Die geheimen Stunden der Nacht

Misslungener narrativer Clou

Man kann den Verleger-Roman «Die geheimen Stunden der Nacht» von Hanns-Josef Ortheil als Abgesang auf editorische Traditionen sehen, deren hehre Ziele zunehmend dem nüchternen Kalkül der Marketing-Leute zum Opfer fallen. Der Autor kennt sich jedenfalls aus in der Buchbranche und gewährt dem Leser, der über seinen Buchdeckel-Horizont hinaus an diesem kulturellen Medium interessiert ist, einen Einblick, wie es hinter den Kulissen der Branche zugeht.

Protagonist ist der älteste Sohn des 80jährigen Großverlegers Reinhard von Heuken aus Köln, dessen Vater nach zehn Jahren einen zweiten Herzinfarkt erleidet. Es steht schlecht um den Patriarchen, der seine Nachfolge nicht geregelt hat. Der 52jährige Georg von Heuken rechnet damit, dass auch sein jüngerer Bruder und die Schwester, die jeweils einen zum Konzern gehörenden Verlag in Frankfurt und in Köln leiten, eigene Ansprüche auf die Konzernleitung geltend machen werden. Beide eilen herbei, und nach einigemHin und Her erklärt die Tochter, dass sie in einem Gespräch mit dem Vater die Übernahme der Leitung für sich abgelehnt habe- Der Vater habe ihr daraufhin die Entscheidung überlassen, wer von den Brüdern die Position an der Spitze übernehmen soll. Um diesen Handlungskern herum erzählt Ortheil die Geschichte der Verleger-Familie, die in einer pompösen Villa in bester Lage Kölns residiert, vor allem aber berichtet er von den Aktivitäten, die durch das wahrscheinlich bevorstehende Ableben des Alten bei Georg ausgelöst werden. Und er muss auch gleich noch den wichtigsten Autor des Verlages empfangen, der bisher immer nur mit dem Senior persönlich verhandelt hat. Ein mimosenhafter Romancier mit Starallüren, dessen Bestseller satte Gewinne versprechen, der diesmal aber um seinen neuen Roman viel Aufhebens macht. Georg löst diese diffizile Aufgabe jedoch mit Bravour.

Insider der Branche interpretieren das Buch auch als Schlüsselroman und sehen zum Beispiel Martin Walser in der Figur des Starautors, erkennen vermutlich aber auch noch viele weitere Anspielungen aus dem Branchen-Geschehen. Neben den Verlegern trifft man als Leser vor allem auf Lektoren, aber auch auf eine toughe Literaturagentin, den smarten Journalisten, der mit der Biografie des Seniors betraut ist, oder die allmächtige Chefsekretärin, über deren Schreibtisch alles läuft im Konzern, und alle diese Figuren sind auf ihre Art komische, manchmal skurrile Typen. Für Georg völlig überraschend ist die Tatsache, dass sein Vater eine Suite im Dom-Hotel gemietet und dort offensichtlich ein nächtliches Zweitleben geführt hat. Bei dem war auch eine Dame im Spiel, die aber niemand kennt und die den mutmaßlichen Lover erstaunlicher Weise auch nicht in der Klinik besucht. Die plötzliche Zäsur bedeutet für Georg auch die Chance, endlich aus dem Schatten seines übermächtigen Vater herauszutreten. Er wächst über sich selbst hinaus, entdeckt plötzlich völlig neue Seiten an sich. Und er erkennt auch, dass er bisher wohl ziemlich am Leben vorbei gelebt hat als braver Familienvater, treuer Ehemann und karriere-orientierter Manager.

Der klug konstruierte, spannende Plot wird, kenntnisreich und mit scharfem Blick für Details, in angenehm lesbarer, konventioneller Sprache schwungvoll erzählt. Dabei ist stets Ironie im Spiel, aber auch handfeste Gesellschaftskritik ist geboten, vor allem die gehobene Gastronomie und Hotellerie wird als total überkandidelt mit Häme überzogen. Störend bei alledem ist die fehlende, psychologische Tiefe, die Figuren bleiben oberflächlich in dem, was sie tun und sagen, alles erscheint irgendwie flapsig. Auch dass es hier um eine Branche geht, die Literatur als ein wichtiges Kulturgut erzeugt, wird im Roman an keiner Stelle gewürdigt. Stattdessen gibt es reichlich Tratsch, hart an der Grenze zur Kolportage. Völlig misslungen aber ist die schon im Titel anklingende Liebesgeschichte, deren narrativen Clou sich der überkreative Autor bis zum kitschigen Happy End effektheischend aufhebt.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by btb München

Herscht 07769

Inverse Heiligen-Legende

Der ungarische Schriftsteller László Krasnahorkai hat mit «Herscht 07769» einen hochaktuellen deutschen Gegenwartsroman geschrieben, und das in einem einzigen Satz, der Punkt kommt erst nach mehr als 400 Seiten. «Angela Merkel, Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Willy-Brand-Straße 1, 10557 Berlin» schreibt Florian, der titelgebende Held, ins Adressfeld, und als Absender «Herscht 07769». Das reicht völlig, in der thüringischen Kleinstadt Kana nahe Jena, kennt ihn ja jeder. Und was er der Physikerin Merkel brieflich mitzuteilen hat, ist der wissenschaftliche Beweis der unmittelbar bevorstehenden Apokalypse, das endgültige Verschwinden aller Materie.

Ein nur ‹Boss› genannter Gebäudereiniger und Neonazi hat den gutmütigen und von allen geliebten, bärenstarken, aber einfältigen Florian als billige Hilfskraft aus einem Heim geholt. Es gibt viel zu tun für sie beide, denn immer öfter werden in ihrer Gegend Graffitis mit einem Wolfskopf und verschiedenen Parolen auf Wände gesprüht, die sie dann als Spezialisten mühsam entfernen müssen. Alle haben die Neonazis in Verdacht, die sich in letzter Zeit zahlreich in Kana angesiedelt haben. Deren wütender Boss setzt schließlich seine ihm treu ergebene ‹Einheit› aus gescheiterten Existenzen und schrägen Vögeln darauf an, den wahren Täter nachts auf frischer Tat zu ertappen. weil die Polizei offensichtlich unfähig ist. Die Unruhe in der Bevölkerung steigt ins Maßlose, als ein Ehepaar beim Picknick von einem Wolf angegriffen und schwer verletzt wird.

Florians Geschichte, eine Art inverse Heiligen-Legende, wird bildstark und spannend erzählt, wobei ein stimmig beschriebenes Figuren-Ensemble dem Geschehen einen authentischen Anstrich verleiht. Ausgerechnet der zwielichtige, brutale ‹Boss› ist ein begeisterter Bach-Anhänger, der die ‹Kanaer Symphoniker› gegründet hat, die er zur Konzert-Reife führen will. Seine Bach-Euphorie steckt auch Florian an, der in dem Komponisten das Gute in Reinform verkörpert sieht. In der Volkshochschule führt ein ehemaliger Physiklehrer den inselbegabten Florian in die Quanten-Physik ein, und der setzt sich immer wieder hin und schreibt an Angela Merkel, um ihr die Dramatik der Situation nahe zu bringen, – eine Anspielung auf das dramatische Geschehen im Ort, bei dem der Wolfsangriff als Allegorie auf das Böse im Menschen fungiert. Die örtliche Tankstelle samt Imbiss, beliebter Treffpunkt im Ort, wird in die Luft gesprengt, das ausländische Pächterpaar kommt dabei um. Bald darauf werden der ‹Boss› und anschließend alle Mitglieder der Neonazi-Gruppe brutal ermordet, und wieder tappt die Polizei im Dunkeln. Im Ort herrscht heillose Panik, man traut sich kaum noch auf die Strasse, es gibt Selbstmorde, einige werden verrückt, andere wie Florian sind plötzlich verschwunden, keiner weiß, wohin.

