nichts sagen und macht das, was ihr richtig erscheint. Sie steht ihren Mann, ohne dabei ihre Form der Weiblichkeit aufzugeben. Letztlich ist sie es, die entscheidende Richtungswendungen veranlasst. Auch ihre Töchter Alison und Betty lassen sich in kein Rollenklischee pressen und machen das, was ihnen gut dünkt. Gerade Alison eckt damit regelmäßig bei ihrem konservativen Vater an. Aber das macht sie bewusst, um ihn zu ärgern und vielleicht auch, damit er über seinen engen Tellerrand hinaussieht. Betty hat das Glück in einer Familie aufzuwachsen, die ihr die für sie so notwendigen Freiheiten gibt, damit sie sich gesund entwickeln kann.

Die anderen Frauen in dem Roman entsprechen allerdings dem Rollenklischee und scheinen damit auch zufrieden zu sein. Das ist in Ordnung, solange sie dazu nicht gezwungen sind und anderen keine Vorhaltungen machen, wie sie zu leben haben. Das tun die Frauen in dem Roman nicht, sie unterstützen sich gegenseitig und ergänzen sich. Damit entsprechen sie den matriarchalen Netzwerken, die für Frauen sehr vorteilhaft sind, wenn sie funktionieren. Das Patriarchat versucht nicht umsonst, starke Frauennetzwerke zu zerstören. Ein Wehrmutstropfen für mich ist allerdings, dass Abby dem Klischee der Rothaarigen entspricht: Sie ist so feurig wie ihre Haarfarbe. Sieht man sich die historischen Begebenheiten an, leiden Rothaarige und v.a. rothaarige Frauen unter Klischees. Die Haarfarbe ist bei anderen Menschen nicht sehr beliebt und führte in der Vergangenheit sogar zu Tötungen von gerade weiblichen Rothaarigen (Hexenverbrennungen). Auch eine meiner Kindheitsfreundinnen, die rothaarig war, litt immer wieder unter Repressalien wegen ihrer Haarfarbe. Deshalb finde ich es besser, Klischees zu durchbrechen, anstatt sie weiter zu bedienen. Frauen müssen auch nicht immer impulsiv sein, um Stärke zu zeigen, zumal Frauen, die impulsiv sind, oft die Vernunft und das analytische Denken abgesprochen werden (was nicht stimmt, es geht auch beides). Analytisches Denken, kühle Überlegtheit wird oft nur Männern zugestanden, was ebenso falsch ist. Wenn man bedenkt, was Frauen egal welchen Charakters durch die Mehrbelastung leisten müssen und dass das nur mit durchgetaktetem Tagesablauf und damit nur mit strategischer Planung und Organisation geht, dann ist dieses Klischee schon millionenfach widerlegt.

Positive Grundhaltung

Der Roman hat trotz aller Schwierigkeiten, die die Figuren meistern müssen, immer einen positiven Grundton. Er liest sich flüssig und leicht. Die Figuren meistern die Schwierigkeiten mit Entschlossenheit, verbergen aber auch ihre Bedenken und ihre Ängste nicht, was sie realer wirken lässt. Durch die positive Grundhaltung gesunden Abby und die anderen wieder und versinken nicht in Depressionen. Was meinen Lesefluss ein wenig gestört hat, ist die Angewohnheit der Autorin, ganze Sätze nicht mit einem Punkt, sondern nur mit einem Komma abzutrennen. Dadurch werden die Sätze zu lang und bekommen etwas Hastiges, Unruhiges im Satzduktus. Die kleine Lesepause durch den Punkt fehlt mir. Aber insgesamt finde ich den Roman gelungen, denn aus o.g. Gründen ist er gut durchdacht und spannend geschrieben.


Genre: Roman, Western
Illustrated by Bogner

Lavaters Maske

Die Nöte eines Schreiberlings

Der Titel «Lavaters Maske» von Jens Sparschuh verrät, dass es um die Maskerade des Lebens geht, um Physiognomik, hier im Roman speziell um die wissenschaftliche Methode, aus den Gesichtszügen auf den Charakter eines Menschen zu schließen. Johann Caspar Lavater war im achtzehnten Jahrhundert Begründer und wichtigster Vertreter dieser Lehre, heftig angefeindet von Lichtenberg, später auch von seinem Jugendfreund Goethe. Das Thema des 1999 erschienenen Romans ist insoweit hochaktuell, als China die heutigen technischen Ressourcen radikal nutzt, um einen lückenlosen Überwachungs-Staat zu realisieren. Dieses totalitäre Regime kontrolliert seine Bürger auf Schritt und Tritt mit modernster Software zur Gesichts-Erkennung, um Rückschlüsse auf ihre seelische Verfasstheit zu ziehen. Die Orwellsche Dystopie «1984» ist also doch noch Realität geworden.

Ich-Erzähler des Romans ist ein ehemaliger Germanist und wenig erfolgreicher Schriftsteller, dem für sein letztes Buch das «Wühlischheimer Ehrenstipendium» zugesprochen worden war, damit er eine Zeit lang in ländlicher Ruhe schreiben kann. Er führt nun ein mit Residenzpflicht verbundenes, ziemlich langweiliges Stadtschreiber-Dasein. Ausgerechtet jetzt aber leidet er an einer Schreib-Blockade, ihm fällt partout kein neues Thema ein. Auf telefonische Nachfrage seines Agenten, woran er denn derzeit arbeite, antwortet er ohne lange zu überlegen mit einer Notlüge: Er schreibe über Lavater. Er hat das gar nicht vor, aber daraus wird dann tatsächlich Ernst, als sich nämlich auch noch ein Filmboss für den eher ungewöhnlichen Stoff interessiert. Da winken ihm ja schließlich dringend benötigte Vorschüsse. Er beginnt also, über seinen Protagonisten zu recherchieren, und stößt dabei schon bald auf eine Selbstmord-Geschichte. Enslin, der jugendliche Sekretär von Lavater, hatte sich mit einem Gewehr erschossen, ein mysteriöser Suizid, der bis heute viele Fragen aufwirft.

