Die Autorinnen sind im Alter der Enkeltöchter von Else und sie schreiben einer Oma diese Hommage, die Kapitel erstrecken sich abwechselnd, von den 1960er Jahren bis 2010. Weiterlesen
Archiv
else
Der große Bagarozy
Die Callas und Mephisto
Der Teufel in Menschengestalt ist spätestens seit Goethe eine beliebte Thematik, Helmut Krausser hat sich in seinem Roman «Der große Bagarozy» dem Fauststoff auf eine sehr originelle Art angenommen. In einem aberwitzigen Konstrukt lässt er ihn in seinem Plot sogar in die Gestalt eines Pudels schlüpfen, eine Reverenz an das grandiose literarische Vorbild. Mit leichter Hand betreibt der Autor ein mystisches Spiel um Themen wie Schuld und Lüge, Vernunft und Wahn. Im Mittelpunkt steht die Diva Assoluta der Opernwelt, Maria Calles, als unvergesslicher Sopran weibliches Pendant zum ebenfalls unvergessenen Tenor Enrico Caruso im Olymp der Sangeskünstler.
Die37jährigen Psychiaterin Dr. Cora Dulz, die über «obsessions-bedingte Detail-Überinterpretation» promoviert hat, steckt in einer Sinnkrise. Zwei ihrer Patienten haben erst kürzlich Suizid begangen, trotz aller ihrer Bemühungen, sie von ihrem Wahn zu befreien. Nun erscheint eines Tages Stanislaus Nagy in ihrer Praxis, den sie von seiner Obsession für Maria Callas befreien soll. Abgeklärt wie sie ist nach vielen Jahren als Psychotherapeutin, sind die Therapiesitzungen für sie nur «Talkshows», und die Patienten bezeichnet sie insgeheim nur noch als «Mängelexemplare». Der neue Patient nun stellt sich nach ein paar Sitzungen als der leibhaftige Teufel vor, der die ‹Göttliche› ein Leben lang begleitet, ihre Nähe und ihre Zuneigung gesucht habe. Er habe ihre Karriere gefördert wo er konnte, habe keinen ihrer Auftritte je versäumt, habe alle ihre Triumphe miterlebt, erzählt er. Nach ihrem tragischen, altersbedingten Niedergang von der Höhe ihrer Kunst habe er zerstörerisch mitgewirkt und sich regelrecht geweidet an ihren langen Qualen und dem frühen Tod. Ein Teufel eben, – der nun allerdings, mit der Hilfe von Dr. Cora Dulz, ein normaler, sterblicher Mensch werden will.
Nach einigen Sitzungen trifft sie ihren Patienten spätabends zufällig in einem Café. Sie folgt ihm spontan auf seinen Vorschlag hin, mit ihm in ein nachts menschenleeres Kaufhaus zu gehen, in dem er als Hausdetektiv arbeitet. Später besucht sie ihn in einer Aufführung, wo er als Zauberer unter dem Namen «Der große Bagarozy» auftritt. Sie begeht also den unverzeihlichen Kunstfehler, mit Patienten privat Kontakt aufzunehmen. Aber Nagy hat sie mit seiner überlegenen Art völlig in Bann gezogen, sie ist ihm inzwischen regelrecht verfallen, wie sie bestürzt feststellt. Sie wünscht sich, wie Dr. Faustus, den Teufel sogar leibhaftig herbei als Komplizen! Der attraktive Nagy übt auf sie auch einen erotischen Reiz aus, dem sie nicht widerstehen könnte, – wenn er denn nur wollte. Ihre kinderlos gebliebene Ehe ist nämlich langweilig geworden, sie ist tatsächlich eine «zu beiderseitigem Nachteil verheiratete Frau», wie es im Roman ironisch heißt. Gefangen in einem sinnentleerten, reizlosen Spießerleben, machen ihr die langen, kontemplativ ergiebigen Diskussionen mit Nagy inzwischen die erschreckende Trivialität ihres eigenen Lebens in voller Härte bewusst.
Bernd Eichinger verfilmte diesen originellen Stoff erfolgreich unter gleichem Titel. Der Roman ist einerseits eine Hommage an Maria Callas, deren Leben hier aber nur skizziert wird in Hinblick auf die Problematik des Ruhmes und eines einseitig der Kunst gewidmeten Lebens. Es ist eine überaus pfiffige Idee des Autors, dieses spektakuläre Künstlerleben mit dem berühmten Teufelspakt zu verbinden. Wobei Nagy als Teufel nie ein Wort mit seiner Muse gesprochen hat und Berührungen von ihr einzig dann genießen konnte, wenn sie ihn, als ihren schwarzen Pudel, gedankenverloren gestreichelt hat. Der angenehm lesbare Roman ist gleichzeitig eine harsche Kritik an der überwiegend geistig anspruchslosen, aber zu Gewalt und Krieg neigenden Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit allerlei kurzen, journalistischen Einschüben über originelle Todesarten und etlichen Fotos aus dem Spielfilm angereichert, ist dieser Roman eine kurzweilige, amüsante und oft sogar recht nachdenklich machende Lektüre.
Fazit: lesenswert
Meine Website: https://ortaia-forum.de
Dalí. BABY SUMO
Dalí. BABY SUMO. Sein aufgezwirbelter Schnurrbart wurde zum Synonym einer Geisteshaltung, die sich gleichzeitig über etwas mokiert und dabei verschmunzelt lächelt. Die Rede ist natürlich von Salvador Dalí und dem Surrealismus, einer Kunstrichtung die über das Reale hinaus nach den Träumen und dem Unbewussten forschte.
Traum und Wirklichkeit
Beeinflusst von Sigmund Freud und seiner Psychoanalyse sammelte André Breton Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreich Künstler der verschiedensten Ausrichtungen um sich und gab ihnen einen politischen Touch. Die Welt und deren Bewusstsein sollte verändert und radikalisiert werden, um einen weiteren Weltkrieg zu verhindern. Dass dies nicht gelang, sondern ein noch viel schrecklicher Weltenbrand den Planeten verwüstete ist bekannt. Anders als andere Köpfe der Bewegung arrangierte sich Salvador Dalí mit dem Falangismus seiner Heimat, der spanischen Ausprägung des Faschismus unter “Caudillo” Francisco Franco Bahamonde. Gleichzeitig schuf Dalí aber auch eines der beständigsten und bekanntesten Werke des Surrealismus. Seine weichen Uhren, brennenden Giraffen und Hummertelefone zieren längst Werbekataloge, Poster oder sogar Polster und jeder kennt Dalí von dem der Satz “Le surrealisme: c’est moi” stammen könnte.
Dalí. BABY SUMO
Die vorliegende Collector’s Edition, limitiert auf 10.000 nummerierte Exemplare, widmet sich dem gesamten Werk des “Titanen der modernen Malerei”, als Performer, Designer und Visionär. Die Publikation präsentiert sein Werk im Format 36,7 x 50 cm und einem Detailreichtum, den man selten findet. Eine Chronologie, die mit Fotos, Skizzen und Magazinseiten seinen Weg von Katalonien über Paris nach Hollywood und zurück nach Hause dokumentiert geleitet durch das Werk eines der größten surrealistischen Künstler der Moderne. In seinem Spätwerk widmete er sich übrigens der klassischen Kunst und aktualisierte die Bildwelt der Renaissance in monumentalen Visionen, darunter auch stille, persönliche Hommagen an Michelangelo und Velázquez.