Dieser Roman in einem Satz entwickelt nicht zuletzt aus seinem unkonventionellen Schreibstil heraus einen starken Lesesog, wobei sich erstaunlicher Weise zeigt, dass man schon nach wenigen Seiten die Trennung durch Punkte nicht mehr vermisst. Das oft aus Sicht seines einfältigen Helden beschriebene, absurde Geschehen wird so geschildert, wie es sich als Gedankenstrom in seinem Kopf abspielen könnte, und auch die Bewohner des Ortes werden auf diese Art stimmig charakterisiert in ihrer provinziellen Lebens- und Denkweise. «Dieses Buch enthält hunderte Monologe», hat der Autor zu seinem eigenwilligen Stil angemerkt. Geradezu parodistisch wird es, wenn die ständigen Flüche des leicht erregbaren Bosses fast ohne Vokale auskommen müssen, was der Verständlichkeit aber keinerlei Abbruch tut, Schße oder gttvrdmmmich versteht man auch so. Am Ende kommt eine «Krawattenversion der Nazis» sogar in den Stadtrat von Kana, ein mystischer Steinadler wird Florians wehrhafter Verteidiger, und aus Berlin trifft ein Brief mit dem Absender Angela Merkel ein, wird aber als unzustellbar behandelt, denn wo Florian abgeblieben ist, weiß ja keiner, auch die Post nicht.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Weiberroman

Gegen eine Frau hilft nur eine andere Frau

Der «Weiberroman» von Matthias Politycki weist bereits mit seinem ironischen Untertitel «Historisch-kritische Gesamtausgabe» auf ein wissenschaftliche Texte persiflierendes Prosa-Konstrukt hin. Im Jahre 1997 als Kultroman über die 78er-Generation gefeiert, gilt der damalige Bestseller als wichtiges Werk der literarischen Postmoderne. Sein Figuren-Ensemble verkörpert die erste, ohne Krieg aufgewachsene Generation des Jahrhunderts. Als Yuppies oder Dinks sind sie einerseits karrieregeil, fühlen sich andererseits aber auch der Political Correctness verpflichtet. Und wie der freche Romantitel verkündet, geht es thematisch hier um Frauen, die ja, einer uralten Erkenntnis zufolge, einfach nicht mit Männern zusammen passen.

Genau diese These wird im «Weiberroman» am Beispiel des 1956 geborenen Gregor verifiziert, dessen Probleme mit dem anderen Geschlecht hier aus seiner Sicht geschildert werden. Das in den Jahren 1974 bis 1990 geschriebene Material zu dessen Autobiografie, bestehend aus einem Konvolut von 3481 ungeordnet zurückgelassenen Textschnipseln bis hin zu mehrseitigen Abschnitten, habe Matthias Politycki als Herausgeber «entschlüsselt, katalogisiert und entsprechenden Handlungssträngen zugeordnet», wird im Anhang in einer editorischen Notiz erklärt. Diese mühevolle Arbeit habe Schwärzungen freizügiger «Stellen» unabdingbar gemacht, und aus Verständnis-Gründen sei auch ein dreißigseitiger Anmerkungs-Apparat dringend erforderlich gewesen. Hinter dieser Herausgeber-Fiktion versteckt berichtet Matthias Politycki in den drei mit «Kristina», «Tania» und «Katarina» betitelten Abschnitten des Romans von der schwierigen Mannwerdung seines Helden.

Als Schüler in der westfälischen Stadt Lengerich hat sich Gregor in die überirdisch schöne Kristina verguckt, hinter der alle her sind. Aber ungeschickt, wie er nun mal ist, kommt er bei ihr nicht weiter, die Konkurrenz ist einfach zu groß. Nach dem Abitur beginnt er in Wien ein Germanistik-Studium und lernt die Zahnarzthelferin Tania kennen, eine kesses Vollweib aus einfachen Verhältnissen, die breiten Dialekt spricht und intellektuell so gar nicht zu ihm passt. Er findet schließlich heraus, dass sie bereits seit zwei Jahren als Model arbeitet und freizügige Bilder von ihr kursieren. Als 23Jähriger geht er dann nach Stuttgart, wo er eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter antritt. Dort trifft er auf Katarina, eine elegante Traumfrau, die bei der Lufthansa als Chefstewardess für interkontinentale Flüge arbeitet. Aber auch diese Beziehung geht in die Brüche. Gregor kann sich einfach nicht in die Psyche der Frauen hineinversetzen, die geliebt werden wollen und ständig auf noch so kleine Zeichen warten, die das immer wieder auch beweisen. Als Hintergrund zu den schwierigen Paarbeziehungen blendet Politycki ständig aktuelle politische und kulturelle Geschehnisse in die Handlung ein. Die Entwicklung in der DDR wird da ebenso angesprochen und im Anmerkungsteil näher erläutert wie die jeweils gerade angesagte Musik, sei es die berühmter Pop-Gruppen oder aber die jener Schlagersänger, deren Schnulzen, aus der Wohnung des Hausmeisters schallend, an Gregors Nerven zerren.

In Wahrheit erzählt der Studienabbrecher nur permanent von sich, die Frauen bleiben in diesem Roman letztendlich Beiwerk, immer nach dem Motto: «Gegen eine Frau hilft nur eine andere Frau». Meistens wird da von seinen ständigen Sauftouren, Feten und allerlei Schabernack berichtet, mit auffallend oft auch olfaktorischen Details. Die durchaus harsche Gesellschafts-Kritik dieses virtuos erzählten Romans wird gemildert durch den köstlichen Humor, in den das alles unterschwellig verpackt ist. Dazu tragen zuweilen eingestreute Passagen mit Wiener oder schwäbischem Dialekt einiges bei. Es empfiehlt sich übrigens, den Anhang dieses geistreich unterhaltenden Buches zuerst zu lesen, dann aber auch jeweils die Fußnoten, weil sie oft weit mehr beinhalten als reine Anmerkungen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hoffmann und Campe

Die Liebesblödigkeit

Liebe in einer verhunzten Welt

Der Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino hat mit seinem Roman «Die Liebesblödigkeit» einen Buchtitel kreiert, der geradezu typisch ist für seine überwiegend resignativ geprägten Romane, in denen es immer auch um die Liebe geht als schier unerschöpflicher Erzähl-Fundus. Das vorliegende Buch handelt von der Beziehung seines Ich-Erzählers zu zwei Frauen, deren Ansprüchen er sich als alternder Liebhaber auf Dauer nicht gewachsen fühlt. Von einer sollte er sich trennen, aber von welcher?

Als freiberuflicher Apokalypse-Spezialist unterhält der 52jährige Protagonist schon jahrelang intime Beziehungen zu Judith, einer gleichaltrigen Pianistin, die recht und schlecht von Klavierunterricht und Nachhilfestunden lebt, aber gleichzeitig auch zu der neun Jahre jüngeren Chef-Sekretärin Sandra. Bisher lief alles bestens in dieser Ménage-à-trois, in der die Frauen natürlich nichts voneinander wissen und ihr Geliebter es sich gut gehen lässt. Warum, lautet sein Credo, soll man als Kind Vater und Mutter gleichermaßen lieben können, zwei Frauen gleichzeitig aber nicht! Als Hypochonder entdeckt er ständig neue, altersbedingte Veränderungen an seinem Körper, zu denen zum Beispiel auch Krampfadern gehören. Als der Arzt ihm neben einem Medikament auch Stützstrümpfe verschreibt, passt das so gar nicht zu seinem Selbstverständnis. Die sexuell sehr aktive Sandra, die ihn zu diesem Arzt geschickt hat, überrascht ihn mit einer kühnen Konstruktion an ihrer Schafzimmertür. Rechts und links hat sie je einen Getränkekasten hingestellt, auf die sie sich optimal zum Beischlaf draufstellen kann, während er sie in einer Krampfader schonenden Stellung beglückt. Aber seine erkennbar nachlassende Libido führt auch zu sexuellen Versagensängsten, die ihn permanent umtreiben. Andererseits kann er sich beim besten Willen jedoch nicht vorstellen, auf eine der liebevollen Damen zu verzichten, er hat sich sein Leben mit den beiden sehr kommod eingerichtet. Als ihm Sandra einen Heiratsantrag macht und auf die finanziellen Vorteile hinweist, die er als Freiberufler ohne eigene Rentenansprüche durch die Witwenrente später hätte, stellt er resigniert fest, dass eine Ehe für ihn absolut undenkbar wäre.

Die Figuren des Romans sind unauffällige Alltagstypen aus der Mittelklasse. Der namenlose Romanheld ist als Seminarleiter mit seinen Apokalypse-Vorträgen sehr beliebt und hat einen guten Kontakt zu den meist älteren Teilnehmern. Wie auch in anderen Romanen von Wilhelm Genazino sind hier immer wieder Passagen eingebaut, in denen der Held durch die Stadt streift und alltägliche, banale Szenen beobachtet, die er in schnellem Wechsel detailgenau beschreibt. Es ist das «signifikant Insignifikante», wie James Wood es genannt hat, das hier zu stets neuen, überraschenden Einsichten führt, als Flaneur erkennt der intellektuelle Erzähler scharfsichtig das Besondere im Allgemeinen. Gesellschaftskritisch konstatiert er einen zunehmenden «Freizeit-Faschismus», der die Köpfe bewusst vernebelt und zu einem ungebremsten Konsum-Fetischismus hinführt. Äußerst skeptisch sieht er auch die «frei schwebenden Intellektuellen», die im Roman auftreten, von ihm spöttisch Panikberater, Ekelreferenten oder Schockforscher genannt. Ihm erscheint die moderne Welt mit ihren absurden Automatisierungs-Zwängen schlicht als «verhunzt», seine in dieser irrealen Welt herumirrenden Figuren seien einer «zynische Inszenierung» ausgesetzt. Der Held selbst aber registriert all dies mit stoischer Gelassenheit.