Die Recherchen zu dem Exposé für den geplanten Film nehmen breiten Raum ein in diesem Roman, unterbrochen nur von gelegentlichen Lese- und Vortragsreisen, mit denen der Ich-Erzähler zwischendurch seine notorisch klamme Kasse wieder auffüllt. Dieser ergänzende Erzählstrang ist witzig und zeugt davon, dass der Autor wohl vertraut ist mit den Gegebenheiten und Ritualen, denen sich heute ein Schriftsteller unterziehen muss als Promoter seiner eigenen Werke. Weniger lustig ist allerdings, was man in Form von historischen Briefen, Lexikonbeiträgen und zeitgenössischen Zitaten über Lavater und seinen Schreiber Enslin erfährt. Dieser eigentliche Haupt-Strang des Romans ist äußerst langweilig zu lesen, er führt zudem mit den wilden Spekulationen des Ich-Erzählers, was denn nun wirklich passiert ist in der Causa Enslin, ins Leere. Ebenso ins Leere führen auch die wirren Versuche des schreibenden Romanhelden, seinem Exposé eine tragfähige, glaubhafte und zündende Idee als Handlungsgerüst zu Grunde zu legen. Das Ganze wird nur immer wirrer, er macht die aberwitzigsten Erfahrungen, trifft auf die merkwürdigsten Leute und scheitert letztendlich auch im privaten Bereich, das Zwischenmenschliche ist nicht seine Stärke.

Ähnlich ergeht es auch Jens Sparschuh, es ist ihm nämlich nicht gelungen, das Lavater-Thema mit dem seiner Romanfigur, des Schriftstellers in der Identitäts-Krise, stimmig zu verbinden, beides steht in dieser doppelbödigen Geschichte unabhängig voneinander für sich. Da passt es dann auch, dass der eher trottelige, gleichwohl aber sympathische Protagonist am Ende des Romans in einer Festrede zum Thema Physiognomik kläglich scheitert. Gerade diese fachspezifischen Passagen wirken als Störfaktor, sie sind einfach nicht stimmig in ein erzählerisches Werk zu integrieren. Insoweit ist dieser anekdotenreiche Roman allenfalls wegen seiner gekonnt erzählten, amüsanten Einblicke in die Nöte eines mittelmäßigen Schreiberlings zur Lektüre zu empfehlen, als Ganzes aber ist er leider misslungen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Lichte Stoffe

Psychedelisches Palaver

Für ihren Roman «Lichte Stoffe» hat Larissa Boehning den hochdotierten Mara-Cassens-Preis als bestes deutschsprachiges Debüt des Jahres 2007 verliehen bekommen. Sie beschreibt darin die Suche einer jungen Frau nach dem Schlüssel für ihre eigene Herkunft und verwebt in ihrer Geschichte Themen wie Raubkunst, Besatzungskinder, deutsch-amerikanische Animositäten, Familien-Geheimnisse und persönliches Scheitern. «Geheimnisse sind der Motor zum Erzählen» hat die Autorin im ZEIT-Interview erklärt, ihre Figuren spiegelten einzeln das Hauptthema des Romans wider, «weil jede Figur ihre eigene Lüge mitbringt oder verarbeitet». Worauf sich der Buchtitel bezieht, erfahren wir in der Mitte des Buches, als die Protagonistin nach der Trennung von ihrem Mann sinniert: «Aber die Liebe? Lichter Stoff.»

Die Großmutter von Nele Niebuhr hatte nach dem Zweiten Weltkrieg einen farbigen GI kennen und lieben gelernt. Er war als Bewacher eines Lagerstollens für Nazi-Beutekunst zufällig in einer Nische auf ein rahmenloses Ölgemälde gestoßen und hat es heraus geschmuggelt. Das Bild von Degas zeigt eine Frau mit Hut, und da die Großmutter eine Hutmacherin war, hatte der Besatzungs-Soldat es ihr geschenkt. Als sie schwanger wurde, endete die Liaison mit dem Ami, sie gab ihm das Bild zurück, bevor er sich auf Nimmerwiedersehen davongemacht hat. Dieses Trauma, alleingelassen zu werden mit einem Mischlingskind, hat sie niemals überwunden, aber solange sie lebte hat sie auch nie darüber gesprochen. Eva, die Tochter der Alleinerziehenden, lebt mit ihrem Mann in einer Reihenhaus-Siedlung, sie ist konsumsüchtig und hat ständig Besuch vom Gerichtsvollzieher. Ihr Mann Bernhard wurde nach dreißig Jahren als Sicherheitschef einer Großbäckerei entlassen, von schnöseligen Unternehmens-Beratern einfach wegrationalisiert. Er traut sich nicht, das seiner Frau zu sagen, und geht jeden Morgen ‹zur Arbeit›, um den Schein zu wahren. Die inzwischen dreißigjährige Nele, Tochter der Beiden, ist in Chicago mit dem Verkaufsleiter eines Herstellers ausgeflippter Sportschuhe verheiratet. Sie steht vor den Trümmern ihrer Ehe und dem Ende ihrer Karriere als Designerin in der gleichen Firma. Nach dem Tod der Großmutter stößt sie auf Ton-Kassetten, auf denen die Oma von dem Degas-Gemälde erzählt, das inzwischen Millionen wert sein muss. Nele macht sich auf, diesem Familien-Mythos auf den Grund zu gehen, den verschollenen Großvater und das Bild zu finden.