Dalí’s Lebenswerk in zwei Bänden
Die Reihe SUMO des TASCHEN Verlages schrieb schon 2005 – mit der Herausgabe eines monumentalen Bildbandes zum Werk des Fotografen Helmut Newton – Geschichte. Die Reihe “Baby SUMO” ist zwar nicht ganz so groß, aber ebenso monumental. Denn gezeigt werden in zwei Bänden Dalís wichtigste Werke in einer bisher in Druckform noch nie dagewesenen Größe und Detailtreue sowie ein Chronologieband mit Texten von Montse Aguer und Carme Ruiz von der Fundació Gala-Salvador Dalí in Figueres, der Heimatstadt des Künstlers. In Bezugnahme auf die neuesten Forschungsergebnisse erzählen die für diese Monumentalausgabe beauftragten Autorinnen die Geschichte der Kunst und des Künstlers mit zahlreichen Zitaten aus seinen eigenen Schriften, Briefen und zeitgenössischen Rezensionen, illustriert mit seltenen und ikonischen Porträtaufnahmen, Zeitschriftenartikeln, Skizzen und Buchillustrationen sowie weiteren Werken in verschiedenen Medien.
Galadîner mit Gala
Natürlich wird auch sein Verhältnis zu seiner Muse, die er in zahlreichen Gemälden – etwa dem Letzten Abendmahl – verewigte geklärt und beschrieben. Gemeinsam siedelten sie nach Amerika um, wo Dalí zu einer öffentlichen Persönlichkeit wird, in den Medien und auf den Society-Magazinseiten präsent ist. Er wirkte dort auch bei Theater- und Modeprojekten mit, ließ sich seinen zum Markenzeichen stilisierten legendären Schnurrbart wachsen und diniert in Hollywood mit Hitchcock und Disney. Nach dem Krieg inszenierten sich die beiden wieder in Spanien als Künstler, die Hof hielten und im Dalí-Theater-Museum in Figueres ein eigenes Vermächtnis schufen. „Ich habe nie versucht, meine Bilder zu erklären, aus dem einfachen Grund, dass ich sie selbst fast nie verstehe.“, so der Künstler in klassisch surrealistischer Manier über sein eigenes Werk
Hans Werner Holzwarth
Dalí. BABY SUMO
Collector’s Edition von 10.000 nummerierten Exemplaren
2025, Hardcover, 36,7 x 50 cm, 438 Seiten; mit Goldschnitt, Ausklappseiten, Goldprägung auf Titel- und Kapitelseiten, sowie einem 40-seitigen Begleitheft mit Abbildungsverzeichnis, 22 x 28,9 cm; in einer Clamshell-Box, 41 x 56,2 cm, gebunden in schwarzem Samt mit Goldfolienprägung und Tip-In; plus Chronologie mit Leineneinband, 22 x 28,9 cm, 624 Seiten; Gesamtgewicht 16 kg
Ausgabe: Englisch
TASCHEN Verlag
ISBN 978-3-8365-5281-3
€ 1.000
Fegefeuer der Eitelkeiten
Am Ende gibt es fast nur Verlierer
Als typischer Vertreter des mit fiktiven Elementen angereicherten ‹New Realism› erzielte der erfolgreiche US-amerikanische Journalist Tom Wolfe mit seinem Debütroman «Fegefeuer der Eitelkeiten» auch in fiktionalen Gefilden einen Durchbruch als Romancier. Dieser Bestseller gilt als der bekannteste und wichtigste seiner vier Romane, er wird zudem neben «American Psycho» auch als exemplarischer New-York-Roman der 1980er Jahre angesehen. Sehr früh schon wurde er mit Tom Hanks und Bruce Willis in den Hauptrollen auch verfilmt. Der Plot ist während des Börsenbooms in der Regierungszeit von Präsident Ronald Reagan angesiedelt. Thematisiert wird die aus dem extremen Materialismus resultierende, moralische Verwahrlosung der US-amerikanischen Gesellschaft, für die gerade der Moloch des Big Apple einen idealtypischen Schauplatz darstellt. Der Romantitel spielt auf den berühmten Bußprediger Girolamo Savonarola an, der Jugendliche in Scharen durch Florenz ziehen lies, um alles zu beschlagnahmen, was im religiösen Sinne als eitel und unzüchtig galt, – und somit also auch als Beleg für die Verkommenheit des Menschen. All das gesammelte Teufelszeug, Bücher und Bilder vor allem, wurde in den Jahren 1497/98 als Zeichen der Reue auf riesigen Scheiterhaufen öffentlich verbrannt.
Der mit Prolog und Epilog in 31 Kapiteln erzählte, dickleibige Roman beginnt mit der detaillierten Schilderung einer total aus dem Ruder gelaufenen Veranstaltung des New Yorker Bürgermeisters. Der wichtigste Protagonist dieses Plots ist der neureiche, 38jährige Börsenmakler McCoy, der mit hysterischer Frau und verwöhnter Tochter in einer pompösen Wohnung an der Park Avenue wohnt. Er ist ein elitärer Vertreter des ‹White Anglo-Saxonian Protestant›, der sich mit seiner Geliebten aus den Südstaaten in einer angemieteten kleinen Wohnung als Liebesnest trifft. Gegenpart ist der in jeder Hinsicht frustrierte Staatsanwalt Kramer, dessen einst attraktive Frau ihn mit der Geburt eines Kindes für immer an die Familie gebunden hat. Und damit hat sie auch seine Bodybuilder-Ambitionen durchkreuzt und ihn, wie er glaubt, für fremde Frauen unattraktiv gemacht. Er hadert aber auch damit, dass er zu wenig verdient, und beneidet seine ehemaligen Studienkollegen, die längst in Anwaltskanzleien Karriere gemacht haben und nun geradezu im Geld schwimmen. Ein weiterer Protagonist ist der britische Journalist Fallow, der wenig erfolgreich bei einer New Yorker Boulevardzeitung arbeitet und sich durchschnorrt bei allerlei Veranstaltungen.
Eines Abends holt McCoy seine Geliebte vom Flughafen ab, verirrt sich dabei in der Bronx und wird dort in einer Auffahrt auf den Highway von zwei farbigen Jugendlichen gestoppt, die ihn ausrauben wollen. Als seine Geliebte, die sich bei seiner Rangelei mit den Ganoven ans Steuer gesetzt hat, in Panik losfährt, berührt der Mercedes einen der beiden, der dadurch umgestoßen wird. Sie begehen Fahrerflucht und melden den Unfall auch später nicht, da das nur zu Komplikationen führen würde. Die Frau von McCoy kommt ihm schließlich mit der Geliebten auf die Schliche, und ein Erfolg versprechender Wertpapier-Deal, mit dem er seine finanziellen Probleme zu beenden hofft, scheitert kläglich. Ein Reverend macht den Unfall mit Hilfe des Journalisten Fallow zu einer Sensation, eine Hexenjagd auf McCoy beginnt. Der Polizei ist es nämlich gelungen, ihn als Besitzer des Mercedes-Sportwagens und mutmaßlichen Fahrer zu identifizieren, und Staatsanwalt Kramer erhofft sich von dem spektakulären Prozess einen Karriereschub. Am Ende aber gibt es fast nur Verlierer!
Dieser spannende Roman ist in einem journalistisch knappen, nüchternen Stil geschrieben, wobei die vielen protokollartig anmutenden Dialoge und die Passagen mit erlebter Rede durch ihren satirischen Ton gekennzeichnet sind. Sehr gelungen sind auch die verschiedenen Jargons, in denen da geredet wird, der Slang von Polizei und Justiz wird geradezu parodiert, und auch das Fachchinesisch der Börsenmakler und die Idiome der schwarzen Ghettobewohner sind stimmig. Eine bereichernde Lektüre mithin, bei der es einem über mehr als neunhundert Seiten hinweg nie langweilig wird!