Es wird chronologisch aus der Ich-Perspektive und im Präsens erzählt, wobei die Sprache mit allerlei Redewendungen und Bonmots angenehm aufgelockert ist. Sehr viele der kontemplativen Erkenntnisse des ständig sinnierenden, selbstkritischen Protagonisten sind erkennbar ironisch gemeint, andere wiederum regen zum eigenen Nachdenken an. Als Satire über die Liebe in einer verhunzten Welt ist dieser Roman eine amüsante Lektüre, die auch einiges an Tiefgang bietet.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Die Haushälterin

Oberflächliche Vater/Sohn-Geschichte

Das Romandebüt von Jens Petersen mit dem Titel «Die Haushälterin» wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet und für den Deutschen Buchpreis 2005 nominiert. Es blieb bis dato der einzige Roman dieses Schriftstellers und Arztes, dessen Erzählungen hingegen in verschiedenen Anthologien veröffentlicht wurden. In seinem preisgekrönten Roman beschreibe er, wie die Aspekte-Jury des ZDF befand, «unsentimental, geradlinig und doch vielschichtig die Geschichte einer Vater-Sohn-Beziehung auf Messers Schneide».

Dieser Generationen-Roman ist auch die Geschichte einer ersten Liebe. Der sechszehnjährige Ich-Erzähler Philipp, der früh seine Mutter verloren hat, muss nun auch noch erleben, dass sein Vater, der Kernkraftwerke gewartet hat, arbeitslos wird und zu trinken anfängt. Der Haushalt der Beiden in einer ehemals prächtigen Jugendstilvilla verwahrlost zusehends. Immer öfter kommen nun auch fremde Frauen ins Haus und stehen plötzlich morgens in der Küche, was den Jungen ziemlich verstört. Sein Vater benutze seine diversen Liebschaften offensichtlich nur «wie eine Arznei gegen das Sterben», stellt er ernüchtert fest. Als der alkoholisierte Vater bei einem Sturz die Kellertreppe herunterfällt und einen komplizierten Beinbruch erleidet, engagiert Philipp kurz entschlossen eine Haushälterin. Die 23jährige Ada ist eine Studentin aus Polen, die auch als Übersetzerin arbeitet. Sie kümmert sich nun zweimal die Woche um den Haushalt und bringt ihn sehr schnell wieder ‹auf Vordermann›. Außerdem erweist sie sich auch als hervorragende Köchin, ein Glücksfall für die beiden eher stümperhaften Selbstversorger, und mit ihr kommt nun wieder Leben ins Haus. Die burschikose Ada kümmert sich auch um den Garten und springt für den durch seine Verletzung gehandicapten Vater als Chauffeur ein. Für den mitten in der Adoleszenz steckenden, eher verschlossenen Philipp ist sie der allererste Kontakt zum weiblichen Geschlecht. Sie geht ganz ungezwungen mit ihm um, lässt sich von ihm duzen, geht mit ihm schwimmen, sie besuchen zusammen eine Party, und einmal küsst sie ihn sogar. Aber wie er schon bald merkt, hat sie ganz offensichtlich einen Freund in Polen. Und was ihn noch viel mehr trifft, auch sein Vater macht ihr völlig ungeniert den Hof und überschüttet sie mit Geschenken, bietet ihr schließlich sogar ein Zimmer im Haus an. Als Nebenbuhler seines Vaters um die Gunst der lebenslustigen Ada hat Philipp keinerlei Chance, das wird ihm bald klar.

Die führwahr nicht seltene Thematik dieses Romans von der Rivalität zwischen Vater und Sohn um die gleiche Frau wird hier kühl und nüchtern in einer dem jugendlichen Erzähler angepassten Sprache geschildert. Die Figuren sind glaubwürdig charakterisiert, wobei besonders Ada sehr sympathisch wirkt, was daran liegen mag, dass man nicht alles über sie weiß. Es wird nämlich nicht alles auserzählt in diesem melancholischen Roman, manches ist nur vage angedeutet oder bleibt völlig offen. Thematisiert wird hier auch die generationsbedingt schwierige Kommunikation zwischen dem dominant auftretendem Vater und seinem eher unbedarften Sohn, die den Heranwachsenden immer wieder vor neue Probleme stellt und ihn sogar zu einigen Kurzschluss-Handlungen verleitet.

Es liegt ein Anflug von Tristesse über diesem Adoleszenz-Roman, der geradezu beiläufig von den Schwierigkeiten und Fallstricken beim Erwachsenwerden erzählt. Dabei ist jedoch immer auch ein hintergründiger Humor zu erkennen, der diesen Debütroman zu einer eher amüsanten Lektüre macht. Leider jedoch bleiben die psychologischen Hintergründe der Figuren-Konstellation völlig im Dunkeln, obwohl ja gerade darin die eigentliche Problematik der wechselseitigen Beziehungen zwischen den drei Protagonisten liegt. Durch diesen Mangel an gedanklicher Tiefe bekommt die flockig leicht erzählte Geschichte den eher trivialen Charakter eines oberflächlichen Unterhaltungs-Romans, der von der grenzenlosen Naivität seines jugendlichen Helden lebt.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by DVA München

Die schwangere Madonna

Pikareske Road Novel

Der Roman «Die schwangere Madonna» des österreichischen Schriftstellers Peter Henisch ist eine geradezu klassische Road Novel, was allein schon durch die vorab eingefügte Landkarte Italiens mit der Reiseroute der Protagonisten verdeutlicht wird. Genretypisch läuft der Plot auf ein herbeigesehntes Ende hin, eine kopflose Flucht aus dem unerträglich gewordenen Leben. Dabei sind hier die pikaresken Einflüsse dominant und lassen die deprimierende Ausgangslage in einem freundlicheren Licht erscheinen. Mit der Nominierung dieses Romans für den Deutschen Buchpreis wurde der bis dato nur in Österreich prämierte Autor 2005 erstmals auch einem größeren deutschen Leserpublikum bekannt.

Der beim Rundfunk tätige Josef ist durch sein blackoutartiges Versagen bei der Fertigstellung eines Radio-Features als freier Mitarbeiter prompt gekündigt worden. An der Schule seines Sohnes, den er dort turnusgemäß abholen will, stellt er fest, dass er sich zeitlich um eine ganze Woche vertan hat, was Ex-Frau und Sohn nur mit verächtlichem Grinsen quittieren. Auf dem Schulhof sieht er zufällig einen VW-Golf stehen, bei dem der Schlüssel in der Tür steckt. Düpiert wie er ist, steigt er in einer Kurzschluss-Reaktion in das Auto, startet den fremden Wagen und fährt davon, obwohl er gar keinen Führerschein besitzt. Weil er zweimal durch die Prüfung gefallen war, hat er seither immer ohne Auto gelebt. Er merkt aber, dass er trotz fehlender Fahrpraxis ganz gut zurechtkommt im Verkehr. Ziellos dahinfahrend entdeckt er nach einigen Kilometern, dass er nicht allein ist im Auto. Auf der Rückbank regt sich unter einem dicken Wintermantel plötzlich ein Mädchen, das dort geschlafen hat. Als er anhält, um sie aussteigen zu lassen, will sie nicht. Das Auto gehöre ihrem Religionslehrer, der sie geschwängert habe, der nun aber nichts mehr mit ihr zu tun haben will. Auch die kurz vor der Matura stehende, knapp 18jährige Maria will nun nur noch weg. Schon bald überqueren die beiden Gleichgesinnten die italienische Grenze und setzen ihre spontane, fluchtartige ‹Fahrt ins Blaue› Richtung Süden fort.