Erzählerischer Rahmen des Romans ist ihr Rückflug nach Deutschland, sie hat einen älteren Herrn im Tweedsakko als Sitznachbarn, der sich in der Malerei auskennt und ihr viel zu erzählt weiß. Neles Besuch beim Großvater hat sich als Fiasko erwiesen, sie hatten sich nichts zu sagen, das Bild bei ihm an der Wand könnte allerdings tatsächlich der Degas sei. Mit dieser Beutekunst-Geschichte legt die Autorin eine falsche Fährte, wohl um Spannung zu erzeugen. In Wahrheit geht es ihr offensichtlich um andere Themen wie zum Beispiel das deutsch-amerikanische Verhältnis oder der Konsum-Fetischismus, den sie karikaturhaft übertreibend in der Turnschuh-Episode an den Pranger stellt. Und völlig unverständlich bleibt der Sinn einer Episode, in der Neles Vater Bernhard sich kurz entschlossen dem Nachbarn anschließt, als der sich für drei Wochen mit 100 Euro pro Tag bei Manövern als Darsteller einer feindlichen Zivilbevölkerung anheuern lässt. Wenig überzeigend sind vor allem die Animositäten den Amerikanern gegenüber, die hier recht schablonenhaft artikuliert werden.

Diese Geschichte vom Leben der Frauen dreier Generationen einer Familie, bei denen fast alles schiefgeht, wird in verschiedenen Rückblenden metaphernreich erzählt. Immer wieder artet allerdings die Erzählweise in ein psychedelisches Palaver aus, was schon bald ziemlich nervt. Man grübelt dann zum Beispiel, was unter «Zahnpastasuburbs» zu verstehen sei oder was denn ein «kaugummifadenzartes Streichorchester» für eine Musik zu erzeugen vermag.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Eichborn Verlag

Das Polykrates-Syndrom

Der ungewöhnlich vielseitige österreichische Schriftsteller, Essayist und Dramatiker Antonio Fian, Meister der kleinen Form, hat 2014 mit «Das Polykrates-Syndrom» nach 22 Jahren seinen zweiten Roman veröffentlicht. Er wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert und war 2019 Basis für den Spielfilm ‹Glück gehabt›. Der Titel des ursprünglich als Drehbuch geplanten Romans weist auf den Tyrannen von Samos hin, von dem Herodot überliefert hat, er habe in seinem Leben so viel Glück gehabt, dass er am Ende einen grausamen Tod sterben musste. Schiller thematisiert dies in seiner berühmten Ballade mit der idealisierenden These, je größer das Glück, desto tiefer ist der nachfolgende Absturz. Im Roman nun erlebt ein junges Ehepaar, wie über ihren wohlgeordneten Alltag schicksalhaft ein schreckliches Geschehen hereinbricht.

Der weder ehrgeizige noch anspruchsvolle Historiker Artur jobbt in einem Wiener Kopierzentrum, verdient sich zusätzlich Geld mit Nachhilfestunden und schreibt nebenbei ziemlich platte Sketche, die keine Sendeanstalt haben will. Seine Frau Rita hingegen ist als Lehrerin auf der Erfolgsspur und hat gute Aussichten, schon in wenigen Jahren die jüngste Direktorin einer Wiener Schule zu werden. Als Ich-Erzähler schildert Artur detailreich und mit köstlichem Humor, wie er in seiner monotonen Ehe häufigen Vorwürfen durch seine burschikose Frau ausgesetzt ist. Der sympathische Schluffi erträgt all das aber äußerst gelassen, er kennt ihre Psyche und weiß immer im Voraus, womit sie ihn nun wieder gängeln wird. Aber die beiden wissen sehr wohl auch, was sie aneinander haben, und so findet zu guter Letzt denn auch regelmäßig eine Versöhnung im Bett statt. Mit dem Besuch einer attraktiven jungen Frau im Copyshop kurz vor Ladenschluss beginnt für den sympathischen Protagonisten Artur ein aufregendes Abenteuer, welches sich im Verlauf der Handlung zu einem wahren Höllenritt entwickelt.

Der in den 1990er Jahren angesiedelte Plot hat die Zäsur in Arturs Leben zum Thema, schicksalhaft heraufbeschworen durch das Zusammentreffen mit der hübschen Alice. Denn eher harmlos als draufgängerisch veranlagt, steigt der brave Langeweiler nun plötzlich dieser geheimnisvollen Frau nach, einzig beseelt von dem Wunsch, sie ins Bett zu bekommen. Was ihm schließlich auch gelingt, sein erster Fehltritt nach mehr als zehnjähriger Ehe. Dieser für ihn überraschende Ausbruchsversuch krempelt sein ganzes Leben um und entwickelt sich zum Alptraum. «In der kurzen Zeit, in der ich Alice kannte, hatte ich mich völlig verändert. Ich betrog meine Frau, belog meine Mutter, leistete Beihilfe zum Diebstahl, schaffte Leichen weg und hatte keinen anderen Gedanken, als dass Alice bald wieder mit mir schlafen würde». Die zunächst harmlos dahinplätschernde Geschichte wird zunehmend spannender und absurder und endet sehr gekonnt, – überraschend, aber völlig unspektakulär.