Fazit: erstklassig
Meine Website: https://ortaia-forum.de
Der heilige Skarabäus
Unterhaltsam, aber geschwätzig
Im Jahre 1909 erschienen erstmals der Roman «Der heilige Skarabäus» der in Wien geborenen Else Jerusalem. Er löste bei seinem Erscheinen einen Skandal aus, war er doch mit seiner Prostituierten-Thematik nicht nur moralisch bedenklich für das damalige Lesepublikum, sondern mit seiner unverblümten Gesellschaftskritik auch ein Ärgernis für die ‹bessere Gesellschaft› Österreichs. Gleichwohl (oder gerade deshalb?) musste dieser als ihr Hauptwerk angesehene Milieu-Roman innerhalb von nur zwei Jahren 22 Mal neu aufgelegt werden, er wurde 1928 verfilmt, 1933 dann in Deutschland als unerwünschtes Schrifttum verboten und fiel anschließend den Bücher-Verbrennungen der Nazis zum Opfer. Der in der ägyptischen Mythologie als Glücksbringer geltende Skarabäus ist ein Mistkäfer, mit dem Buchtitel wird also symbolisch darauf hingewiesen, auf welchem Unrat das angestrebte Glück der Huren aufbaut. Die werden hier erstmals nicht mehr als Außenseiter der Gesellschaft dargestellt wie in dem drei Jahre vorher anonym erschienenen, pornografischen Roman «Josefine Mutzenbacher», sondern sie sind für die als Feministin geltende Autorin ein inhärenter Bestandteil der Gesellschaft.
Damit ist der Roman eine wegweisende und hellsichtige Sozialstudie der besonderen Art, der die bedauernswerten Frauen in den Fokus nimmt, die sich aus verschiedenen Gründen prostituieren. Sie also stehen im Vordergrund, werden als käufliche Ware wie Sklavinnen behandelt und suchen ihr Glück meist vergebens. Am Aufstieg und Fall eines Bordells werden hier die ökonomischen Vorbedingungen der käuflichen Liebe exemplarisch verdeutlicht. Auf Korruption der staatlichen Behörden aufbauend wird die Not und Unwissenheit junger Mädchen gewissenlos ausgenutzt für ein äußerst einträgliches Gewerbe, das für alle anderen Beteiligten viel Geld abwirft. Die Mädchen aber kommen meist vom Land und erhoffen sich naiv, viel Geld zu verdienen oder einen reichen Freier zu finden, der sie als Mätresse nimmt, oder besser ehelicht, und aus ihrer Misere erlöst. Aber das gelingt eben nur selten! Erzählt wird von dem einträglichen Mädchenhandel, der über die Landesgrenzen hinaus für «Frischfleisch» sorgt. Das landet dann bei Eignung, also körperlicher Attraktivität und entsprechendem geistigen Niveau, in den noblen Bordellen der Großstadt. In einem Edelbordell wie dem «Rothaus» in Wien müssen die Liebesdienerinnen aber auch regelmäßig ausgetauscht werden, damit die wohlhabenden, geradezu handverlesenen Freier mit stets neuen Attraktionen versorgt werden und nicht gelangweilt zur Konkurrenz abwandern.
Das sprichwörtlich älteste Gewerbe der Welt wird in diesem Gesellschaftsroman aus der Zeit der k.u.k. Monarchie einer hochnotpeinlichen Analyse unterzogen, die dazu beiträgt, die sozialen Missstände offenzulegen und der Gesellschaft die Leviten zu lesen. Angeklagt werden die schikanösen Reglementierungen und das hilflose Ausgeliefertsein der Mädchen an die willkürlich agierende Polizei. Im Mittelpunkt des Geschehens steht Milada, die als ungewünschtes Kind einer Prostituierten aufwächst und nichts anderes kennt als dieses Milieu. Ihr gelingt es aber, sich durch Bildung aus diesem Umfeld zu lösen. Als Erwachsene zieht sie in die Berge, gründet ein Kinderheim und wird zur Ersatzmutter für viele Kinder aus dem Milieu. Damit gleitet dieser Roman am Ende in eine Utopie hinein, die dem Wunschdenken der engagierten Frauenrechtlerin Else Jerusalem entspricht.
Die Figuren des Romans sind allesamt anschaulich beschrieben und als fiktionale Personen durchaus glaubwürdig. Erzählt wird das turbulente Geschehen in einer dem Milieu stimmig angepassten Diktion, die mit mundartlichen Begriffen angereichert ist, was manchen deutschen Leser doch etwas irritieren dürfte. Die erzählerischen Ausflüge in philosophische Themen sind wenig überzeugend, sie sind eher Geschwafel denn Lebensweisheit. Hauptmanko aber dürfte die schiere Länge dieses unterhaltsamen Romans sein, weniger wäre hier mehr gewesen!
Fazit: lesenswert
Meine Website: https://ortaia-forum.de
101 Jahre Der Zauberberg

Ausgabe 2024 (vergriffen)
Der Zauberberg. Letztes Jahr, 2024, jährte sich Manns Jahrhunderroman zum 100. Mal und es erschien eine Geschenkausgabe in Leinen zum 100. Geburtstag. Dieses Jahr, 2025, wäre Thomas Mann am 6. Juni 150 Jahre alt geworden. Ein Grund mehr sein Werk zu lesen und den “Zigeuner im grünen Wagen” hochleben zu lassen.
Die Vorwegnahme der europäischen Katastrophe
“Zigeuner im grünen Wagen” – so nannte ihn sein Vater, der sah, dass sein Sohn vom Schreiben einfach nicht lassen konnte. Noch dazu hatte er gerade ein miserables Schulzeugnis abgeliefert und mir nichts dir nichts Puppentheater gespielt. Aber im Zauberberg ist der bereits 50-jährige Schriftsteller bereits zur Höchstform aufgelaufen und schrieb einen Roman, der für eine ganze Epoche kennzeichnend werden sollte. “Ganz Europa stürzte mir in den Kopf”, soll Susan Sontag über das für sie wichtigste Buch der Epoche einmal geschrieben haben. Für die US-Kritikerin und Schriftstellerin war der Zauberberg gar das wichtigste Buch ihres Lebens. Ganz Europa ist im Roman “große Konfusion”, Ideologien, Überzeugungen und Positionen, die in einem Davoser Sanatorium unversöhnlich aufeinanderprallen werden zum spannenden Dialog und spalten die Zuhörer:innen in Kontrahenten und Zujubelt. Alles ist irgendwie komisch und tragisch zugleich, bis man sich irgendwann nur noch Schlagworte an den Kopf wirft. Wem das – 100 Jahre später – alles sehr bekannt vorkommt, der weiß, dass das Europa von 1924, als der Roman erstmals erschien, sich gar nicht so sehr vom Europa des 2024 unterscheidet. Zumindest was die politische Lage betrifft. Die Katastrophe auf die Europa damals zusteuerte, die Gereiztheit und Gewalt und das Geschwafel der Alphamänner, das unterscheidet sich vielleicht weniger als man hören möchte. Dabei sollte man vielmehr zuhören und weniger reden. Oder noch besser: den Zauberberg lesen.
Ein Jahrhundertroman als Warnung

Ausgabe 2025
Zum 100-jährigen Buchjubiläum gibt es nun diese limitierte Sonderausgabe – dem Anlass angemessen – im schneeweißen, glitzernden Leinen mit eisblauem Farbschnitt, tiefgeprägter Typographie, hochwertigem Vorsatzpapier und Lesebändchen. Der als Novelle geplante Jahrhundertroman mit mehr als 1000 Seiten gilt als einer der großen Romane der klassischen Moderne und ein eindringliches Porträt der europäischen Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Der Einbruch der Katastrophe in eine sicher geglaubte Welt und die Nationalismen, die einen allzu plötzlich in einen Weltkrieg schlittern ließen, als hätte man mal kurz nicht aufgepasst, gehörten zur Tragödie des 20. Jahrhunderts, die nur noch durch den Nationalsozialismus in seiner Grausamkeit übertroffen wurde. Settembrini, Castorp und Naphta sind die männlichen Protagonisten, die gewissermaßen um die Ehre rittern, ein von Krankheit, Tod und Verwüstung bedrohtes Europa allein durch ihre geistigen Dispute zu erretten. Eine gewisse Clawdia Chauchat (man beachte die “claw” und die “chau(d) chat” im Namen) wird zur erotischen Herausforderung für den bisexuellen Castorp, der sich im Sanatorium in sie verliebt und statt den geplanten drei Wochen gleich sieben Jahre am Zauberberg bleibt. Einen Blick und Appetitanrager auf den Roman findet man noch bis 2025 hier!