Aus dieser Konstellation heraus deutet Peter Henisch eine von dem fürsorglichen Mann erträumte, allmählich obsessiv werdende Beziehung der anfänglich reinen Zweck-Gemeinschaft an. Wobei Maria ihren doppelt so alten Begleiter immer wieder auch düpiert, indem sie plötzlich spurlos verschwindet, was dann jedes Mal seine Beschützer-Instinkte herausfordert. Eine zweite thematische Ebene bildet die Religion, deren berühmte Bauten und Kunstwerke das ungleiche Paar bei seiner Reise kreuz und quer durch Italien gleichermaßen begeistert. Eines davon wartet am Ende der Reise, die titelgebende Madonna del Parto auf dem berühmten Fresko, das heute als Touristenattraktion im Museum von Monterchi zu sehen ist und als Abbildung das Buchcover ziert. Durchaus ironisch hat der Autor nicht nur seinen Helden ‹Josef› genannt, auch der Protagonistin hat er mit ‹Maria› einen religiös konnotierten Namen zugedacht, und die Schülerin schließlich hat über ihr Interesse an christlichen Themen letztendlich ja auch ‹in Sünde› zu ihrem Religions-Lehrer gefunden.

Auf dieser Reise kreuz und quer durch fast ganz Italien erleben die beiden ungleichen Aussteiger und Sinnsucher allerlei abenteuerliche Begegnungen. Italophile Leser werden ihre helle Freude haben an den bunten, durchweg stimmigen Bildern, in denen der ortskundige Autor davon zu berichten weiß. Auch seine Figuren sind mit Blick für Details und feine Nuancen überzeugend charakterisiert. Trotz der oft komischen, aber manchmal arg profanen Begebenheiten hat dieser Roman auch seine kontemplativen, zum Weiterdenken anregenden Momente, und kulturell erweist sich Josef als idealer Reiseführer nicht nur für Maria, sondern auch für den Leser. Neben der angedeuteten Lolita-Thematik wird durch die ständige Furcht der Autodiebe vor Entdeckung ein Spannungs-Bogen erzeugt, der bis zum kitschfreien, gut durchdachten Ende anhält.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Residenz Verlag

Das Geschäftsjahr 1968/69

Die Mär der 68er-Generation

Der Debütroman mit dem ironischen Titel «Das Geschäftsjahr 1968/69» war für den Schriftsteller Bernd Cailloux gleich der große Erfolg, er wurde vom Feuilleton als literarische Entdeckung gefeiert. Mit der Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2005 stellte sich für den damals bereits über sechzigjährigen und bis dato weitgehend unbekannten Suhrkamp-Autor auch ein erfreulicher Anstieg der Auflagen ein. Sein Roman wurde als hochwillkommene, nüchterne Schilderung dieser im Buchtitel genannten, historisch völlig überschätzten und ideologisch überhöhten Epoche der deutschen Nachkriegsgeschichte, von der Kritik äußerst positiv kommentiert.

Auf einem Fortbildungs-Lehrgang für Journalisten lernen sich 1965 zwei junge Männer kennen, die beide der Wunsch vereint, Großes zu vollbringen und nicht im profanen bürgerlichen Alltag zu versauern. Nach dem Wehrdienst des namenlosen Ich-Erzählers ziehen sie voller Tatendrang nach Düsseldorf und beginnen, zusammen mit einem begnadeten Tüftler als Entwickler, in einer Gartenlaube ein Stroboskop zu entwickeln. Ihre Idee, die von dem Gerät erzeugten Lichtblitze als die Musik ergänzende Stimulanz für ein tanzwütiges Publikum in Clubs und Diskotheken einzusetzen, erweist sich als Glücksfall. Bereits das erste Gerät der «Muße-Gesellschaft», wie sie sich nennen, installiert in einer neuen Location auf der Hamburger Reeperbahn, ist ein sensationeller Erfolg, der sich schnell herumspricht. Fortan reißen sich die Kunden geradezu um diese Geräte und zahlen umstandslos fast jeden Preis, wenn sie ihr eigenes Stroboskop nur möglichst bald bekommen. Naiv und ökonomisch unbedarft träumen die Gründer davon, in erster Linie mit ihrer Idee die Welt zu beglücken. Sie wollen sich und ihre Mitstreiter ohne Profitstreben, geradezu familiär, solidarisch aus der gemeinsamen Kasse entlohnen, also eine Art ökonomische Hippie-Kommune selbstloser, gleichberechtigter Idealisten bilden. Um in Stimmung zu kommen wird natürlich Rauschgift in verschiedenster Form konsumiert, auch darin sind sich alle gleich in der schnell wachsenden Belegschaft. Irgendwann fordert die Realität ihr Recht, der Mitbegründer meldet die bis dahin nicht im Handelsregister eingetragene Firma auf seinen Namen an, ganz ohne Formalitäten geht es halt doch nicht. Enttäuscht zieht der Romanheld sich zurück, lässt sich dann aber doch überreden, wenigstens die Hamburger Filiale zu übernehmen. Bis ihn dort schließlich eine Hepatitis-Infektion bös erwischt.

Ohne Larmoyanz wird in diesem Roman das Zeitgefühl der berühmten 68er weitgehend klischeefrei geschildert. Dabei entwickeln sich die Gründer, die sich als «Enthemmungs-Assistenten» definieren und auch reichlich Dope dafür einsetzen, als Antipoden ihrer Geschäftsidee. Während der Ich-Erzähler als Alt-Hippie seinen geplatzten Träumen von der Bedürfnislosigkeit nachtrauert, ist sein Kompagnon schon in der ökonomischen Realität angekommen und nutzt die sprudelnde Geldquelle zu seinem eigenen Vorteil. Bernd Cailloux erzählt seine Geschichte lakonisch mit viel Sinn für Details, auch wenn sowohl technisch als auch ökonomisch manches daran dann doch ins Spekulative, Märchenhafte abgleitet. Dazu zählen vor allem die viel zu lang geratenen Passagen über den unbekümmerten Rauschgift-Konsum der psychedelischen Stroboskop-Truppe. Das wird in unzähligen Details immer wieder neu beschrieben, dürfte aber allenfalls die Junkies in der Leserschaft erfreuen, die große Mehrheit jedoch erbarmungslos langweilen.

Erzählt wird diese desillusionierende Geschichte der ungleichen «Hippie-Businessmen», wie die Freundin des Protagonisten sie spöttisch bezeichnet, in einer angenehm lesbaren, dem Alltag entsprechenden Diktion, nüchtern und völlig unprätentiös. Dass ihre «Suche nach besseren Lebenszwecken» scheitern muss, ist von vornherein klar. Aber wie kläglich sie scheitert, das ist durchaus vergnüglich zu lesen, vor allem, weil es gnadenlos einen scheinbar unausrottbaren Mythos entlarvt.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Böse Schafe

Brief an einen Toten

Als einer ihrer wichtigsten Romane wurde «Böse Schafe» von Katja Lange-Müller vom Feuilleton einhellig positiv aufgenommen, sein Thema ist das komplizierte Beziehungsgeflecht von gesellschaftlichen Außenseitern. Die in der Vorwendezeit in West-Berlin angesiedelte Liebesgeschichte zweier kaputter Typen überzeugt nicht nur durch die völlig unsentimentale, sprachlich nüchterne Umsetzung des Stoffs, sondern auch durch die intime Nähe zu den Figuren. Diese besonders intensive Wirkung wird vor allem durch die sehr spezielle Erzählform als fiktiver Brief an einen Toten erzeugt.

Die vierzigjährige Schriftsetzerin Soja, Republikflüchtling aus der DDR, die sich in Berlin mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, trifft 1987 am U-Bahnhof Nollendorfplatz auf Harry, der als schöner Mann, «blauäugig, bleich, aschblond», eine geradezu unwiderstehliche, spontane Anziehungskraft auf sie ausübt. In dem posthumen Brief, den sie ihm vier Jahre später schreibt und den wir als Roman lesen, sieht sie einen Film ablaufen und fragt selbstkritisch: «Hätte ich mich, als unser Film in Echtzeit lief, als wir zu fotografieren gewesen wären, nach deinen Empfindungen erkundigen sollen?» Denn wie sie merkt, gibt der schweigsame Traummann wenig preis von sich und bleibt ihr gegenüber sogar als Liebhaber merkwürdig zurückhaltend. Trotzdem ignoriert sie zunächst alle Indizien, bis dann nach und nach aber heraus kommt, dass er auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wurde, wo er eine zehnjährige Strafe wegen Raubüberfalls abzubüßen hat. Außerdem hat er auch gegen Bewährungs-Auflagen verstoßen, weil er seine Drogentherapie abgebrochen hat. Soja kämpft um eine neue Therapie für ihn, setzt sich selbstlos für ihn ein und unterstützt ihn sogar finanziell, obwohl sie selbst in eher prekären Verhältnissen lebt. Es dauert nicht lange, bis die nächste, bisher verschwiegene Hiobsbotschaft sie erreicht, die sie dann sehr direkt plötzlich auch selbst betrifft.

