Flussgeister

Pantha rei – alles fließt, ist stets in Bewegung und nie in Stein gemeißelt. Das ist der philosophische Grundsatz des Vorsokratikers und Naturphilosophen Heraklit, dem sich die österreichische Autorin Patricia Brooks in ihrem Roman „Flussgeister“ öffnet. In ihm kreuzen sich die Wege zweier Protagonisten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, aber an einem Punkt in ihrem Leben angelangt sind, an dem die Gegenwart des einen zum Anker für die Gegenwart des anderen wird.

(K)ein Roman über Midlife-Crisis

Der 47-jährige Anwalt Adam, der mit einer erfolgreichen Karriere und einer attraktiven Freundin gesegnet ist, beschließt aus heiterem Himmel sein Leben umzukrempeln: Seine bisherigen Errungenschaften bedeuten ihm nichts mehr. Von einem alten Fischer kauft er eine Hütte an den Donau-Auen, in die er sich entschlossen zurückzieht. Sein Gemüt lässt sich jedoch nicht als ennui, Überdruss oder Midlife-Crisis bagatellisieren – auch wenn dies naheliegend scheinen mag. Viel mehr kann man es als Wink oder Zeichen deuten, die eigentlichen Potenziale nicht rechtzeitig anerkannt und somit nicht gebührend ausgeschöpft zu haben.

Lolita und Pygmalion als Inspiration für Patricia Brooks „Flussgeister“?

Wäre da nicht Lola, eine von harten Schicksalsschlägen gezeichnete, verrufene sowie unzähmbare Einzelgängerin, deren Handlungen unberechenbarer sind als die Mäander der Donau-Auen. Gerade Lolas – wenn auch nur vermeintliche – Freiheit ist es, die in Adam sein vernachlässigtes Talent – die Bildhauerei – wieder aufkeimen und ihn sein eigenes Atelier eröffnen lässt.

Dabei kann sich der Leser nicht des Eindrucks erwehren, dass Patricia Brooks Vladimir Nabokovs “Lolita” als Negativfolie für Flussgeister herangezogen hat. (Ferner lägen da vielleicht Frank Wedekinds Lulu-Dramen „Erdgeist“ oder „Büchse der Pandora“). Im Gegensatz zu Humbert Humbert, der Lolitas psychische und körperliche Entwicklung formt und sie wie einen Schmetterling gefangen hält, ist Adam von Lola nicht im erotisch-ästhetischen Sinne samt moralischer Transgression angetan. Wenngleich diese durch ein Kindheitstrauma – die Verführung des Geschäftspartners ihres Vaters als Mutprobe samt dessen Ungnade – den Schutzmantel des Kindlichen nie ganz abgeworfen hat.

Krude Körperlichkeit vs. Künstlerische Plastizität

Die krude Körperlichkeit, die sich die an Eierstockkrebs erkrankte Lola von ihren Freiern und zunächst auch von Adam erhofft, weicht der Plastizität der Flussgeister, die auch die spirituelle Metamorphose der beiden Protagonisten widerspiegelt. Es handelt sich um zwei Skulpturen, die Adam schafft und die ihn und Lola verkörpern –dabei aber gerade die Grenzen des Gegenständlichen transzendieren und beide bis über den Tod hinaus vereint. Eine radikale Umschreibung des profanen Pygmalion-Mythos also, aber auch der biblischen Urszene.

In diesem Sinne lässt sich auch Adams Entschluss nachvollziehen, sein Boot „St. Lola“ zu taufen. Ironischerweise ist diese spirituelle Vereinigung durch Kunst im Falle von Adams Freundin Natalie, die in der Filmbranche berufstätig ist, weniger bis gar nicht gegeben. Es ist denn auch hauptsächlich die körperliche Intimität mit derselbigen, die Adam noch eher in seiner Hütte vermisst und welche Natalie trotz neuer Bekanntschaft noch in Kauf zu nehmen gewillt ist. Zu guter Letzt sieht Adam durch die kindliche Lola auch seine Fehler ein, die ihm bei der Erziehung seines Sohnes Julian unterlaufen sind.

„Flussgeister“ von Patricia Brooks sprengt Genregrenzen

Der Roman „Flussgeister“ von Patricia Brooks sprengt Genregrenzen, indem er Elemente des Entwicklungs- und Künstlerromans mit leicht esoterischen Tönen übermalt, ohne dabei in das Sentimentale abzugleiten oder sich in poetischen Gefilden zu verlieren. Und das trotz der Fülle zahlreicher aquatischer Metaphern, naturromantischer Landschaftsbeschreibungen oder kurzer Dialoge, die an die ionische Naturphilosophie gemahnen. Patricia Brooks zeichnet sehr menschliche Figuren, blickt tief in deren psychische Abgründe, pathologisiert sie aber nicht.