Thomas Mann
Der Zauberberg
Roman. Geschenkausgabe in Leinen
2024, Hardcover, Sonderausgabe 100 Jahre Zauberberg, 1120 Seiten, 1448 g
ISBN: 978-3-10-397675-5
S.Fischer Verlag
€ 58.-
Heute kein Abschied
“Und jetzt ist er nirgendwo mehr. Jetzt ist er überall.” Der niederländische Autor, Journalist und Historiker legt mit “Heute kein Abschied” einen persönlichen Roman vor, der alle angeht. Denn jeder muss eines Tages von seinen Eltern Abschied nehmen: “Das gehört zum Älterwerden”.
Booze, Beans, Blow and Bad Decisions
Im Falle der der Geschwister Tessel, Moor und Cat ist es der Vater. Ihre Eltern, Elise und Oskar, haben sich vor langer Zeit getrennt. Die langen (beruflichen) Abwesenheiten Oskars in Hollywood, die Sprachlosigkeit und Stille wurden ihr langsam zu viel und so suchte sie Trost in den Armen eines langzeitigen Freundes, Cas. Aber für Oskar brach wohl eine Welt zusammen, denn er hätte sich nie vorstellen, können, dass eine Familie sich so einfach auflösen kann. Immerhin bekam er die Katze, das einzige, was Elise nicht bekam. “Alles würde er geben für eine Brücke, einen Blick, ein Winken, eine Einladung. Warum macht keiner von ihnen den ersten Schritt? Die Jüngste, Cat, wohnte zwar noch eine Weile bei ihm, aber er unterstützte sie dabei, sich bei der NYU zu bewerben. Dort lebt sie als die traurige Nachricht sie erreicht. Aber etwas ist seltsam: Warum hat ihr Vater gerade ihr, der Jüngsten, die Testamentsvollmacht erteilt? Gibt es etwa ein Familiengeheimnis, von dem alle nichts wissen? Und was meinte der Hollywood-Freund ihres Vaters, Gene Grift, mit den 4Bs eigentlich? “Er wollte wirklich wieder nach Amerika. Er hatte das Recht, hinzufliegen, darum ging es, um das Recht zu fliehen, nicht vor ihnen, sondern vor sich selbst.” Ihr Name war: Lucy.
Der Knick in der Kurve
“Die Sixties, der Zeit in der die Luft sauber und der Sex schmutzig war.” War es dieses Jahrzehnt, das die Ehe von Elise und Oskar zerstörte? Die Umwertung aller Werte? Mit einfühlsamen Worten und detailreichen Schilderungen taucht man ein in die Welt der Familie der Van Bohemens und ihres Oberhauptes, des Fotografen Oskar van Bohemen. “Fotografie war für ihn mehr als Journalismus und möglicherweise sogar mehr als Kunst. Sie war eine Methode, die absolute Wahrheit zu zeigen, womit sie sagen wollten: das, was nicht mehr geleugnet werden konnte”. In Rückblenden erfährt man vom Doppelleben der beiden Elternteile, Elise und Oskar, auch von der strengen Kindheit Oskars, dessen Vater ihn den “Knick in der Kurve” nannte und dafür oft bestrafte. In den Sechzigern wurde es dann besser, Oskar hoffte sogar, dass sein leben so bleiben würde wie es war: “Doch das sollte sich als Illusion erweisen, so wie jede Hoffnung, die auf Stillstand beruht”. Auch von den drei Geschwistern erfährt man viele persönliche Dinge und lernt die drei kennen, als ob sie eigene Bekannte wären.
Ein Leben wie im Film in Fotos
Auch eine literaturwissenschaftliche Ebene ergibt sich: der allmächtige Erzähler wird in Cats Studium zum zentralen Angelpunkt. “Nichts macht so einsam wie eine Begegnung”, “Nie Kinder bekommen, bedeutet niemals zu altern”, sind Stehsätze mit Hilfe derer sie ihr Privatleben ad acta legt. “Es ist nicht das Schneiden, das so schmerzt, sondern das Abgeschnittensein”, zitiert Tessel die Dichterin Vasalis. “Die Eltern sterben und man landet in einer elternlosen Welt. Diese Welt scheint identisch zu sein mit der, die man kennt.(…) Das Theaterstück ist dasselbe, aber die Rollenverteilung anders.(…) Man dürfe froh sein, dass das Stück noch eine Weile weitergeht.” Ein Roman wie ein Familienalbum, voller nützlicher Einsichten und vieler zärtlicher Momente. Wie wenig man über Menschen weiß, die man kennt, begreift man oft erst nach ihrem Ableben. “Nicht alles, was endet, ist ein Misserfolg. Nicht alles, was verloren ist, war ein Paradies.” Die drei Geschwister streifen durch ihr Elternhaus, um den Hausrat aufzuteilen und da entdecken sie auch die Kiste, die zu dem kleinen Schlüssel aus Cats Brief passt. Manche sagen das Leben sei ein Film, aber vielleicht hatte doch Oskar recht: “Das Leben besteht aus Fotos“.
Daan Heerma van Voss
Heute kein Abschied
Roman
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
2025/2023, Hardcover, Leinen, 496 Seiten
ISBN: 978-3-257-07325-6
Diogenes Verlag
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80
Salz und sein Preis
Glanzstück der Suspense-Literatur
Mit «Salz und sein Preis» hat die US-amerikanische Schriftstellerin Patricia Highsmith unter Pseudonym 1952 einen lesbischen Liebesroman veröffentlicht, der durch eine persönliche Begegnung inspiriert worden ist, die sie als Verkäuferin in der Spielwarenabteilung eines New Yorker Kaufhauses hatte. Erst achtunddreißig Jahre später hat sie persönlich sich zu dem Roman bekannt und ihn in einer überarbeiteten Version und mit einem ausführlichen Nachwort versehen nun unter dem Titel «Carol» herausgebracht. Im prüden Amerika der McCarthy-Ära befürchtete sie mit Recht einen Entrüstungssturm in der Bevölkerung. Nach ihrem erfolgreichen, von Hitchcock verfilmten Romandebüt «Zwei Fremde im Zug» hatte ihre Kariere gerade erst begonnen, da hätte ein heftig umstrittener zweiter Roman ihr erheblich schaden können.
Erzählt wird die Geschichte der neunzehnjährigen Therese, einer angehenden Bühnenbildnerin, die in ihrem vorübergehenden Job als Aushilfs-Verkäuferin in der hektischen Vorweihnachtszeit eine attraktive Kundin im Nerzmantel bedient, deren Blick sie trifft wie ein Schlag. Sie kauft bei Therese einen Puppenkoffer, den sie sich an ihre Adresse schicken lässt. Spontan sendet Therese ihr einen Tag später an diese Adresse eine Firmen-Weihnachtskarte und gibt als Absender nur ihre Personalnummer an. Die Frau ruft sie zwei Tage später in der Abteilung an und schlägt ihr vor, sie in der Pause zum Lunch zu treffen. Sie kommen ins Gespräch und verstehen sich schon auf Anhieb. Da beide Weihnachten allein sein würden, lädt Carol Therese zu sich nach Hause ein. Es stellt sich heraus, dass Carol dreizehn Jahre älter ist als Therese, in Scheidung lebt und eine fünfjährige Tochter hat. Therese wohnt allein in einem kleinen Zimmer, ihr Vater ist tot, die Mutter, eine Konzertpianistin, hat wieder geheiratet, beide haben sich aber schon lange nicht mehr gesehen. Therese ist seit einiger Zeit mit dem gutmütigen Richard befreundet, der Maler werden will. Sie hatte mit ihm auch den ersten Sex, nachdem die zwei vorhergehenden Verehrer sie abrupt verlassen hatten, als sie nicht mit ihnen ins Bett wollte. Auch mit Richard ist sie nicht mehr intim, sie empfindet einfach nichts dabei, obwohl er sie unbedingt heiraten will und ihr versichert, das Problem zwischen ihnen würde sich mit der Zeit schon von allein erledigen. Carol und Therese verstehen sich bestens und werden gute Freundinnen.