«Mein Lebensthema sind, glaube ich, die Widersprüche» hat die Autorin im Interview bekannt. Das wird hier verkörpert durch die große Liebe einer unbeirrbaren, starken Frau aus dem Osten zu dem kriminellen Junkie aus dem Westen, der ihre Gefühle in keiner Weise erwidert hat, wie sie ihm in ihrem Brief posthum vorwirft. Die Autorin lotet nüchtern aus, wie weit Hingabe tatsächlich gehen kann, ohne jedoch pathetisch zu werden, was in diesem Genre ja eher selten anzutreffen ist. In ihrem Rückblick auf den vierjährigen Abschnitt ihres Lebens mit Harry stellt Soja ihm existentielle Fragen, um zu verstehen, was für ein Mensch er wirklich war. Und trotz der durch sein Verhalten ihr gegenüber ausgedrückten, emotionalen Defizite wirkt dieser schräge Vogel nie unsympathisch, er strahlt auch in verstörenden Momenten immer noch einen gewissen Charme aus, und zwar nicht nur auf Soja, sondern erstaunlicher Weise auch auf den Leser. Der lange, quälende Sterbeprozess von Harry schließlich, der am Ende einsam stirbt und Soja mit seinen Habseligkeiten auch ein Schulheft mit Aufzeichnungen hinterlässt, ruft Mitgefühl beim Lesen hervor, er ist im Grunde eigentlich nur ‹ein armer Hund›. Harrys undatierte Notizen über seine Zeit mit ihr sind, kursiv abgesetzt und in kurzen Abschnitten über den gesamten Text verteilt, in den fiktiven Brief eingefügt. Es sind geradezu schreckliche Aufzeichnungen, die Soja da ahnungslos liest, denn in seinen insgesamt neunundachtzig Sätzen kommt sie mit keinem einzigen Wort vor, so als hätte es sie nie gegeben.

Eine derartige, nicht auf Gegenseitigkeit beruhende Amour fou wirft natürlich allerlei interessante Fragen auf. Kann man Sojas demütige Hingabe überhaupt noch Liebe nennen? Kann denn die nicht wiedergeliebte Liebende jemals glücklich gewesen sein? Neben seiner Liebesthematik ist «Böse Schafe» auch ein typischer Berlin-Roman mit stimmigen Milieu-Schilderungen. Dieser stilistisch ungewöhnliche, komplexe Roman ist eine unterhaltsame, bereichernde Lektüre.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Diese Fremdheit in mir

Knapp 600 Seiten Print- oder 5.200 KB eBook – ein gewaltiges Werk, das wahrscheinlich schon per se einen Literatur-Nobelpreis wert wäre, hätte man diesen dem türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk nicht bereits 2006 verliehen. Diese “Fremdheit in mir” erschien erst 2014, also 6 Jahre nach der Aufnahme in den Literatur-Olymp.
Erscheinungsdatum wirklich 2014? Man stutzt und will es kaum glauben. So jung? Eigentlich doch so zeitnah und modern, aber…? Aber der Reihe nach.

Pamuks Buch ist eine Familien-Saga mit allem, was dazu gehört. Ein Epochen übergreifender Generationen-Roman mit der zentralen Figur des Boza-Verkäufers Mevlut (Wiki: „Boza ist ein leicht alkoholisches, süßlich-prickelndes Bier, ursprünglich aus Hirse, das auf dem Balkan und in der Türkei, in Zentralasien und im Nahen Osten konsumiert wird“).
1954 kommt Mevlut, wie so viele, als kleiner Junge mit seinem Vater aus Anatolien nach Istanbul. 60 Jahre lang begleitet der/die LeserIn Mevluts Schicksal und das seiner Eltern, Onkel, Tanten, Cousins, Frau(en), Schwiegereltern, Töchter, Schwiegersöhne, Enkel, SchwägerInnen, Freunde. Und das alles vor dem Hintergrund der türkischen Historie und insbesondere der Entwicklung Istanbuls. Da bedarf es in der Tat schon einer vierseitigen Chronologie im Anhang, um den Über- und Durchblick nicht zu verlieren. Vor allem, wenn man ins Kalkül zieht, dass man Pamuks Schreibstil durchaus als detailverliebt bezeichnen darf.
Das Positive an dem Buch lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Es ist ein relativ authentisches Spiegelbild der türkischen Gesellschaft über sechs Jahrzehnte und insbesondere der vielen einfachen Menschen vom Land, die in der Metropole Istanbul ihr Glück versuchen.
Lässt man allerdings auch nur ein wenig literarische Kritik walten, handelt es sich um eine türkische Telenovela, die in jedem TV-Kanal nach vier Wochen abgesetzt würde. Zu zähflüssig, zu langweilig, zu vorhersehbar ist die von einem türkischen Mann konstruierte Handlung. Das Geschriebene plätschert vor sich hin, man erfährt nichts, was man bei halbwegs ausgebildeter Beobachtungsgabe nach zwei bis drei Türkei-Urlauben nicht eh schon wüsste. Selbst literarische „Kunstkniffe“, wie der Wechsel vom außenstehenden Erzähler zum Monolog agierender Darsteller, laufen ins Leere, da es Pamuk versäumt, in diesen Passagen den Erzählstil zu ändern und zu profilieren.
Orhan Pamuk ist der vielleicht beliebteste und erfolgreichste, männliche türkische Schriftsteller unserer Zeit. Die türkisch-maskuline Weltsicht sprießt so auch aus allen Poren. Ein Mann ist der Hauptdarsteller, Männer dominieren den Alltag, die Sicht auf die Frauen ist männlich-traditionell. Und genau deshalb wieder der ungläubige Blick auf das Erscheinungsdatum. Bei aller Liebe zur authentischen Darstellung der Realität – wo bleibt die wenigstens angedeutete Kritik zum Beispiel an der Stellung und Rolle der Frau in dieser gesellschaftlichen Umgebung? Dürfte man das 2014 von einem Nobelpreisträger nicht verlangen? Warum durchgehend diese rosarote Wolke, diese naive Zufriedenheit, die sich vom Protagonisten auf die ganze Atmosphäre des Romanes überträgt? Selbst wenn Armut und Leid geschildert werden, bleiben diese immer systemimmanent.
Schwer erklärlich bleibt bis zum Schluss der Titel des Buches. „Diese Fremdheit in mir“ kommt als Terminus zwar immer mal wieder in unterschiedlichsten Zusammenhänge vor, wird aber auch im Kontext nicht klarer. Vielleicht ein Übersetzungsproblem? Im Originaltitel “Kafamda Bir Tuhaflık” bedeutet Tuhaflik eher Eigenheit, Marotte, Verschrobenheit, was dem eigenbrötlerischen Charakter des Mevlut schon eher entspricht.
So bleibt auch in mir als Leser am Schluß eine Art von Fremdheit oder besser Befremdlichkeit ob des preisgekrönten Erfolges dieses Autors. Über den politischen Background des Literaturnobelpreises hatte ich bereits bei Olga Tokarczuk spekuliert. Orhan Pamuk lässt in mir die Ahnung aufkommen, dass dieser Preis auch eine Art Fleißkärtchen sein könnte.

Genre: Belletristik, Politik und Gesellschaft, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Wie der Soldat das Grammofon repariert

Bosnienkrieg aus Kindersicht

Gleich mit seinem autobiografisch geprägten Romandebüt «Wie der Soldat das Grammofon repariert» war der aus Visegrad in Bosnien-Herzegowina stammende Schriftsteller Saša Stanišić 2006 ungemein erfolgreich. Das Buch wurde in dutzende Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet, das Urteil des Feuilletons hingegen war gespalten. Von einigen Kritikern wurde der Autor als neue Stimme und talentierter Erzähler fast schon hymnisch gefeiert, von anderen wurde sein Debüt als missglückt oder als klischeehaft bezeichnet, und vom Krieg aus kindlicher Sicht zu erzählen ist natürlich immer anfechtbar.