Diese mit viel schwarzem Humor locker erzählte Geschichte ist als Parodie auf einen Ehebruch konzipiert, der durch seine drastischen Details satirisch kräftig überhöht wird und in einigen Horror-Szenen einem Splatter-Roman gleichkommt. Besonders gelungen und immer wieder zum Schmunzeln, aber auch zum lauten Lachen anregend sind die pointiert angelegten, schlagfertigen Dialoge, die als verbale Fechtkunst mit ihren geistreichen Wortattacken geradezu lustvoll ausgefochten werden. Das anschaulich geschilderte Wiener Lokalkolorit bereichert wirkungsvoll diesen gut durchdachten Totentanz, der als Mischung aus Grauen und Humor auffallend nüchtern erzählt wird. So wenn zum Beispiel über Arturs Versicherungen berichtet wird, dass er sie nur abschließe, weil er meint, dann würde ja ganz im Sinne der Assekuranz wahrscheinlich niemals mehr etwas passieren. Und was genau denn Sex in Eichhörnchen-Stellung ist, darüber lässt der Autor den Leser listig im Dunkeln. In dieser burlesken Story wird lakonisch Pointe auf Pointe abgefeuert, Antonio Fian lotet gewissermaßen die Grenzen seiner abgründigen Geschichte bis zur Neige aus.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Droschl

Miss Bohemia

Roman im Roman

Letzter Teil der Berlin-Trilogie von Mathias Nolte ist der Roman «Miss Bohemia», der, vom Feuilleton weitgehend ignoriert, in der Leserschaft eine einhellig positive Aufnahme fand. Zweifellos handelt er sich um grandiose Unterhaltungs-Literatur mit einer schon im Buchtitel anklingenden, verheißungsvollen Thematik. Es geht um eine wahrhaft unkonventionelle, schöne junge Frau, die als Femme fatale bei den Männern allerlei Verheerungen anrichtet. Wobei es sich bei den Männern um Schriftsteller handelt, was ja Literatur affine Leser per se schon mal neugierig macht.

«Ich hatte mir geschworen, nie wieder einen Gedanken an Tara zu verschwenden», lautet der erste Satz. Der Ich-Erzähler Lukas, ein mittelmäßiger Roman-Schriftsteller, entdeckt in der New York Times eine Meldung, die über den Tod des bekannten Schriftstellers Philipp Bach berichtet. Auf dem Foto von der Verteilung seiner Asche im Meer erkennt er Tara. Lukas hatte sich vor zwei Jahren für seinen neuen Roman ein Ferienhaus auf Key West gemietet, um in Ruhe arbeiten zu können. Überraschend hatte ihn dort sein erfolgreicher Kollege Philipp Bach besucht, zusammen mit seiner wesentlich jüngeren Freundin und Muse. In Rückblenden erzählt Lukas, wie ihn schon am ersten Morgen die attraktive Tara zu einem Strandausflug überredet hat, um dort den Sonnenaufgang zu erleben, ihr Lover hat noch tief geschlafen. Und an dem menschenleeren Strand hat sie Lukas dann auch verführt, – sie war die Aktive, er wusste gar nicht, wie ihm geschah.

In einem raffinierten Konstrukt entwickelt Matthias Nolte auf verschiedenen Zeitebenen seinen Plot um eine Menage à trois im Schriftsteller-Milieu. Tara hat ihre Examens-Arbeit über den hoch dekorierten DDR-Schriftsteller Franz Krohn geschrieben, und der wiederum war Mentor von Philipp Bach. Kurz nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann hat Krohn über seine guten Beziehungen zur Staatsführung Bach sogar zur Flucht in den Westen verholfen. Dort hat Bach dann mit «Miss Bohemia» seinen äußerst erfolgreichen Debütroman veröffentlicht. In häufigen, durch die Kapitel-Überschriften aber deutlich zugeordneten Zeitsprüngen erzählt Matthias Nolte seine Geschichte mit mehreren, kunstvoll verflochtenen Handlungs-Strängen. Seine drei Protagonisten sind sehr eigenwillige Typen. Der dem Autor biografisch ähnelnde Lukas ist ein ewiger Zweifler, der fast alles geduldig hinnimmt, von dem man ansonsten aber wenig erfährt. Er arbeitet an dem Roman, den wir in Händen halten, und lässt den Leser an seinen Recherchen und am Schreibprozess teilhaben, eine reizvolle ‹Roman im Roman›-Konstellation. Freund und Nebenbuhler Philipp Bach ist ein überheblicher, unsympathischer und cholerisch veranlagter Schriftsteller, der ein dunkles Geheimnis birgt. Nach seinem Debüt schreibt er nun seit vielen Jahren an dem gigantischen Werk «Der Roman des Jahrhunderts». Tara ist eine selbstbewusste, schlagfertige und lebenskluge Frau, die besonders im unkonventionellen Umgang mit ihrer Sexualität verblüfft und es im Übrigen mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Von Lukas nach ihren bisherigen festen Freunden gefragt, erklärt sie ihm beispielsweise, es gab bisher nur einen: «Nach Johnny kam nichts Festes mehr, nein. Nach ihm habe ich à la carte gelebt». Auf seine verblüffte Nachfrage ergänzt sie: «Oder glaubst du, nur weil ich nicht den richtigen Kerl gefunden habe, […] habe ich mich in Verzicht geübt? Ich gebe meinem Körper, was ihm gut tut, und er dankt es mir jeden Tag».