Nach den Feiertagen beginnt Therese ihren ersten Job als Assistentin des Bühnenbildners an einem New Yorker Theater. Sie lernt auch Abby kennen, Carols beste Freundin, die mit ihr zusammen mal ein Möbelgeschäft betrieben hat. Die Beiden hatten damals auch ein kurzes Liebesverhältnis, und Abby ist nun scheinbar eifersüchtig, sie will alles von Therese wissen. Schließlich schlägt Carol Therese vor, mit ihr zusammen im Auto eine längere Reise in den Westen zu machen, sie will einfach mal Abstand von den Querelen um ihre Scheidung gewinnen. Nach zwei Wochen, in denen sie sich weiterhin sehr formell Siezen, gestehen sie sich endlich ihre Liebe und werden ein lesbisches Paar. Schließlich bemerken sie, dass sie verfolgt werden, und es stellt sich heraus, dass tatsächlich ein von Carols Mann beauftragter Privatdetektiv sie die ganze Zeit schon observiert. Es geht um das Sorgerecht für die kleine Tochter, das der Mann für sich allein beansprucht, indem er die unmoralische Lebensweise seiner Frau nachweist, die man dem Kind nicht zumute könne. Ohne Zögern fliegt Carol sofort nach New York zurück. Therese aber stellt entsetzt fest, dass Carol sich zwischen ihr und der Tochter wird entscheiden müssen und macht sich keine Illusionen, wie diese Entscheidung ausgehen wird.
Ein ungewöhnlicher Roman, der den Leser mit seiner psychologischen Tiefe in Bann zieht und durch seinen geschickt aufgebauten Spannungsbogen die einsame Klasse der Autorin als Suspense-Spezialistin unter Beweis stellt, immer nach dem Motto: Und erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.
Fazit: erfreulich
Meine Website: https://ortaia-forum.de
Moonlight Mile. Ein Fall für Kenzie & Gennaro
Moonlight Mile. Ein Fall für Kenzie & Gennaro. “Ich liebe es älter zu werden, verdammt.” Ein weiterer Fall für das Ermittler-Duo Patrick Kenzie und Angela Gennaro. Inzwischen sind sie verheiratet und Eltern einer vierjährigen Tochter. Das macht verletz- und erpressbar. Aber es ist nicht das erste Mal, dass Dennis Lehane seinen Lieblingskriminalisten durch einen intelligenten Coup aus der Patsche hilft.
Entführung oder Flucht?
“Nun, das ist das Problem, wenn es um Kinder geht, oder? Wir haben keine Ahnung. Keiner von uns.” Die vier Jahre alte Amanda McCready wurde erstmals vor zehn Jahren entführt, aber von Angela und Patrick wiedergefunden. Nun ist Amanda als Teenager erneut verschwunden. Da Kenzie gerade “suppenküchenpleite” ist, nimmt er widerwillig den Auftrag an, die Verschollene wieder aufzustöbern. “Ich habe gehört, dass über Thanksgiving fünf Personen in einen Raum gegangen sind. Können Sie mir bisher folgen?“, bekommt er einen Hinweis oder ist das nur eine weitere Verwirrtaktik seiner Widersacher?
Aus Fünf mach’ vier!
Denn nur vier kamen wieder heraus. War Amanda eine davon? Dass auch noch eine Freundin von Amanda, Sophie, verschwunden ist, führt Kenzie dann auf die richtige Spur, denn ihr Vater, Brian, ist ein Plappermaul. Sophies Betreuer beim Amt für Kinder und Familien ist nämlich ein gewisser Andre Stiles und der hat selbst Dreck am Stecken. Ein Duell – Handy gegen Pistole – enthüllt die wahre Macht der neuen Medien, denn es gewinnt tatsächlich das Handy. Als dann auch noch die Russenmafia in Gestalt von Kyrill Borsakow auftaucht, der mit seinen Kumpels aus Mordwinien (sic!) Boston und Umgebung unsicher macht, wird es eng für Kenzie. Dabei zeigen die Herren aus der ehemaligen Sowjetrepublik durchaus Humor. Sie wollen einfach nur das belorussische Kreuz und ein Baby zurück. Das ist alles.
B.Trüger, R.Presser & Partner
All das, was unsere Väter für gegeben hielten, solange man nur hart arbeitete, das große Sicherheitsnetz und der faire Lohn und die goldene Uhr am Ende? Davon ist hier nichts mehr übrig, mein Freund.” Dennis Lehane, der wie viele seiner irischen Verwandten in Boston lebt gehört auch zu einer starken Stimme gegen den sozialen Untergang im Amerika von heute. Auch wenn der Roman im amerikanischen Original schon vor 15 Jahren – unter demselben Titel – erschienen ist, hat diese Kritik nichts von ihrer Authentizität verloren. Leider, möchte man sagen. Auch die Oxycontin- und Fentanyl-Krise in den USA spricht er am Schicksal einer Ärztin an. Die Schuldenspirale treibt auch sie in die Arme von “B.Trüger, R.Presser & Partner“. “Wir lernen nichts, wir ändern uns nicht, und dann sterben wir. Und schon nimmt die nächste Generation an Blendern unseren Platz ein. Und das? Das ist alles.”
Moonlight Mile: Ein Fall für Kenzie & Gennaro
Ein düsteres Resümee, aber es ist kein Pessimismus, der da durchklingt, ganz im Gegenteil: “Ich liebe das, was kaputtgeht und nicht repariert werden kann. Was verloren geht und nicht ersetzt werden kann. Ich liebe meine Bürde.” Am Ende weiß auch Patrick Kenzie, was wirklich zählt und zieht seine Konsequenzen. Aber viele weitere Fälle von Kenzie & Gennaro sind ebenso beim Diogenes Verlag in deutscher Übersetzung zu lesen, ganz abgesehen natürlich von den anderen Werken Dennis Lehanes, die teilweise auch in Starbesetzung verfilmt wurden und ebenso bei Diogenes erhältlich sind. Übrigens spielt in Moonlight Mile auch Bubba wieder eine ehrenvolle Rolle. Und natürlich ein Album der Rolling Stones: Track 6.
Dennis Lehane
Moonlight Mile
Ein Fall für Kenzie & Gennaro
Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Torberg
2025/2010, Paperback, 384 Seiten
ISBN: 978-3-257-30047-5
Diogenes Verlag
€ (D) 20.00 / sFr 27.00* / € (A) 20.60
Eva schläft
Eva schläft. “Vielleicht ist es eines Tages gar nicht mehr so schlimm, ein Kind zu haben und unverheiratet zu sein”, hofft Gerda. Der Romanerstling “Eva schläft” der in Rom geborenen Autorin Francesca Melandri beschäftigt sich mit den sog. “Südtiroler Bummsern”, also den Separatisten, die in den Siebzigern Südtirol aus Italien zurück in ihr “Heimatland” Österreich bomben wollten. Aber auch eine Vater-Tochter Geschichte wird erzählt, die einmal mehr die Spannung zwischen dem Norden und dem Süden des Landes verdeutlicht. 1397 km trennen Vito und Eva.