Die Geschichte wird aus der naiven Perspektive des phantasiebegabten Schülers Aleksandar, Koseform Saša (sic!), in Ich-Form erzählt. Er wächst in Visegrad wohl behütet im Kreis seiner weitverzweigten Familie auf. Es beginnt mit dem Tod von Opa Slavko, einem glühenden Tito-Verehrer, mit dem Aleksandar innig verbunden war, aber auch der Zauberstab des Jungen vermag den Opa nicht wieder lebendig zu machen. Im Jahr 1991 gewinnt der Junge mit seinem ganz speziellen Köder den örtlichen Angler-Wettbewerb in der Drina und ist damit überraschend für die Landesmeisterschaften in Osijek qualifiziert. Aber daraus wird wohl nichts, denn dort herrscht bereits Krieg. Der erreicht schon im nächsten Frühjahr auch Visegrad und vertreibt die Eltern von dort, weil die Mutter muslimischer Herkunft ist und damit von ethnischen Säuberungen durch die Serben bedroht wird. Die Familie emigriert nach Heidelberg, wo bereits ein Onkel wohnt. Das unter Tito mit harter Hand durchgesetzte, aber letztendlich Utopie gebliebene, angeblich multikulturelle Jugoslawien wird nun in einen kleinstattlichen Flickenteppich zerrissen. Im Strudel der kriegerischen Ereignisse erscheint die unbändige Fabulierlust des Jungen mit ihren amüsanten, zum Teil haarsträubenden Szenen äußerst grotesk, bezogen auf das Kriegsgeschehen im Hintergrund. So wenn beispielsweise in einer Kampfpause die Serben und Bosnier aus ihren Stellungen hervor kriechen und sich auf ein Fußballspiel gegeneinander verständigen. Besonders absurd wird es, als dabei ein Spieler den Ball ins Aus schießt, in ein Minenfeld, aus dem er ihn nun auch selbst wieder herausholen muss, er bekommt dafür sogar eine kugelsichere Weste gereicht. Die ist allerdings für den Ball gedacht, denn der ist mitten im Krieg unersetzlich, der einzige jedenfalls, den die Soldaten noch haben.

Der unbedarfte Heranwachsende berichtet aus seiner Schlüsselloch-Perspektive von einer bunten Welt voller verrückter Geschehnisse und fragwürdiger Erinnerungen, was natürlich in krassem Gegensatz steht zu dem grauenvollen, aber realen Kriegsgeschehen, über das da abwechselnd ebenfalls berichtet wird. Mit überbordender Fabulierlust werden hier viele kleine, oft in sich abgeschlossene Episoden und Kurzgeschichten erzählt. Das reicht vom in flagranti entdeckten Seitensprung über die feierliche Einweihung des neu angebauten Wasserklosetts bis zum ausgelassen Dorffest, das dann plötzlich in einer Schießerei endet. Dabei agiert ein skurriles Figurenensemble, dessen wunderliche Charaktere nicht nur durch ihre balkantypische Sauf- und Fresslust, sondern auch durch allerlei körperliche und geistige Anomalien geprägt sind.

Kennzeichnend für den sehr speziellen Erzählstil von Sasa Stanisic ist eine verblüffende Unmittelbarkeit, die er auslöst, man fühlt sich ganz dicht am Geschehen, so grotesk das im Einzelnen auch sein mag. Störend ist das oft pittoreske Abgleiten in den puren Balkan-Kitsch, aber auch das narrative Konstrukt mit Passagen in Briefform, Gedichten und allerlei Listen erscheint mehr um größtmögliche Originalität bemüht als um einen logischen, nachvollziehbaren Erzählfluss. Die über all dem liegende heitere Note kollidiert natürlich mit den Kriegsgräueln, aber schon der Titel weist ja deutlich darauf hin, dass dies ein Schelmen-Roman ist, und als solcher sollte er dann natürlich auch gelesen werden.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by btb München

Der kurze Brief zum langen Abschied

Erinnerungen

Es war überhaupt die Zeit, in der sich meine kulturelle Prägung zum großen Teil vollzog. Zumindest was die Literatur betrifft. Meine Affinität zu den Büchern wurde, wie schon erwähnt, durch unseren Jugendpfarrer und durch meinen Besuch in München bei Irmgard und Toni angeregt. Ich begann die Werke bedeutender Schriftsteller zu lesen wie Kafka, Camus, Hemingway, Böll oder Grass, was mir nebenbei bemerkt, die beste Deutschnote in meiner schulischen Laufbahn bescherte. Nur weil ich mit meinem Deutschlehrer unter anderem über „die verlorene Ehre der Katharina Blum“ diskutieren konnte. Viele meiner bevorzugten Schriftsteller waren oder wurden später Literatur-Nobelpreisträger.

Apropos Literaturnobelpreisträger. Auch der erst 2019 ausgezeichnete und oft nur schwer lesbare Peter Handke gehörte dazu. Als das Nobel-Komitee seinen Namen in den Medien bekannt gab, fiel mir sofort die folgende Geschichte ein.

1972 erschien sein neuestes Buch „Der kurze Brief zum langen Abschied“, und ich wollte es unbedingt haben. Daran konnte auch die Reiberei mit meinem Favoriten Grass nichts ändern, bei der Handke den in Princeton anwesenden Gruppe-47-Dichtern „Beschreibungsimpotenz“ vorgeworfen hat und daraufhin Grass „um bessere Feinde“ gebeten hatte. Ich wollte das Buch also haben, zumal es als Taschenbuch angekündigt war und somit meinem Budget entsprach. So machte ich mich auf, die Straße runter in unsere Buchhandlung. Der „Budow“, wie wir sie einfach nur nannten, war und ist wahrscheinlich auch heute noch eine Institution in Marktredwitz. Auf Frau Budow, die Inhaberin der Buchhandlung, konnte man sich verlassen. Sie kannte mich auch sehr gut, weil ich öfter bei ihr vorbeischaute, und sie hatte immer einen Buchtipp für mich bereit. Dieses Mal wusste ich aber genau was ich wollte, das Taschenbuch von Peter Handke. Sie hatte es nicht vorrätig und fragte, ob sie es bestellen solle. Ich stimmte zu und holte es einige Tage später bei ihr ab. Sie legte es auf den Ladentisch, ein Hochglanz-Taschenbuch, schwarz, darauf der in weißen Lettern geschriebene Titel und eine in zarten Farben gemalte Gebirgslandschaft am Meer. Ich nahm es in die Hand, drehte und wendete es. Es gefiel mir sehr. Frau Budow meinte: sechzehnachtzig. Sechzehnachtzig für ein Taschenbuch? Ich hatte mir noch kurz vorher eines von Handke gekauft, auch vom Suhrkamp-Verlag, und ich bezahlte fünf D-Mark. Mir mussten die Gesichtszüge ordentlich entglitten sein. Ich wusste in diesem Augenblick gar nicht, ob ich überhaupt so viel Geld eingesteckt hatte. Und der Betrag war im Vergleich zu meinem „Gehalt“ als Fachoberschüler schon heftig. Frau Budow sah es mir sofort an und bot mir an, es hier zu lassen. Ich brauche es nicht mitzunehmen. Das ließ ich mir aber nicht nachsagen, zahlte und steckte es ein.

Was mir zum Thema Handke auch noch einfällt, ist das Spiegelinterview mit Reich-Ranicki vom 4.10.1999, wo es um den Nobelpreis für Günter Grass ging. Er meinte, Deutschland sei einfach mal wieder dran gewesen und nun solle man sich vorstellen, Martin Walser wäre der Preis zugefallen: „Das wäre ein schwerer Schlag für mich. Oder gar dem dümmlichen Peter Handke! Eine Katastrophe.“ Fand ich irgendwie amüsant.

Auszug aus einem Kapitel aus meinem biografischen Roman “August und ich”.

https://www.bod.de/buchshop/august-und-ich-werner-haussel-9783751950992


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Der Mond und das Mädchen

Veritables Fiasko

Als letzter der als ‹Frankfurt-Zyklus› bezeichneten fünf Romane von Martin Mosebach hat der 2007 erschienene Band «Der Mond und das Mädchen» von der Verleihung des Büchnerpreises an den Autor profitiert. Im Feuilleton wurde sein eigentlich zutreffender als Novelle anzusehendes Buch allerdings überwiegend negativ besprochen, der sich selbst als Reaktionär bezeichnende, konservative Autor war und ist literarisch heftig umstritten.