Dieser aufregende Roman ist schwungvoll erzählt, wobei die Ironie darin unübersehbar ist. Trotz des nicht unbeträchtlichen Wirrwarrs, das die Geschichte mit ihren vielen Andeutungen erzeugt, folgt man ihr gerne, zumal die Spannung immer mehr steigt, was denn nun hinter all dem steckt. Übertrieben hat es Mathias Nolte allerdings mit den vielen Zufällen, auf denen sein Plot aufbaut. Überzeugend und angesichts der trickreichen Verflechtungen hilfreich ist, dass er das Erzählte häufig rekapituliert. Und nicht wenige Leser dürften sich zudem an der üppigen Intertextualität erfreuen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Deuticke Wien

Hoffen und Scheitern

Hoffen und Scheitern

Unter dem Titel «Vom Versuch, einen silbernen Aal zu fangen» hat die Schriftstellerin Janine Adomeit ihren Debütroman geschrieben, er handelt von den Hoffungen von Menschen am Rande der Gesellschaft. Der in der Jetztzeit angesiedelte Plot beschreibt die neu aufkeimende Hoffnung einer herunter gekommenen, kleinen Gemeinde an der Ahr, zum einstigen Wohlstand als Ort einer Heilquelle zurückzufinden, aus der speziellen Sicht der sogenannten kleinen Leute.

Die etwa 5000 Einwohner von Villrath haben bessere Zeiten erlebt, ihre Kleinstadt war einst das Tor zum Ahrtal, hatte mit ihrer Heilquelle viele Touristen angezogen und 1987 sogar einen Preis für die schönste Innenstadt erhalten. Durch ein Erdbeben ist diese Quelle aber vor 17 Jahren versiegt, seither liegt die Gemeinde im Dornröschenschlaf und verkommt zusehends. Die Politiker waren untätig, man hatte die Stadt schlicht vergessen. Thematik des Romans ist die Hoffung, die in der Bevölkerung nach dem langen wirtschaftlichen Niedergang aufkeimt, als im Wald bei Bauarbeiten für eine neue Bahntrasse urplötzlich wieder eine neue Quelle aufbricht. Geschildert werden diese Erwartungen am Beispiel verschiedener Protagonisten, die ganz unterschiedlich betroffen sind von den neuen Möglichkeiten, die sich nun ergeben.

Da ist etwa die ehemalige Friseuse Vera, aus deren Perspektive zu weiten Teilen erzählt wird. Als Wirtin einer wüsten Kneipe trinkt sie selbst gerne, unter anderem auch, weil sie mit ihrem übergewichtigen, nichtsnutzigen Sohn Johannes große Probleme hat. Sie träumt davon, das marode Haus samt schlechtgehender Kneipe zu verkaufen und den örtlichen Frisiersalon zu übernehmen. Ein Investor sucht alte Häuser wie ihres und will auch das ehemalige Kurhaus erwerben und zu einem Hotel mit ländlichem Charakter ausbauen. Um die Quelle zu erhalten müsste aber die bereits fertig geplante Bahntrasse verlegt werden, wofür die Gemeinde die Kosten zu übernehmen hätte. Das wiederum wäre aber nur durch den Verkauf des Kurhauses zu finanzieren, an dem aber hängen nun mal viele nostalgisch empfindende, aber einflussreiche Alte in der Gemeinde, – ein schwer zu lösendes Dilemma für den Bürgermeister. Der 16jährige Johannes ist ein grottenschlechter Schüler, der sich als Hilfskraft eines, wie sich herausstellt kriminellen Schrottsammlers Geld dazuverdient und von einem eigenen Motorrad träumt. Dritter Protagonist der Geschichte ist der 80jährige Kamps, ein ehemaliger Schlossermeister, der nach dem Tod seiner Frau immer neue, herum streunende Katzen bei sich aufnimmt, etwa dreißig sind es inzwischen. Er führt einen erbitterten Kampf mit der Gemeinde, weil er die zunehmende Vermüllung insbesondere des Friedhofs, aber auch der Straßen nicht akzeptieren will, und die häufigen Einbrüche ebenso. Er ist entschlossen, selbst gegen die Einbrecher vorzugehen und lässt sich sein im Schützenhaus deponiertes Gewehr unter dem Vorwand aushändigen, dass er es verkaufen will.

«Es war zu warm für die Jahreszeit, auch sonst stimmte nichts» lautet lapidar der erste Satz. Der Roman wird in einer dem geschilderten Milieu stimmig angepassten Alltags-Sprache erzählt, wobei die Autorin ihre verschiedenen Handlungsstränge immer wieder geschickt zusammenführt. Auch der Umweltschutz fehlt übrigens nicht, verkörpert einerseits von dem Saubermann Kamps, aber vor allem durch einen Trupp von Aktivisten, die im Wald ein Protestcamp errichtet haben, um den drohenden Kahlschlag des Waldes durch die Bahn zu verhindern. Symbolisch für das Hoffen und Scheitern steht hier die Quelle. Durch ihre distanzierte Erzählweise lässt Janine Adomeit allerdings keinerlei Empathie beim Leser aufkommen für ihre schrulligen Figuren. Mit Sicherheit aber ist ihre Geschichte auch entschieden zu lang geraten, man quält sich als Leser teilweise durch die geschilderten Banalitäten des Alltags in dem Kaff namens Villrath. In Anbetracht dessen wirkt der überraschende Countdown mit einer Feuerwehr-Sirene im Hintergrund schlussendlich denn doch ziemlich aufgesetzt.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Komm, gehen wir

Unvergesslich?

Mit dem Titel seines Romans «Komm, gehen wir» spielt Arnold Stadler auf dessen Eingangs-Kapitel an, das geradezu symptomatisch ist für den Anfang dieser Geschichte. Es geht darin um eine ungewöhnliche, gemischt hetero-homosexuelle Ménage à trois, die in Italien ihren Anfang nimmt. Einen Hinweis auf autobiografische Bezüge bietet der Name des Protagonisten Roland, der als Anagramm den Vornamen des Autors enthält, es gibt zudem weitere Gemeinsamkeiten, die solche Schlüsse zulassen, wie Stadler in einer Stellungsnahme bestätigt hat. Seine vor allem auch von katholischen Einflüssen geprägte Geschichte behandelt, narrativ unbeirrt von vielerlei Banalitäten, das Thema Liebe und die daraus folgenden Seelen-Zustände.