Genre: Erfahrungen, Kunst, Roman
Illustrated by Septime Verlag Wien

Weltgift

ROSEGGER_Weltgift_300_CMYKWie gern verachtet man gegenwärtig Peter Rosegger. Wie emsig wird ihm das Mäntelchen des Naturpoeten ohne Tiefgang umgeworfen, oder er gar zum verdächtigen Blut- und Boden- jedenfalls Heimatdichter herabgewürdigt. Und das ohne dem Begriff Heimat nur ansatzweise neutral gegenübertreten zu wollen. Meist kennen die Rosegger-Verhöhner kein einziges seiner Bücher. Vom Überblick seiner Werke ganz zu schweigen. Was dann nämlich an Weltfreundschaft, an Natur- und Tierliebe und an Menschenglaube zum Vorschein käme würde all die heutigen Propheten des Negativen (die Modernedichter) durch Charme und Wohlklang foltern. Den potenziellen Rosegger-Lesern aber erschlösse sich eine stimmungsvolle Welt, in der Sinn und Schönheit zugegen sind. Und alles trotz der unmittelbaren Nähe zu gesellschaftskritischen Aussagen über menschliche Not und karger bäuerlicher Realität. Dem verkitschten Rosegger Bild – dessen Rahmen wohl die Nazis vorgeätzt hatten – würde schnell eine Aufnahme in die Ahnengalerie des Weltschriftstellertums folgen. Und Leser und Autorenschaft könnten sich an diesen Romanen erfreuen und aus ihnen lernen. Ein Einstieg dazu ist Weltgift, bewusst vom couragierten Wiener Septime Verlag ausgewählt, um das Bild zurechtzurücken …
Ein von wohl narzisstischem Hass und Depression angekränkelter Unternehmersohn will nicht mehr in der Firma des Vaters arbeiten … er verschmäht die Konventionen, das falsche, diplomatische Getue seines Vaters mit den Kunden… Hadrian möchte etwas erleben, sehnt sich nach intensivem Lebensgefühl. Und er möchte Bedeutendes leisten. Die Gelegenheit bietet sich, als der Vater nach einem bissigen Streit ihn enterbt, Hadrian aber mit dem Pflichtanteil sich leicht das heruntergekommene Schloss Finkenstein kaufen kann, wo er im großen und modernen Stile Landwirtschaft zu betreiben beabsichtigt. Er stellt einen sich geschickt anpreisenden Gutsverwalter ein, teilt Hoffnungen und Sorgen mit Sabin, dem Kutscher, der schon in der Stadt der Familie gedient hatte.
Der Junge wächst dem Gutsbesitzer zunehmend ans Herz, er scheint die einzige Person, auf die sich Hadrian tiefer einlassen kann; Sabin will aber nicht Kammerherr spielen, sondern lieber im Stall bei seinen Pferden weilen.
Der Gutsverwalter entpuppt sich als Betrüger, nach einem schweren Unwetter mit reißenden Fluten liegt Finkenstein darnieder; die Versicherungsprämien für solche Schäden wurden allerdings nicht abgeführt, und auch Zulieferer aus dem Umland nie bezahlt … also muss Hadrian sein Schlossherrenabenteuer sausen lassen.
Er und Sabin, den er mittlerweile adoptiert hat, kaufen ein kümmerliches Gebäude abseits des Lindwurmhofs. Der Lindwurmbauer benötigt Geld, zwei seiner Söhne schickte er in die Stadt zum Studieren. Der eine Philosoph, der andere Arzt – beide ohne „passende“ Posten – tauchen in kurzem Abstand wieder am heruntergekommenen elterlichen Hof auf; dramatische Diskussionen stören den Frieden der Abgeschiedenheit.
„Barmherzigkeit“, rief der erregte Doktor (der Philosophie) und schlug die Hände zusammen. Barmherzigkeit sei ein Krebsschaden. Sie päppele die Kranken und Krüppel auf, wodurch das Menschengeschlecht immer mehr herabkomme. Die Geduld sei ein Unding, weil sie der Unzulänglichkeit Vorschub leiste. Alle sogenannten Wohltätigkeitsorganisationen seien von Übel, weil sie den Menschen beugen nach etwas das nicht der Mühe wert ist. Das sogenannte allgemeine Menschenrecht sei eine Torheit, weil nur der ein Recht habe, der etwas leistet. Der Starke sei im Recht, und der allein, und sein Recht und seine Pflicht sei, die Schwachen auszurotten und sich nur mit Starken zu verbinden. So sei es, und er hätte da was gesagt, das jeder Gebildete längst wisse. – Bei dieser Preisrede auf die Kraft hatte er sich in so eine nervöse Aufregung hineingeredet, dass seine Hände zitterten. Wie ein Gifthauch schauerte es durch den ganzen jungen Menschen.