Erzählt wird die Geschichte eines frisch vermählten, jungen Paares, das aus beruflichen Gründen von Hamburg nach Frankfurt am Main zieht, wo Hans nach dem Studium seine erste Stelle als Banker antritt. Sein vielversprechender neuer Job hindert ihn daran, mit Ina auf Hochzeitsreise zu gehen, und so reist sie mit ihrer verwitweten Mutter allein nach Ischia, während Hans sich derweil auf Wohnungssuche begibt. Nach vielen desillusionierenden Besichtigungen mietet er schließlich kurz entschlossen eine wenig attraktive, teilmöblierte Wohnung im vierten Stock eines Altbaus an einer verkehrsreichen Straße, in Nähe des Hauptbahnhofs gelegen. Unmittelbar nach ihrer Rückkehr erleidet Ina einen Schock, als sie bei der Besichtigung der neuen Wohnung in ihrem künftigen Schlafzimmer eine verendete Taube findet, die sich wohl während des Gewitters dorthin verirrt hatte und nicht mehr hinaus fand, – für sie ein böses Omen! Da sie als Kunsthistorikerin noch keinen adäquaten Job gefunden hat, macht sie sich erstmal voller Elan und mit viel Geschick an die Einrichtung der provisorisch renovierten Wohnung. Danach aber fühlt sie sich nicht nur unausgelastet, sondern auch sehr einsam in dieser fremden Stadt, sie wird allmählich trübsinnig. Hans beginnt ihr auszuweichen und geht nach Feierabend gerne mal in den Schnellimbiss unten im Haus, den ein Äthiopier bewirtschaftet. Dort trifft sich im Hinterhof eine illustre Gesellschaft, zu der neben dem marokkanischen Hausverwalter Souad mit Frau Mahmoudi auch die Frau des Hausbesitzers gehört, ergänzt um diverse andere trinkfreudige Lebenskünstler und fragwürdige Existenzen. Das im Stockwerk unter ihnen wohnende Paar, ein Kunsthistoriker und eine junge Schauspielerin, lädt die neuen Mitbewohner zu einem Begrüßungstrunk ein, und durch eine Verkettung von Zufällen kommt es zu einem spontanen Seitensprung von Hans mit der Nachbarin, der glücklicher Weise unentdeckt bleibt. Diese Geschichte einer hoffnungsvoll beginnenden Ehe endet damit, dass die mittlerweile völlig desorientierte Ina, von einer ziellosen Wanderung bei Vollmond zurückkehrend, dem bei der Hinterhof-Clique sitzenden Hans eine Bierflasche über den Kopf haut.

Bis hierhin wäre das Buch eine klassische Novelle mit dem gattungstypisch unerhörten Ereignis am Ende. Aber der notorisch konservative Martin Mosebach hat noch eine Seite als letztes Kapitel angefügt, in dem die Schwiegermutter in ihrem Weihnachts-Rundbrief von Hans und Ina berichtet, die jetzt mit zwei Kindern in einer schmucken Villa im Taunus wohnen würden. Den spektakulären Gegensatz dazu bildet vorher das multi-ethnische und durch das Nachbarpaar auch intellektuell-kulturell geprägte Figuren-Ensemble der zuvor erzählten Geschichte. Deren allesamt exotische Figuren ergehen sich in vielerlei Gesprächen und Diskussionen zu persönlichen Problemen und Alltagssorgen ebenso wie zu philosophischen Fragen. Wiederkehrende Thematik bei Mosebach ist auch hier die Stadt, deren unter anderem durch Migration bedingten, ständigen Wandel er mit scharfem Blick für Details schildert.

In diesem ironisch grundierten Roman werden elementare Fragen nach gesellschaftlicher Orientierung aufgeworfen und unverkennbar reaktionär beantwortet, wobei auch mystische Elemente eingeflochten sind. Die unterhaltsame Multikulti-Geschichte mit ihrer Infragestellung der bürgerlichen Ehe wird stilistisch altväterlich und teilweise arg plakativ erzählt. Das unsägliche Ende aber rückt sie ins Kitschige und degradiert sie damit literarisch zum einem veritablen Fiasko.

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Die Schönheitslinie

Verschwendete stilistische Schönheit

Mit seiner homosexuellen Thematik ist «Die Schönheitslinie» des englischen Schriftstellers Alan Hollinghurst der vierte und erfolgreichste seiner sechs allesamt in der Schwulenszene angesiedelten Romane, er bekam 2004 den Booker Prize. «Selten ist die Suche nach Liebe, Sex und Schönheit so exquisit in Romanform gegossen worden», hat die Jury ihre Wahl begründet. Schon im Jahre 2006 wurde das Buch von der BBC verfilmt. In Umfragen des Senders von 2015 unter britischen Kritikern zählte er zu den größten literarischen Werken des Jahrhunderts und zu den 100 bedeutendsten britischen Romanen überhaupt.

Erzählt wird die Geschichte des zwanzigjährigen Nick Guest, ein brillanter Literatur-Wissenschaftler aus einfachen Verhältnissen, der bei den wohlhabenden Eltern seines Kommilitonen und besten Freundes Toby ein Zimmer im vornehmen Londoner Stadtteil Notting Hill bekommt. Er wird im Haushalt des Tory-Abgeordneten Fedden, dem Ambitionen auf ein Ministeramt nachgesagt werden, wie ein Familienmitglied freundlichst aufgenommen. Nick revanchiert sich, indem er sich um die manisch-depressive Tochter Catherine kümmert, die neunzehnjährige Schwester von Toby. Die in drei Teile für die Jahre 1983, 1986 und 1987 gegliederte Geschichte, einer Zeit also, als der Thatcherismus in voller Blüte stand, schildert aus der Perspektive von Nick detailliert die Verhältnisse in der Upper Class der britischen Gesellschaft. Ein zweites Themenfeld ist die sich abzeichnende homosexuelle Orientierung, die den Romanhelden trotz der Bedrohung durch Aids in ihren Bann zieht. Eine erste Kontaktanzeige beschert ihm gleich zu Beginn des Romans erstmals einen «Arschfick» mit einem wunderschönen Schwarzen. Man schämt sich als Rezensent, hier so unverblümt und abstoßend zu zitieren. Der Roman selbst allerdings ist da noch wesentlich deutlicher und walzt das Thema völlig ungeniert und in sämtlichen Details vor dem Leser aus. Für Heteros mag das ein hinreichender Grund sein, von einer weiteren Lektüre abzusehen, deswegen der Hinweis!

Die ebenfalls vorhandene und dominante, gesellschafts-kritische Ebene des Romans allerdings bietet mit vielen intellektuellen Charakteren einen bereichernden Einblick in die kultivierte Oberschicht des Inselstaates. Stilistisch elegant offenbart der stark von Henry James geprägte Autor menschliche Schwächen und moralische Abgründe seines umfangreichen, für den Leser oft kaum auseinander zu haltenden Figuren-Ensembles, deckt latente Klassen-Unterschiede auf und beleuchtet die politischen Ränkespiele um Macht und Ansehen. Nicks Aufstieg in die Upper Class macht ihn zum eitlen Dandy, sein Weg nach oben ist als Gesellschaftsroman ein Sittenporträt der Thatcher-Ära. Er ist gleichermaßen aber auch der klassische Entwicklungs-Roman eines kosmopolitisch geprägten Emporkömmlings, der es weit bringen will und sich selbstbewusst einen Platz in der Londoner Highsociety sichert. Das geht so weit, dass er auf einer Party wie selbstverständlich die Eiserne Lady zum Tanz auffordert. Als Ästhet verachtet er allerdings die Stillosigkeit, mit der Vulgarität und moralische Heuchelei die Oberhand gewonnen haben bei den Torys. Die unter der pompösen, glatt polierten Oberfläche aufgebauten Spannungen entladen sich, als die Karrierepläne des Tory-Abgeordneten Fedden nicht zuletzt wegen Nick einen gehörigen Dämpfer erhalten.

In diesem aus schwuler Sicht erzählten, unverkennbar ironisch gefärbten Roman feiert die titelgebende Schönheit vor allem als makellose, vor Geist sprühende, fein geschliffene Sprache wahre Triumphe. Die Kunst des englischen Understatements verhindert hier zudem ein allzu drastisches Ende, der plötzliche Umbruch wird distanziert beschrieben und äußerst diskret zu einem unaufgeregten Ende geführt. Das wäre allerdings schon einige hundert Seiten vorher sinnvoll gewesen, der dürftige Erzählstoff ist viel zu breit ausgewalzt, die stilistische Schönheit wurde hier an einen eher dürftigen Stoff verschwendet.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Heyne München

Die wahre Geschichte von Ned Kelly

Robin Hood in Australien

Für seinen Roman «Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang» erhielt der australische Schriftsteller Peter Carey 2001 den Booker Prize. Der als bedeutendster lebender Autor seines Landes angesehene Romancier ist damit einer der vier Autoren die den seit 1969 vergebenen Buchpreis zweimal erhalten haben. Wie fast immer bei diesem Autor ist sein Roman inhaltlich auf seine Heimat bezogen hier auf den legendären 1854 geborenen ‹Staatsfeind› Ned Kelly der zu den als Bushranger bezeichneten Outlaws gehörte. Solch berühmte historische Figuren werden ja gern wie auch in dieser fiktiven Autobiografie zum Robin-Hood-artigen Volkshelden verklärt Ned Kelley habe sich ja nur gegen die Willkür der verhassten Kolonialbehörden aufgelehnt. Diesen nationalen Mythos hat der Autor durch seinen Roman auch international bekannt gemacht.