Südtirols Befreiungskampf
Eva ist die Tochter von Gerda Huber und Vito. Nur, dass Eva ihren Vater gar nicht kennt. Sie macht sich auf die Suche nach ihm, reist nach Kalabrien und dazwischen wird in Rückblenden die Geschichte ihrer Mutter und der Provinz Alto Adige erzählt, die vor allem durch das weise Handeln von Silvius Magnago nach etlichen Konflikten zu einer gewissen Autonomie der Region führte. Die “Option” war eine zwischen Mussolini und Hitler ausgearbeitete Lösung, die die Südtiroler “heim ins Reich” holen sollte und Südtirol italianisieren sollte. Aus diesem Grund wurden auch aus dem Süden Italiens Menschen in den Norden umgesiedelt. Aber die, die blieben, ignorierte man, “man tat einfach so, als gäbe es sie überhaupt nicht”, Italienisch wurde zur Pflicht.
Die Suche nach einem (Landes-)Vater
Aus der “Los von Trient” Bewegung der Nachkriegszeit wurde bald eine “Los von Rom!” Bewegung, aber das gelang dann doch nicht ganz. Als Südtiroler war man ein Mensch zweiter Klasse im eigenen Land, die Behörden sprachen kein Deutsch, und als Südtirolerin wurde man zudem noch als “Matratze” diffamiert, besonders wenn man im Hotelgewerbe arbeitete. Die Männer schufteten in den Kalkwerken der Dolomiten und ruinierten sich ihre Gesundheit. Diejenigen die sich dagegen wehrten, wurden gefoltert, das kannte auch Silvius Magnago. “Dieser Mann war nicht nur ein erstklassiger Jurist, sondern ein echter Intellektueller“, schreibt Melandri. “Und vor allem war er jemand, dem, so erschöpft und zerstreut er sein mochte, nie ein Gemeinplatz über die Lippen kam“.
Duft von Stube und Heuboden
“Si accusi bella ca si faciss’ nu pireto m’o zucass“, heißt ein sizilianisches Sprichwort, das Francesca Melandri dem Leser:in gerne ein paar Zeilen weiter übersetzt. Allein dafür lohnt es sich schon, diesen Romanerstling der Romanautorin zu lesen, die zuletzt mit einem sehr engagierten Essay, “Kalte Füße“, ebenfalls bei Wagenbach erschienen, auf sich aufmerksam machte. Sie erzählt vom Verbot der Mischehen, das bis 1971 bestand, den Grundfähigkeiten eines leidenschaftlichen Briefmarkensammlers und vom Duft von Stube und Heuboden, der aus einer handgeschnitzten Holzkiste strömt. Jedem Abschied wohnt ein Zauber inne, aber noch mehr dem Wiedersehen.
Eine Umarmung der Vergebung
Über 1397 km hinweg zelebriert sie das Wiedersehen zwischen Tochter und Vater, zwischen Eva und Vito, das durch ihr Mutter 30 Jahre lang hinausgezögert wurde. “Es ist ihre Schuld. Es ist alles ihre Schuld. Alles, aber wirklich alles ist ihre Schuld“. Aber wieviel Gnade und Wonne liegt im Vergeben und verzeihen: “Und jetzt umarme ich meine Mutter, denn nichts und niemand kann uns für das entschädigen, was wir verloren haben. (…) sich wieder umarmen zu können und nicht mehr länger und sei es nur für einen Augenblick, das große Glück zu vergessen, zu leben und zusammen sein zu dürfen.”
Eine Roman zwischen Nord und Süd, zwischen Südtirol und Kalabrien. Die Streitbeilegungserklärung vom Juni 1992 zwischen Österreich und Italien und dem Schengener Abkommen von 1998, nach dem alle Schlagbäume am Brenner entfernt wurden, waren Ergebnisse eines langen Kampfes, den Melandri in bunten, duftenden Eindrücken voller poetischer Wendungen und sinnlichen Einwerfungen wie ihr eigenes Schicksal schildert. Wollen wir dieses vereinte Europa wirklich verlieren?
Francesca Melandri
Eva schläft. Roman
Aus dem Italienischen von Bruno Genzler
2025/2010, 440 Seiten, broschiert
ISBN 978-3-8031-2805-8
Wagenbach Verlag
16,– €
Gilead
Für Atheisten schwer erträglich
Als erster einer von Marilynne Robinson als Buchreihe geplanten Folge von Romanen erschien im Jahre 2004 «Gilead», ein auf das gleichnamige, biblische Land östlich des Jordans hinweisender Titel. Die deutsche Ausgabe in der aktuell vorliegenden, teilweise bemängelten Übersetzung wurde erst 2016 herausgegeben. Dieser in den USA ziemlich erfolgreiche Roman wurde mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet und vom damaligen Präsidentschafts-Kandidaten Barak Obama überschwänglich gelobt. Allerdings schreibt die in Deutschland kaum bekannte US-amerikanische Schriftstellerin keine leichtverdaulichen Romane. In «Gilead» widmet sie sich vielmehr schwierigen Menschheits-Themen wie Geburt, Krankheit und Tod in einer von tiefer Religiosität geprägte Erzählung, die in weiten Teilen als Briefroman angelegt ist, aber auch als Tagebuch und Memoir.
Im Jahre 1956 schreibt der in Gilead, einer fiktiven, abgeschiedenen kleinen Stadt in Iowa, auf dem Sterbebett liegende, weiße Pastor John Ames einen langen Brief an seinen siebenjährigen Sohn, dem er darin alles erklären will, was das Leben betrifft. Eine fiktionale Autobiografie mithin, in der Hochwürden episodisch seine zu verschiedenen Anlässen entstandenen Aufzeichnungen aneinander reiht. Er will von seinen Einsichten und Lebenserfahrungen als 76Jähriger möglichst vieles an den Sohn weitergeben, bevor er wegen seiner Herzerkrankung dazu bald schon nicht mehr in der Lage sein wird. Seine Familie lebt bereits seit Generationen in Gilead, sowohl sein Vater als auch sein Großvater waren schon kongregationalistische Pastoren dieser Gemeinde, eine seit jeher weitverbreitete Tradition im weiten Verbund ihrer Familie. Der Vater von John Ames war überzeugter Pazifist, der Großvater ein radikaler Gegner der Sklaverei in den USA, der gemeinsam mit Gleichgesinnten im amerikanischen Bürgerkrieg Guerilla-Aktionen durchgeführt hat und als Kaplan bei den Truppen der Union mitwirkte.
Beginnend mit der Suche nach dem Grab des Großvaters, der in den Kriegswirren den Tod gefunden hat, schildert der betagte Briefschreiber in einer weiteren Episode seine Kommunion, die er in einer vom Blitz getroffenen Kirche von seinem Vater empfing. Er schildert aber auch die Geschichte, wie er mit Lila, seiner wesentlich jüngeren, zweiten Frau, die aus einem bildungsfernen Milieu stammt, an einem Pfingstsonntag, in seiner Kirche zum ersten Mal zusammentraf. Die ungleichen Zwei fühlten sich magisch zueinander hingezogen, er tauft sie sogar, bis sie ihm schließlich, ganz unkonventionell, einem Heiratsantrag macht und dem 69Jährigen schon bald einen Sohn schenkt, – den kleinen John, den Ich-Erzähler dieses Romans. Auch der Apartheid ist eine Episode des Romans gewidmet, als sein Patensohn Jack, den er par partout nicht mag, schwer leidet unter der erzwungenen Trennung von seiner afroamerikanischen Frau. Er darf sie aufgrund der Jim-Crow-Gesetze zur Rassentrennung nicht heiraten, und auch seine Familie lehnt sie ab. Dieser erlittene Verlust verbindet Jack ganz besonders mit Lila, der ein solcher Verlust mit dem drohenden Tod ihres Mannes ja bald schon bevorsteht.