Weitere Streitgespräche folgen. Der Religionsfeind Nietzsche und der große Versöhner Tolstoi stehen in ihren Ideen auf dem Bauernhof einander schroff gegenüber. Rosegger fasst die menschenverachtende Ideologie Nietzsches, der auch heute von Linken wie Rechten geschätzt wird, erschreckend klar zusammen. Was auf Nietzsches Größenphantasien folgte, darf als bekannt, wenn auch nicht aufgearbeitet, vorausgesetzt werden. Doch es ist Rosegger, der als Naivling verspottet wird, als Waldbauernbub und Romantiker – gar als reaktionärer Ideologe. Dabei lugen in seinen Büchern stets fruchtbare Erde und das Grün des Lebens aus den Schutthaufen und dem Grau der Städte, die gerade zu seiner Zeit das Land und die Bauern gierig verschlingen. Die Industrie frisst die Bauernhöfe, die Wälder, verdaut die Knechte und spuckt Proletariat und Heimatlose aus. Und naiv ist Rosegger nie: Er bekennt sich allerdings selbst in den schlimmsten Zeiten zu einer Literatur, die erbaut, die nicht Mistkübel des Schriftstellers ist, der dem Leser hochtrabend übergestülpt wird, sondern zu Wachstum und moralischer Anleitung der Leute dient. Die Schichten aus Staub, Ziegeln und Asphalt, die dazumal schon die Seelen der Menschen erstickten, klopft er ab, lässt sie im frischen Wind in den Hochtälern erschauern, in der Sonne über den Smognebeln leuchten. In „Erdsegen“, wo ein Journalist aufgrund einer Wette die Schreibstube mit der Einschicht tauscht, unterweist er den Leser in ehrliche bäuerliche Arbeit, berichtet von Anstrengung, Mut, Zuversicht, Aufrichtigkeit, Anstand und Liebe. Und das in derart liebevoll humorvollem Ton – der aber edler Würde und Schönheit weicht, wo Witz nur der Distanz zum Leben diente –, dass der moderne Leser nur so ins Staunen und Schwärmen gerät (wenn er denn dazu überhaupt fähig ist).
Auch in Weltgift gibt Rosegger nicht billig-eitler Verachtung der Protagonisten nach. Wenn auch so etwas wie Hoffnungslosigkeit und Bitterkeit mit dem entwurzelten Stadtmenschen durchscheint, was in der Bemerkung gipfelt, „dass ein Mensch, dessen Seele von Weltgift zerfressen ist, nicht in die ländliche Natur zurückkehren kann und soll.“
Auch im vielgescholtenen Buch „Waldheimat“ findet der offenherzige Leser keine verkitschte Sicht auf Natur und Landleben. Der Tod ist steter Begleiter der ärmlichen aber doch meist zufriedenen Landbevölkerung. Was Rosegger vollbringt, ist, den Bauern und andern Landbewohnern, die heute eher aus dem Heimatmuseum bekannt sind – Pecher, Ameiser, Kohlenbrenner, Kräuterer – eine Stimme zu verleihen, Identität und Persönlichkeit. Die Menschen aus den abgelegenen Provinzen holt er somit ins Blickfeld, ins Bewusstsein der Stadtmenschen: eine vornehme Aufgabe, würde ich meinen. Dass später andere Schriftsteller, Franz Innerhofer beispielweise, eine weitere Schicht der Landbevölkerung literarisch erschließen, nämlich die Knechte und Mägde, deren Leben sich sicherlich extrem mühevoll gestaltete, (was aber ist zu den Knechten oder verarmten Bauern zu sagen, die jeweils zu Dutzenden in Kellerlöchern in der Stadt hausten, wo sie als Industrieproletariat bis aufs Blut ausgebeutet wurden – was Rosegger in Weltgift ja ebenfalls thematisiert) stellt die logische Fortsetzung in der Literaturgeschichte dar: Keine der Sichtweisen ist die richtigere.
Allerdings haben bei Innerhofer Depression, Trübsinn, Kälte und Distanz die Oberhand gewonnen – vielleicht zurecht – aber die modernistische Sicht der Dinge ist aus ganzheitlicher Haltung zumindest hinterfragbar. Was Rosegger vermag, gelingt modernen Dichtern nimmermehr. Das sage ich voller Überzeugung eingedenk einer Stelle aus „Erdsegen“, in der er die allgewaltige Natur dem Protagonisten das Numinose unendlich mal eindringlicher predigen und vor allem begreifen lässt, als jemals von einer Kanzel gehört.
Weltgift nun als Einstieg in die reiche und wundervolle Welt Peter Roseggers zu empfehlen, die Wurzeln der urbanisierten Welt aufzugreifen, um Fehlentwicklungen besser abschätzen zu können, scheint mir gerade heutzutage höchst angebracht.

