Hinterher. Liebeskummer. Wie kann man sowas überhaupt überleben? Wer dachte dieses Lebensgefühl, Liebeskummer, sei nur ein Problem von Pubertierenden wird in “Hinterher” eines besseren belehrt. Im Debüt des in Hannover geborenen Finn Job wird dem guten alten Liebeskummer ein trashiges und gleichzeitig intellektuelles Denkmal gesetzt, das so richtig reinhaut. Ein Roman wie ein Film, kurz und schmerzlos und direkt in die Arterien. So mag man Literatur.
Wir Kinder von Neukölln
Chaim, die große Liebe von “Boy”, wie ihn sein Freund Francesco liebevoll nennt, hat sich nach Israel abgesetzt. Boy bleibt allein in Berlin-Neukölln zurück und wird von einem Fahrrad angefahren, das ihm seine missliche Lage erst so richtig zu Bewusstsein bringt. Als im selben Moment Francesco mit dem Porsche Cayenne seiner Mutter um die Ecke schießt, steigt Boy ein und es beginnt ein abenteuerlicher Roadtrip in die Normandie. Dort soll er für Gédéon, einem Freund Francescos, ein altes Hotel wieder herrichten. Stattdessen hilft er dann aber Francesco, der eine verfallene Kirche mit Alufolie verkleiden will, um damit eine ganz bestimmte Botschaft zu transportieren. Da die beiden aber schon während ihrer Autofahrt in die Normandie nicht zu koksen aufhören konnten, gelingt schließlich weder das eine noch das andere Projekt.
Dem Leben & der Liebe “Hinterher”
Dazwischen erfährt der Leser viel über die Diskurse in der sich die Neuköllner junge Erwachsenenwelt befindet. Dass Schwulsein in Neukölln immer noch ein Problem zu sein scheint und es besser ist, sich dort nicht auf der Straße zu küssen, müssen Chaim und Boy am eigenen Leib verspüren. Aber dass dann selbst die eigene WG zum “Pack” gehört, das andere aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ausgrenzt, wiegt noch schwerer. “Pack” ist nämlich genau das Wort, das Boy für ihre Verfolger verwendet und auch ihn aus dem Kreis seiner politisch (über)korrekten Freunde ausschließt. Auch deswegen versprach die Flucht mit Francesco in die Normandie ein neues L’Chaim, ein neues “Leben”.
Wilde Flucht im Cayenne
“Il n’y a pas de hors-texte“. Als dann die Drogen ausgehen – oder zumindest deren Qualität nachlässt – wird alles noch viel schwieriger und es gibt bald kein Entrinnen mehr. Dass man mit Anfang zwanzig schon so kaputt sein kann, ist kaum zu glauben, aber wohl in den Großstädten dieser Welt längst bittere Realität, wie wir ja schon seit Christiane F. wissen, die sogar noch viel jünger war, als sie auf den berühmten Hund kam. Finn Job hat seine surreale Reise in einer packenden Sprache geschrieben, die richtig über die Seiten fliegen lässt und bis zur letzten Sekunde spannend und hochtrabend bleibt. “Es war, als hätte ich mein Leben angehalten und wäre dennoch sehr alt geworden.” Finn Job bezieht sich nicht nur auf die aktuelle Populärkultur wie Songs u.ä., sondern auch viele literarische Vorbilder und kennt auch einige gute Maler.
Hinterher: vielversprechendes Debüt
Seine Referenzen sind gut nachvollziehbar und lohnen dem Nachverfolgen. Einer, der seine Hausgaben gründlich gemacht hat. Denn seine sprachlichen Bilder sitzen auch farblich. Er begibt seine Protagonisten in absurde und aberwitzige Situationen und es ist ein wahres Vergnügen, dabei förmlich zuzusehen, wie den beiden alles entgleitet. Vieles mag als purer Zynismus abgetan werden, aber hat ein Mensch, der vor enttäuschter Liebe buchstäblich zerbricht, nicht jedes Recht der Welt?
Ein Roman-Ende das förmlich nach einer Fortsetzung schreit. Bitte mehr!
Finn Job
Hinterher. Roman
2022, 192 Seiten. Klappenbroschur
ISBN 978-3-8031-3348-9
Wagenbach Verlag
Buch 22,– € / E-Book 18,99 €