Der Hochzeits-Termin von Roland und Rosemarie steht fest, die beiden 23jährigen Studenten haben den 22. November 1978 gewählt und verbringen im August ihre «vorgezogene Hochzeitsreise» auf der italienischen Trauminsel Capri. Am Vortag ihrer Abreise liegen sie nackt an einem illegalen FKK-Strand, als ein gutaussehender, junger Amerikaner, der sich als Jim aus Florida vorstellt, sie um einen Schluck Wasser bittet. Sie kommen ins Gespräch, «und nach zwei weiteren Stunden wissen sie schon so viel von einander, dass Roland zu ihm sagt: ‹Come on, let’s got!›», aber verwirrt «go» meint, «Komm, gehen wir!». Denn Jim hat keine Bleibe für die Nacht, also laden sie ihn in ihre Pension ein. Beide sind fasziniert von ihm und nehmen ihn dann auch mit nach Deutschland. Aber schon bald beginnt es auch zu kriseln. Als beispielsweise Rosemarie ihre beiden Lover nackt auf dem Bett erwischt, wie sie sich ein Pornoheft ansehen, schreit sie wütend: «Ich fasse es nicht – was seid ihr doch für Drecksäue!». «Das war Rolands ungewaschene Erinnerung an die Liebe», heißt es im Roman, der Student träumt nun wieder davon, Schriftsteller zu werden, «um alles festzuhalten und das Unbeschreibliche zu beschreiben».

Es geht hier um drei Lieben, jede mit anderen Anziehungs-Kräften, Sehnsüchten und Erwartungen, jede mit ihrem eigenen Glücks- und Unglücks-Potential. Roland hatte sein Studium der Agrarökonomie nach einem Semester abgebrochen, und über eine anschließende Ballettausbildung, die seine Eltern nicht ganz zu Unrecht ziemlich beunruhigt hat, heißt es im Roman: «Tanzen hieß zu Hause soviel wie: Er lässt sich jetzt ficken». Aber auch diese Karriere ist mangels Talent gescheitert, und als ihn eine Fahrt an Tübingen vorbeiführt, geht es ihm durch den Kopf: «Aus jeder Klasse war der Oberspinner nach Tübingen gegangen, um entweder Philosophie oder Theologie, Psychologie oder Soziologie zu studieren, um nach zwanzig Semestern entweder als Professor, Taxifahrer oder Politiker zu enden». Und untüchtig wie er ist endet Roland als Studienabbrecher der Philosophie und versucht sich lange vergeblich als Schriftsteller. Von allen drei Protagonisten erzählt der Autor auch ausführlich ihre jeweilige Vorgeschichte. Rosemarie macht später eine steile Karriere als Ärztin, Jim verschwindet wieder in die USA und fristet dort eine fragwürdige Existenz, der Kontakt zu ihm wird immer spärlicher. Und für alle geht auch in der Liebe alles schief, was schiefgehen kann.

Mit vielen Abschweifungen erzählt Arnold Stadler eine wenig plausible Geschichte voller Leerstellen und ins Nichts führender Gedankengänge. Da liest man zu Beispiel, dass die Liaison seines Trios gerade mal so lange gedauert habe wie das Pontifikat von Johannes Paul I., was in diesem Zusammenhang nicht nur befremdlich, sondern auch völlig unmotiviert wirkt. An anderer Stelle erwischt eine Mutter in Amerika ihren Sohn und Jim, den sie bei sich aufgenommen hat, am 6. Juni 1978 – «dem 103. Geburtstag von Thomas Mann» – in flagranti und wirft Jim hinaus. Was für eine geradezu an den Haaren herbei gezogene Assoziation! Und es gibt mehr, was den Leser verstört zurücklässt. Wenn also im Buch die Frage «Woran erkenne ich ein Kunstwerk?» beantwortet wird mit «Daran, dass es unvergesslich ist», dann liegt hier wahrlich kein Kunstwerk vor!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Carolin Summer – Die WeltenWechsler Akten I: Narrenlauf

Carolin Summer - Die WeltenWechsler Akten I: Narrenlauf

(Copyright Cover: Carolin Summer / Copyright Foto: Das Bambusblatt)

 

»Narrenlauf« ist der erste Band der Urban Fantasy Krimi Tetralogie »Die WeltenWechsler Akten« von Carolin Summer. In der Erstauflage erschien er bereits im Januar 2018. Inzwischen gibt es eine neue Auflage, ebenso wie Sondereditionen zu jedem Band. Veröffentlicht wurde die Reihe im Selfpublishing über Tredition. Weiterlesen


Genre: Roman, Urban Fantasy Krimi
Illustrated by tredition

Leben mit dem Stern

Leben mit dem Stern. “Gestern wurde ich 53 Jahre alt, denn ich bin so alt wie dieses seltsame Jahrhundert“, schrieb Weil 1953 an einen Freund. Diesen Satz liest man mit Freude, denn so weiß man sogleich, dass der Autor sowohl die nationalsozialistische als auch die stalinistische Katastrophe “dieses seltsamen Jahrhunderts” überlebt hat. Für bedeutende tschechoslowakische Schriftsteller wie Josef Škvorecký, Ladislav Fuks, Ivan Klíma oder Jiří Kolář ist Jiří Weil heute ein großes Vorbild. Allerdings galt er in der ehemaligen Tschechoslowakei, seit der Veröffentlichung seines hier vorliegenden Romans 1949 bis zu seinem Tod 1959, als Unperson, ja sogar als “Schädling“.

Zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus

Wer diesen Roman “Leben mit dem Stern” liest, wird alsbald verstehen warum. Die totalitäre Katastrophe, die er in seinem Roman beschreibt, könnte sowohl eine kommunistische als auch eine faschistische Diktatur meinen. Tatsächlich saß der Autor schon in den Dreißiger Jahren in der Sowjetunion im Gulag, später dann als Jude im “Protektorat Böhmen und Mähren” ebenso in der Falle, wenn auch nicht im Lager, dem er sich zu entziehen wusste. 1933, vom Kommunismus begeistert, ging er nach Moskau, um dort als Journalist und Übersetzer marxistischer Literatur zu arbeiten. Nach dem Ausschluss aus der Partei und der Deportation nach Mittelasien im Zuge der ersten stalinistischen Säuberungen kehrte Weil 1935 dann aber doch wieder nach Prag zurück. “Leben mit dem Stern” beschreibt minutiös den Zeitraum der Umsiedlung bis zur Flucht in den Untergrund des Protagonisten Josef Roubíček. Dabei geht es aber vor allem um den Bewußtwerdungsprozess, ob er sich – so wie die anderen – in sein Schicksal fügen soll oder doch dagegen aufstehen soll. Hätte Jiří Weil es dann nicht getan, könnten wir dieses unglaubliche Zeugnis der wohl größten Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts heute nicht mehr lesen. Wie sich dann der Protagonist Josef Roubíček entscheidet, erfahren Sie auf den letzten Seiten des Romans. Jiri Weil gelang es durch einen vorgetäuschten Selbstmord.

Erschütternd authentisch über den Alltag des Holocaust

Philip Roth nannte “Zivot s hvezdou“, so der tschechische Originaltitel, “einen der herausragendsten Romane über das Schicksal der Juden unter den Nazis. Ich kenne keinen vergleichbaren“. Weils Roman ist nämlich nicht nur ein sprachlich exzellent geschriebener Roman, sondern auch ein großes Stück Literatur mit seltenem Tiefgang. Josef Roubíček, ein ehemaliger Bankangestellter, darf aufgrund der Rassengesetze im besetzten Prag nicht mehr arbeiten. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich sein Essen zum Überleben selbst zu organisieren. Da es ein kalter Winter ist, verheizt er nach und nach alle Möbel seiner kleinen Mansarde am Stadtrand. Zigaretten dreht er sich aus gefundenen Kippenresten und getrocknetem Laub, als Angehörige hat er nur noch einen Onkel und eine Tante, die im Prager Zentrum leben. Tagsüber ist er mit der Essensbeschaffung beschäftigt, abends füttert er einen ihm zugelaufenen Kater und träumt von Růžena. Sie kann nicht bei ihm sein, da sie verheiratet ist. Es wird aber nie ganz klar, ob sie nicht nur ein Tagtraum ist. Auch wenn sie es ist, die ihm stets rät zu fliehen. Rührend ist die Geschichte von seinem Kater, den er den (ungläubigen) Thomas nennt. Denn ebenso ungläubig und absurd ist das, was Josi (so nennt ihn Růžena) jeden Tag passiert. Auf allem liegt ein feiner Hauch von (absurdem) Humor und das, obwohl Jiří Weil das Schrecklichste beschreibt, was Menschen anderen Menschen je angetan haben. Angesichts des unglaublichen Leids, das ihm und anderen Verfolgten widerfahren ist, staunt man über die feine Feder dieses Schriftstellers, der beschreibt ohne anzuklagen, ohne Wut oder Hass, aber mit sehr viel Liebe und Verständnis für die Seinigen.

Gemeint: Totalitarismus von links und rechts

Die Sprache in der Jiří Weil den Weg in den Untergang des jüdischen Volkes schildert ist sehr schön und steht in krassem Widerspruch zur Handlung. Denn die Dystopie, die er beschreibt ist präzise beobachtet und könnte  in jedem Jahrhundert in jedem Land der Welt spielen. Natürlich ist das Protektorat und die deutsche Besetzung der Tschechoslowakei gemeint, aber stets vermeidet es Weil, die Deutschen direkt anzusprechen. Selbst wenn er von “ihrer Sprache” spricht, nennt er “sie” nie beim Namen. Dieser dramaturgische Kniff macht seine schreckliche Gegenwart zu einer noch erschreckenderen Zukunftsvision als etwa “1984” oder “Fahrenheit 451”. Der Totalitarismus und die Verfolgung einer Minderheit, im vorliegenden Fall die Juden, ist austauschbar und könnte überall passieren: Es kann jeden treffen. In der Absurdität der Anordnungen der Behörden liegt der eigentliche Terror und Schrecken. Die Besetzer behandeln die Bewohner der besetzten Gebiete wie Tiere, ihr Interesse und ihre Gier gilt allein ihren “Dingen”. Sie sehen keine Menschen, sondern nur Mittel zur Bereicherung und wen sie daran beteiligen, der wird mitkorrumpiert. “Teile und herrsche” wird zu einem Schreckensszenario des Alltags und schuld daran ist nur die “Hoffnung“. Und das perfideste daran ist, dass jene, die Widerstand leisten, zu den eigentlichen Schuldigen erklärt werden. So funktioniert eine totalitäre Gesellschaft.