Peter Rosegger: „Weltgift“, Septime Verlag Wien, 2016, geb. 334 S. ISBN: 978-3-902711-59-5


Genre: Heimatliteratur, Romane
Illustrated by Septime Verlag Wien

Koryphäen

BUECHLER_Koryphaeen_CMYK_300Koryphäen ist ein sehr eigener Roman. Spannend, aber kein Krimi. In der Zukunft angesiedelt, aber nicht wirklich Science-fiction. Es dreht sich alles um Spionage, aber wir haben keinen Agententhriller vorliegen.
Dennoch geht’s um Themen der Zukunft und futuristische Kulturtechniken.
Und das Interessante an Büchlers Schreibweise wurzelt gerade darin, Telepathie als probates Mittel der Kommunikation einzuführen. Daraus ergibt sich ein Stil, der durch Einschübe der Gedankenströme verschiedener Personen zunehmend Fahrt aufnimmt. Der Hauptstrang der Erzählung ist nicht immer klar zu sehen, man handelt sich an ihm wie der Taucher, der in den Tiefen des Ozeans seinen Körper „ablegt“ um sich voll auf Gedankenströme konzentrieren zu können, an einem Seil in die Tiefe. Manchmal sieht man den Weg nicht, ist von der Dunkelheit des Meeres verwirrt, aber man liest bedachtsam weiter, bis sich aus der Schemenhaftigkeit wieder Klareres schält. Und man liest gern weiter, weil Büchler sehr gut schreibt. Immer wieder blitzen herrlich schöne Sprachbilder auf, dann wieder zieht einen die Spannung weiter, tiefer. Und die Gedankeneinschübe der verschiedenen handelnden bzw. denkenden Personen halten den Roman stets in der Schwebe, als liege man bewegungslos ausgestreckt 1ooo Meilen unter dem Meer. Die Einschübe lösen den Text nämlich nicht in Nonsens auf, wie gekünstelte, sich avantgardistisch nennende Literatur es gern eitel macht, sie zerreißen Welt auch nicht zunehmend in kleinere Fetzchen, auf denen dann die Konzern- und Trustchefs ihre Bilanzen summieren. Im Gegenteil. Inhaltlich geht’s um die Sammlung genetischer Codes zur Optimierung der menschlichen Leistung, die abseits allen Datenschutzes oder Menschenrechte stattfindet. Die Bewusstseinsfäden eines Aussteigers und der Daten-Sammler verstricken sich ineinander: ein Agenten- Abenteuer entspinnt sich, das aber nie platt daherkommt. Letztlich verweben sich Schicksale, und das gute Ende geschieht (ebenfalls im Gegensatz zum Großteil zeitgenössischer Literatur) zuletzt. Ein Sabotageakt zerstört die angelegte Universal-Sammlung, und auch psychisch-seelisch befreien die Protagonisten sich aus den Fesseln ihrer Vergangenheiten. Ein seltsam schöner Roman, der zudem durch die Kenntnisse der Autorin bezüglich Telepathie besticht, und von dem nun nicht mehr verraten werden soll, da er es wert ist, von vielen Lesern selbst entdeckt zu werden.
Manfred Stangl
Gudrun Büchler: „Koryphäen“, Septime Verlag, Wien 2o17, Hardcover, 184 Seiten; ISBN: 978-3-9o2711-6o-1


Genre: Agentenroman, Romane, Science-fiction
Illustrated by Septime Verlag Wien