In 17 als Päckchen bezeichnete ‹Papierbögen› unterteilt schildert der Romanheld tagebuchartig seiner Tochter die ihn nie kennen gelernt hat seine «wahre Geschichte». Als Sohn irischer Einwanderer die als Squatter genannte Farmer ein armseliges Leben am unteren Ende der sozialen Hierarchie fristen muss Ned schon mit zwölf Jahren als Halbwaise in dem vaterlos gewordenen Haushalt mitarbeiten. Seine Mutter von ihm über alles geliebt bessert mit dem Verkauf von selbst gebranntem Schnaps und gelegentlichen Liebesdiensten an zweifelhaften Mannsbildern die meist leere Haushaltskasse ein wenig auf. Einer von ihren Freiern ist der legendäre Harry Power der Ned auf ihren Wunsch hin unter seine Fittiche nimmt bei ihm soll er das Handwerk des ‹Bushrangers› lernen. Nach diversen Gaunereien und Viehdiebstählen bei den Reichen die er mit einigen ihm treu ergebenen Ganoven mit seiner Gang gemeinsam begeht erschießt er bei einem Schusswechsel einen Polizisten und wird fortan von einem wachsenden Aufgebot der Polizei verfolgt. Durch einen raffiniert ausgetüftelten Bankraub in den er die ganze ihm wohlgesinnte Bevölkerung einer Kleinstadt als Publikum mit einbezieht verschafft er sich das benötigte Geld für seine geplante Auswanderung. Dazu kommt es aber nicht mehr denn die Behörden schicken schließlich eine ganze Hundertschaft Polizisten mit der Eisenbahn in die kleine Stadt wo es dann in bleihaltiger Luft zum Showdown kommt.

Peter Carey hat seine in Briefform angelegte fiktive Autobiografie in einer seinem ungebildeten Helden angemessenen Sprache verfasst um größtmögliche Authentizität vorzutäuschen. Und so finden sich in seinem Text außer den Punkten an den Satzenden weder Kommata noch sonstige Satzzeichen. Was beim Lesen zunächst mal irritierend ist obwohl man sich daran gewöhnen kann diese Rezension mag als Beispiel dafür dienen. Durch eingestreute Zeitungsberichte und schriftliche Eingaben an die Behörden wird der beabsichtigte Realitäts-Effekt noch verstärkt. Ned Kelly wird psychisch als weitgehend emotionsloser Typ dargestellt der außer seiner mit ihm ödipal verbundenen Mutter für die er wirklich alles tut niemanden vorbehaltlos liebt nicht mal seine Frau.

In der Frage ob Ned Kelly ein verabscheuungswürdiger skrupelloser Verbrecher ist oder eine Art selbstloser Freiheitskämpfer für die unterdrückte irische Minderheit nimmt der Autor deutlich die Position seines Ich-Erzählers ein. Er relativiert dessen Taten als moralisch vertretbar als eine durch den Unrechts-Staat selbst heraufbeschworene politische Revolution der sich ja auch viele Gleichgesinnte angeschlossen hätten er stilisiert ihn damit quasi als Opfer. Der mit seinem abenteuerlichen Geschehen an Western erinnernde Roman ist unterhaltsam und historisch bereichernd auch wenn er zuweilen satirisch überzeichnet scheint. Man könnte zum Beispiel die eisernen Rüstungen der Bande beim letzten Gefecht so deuten wird im Internet aber eines Besseren belehrt. Neds von Kugeln zerbeulter Schutzpanzer kann tatsächlich als Kultgegenstand in einem Gefängnis-Museum besichtigt werden.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Erbin des verlorenen Landes

Postkoloniale Lethargie

Mit ihrem zweiten Roman «Erbin des verlorenen Landes» gewann die indischstämmige Schriftstellerin Kiran Desai 2006 den britischen Booker Prize. Darin zeichnet sie ein nüchternes, deprimierendes Bild der indischen Gesellschaft, wovon schon der Buchtitel kündet. Die nach China zweitgrößte Nation der Welt wird im Umbruch zwischen archaischen Traditionen, nachwirkendem Kolonialismus und überfordernder Globalisierung am Beispiel von Menschen aus den unteren sozialen Schichten beschrieben.

Zeitlich ist dieser resignative Roman Mitte der 1980er Jahre angesiedelt, Handlungsort ist Kalimpong, eine kleine Stadt im Distrikt Darjeeling des Bundesstaates Westbengalen. Historischer Hintergrund ist der Aufstand der Gurkhas, und es beginnt denn auch gleich dramatisch mit einem Überfall der Rebellen auf einen pensionierten Richter, der mit seinem Koch in ärmlichsten Verhältnissen in einem abgelegenen, verfallenen Haus lebt. Die magere Beute der jungen Aufständischen aus Nepal sind drei uralte, nicht mehr brauchbare Gewehre, ansonsten ist dort nichts zu holen für sie. Der wortkarge, desillusionierte Jurist hatte in Cambridge studiert, heute spielt er Schach mit sich selbst und lebt völlig zurückgezogen. Er hat seine 17jährige Enkelin Sai bei sich aufgenommen, die als Waise eine strenge christliche Klosterschule mit grotesken Erziehungsmethoden besucht hatte. Darunter hat sie sehr gelitten und sich beim Großvater dann wieder in ein naives Naturkind zurückverwandelt, das sich als «Erbin des verlorenen Landes» fühlt. Um sie in Mathematik und den Naturwissenschaften weiterzubilden, engagiert der Richter den Hauslehrer Gyan. Prompt verliebt sich die pubertierende Sai in den schüchternen jungen Mann. Doch aus all ihren Blütenträumen wird nichts, denn Gyan schließt sich den Aufständischen an, deren Ziele er für legitim hält. In einer zweiten, in New York angesiedelten Handlungsebene wird alternierend vom Sohn des Kochs berichtet, der sich als illegaler Migrant mit ständig wechselnden Gelegenheitsjobs durchschlagen muss. In den Briefen an den Vater schreibt er von seinem Glück in der Neuen Welt und gaukelt dem alten Mann Erfolge vor, lebt in Wahrheit aber im unsäglich primitiven Milieu der Tellerwäscher, ohne jede Chance auf Besserung.

Dieses kunstvoll komponierte Panorama eines Indiens der trügerischen Idylle erzählt von naiven Illusionen, die zu desillusionierenden Irritationen seiner Protagonisten führen. In einer derart veränderten Welt können sie sich nicht mehr zurechtfinden. Sie trauern einer Vergangenheit nach, in der die grandiose Natur und die vitalen Lebensansprüche der in ihr lebenden Menschen harmonisch in Einklang zu sein schienen. Diese Ursprünglichkeit ist verloren gegangen, und die heraufziehenden Veränderungen verheißen nichts Gutes für die kleinen Leute, sie fühlen sich politisch und ökonomisch abgehängt, für sie ist die Welt aus den Fugen geraten. Entstanden ist dieser Frust nach dem Abzug der Briten, dessen befreiende Wirkung nicht zu mehr Würde für die untersten Schichten geführt hat, der sie vor allem aber auch nicht aus ihrem Elend befreit hat.

Der postkolonialistische Roman entwickelt sich fragmentarisch aus vielen, rasch wechselnden, kurzen Szenen, wobei das Augenmerk der auktorial erzählenden Autorin weniger auf ihren Protagonisten ruht, deren Lebenslinien sie miteinander verknüpft, als auf der exotischen Szenerie, in der sie sich durchs Leben schlagen müssen. Dieses Kaleidoskop lebensbunter Bilder überdeckt allerdings das bedauerliche Fehlen einer politischen Würdigung der geschilderten Begebenheiten sowohl in Indien wie auch in den USA. Es wird unterstellt, dass alles schicksalhaft miteinander verbunden und historisch vorbestimmt sei, was dann auch die Lethargie der als selbstgenügsam dargestellten Bevölkerung erklären soll. Störend sind aber vor allem die vielen Klischees, die hier bedient werden, wobei deren überreichlich vorhandenes Ekelpotential das Lesen alles andere als erfreulich macht.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Berlin Verlag Berlin