Jiří Weil arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg am Jüdischen Museum in Prag. Als Redakteur und Autor, war er in seiner schriftstellerischen Tätigkeit durch ein siebenjähriges Publikationsverbot stark eingeschränkt. Erst 1956 wurde er rehabilitiert, starb aber leider schon drei Jahre später an Leukämie. Aber seine Stimme ist immer noch zu hören: in seinen Büchern. Seit 2020 wird an einer ersten Gesamtausgabe seines Werkes in Prag gearbeitet. Im Wagenbach Verlag ist auch sein Buch “Mendelsohn auf dem Dach” erschienen und hoffentlich bald auch seine anderen Werke, wie etwa “Moskau – Die Grenze” (1937) u.a. Ein großes Werk, das mehr Beachtung verdient.

Jiří Weil
Leben mit dem Stern
Aus dem Tschechischen von Gustav Just
2020, Broschur, 256 Seiten
ISBN 978-3-8031-2825-6
Wagenbach Verlag
14,– €


Genre: Holocaust, Nationalsozialismus, Protektorat, Roman, Stalinismus, Tschechoslowakei
Illustrated by Wagenbach

Am Seil

Fanal selbstbestimmten Sterbens

Den Text, der als erfolgreiche Kurzgeschichte 2005 den Ingeborg Bachmann Preis gewann, hat Thomas Lang mit fünf vorgeschalteten Kapiteln zu dem Roman «Am Seil» ergänzt. Darin wird nun in einem kammerspiel-artigen Setting geschildert, wie es zu dem in Klagenfurt prämierten, ebenso komplexen wie dramatischen Ende einer schwierigen Vater/Sohn-Beziehung kam.

Auf einem gestohlenen Motorrad kommt der bekannte TV-Moderator Gert nach jahrelanger ‹Funkstille› zum ersten Mal zu Besuch ins Altenpflegeheim seines Vaters Bert. Beide sind an einem Punkt ihres Lebens angelangt, aus dem nur noch der Tod als Ausweg zu bleiben scheint, was denn auch den Buchtitel erklärt. Vater Bert war Lehrer für Englisch und Sport, ist schon seit Jahren von seiner Frau geschieden und inzwischen körperlich sehr hinfällig. Sein 45jähriger Sohn Gert hatte durch eine für ihn glückliche Verwechslung überraschend Karriere beim Fernsehen gemacht. Er wurde aber nach vielen erfolgreichen Jahren fristlos gefeuert, weil er sexuell übergriffig wurde und kurz darauf dann auch noch einen Autounfall verschuldet hat, bei dem seine minderjährige Geliebte umkam. Er ist nicht nur seelisch, sondern auch finanziell in ein tiefes Loch gefallen.

Mit scharfem Blick für Details wird die Figuren-Konstellation von einem sportlichen, herrischen Vater, der seinen körperlichen Verfall nicht akzeptieren kann, und seinem kunstbeflissenen, aber völlig untalentierten Sohn entwickelt. Letzterer ein Verlierer-Typ, dem das Glück nur einmal im Leben hold war und der nun in Selbstmitleid zerfließt. Beide Männer stehen vor einem Scherbenhaufen und haben sich absolut nichts mehr zu sagen. Thomas Lang erzählt multi-perspektivisch abwechselnd aus Sicht des penetrant besserwisserischen Vaters und des verweichlichten Sohnes vom Hass der Beiden aufeinander, der sich in einem Plot artikuliert, der chronologisch nicht länger als ein kurzes Zweipersonen-Stück beim Theater andauert. Die phonetische Ähnlichkeit der beiden Vornamen deutet trotz allem auf eine gewisse Charakter-Verwandtschaft der ungleichen Protagonisten hin. Denn Bert und Gert haben beide, so kristallisiert es sich für den Leser allmählich heraus, und der Buchtitel deutet es ja auch an, nur noch ein Ziel, welches sie ganz unerwartet doch noch eint. Bert ist nämlich bis ins Mark erschüttert, weil ‹seine› ihn besonders liebevoll umsorgende Pflegerin niedergeschlagen verkündet hat, dass sie entlassen wurde. Die Beschreibungen der Alters-Gebrechen und die Ohnmacht des in dem Pflegeheim nur noch dahinvegetierenden Vaters werden durch die wortkargen, geradezu zynisch knappen Dialoge mit dem Sohn eindrucksvoll verdeutlicht.

In der minutiösen Schilderung des auf pure Zweckmäßigkeit hin ausgerichteten Pflegeheims fällt besonders ein Gemälde des Russen Kasimir Malewitsch auf, das den Titel «Das schwarze Quadrat» trägt und im Buch, nicht ohne tieferen Grund, erwähnt wird. Es unterstreicht nämlich auf optische Weise die ganz ähnlich auf eine narrative «Empfindung der Gegenstandslosigkeit» ausgerichtete Diktion des Autors. Die psychisch desolate Verfassung der Figuren korrespondiert mit einer stilistischen Kargheit, deren wie in Zeitlupe ablaufende Beschreibungen einer Seniorenheim-Tristesse sich weitgehend an scheinbar Insignifikantem abarbeiten. Ohne Zweifel handelt es sich hier vom Genre her übrigens um eine geradezu archetypische Novelle, nicht um einen Roman, auch wenn das sich weit besser verkauft. Mit der Thematik des selbstbestimmten Todes nach einem langen, ereignislosen Leben, dem konträr beim Sohn ein intensives, in vollen Zügen genossenes gegenübersteht, wird hier ein uraltes moralisches Problem behandelt. Die wahrhaft groteske Schlussszene ist wie das Fanal eines völlig unhaltbaren, gesetzlichen Zustandes, der schmerzlich an das einst erbittert umkämpfte Abtreibungs-Verbot erinnert. Literarisch allerdings wirkt dieses Buch leider ziemlich willkürlich zusammen montiert, sprachlich oft misslungen und als Ganzes völlig inhomogen.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München