Tinkers

Ein Roman vom Sterben

Für seinen Debütroman «Tinkers» erhielt der US-amerikanische Schriftsteller Paul Harding den Pulitzer Prize for Fiction des Jahres 2010. Der Autor hat sich damals in einem Radio-Interview als «modernen neu-englischen autodidaktischen Transzendentalisten» bezeichnet. Ähnlich kompliziert wie diese Selbsteinschätzung ist sein Roman selbst! Konkret geht es darin um die Reflexionen eines sterbenden Uhrmachers in den letzten Tagen und Stunden vor seinem Ableben. In denen erinnert er sich an sein eigenes Leben im Staate Maine und an das des Vaters und Großvaters zurück, wobei er sinnierend auch die Natur als prägendes Element in seine Rückschau mit einbezieht.

Auf dem Sterbebett, umgeben von Frau, Kindern und Enkeln, schwelgt George Washington Crosby als alter Mann in Erinnerungen, spult quasi den Faden seines Lebens noch mal rückwärts ab. Er denkt an frühere Geschehnisse, Erfahrungen, Glück und Unglück, reflektiert über seine Identität, über Sterblichkeit und das Dasein als solches. Dabei wechselt sein Bewusstsein immer wieder zu idealisierenden Traumphasen hinüber, in denen die Natur als übergeordnete Instanz einen breiten Raum einnimmt. Der Roman überspannt zeitlich drei Generationen. Sein an Epilepsie leidender Vater, den er wegen seiner Gefühle eigener Unzulänglichkeit als gequälte Seele erlebt hat, gehörte zu den titelgebenden «Tinkers», den früher bei den armen Leuten auf dem Lande regelmäßig tätigen Kesselflickern. Howard zog mit seinem Wägelchen herum, bot neben der Reparatur von undichten Metalltöpfen auch andere Dienste an und verkaufte zudem als fahrender Händler diverse Kurzwaren, die er immer mit sich führte. George war traumatisiert durch die epileptischen Anfälle seines Vaters, die seine Mutter aber vor den kleinen Kindern immer zu verbergen suchte. Er jedoch musste mithelfen, ihn in seinen Krämpfen zu bändigen, wurde einmal sogar schwer verletzt dabei, seine Gefühle für den Vater changieren zwischen inniger Liebe und finsterem Groll.

Der Großvater war ein psychisch kranker Prediger, in seinem Hause herrschten strenge Sitten, es wurde viel gebetet. Im Alter ist er dann zusehends dem Wahnsinn verfallen und wurde schließlich auf Betreiben seiner Frau, die mit der Pflege total überfordert war, in die Irrenanstalt eingewiesen. Für George sind seine geliebten Uhren Symbole der Vergänglichkeit, sie bestätigten als bedrückendes Trauma seine Ängste vor der eigenen Vergänglichkeit. Auch fragt er sich, ob es eine über Generationen andauernde, familiäre Beständigkeit denn überhaupt gebe. George reflektiert auf dem Sterbebett zudem über das Erbe, das er ja nun bald hinterlassen wird und das als Einziges von ihm noch für eine gewisse Zeit zurückbleiben wird.

Mit seiner lyrisch anmutenden Prosa schreibt Paul Harding eine an endlose Gedankenströme erinnernde Erzählung, die sich mit nichts weniger als den großen Fragen der Menschheit auseinander setzt, – eine Art letzte Meditation vor dem Exitus. Deren kontemplative Tiefe wird scheinbar konterkariert durch diverse banale Einschübe über das Reparieren und die Technik von Uhren, in denen sogar auf fachliche Texte verwiesen wird. Aber auch Auszüge von Predigten werden eingeschoben, und es wird auf die Schwierigkeiten beim Verfassen derselben angespielt. In diesem Gegenüber von profaner Materie und hochfliegendem Geist werden stilistisch viele narrative Konventionen missachtet, die Zeitlinien und Perspektiven werden unerwartet und oft auch schwer verständlich gegeneinander verschoben. Das fördert nicht gerade den Lesefluss, und auch wenn der Autor eine sehr poetische Form gefunden hat für seinen Roman, passt dessen Stil nicht wirklich überzeugend zur schwierigen Thematik vom Sterben. Ohne Zweifel aber regt «Tinkers» zu eigenem Nachdenken an, wenn man nicht gerade zu der Sorte Leser gehört, die ohne eigenes Zutun leicht und angenehm Lesbares suchen zur Unterhaltung und Entspannung.