Der Roman ist geprägt durch die vielen theologischen Sinnkrisen, die den Ich-Erzähler plagen. Zu denen gehören insbesondere die unbegreiflichen Taten seines Großvaters im Bürgerkrieg, die schwere Zeit nach dem Tod seiner ersten Frau, das Entsetzen über seinen definitiv vom Glauben abgefallenen Bruder und schließlich auch über den eigenen Vater, der scheinbar ebenfalls den Glauben verloren hat und seine Gemeinde verließ. All das wird von Zitaten aus der Bibel begleitet und theologisch kommentiert. Mit reichlich Pathos werden diese Begebenheiten von dem sympathisch anmutenden Protagonisten ziemlich gelassen vorgetragen, mit der offensichtlichen Botschaft zudem, darüber bloß nicht die kleinen Freuden des Lebens zu vergessen. Moralisch aufbauend zweifellos, ist «Gilead» als Lektüre allerdings weder bereichernd noch unterhaltend, – und für Atheisten einfach nur schwer erträglich!
Fazit: miserabel
Meine Website: https://ortaia-forum.de
Rote Sonne
In den Feuilletons völlig unbeachtet
Der neue Roman der schwedischen Schriftstellerin Johanne Lykke Holm mit dem Titel «Rote Sonne» ist eine Dystopie, die sich auf eine beklemmende Weise mit den Themen Kindsein, Erziehung und Verantwortung beschäftigt. Erzählt wird eine handlungsarme, mystische Geschichte, bei der drei elternlose, unbehauste Jungen im Blickpunk stehen, in deren Schicksal ein kinderloses Paar ungewollt hineingezogen wird. Zeit und Ort der Handlung bleiben im Dunkeln, werden bewusst verschleiert, und auch die Figuren des Romans bleiben rätselhaft, ihr Tun wird äußerlich in allen Details beschrieben, ihr Innerstes aber bleibt unerschlossen.
Kallas und India, ein junges unverheiratetes Paar, leben in einer kleinen Wohnung im siebten Stock eines Hochhauses in einer nicht benannten Stadt am Fluss. Sie sind ein überaus glückliches Paar, ihre Liebe ist grenzenlos. Desma, eine alte Freundin von Kallas, die er seit der Jugendzeit kennt, lädt ihn bei einem ihrer gelegentlichen Telefonate ein, sie und ihren Freund Lafayette für einige Zeit in ihrem großen Haus am Meer besuchen zu kommen. Spontan sagt er zu, er und India machen sich schon am folgenden Tag mit der Eisenbahn auf den Weg. Im Zug fallen ihnen drei kleine Jungens auf, die auf dem Gang herumtoben. Am Meer verbringen die beiden Paare dann einige schöne Tage miteinander und führen allabendlich lange Gespräche in weinseliger Runde. Dabei kommt heraus, dass Desma schon sehr früh schwanger geworden ist und man sie damals überrumpelt hat, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Lafayette gesteht, dass er als Jugendlicher einen anderen, der ihn öfter bedroht hatte, mit dem Messer erstochen hat, wofür er vier Jahre im Jugendgefängnis absitzen musste. Bei einem gemeinsamen Badeausflug fällt ein Mann in Strandnähe von seinem Boot und wäre beinahe ertrunken, wird aber durch den Bademeister gerettet. Vorsorglich fahren Kallas und Lafayette mit ihm ins Krankenhaus. Unter den neugierigen Zuschauern sind auch die drei Jungs vom Zug, die später plötzlich am Gartentor von Desma auftauchen und sich besorgt nach dem Mann erkundigen.
Es stellt sich heraus, dass die Drei im Alter von fünf, sieben und elf Jahren allein unterwegs sind, ohne Eltern. Desma lädt sie ins Haus ein, gibt ihnen zu essen und verfrachtet sie für die Nacht in ein Gästezimmer. Als nachts in der Nähe eine Fabrik in Brand gerät und das Feuer wegen der Trockenheit rasend schnell um sich greift, beschließen Kallas und India, vorsichtshalber die Kinder sofort mit dem Auto von Desma in ihre Wohnung in der Stadt zu bringen. Es vergehen einige Tage, bis das Paar dort endlich die Behörden über die Kinder informiert. Man sagt ihnen schließlich, sie sollten die Kinder vorerst bei sich behalten, bis nach Ende der Feuersbrunst eine Entscheidung über das weitere Vorgehen getroffen wird, – es vergeht fast ein Jahr darüber!
Über dem scheinbar normalen, nicht immer plausiblen Geschehen in diesem Roman liegt permanent ein mystischer Schleier der Ungewissheit. Die Autorin schildert Nebensächliches wie Spaziergänge oder Einkäufe mit auffallender Detail-Versessenheit. Sie erläutert immer wieder die besonderen Lichtverhältnisse, Wind und Wetter, Gerüche, Farben, Geräusche und Oberflächen von allen möglichen Dingen. Dabei überlässt sie das Wesentliche, die innere Verfasstheit ihrer Figuren, weitgehend der Phantasie des Lesers. Die zufälligen Pflegeeltern, erfährt man fast nebenbei erst ganz am Ende, waren sich beide schon immer einig, keine Kinder zu wollen. Sie lassen die unerwartete Situation mit der Verantwortung für die drei Jungs ungerührt über sich ergehen und leben wie in Trance weiter in dieser für sie völlig ungewohnten familiären Konstellation. Kinder zu lieben und zu versorgen ist plötzlich scheinbar das Normalste von der Welt für sie. Das planvolle Unterlaufen von Erwartungen des Lesers ist ein typisches stilistisches Merkmal dieses idealistischen Romans. Er ist in den Feuilletons erstaunlicher Weise völlig unbeachtet geblieben, wo sonst ja nahezu jeder Schundroman beflissentlich rezensiert wird.
Fazit: erfreulich
Meine Website: https://ortaia-forum.de
Der lachende Uhu: Gedichte im Zeichen des Uhus
Der Uhu lacht – und die Poesie fliegt mit
Ein federleichtes Lesebuch über Weisheit, Witz und Waldgeflüster
Mit Der lachende Uhu legt die Prinz Rupi Kulturstiftung einen poetischen Sammelband vor, der auf ebenso charmante wie überraschende Weise unterhält. Die Idee zu diesem außergewöhnlichen Buch entstand im Rahmen eines offenen Literaturwettbewerbs in Zusammenarbeit mit der Schlaraffia Lietzowia, der bemerkenswerte Resonanz fand: 337 Autorinnen und Autoren aus dem gesamten deutschsprachigen Raum beteiligten sich – vom Grundschüler bis zum Großvater, von Hobbypoeten bis zu literarisch versierten Stimmen. Der jüngste Teilnehmer ist neun Jahre alt, der älteste zählt 94 Jahre. Diese ungewöhnliche Spannweite verleiht dem Band eine authentische, generationenübergreifende Vielstimmigkeit. Weiterlesen
Don Quijote
Das Buch für die Insel
«Don Quijote» von Miguel de Cervantes gilt als der erste moderne Roman, das 1605 und 1615 erschienene, zweiteilige Werk ist mit bisher über 500 Millionen Auflage aber auch der mit Abstand meistverkaufte Roman aller Zeiten. Er wurde zudem 2002 bei einer vom Nobelinstitut in Stockholm veranstalteten Umfrage unter hundert berühmten und anerkannten Schriftstellern aus der ganzen Welt als bester jemals geschriebener Roman gekürt. Mit seinem Kampf gegen die Windmühlen ist der Ritter von der traurigen Gestalt auch Urheber geworden für das vielzitierte Sprichwort über die vergeblichen Mühen des Bürgers im Umgang mit bräsigen Bürokraten.