Fazit:   lesenswert

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Was ich von ihr weiß

Memento mori

Der 2023 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete Roman von Jean-Baptiste Andrea ist jüngst unter dem Titel «Alles was ich von ihr weiß» auf Deutsch erschienen. Die Jury lobte das Buch als «ein typisches Fresco, eine Meditation über Präsenz und Abwesenheit». Schon vor der Preisverleihung war der Roman in Frankreich ein Bestseller, die Aufnahme hierzulande ist dagegen bisher eher verhalten, das Feuilleton ignoriert ihn weitgehend. Als ein «massentaugliches, professionell inszeniertes Historien-Spektakel» ist der Roman trotz solcherart Kritik eine spannende und bereichernde Lektüre, die den Zeitraum zwischen Erstem Weltkrieg, dem Aufstieg des Faschismus in Italien, Zweitem Weltkrieg und dem politischen Wandel danach umspannt.

Von wenigen auktorialen Einsprengseln abgesehen wird die Geschichte des kleinwüchsigen Bildhauers Michelangelo Vitaliani genannt Mimo von ihm selbst erzählt. Er wurde als Sohn eines Bildhauers in Frankreich 1904 in Armut geboren und nach dem frühen Tod seines Vaters im Weltkrieg von der Mutter zu einem Onkel nach Italien geschickt, weil sie ihn kaum ernähren kann. Dort soll er das Handwerk des Steinbildhauers erlernen, wird aber erbarmungslos ausgenutzt. In dem kleinen ligurischen Dorf Pietra d’Alba lernt er schon bald die auf den Tag genau gleichaltrige Viola kennen, Tochter aus der angesehenen Adelsfamilie der Orsinis. Nicht nur der identische Geburtstag verbindet die beiden Dreizehnjährigen, sie sind auf ihre jeweilige Art auch Außenseiter der Gesellschaft. Mimo wird als Zwerg gehänselt und ist allgemein nur der ‹Franchese›, der nirgendwo so richtig dazugehört. Viola ist ein Freigeist, blitzgescheit, sehr belesen, unkonventionell und voller verrückter Ideen. Sie findet in Mimo einen Gleichgesinnten, der ihr gerne folgt bei ihren Kapriolen und dem sie bildungsmäßig auf die Sprünge hilft, indem sie ihm heimlich Bücher aus der Bibliothek des Vaters zum Lesen bringt. Unermüdlich sorgt sie dafür, dass er geistig aus seinem Milieu herausfindet, diskutiert viel mit ihm, wodurch zwar ihre geistige Verbundenheit immer enger wird, – aber eben auch auf das Geistige reduziert bleibt.

Mit der Zeit entwickelt sich Mimo zu einem gefeierten Künstler, die Auftraggeber stehen Schlange bei ihm. Er wird ein wohlhabender Mann, geht nach Florenz und später auch nach Rom. Immer enger werden seine Verbindungen mit der Familie Orsini, deren ältester Sohn Karriere in der Kirche macht und am Ende sogar Kardinal wird. Durch ihn bekommt Mimo dann auch lukrative Aufträge aus dem Vatikan, während der andere Bruder sich den Faschisten anschließt. Viola animiert Mimo zu nächtlichen Ausflügen auf den Friedhof, um auf einem Grabstein liegend den Stimmen der Toten zu lauschen. Sie ist mit einer Bärin befreundet und besucht sie in deren Höhle, realisiert schließlich an ihrem sechzehnten Geburtstag den Traum vom Fliegen mit einem selbstgebauten Flugobjekt, was fatal endet. Im Gegensatz zum Ich-Erzähler Mimo ist sie eher eine Randfigur, von der man wenig erfährt, auch wenn die Beiden ein Leben lang eng verbunden bleiben, von gelegentlichen Auszeiten unterbrochen, in denen sie sich jahrelang nicht mehr begegnen, weil Mimos Leben sich in Florenz oder Rom abspielt.