Die «Vorrede» des Autors beginnt mit dem Satz: «Unbeschwerter Leser, auch ohne Eid darfst du mir glauben, wie sehr ich mir wünschte, dies Buch, dies Kind meines Geistes wäre das schönste, stolzeste und klügste, das man sich nur denken kann». Im Dialog mit einem Freund teilt der spanische Autor dort voller Spott dann auch jede Menge Seitenhiebe gegen das damals in höchster Blüte stehende Genre der kitschigen Ritterromane aus. Es wird deutlich, dass der «Don Quijote» als Parodie dieser seinerzeit so beliebten Literatur gedacht ist. Reine Satire also, und nicht nur vom Inhalt her, sondern auch stilistisch auf die Spitze getrieben durch persiflierenden Wortwitz und eine der Zeit geschuldete, gedrechselte, aber eben auch amüsante Diktion. Der Protagonist Don Quijote gesteht denn auch gleich zu Beginn, dass er selbst, dem Publikums-Geschmack folgend, jeden Ritterroman gelesen habe, den er in die Hände bekommen konnte, sein Haus sei voll davon. Er identifiziert sich vollständig mit den hehren Zielen der Ritterorden und beschließt, selbst ein Ritter zu werden. Und das geschieht nur deshalb, weil er in seiner Einfalt den Lug und Trug der Romane nicht von der Realität unterscheiden kann, weil er naiv Wort für Wort an das glaubt, was er gelesen hat. Für Cervantes ist sein Roman auch ein Beleg dafür, dass übermäßige Lektüre von Schundromanen letztendlich nur den Verstand raubt, worauf Denis Scheck übrigens aktuell auch in seiner Bestseller-Bibel hingewiesen hat, wo eine aktuelle Studie benannt ist, die das tatsächlich belegt.
Also zieht der Held auf Rocinante, seinem Klepper, in die Welt hinaus, um Gutes zu tun und Böses zu verhindern, begleitet von seinem Schildknappen Sancho Panza, der auf einem Esel reitet. Und er will natürlich auch Dulcinea finden, seine erträumte Herzensdame. Er erlebt zahlreiche haarsträubende Abenteuer und richtet überall da, wo er auftaucht, ein schlimmes Chaos an. Seinen rohen Gegnern unterliegt er immer und siegt nur dort, wo er gegen völlig Unschuldige und Ahnungslose zu Felde zieht. Im zweiten Teil des Romans ist Don Quijote der anerkannte Schriftsteller des ersten Teils geworden, der nun mit Sancho Pansa weitere Abenteuer besteht, seine Dulcinea aber leider auch nicht findet. Ganz am Ende verliert er einen Zweikampf und kehrt in sein Dorf zurück, wo er seine Lebenslüge erkennt und desillusioniert an Wundfieber stirbt.
Die Handlung des Romans wird ergänzt durch viele in sich abgeschlossene Episoden, deren aberwitziges Geschehen für sich allein steht. Besonders amüsant sind die Passagen, in denen Cervantes gegen die Schriftsteller zu Felde zieht, indem er zum Beispiel Zweifel an seinem Buch bekundet, «… wo ich doch sehe, dass andere Bücher, einerlei wie herbeiphantasiert und profan, nur so von Sprüchen des Aristoteles strotzen, von Platon und dem ganzen Philosophentross, und damit ihre Leser staunen machen, und die halten derlei Schreiber dann für belesene, beredte und gelehrte Männer». Wie wahr! Der «Don Quijote» ist übrigens einer der seltenen Romane, die man ohne Abstriche in kleinsten Portionen über längere Zeiträume hinweg goutieren kann, denn jeder Abschnitt des Buches ist für sich allein eine literarische Preziose. Es wäre in der Gesamtausgabe in einem Band mit fast 1500 Seiten insoweit auch das viel beschworene, nie langweilig werdende, ideale «Buch für die Insel».
Fazit: erstklassig
Meine Website: https://ortaia-forum.de
Tannöd
Chapeau!
Das Romandebüt von Andrea Schenkel mit dem Titel «Tannöd» startete 2006 mit einer Auflage von 3000 Exemplaren, verkauft wurden schließlich über eine Million Bücher, – so kann ein Verlag sich irren, oder anders gesagt, so launisch ist die Lesergunst! Dieser mehrfach prämierte Dorfkrimi hat es in kurzer Zeit sogar geschafft, Daniel Kehlmanns «Die Vermessung der Welt» vom Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste zu verdrängen. Inzwischen wurde der Stoff als Hörspiel und Theaterstück verarbeitet und auch erfolgreich verfilmt. Der Roman basiert auf einem wahren Mord in Hinterkaifeck bei Schrobenhausen, wo am 1. April 1922 auf einem Einödhof sechs Menschen erschlagen wurden. Sie sei durch einen Zeitungs-Artikel darauf gestoßen, erklärte die Autorin in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, welches im Anhang des Romans abgedruckt ist. «Ich habe die Handlung auf die Nachkriegszeit verlegt und ein paar Personen dazugeschrieben und die Opfer neu erfunden«, erklärte sie zur Entstehung des Buches. «Und am Schluss finde ich einen Täter – in Wirklichkeit wurde der Fall ja nie geklärt».
Der Roman erzählt von einem tyrannischen Bauern, der mit Frau und Tochter, zwei Enkelkindern und einer Magd auf einem Einödhof lebt. Danner ist ein brutaler Eigenbrötler, der seine Familie schikaniert und dem alle Dorfbewohner aus dem Weg gehen, die Familie lebt völlig isoliert am äußersten Rand des Dorfes. Als die Nachbarn mehrere Tage lang niemanden mehr sehen von der Familie, die Enkelin nicht in der Schule erscheint und auch der Postbote niemanden antrifft, beschließen drei Männer, nachzusehen, was denn da los ist. Das Haus ist verschlossen, im offenen Heustadel finden sie schließlich die mit Heu bedeckten Leichen des Bauern und seiner Frau, ihrer Tochter und der Enkelin. Und im Haus entdecken sie schließlich noch die Leichen des zweijährigen Enkelsohns und die der erst am Vortag eingestellten, neuen Magd. Alle Sechs wurden brutal mit einer Spitzhacke erschlagen.
Andrea Schenkel führt schon früh einen Täter ein in ihre Geschichte, sie erzählt von einem Tagedieb und Vagabunden, der sich jeweils für kurze Zeit als Taglöhner verdingt, dabei den Hof gründlich erkundet und seinen Arbeitgeber ausspioniert. Sein Wissen macht er sich dann nach einiger Zeit zu nutze, um in das jeweilige Haus einzubrechen, oder er gibt alle Informationen an seine Kumpels weiter, die dann den Raubzug ausführen und die Beute mit ihm teilen. In ihrem raffiniert angelegten Plot entwickelt die Autorin ihre multi-perspektivisch erzählte Geschichte in weiten Teilen in Form von kurzen, persönlichen Berichten aus dem familiären und dörflichen Beziehungsgeflecht. Aus diesem vielstimmigen Chor entsteht nach und nach ein mosaikartiges Bild des Geschehens und seiner Vorbedingungen. So wird dann auch deutlich, dass Danner seine Tochter Barbara seit ihrem zwölften Lebensjahr sexuell missbraucht hat. Aus diesem Inzest ist später seine Enkeltochter entstanden, und Danner hat es geschafft, Barbara mit einem Flüchtling zu verheiraten, der auf das Erbe spekuliert hat. Später hat er den Schwiegersohn dann davongejagt und ihm Geld gegeben, damit er auf Nimmerwiedersehen nach Amerika auswandern könne. Als Barbara einige Jahre später wieder schwanger wurde, hat sie ein Verhältnis mit dem verwitweten Nachbarn angefangen und ihn dazu gebracht, sich als Vater ins Geburtsregister eintragen zu lassen.
Dieser Roman ist eher ein Heimatroman als ein Krimi, der Mord selbst steht erzählerisch nicht im Mittelpunkt, er wird nur kurz gestreift. In Fokus ist vielmehr das familiäre und dörfliche Beziehungsgeflecht, das jeweils aus der Innenperspektive heraus, – auch jener der Opfer, psychologisch aufschlussreich und stimmig geschildert wird. Zahlreiche religiöse Einsprengsel stehen für eine Kritik an der bigotten Frömmigkeit der einfältigen Dörfler. Das häppchenweise Erzählen sorgt – ganz ohne die genre-üblichen Muster – für Spannung und führt zielstrebig, anders als in der realen historischen Mordsache, auf ein überraschendes Ende hin. Chapeau!
Fazit: erfreulich
Meine Website: https://ortaia-forum.de