Der Roman endet mit dem Tod des 82jährigen Mimo in einem Kloster, in dem auch seine von der Kirche für die Öffentlichkeit verborgene Pieta seit langem schon lagert, sie war für den Klerus mit ihrer selbstbewussten Ausstrahlung ein Ärgernis gewesen und wurde nie gezeigt. Die vom Plot her raffiniert aufgebaute Geschichte eines Bildhauers bildet über den Zeitraum von 82 Jahren hinweg die Höhen und Tiefen eines ungewöhnlichen Menschen ab, dabei zwischen Traum und Realität oszillierend. Alle Figuren sind anschaulich beschrieben, ohne dass ihr Wesen allerdings in die Tiefe gehend ausgeleuchtet wird, vieles bleibt im Dunkeln. Gleichwohl ist die Lektüre dieses nie langweiligen Romans lohnend, auch wenn er, Buchpreis hin oder her, mit seiner Thematik des ‹Memento mori› nicht gerade gute Laune erzeugt, -muss er ja auch nicht!

Fazit:   lesenswert

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Halbinsel

Feminine Sinnkrisen

Für ihren neuen Roman mit dem Titel «Halbinsel» wurde Kristine Bilkau kürzlich der Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik verliehen, sehr zur Überraschung mancher Kritiker. Vor dem Hintergrund der zunehmend bedrohlicher werdenden Klimakatastrophe schreibt die Autorin «mit feinem Einfühlungs-Vermögen über eine vielfache Entfremdung, über Einsamkeit des Alterns und die Hoffnung auf Versöhnung», so die Jury. Mit dieser Thematik hat sie in den unruhigen Zeiten unserer Gegenwart offenbar zielsicher einen Nerv getroffen. Vor allem aber hat sie damit auch dem erklärten Selbstverständnis der Leipziger Jury entsprochen, mit literarischen Mitteln auf die schwierigen existentiellen Fragen unserer Zeit Antworten zu finden.

Annett, die 49jährige Protagonistin des Romans, lebt allein in einem bescheidenen Haus auf einer Halbinsel im Wattenmeer Nordfrieslands nahe Husum. Nach dem plötzlichen, frühen Tod von Johan, ihrem Mann, hat die Bibliothekarin ihre inzwischen 25jährige Tochter allein großgezogen. Linn hat Umweltökonomie studiert, Praktika in den Wäldern Schwedens und Rumäniens absolviert und arbeitet bei einer Beratungsfirma für Klimaschutz in Berlin. Als sie bei einem Vortrag in einem Tagungshotel einen Schwächeanfall erleidet, holt ihre Mutter sie nach einem kurzen Krankenhaus-Aufenthalt zur Erholung für eine Woche zu sich. Linn ist apathisch geworden, redet kaum ein Wort mit der Mutter und ist plötzlich völlig antriebslos. Es bleibt nicht bei der einen Woche, sie kündigt ihren Job, will ihre Wohnung in Berlin auflösen und bei der Mutter wohnen bleiben. Und sie nimmt auch noch, beruflich völlig unter ihrem Niveau, plötzlich sogar eine Stelle als Verkäuferin in der örtlichen Bäckerei an.

Dieser Sommer mit Linn, wie die Ich-Erzählerin sinniert, «diese Wochen zwischen Ende Mai und Mitte September», würden für etwas stehen, sie wären eine Zeit, nach der sie sich später mal zurück sehnen würde. Die Autorin beleuchtet sehr überzeugend den Generationen-Konflikt zwischen der Mutter kurz vor Beginn des Klimakteriums und der gerade erwachsen gewordenen Tochter. Während Linn einen Blackout erleidet und in eine tiefe Sinnkrise stürzt, bildet Annett sich ein, daran schuld zu sein, als allein erziehende Mutter versagt zu haben, weil Linn nun alles hinschmeißt. Annett kann den Tag nicht vergessen, als ihr Mann beim Joggen an einem Herzschlag gestorben ist. Für sie ist und bleibt es der Tag, an dem Johan «nicht zurückgekommen ist», denn wenn sie davon spricht, sagt sie niemals «gestorben ist». Sein Tod ist und bleibt ein Trauma für sie, und sie kann sich auch kaum trennen von Sachen, die ihm einst gehört haben. Was Linn ihr vorwirft als unnötige Geste nach so vielen Jahren, sie lebe deshalb am wahren Leben vorbei.

In weiten Teilen ist diese Geschichte als innerer Monolog erzählt, und immer wieder kommt darin ihr Mann vor, «hörte ich Johan sagen» heißt es da, jeweils kursiv gedruckt. Mit dem Titel spielt die Autorin darauf an, dass sie und ihre Tochter gesellschaftlich nicht abgeschottet auf einer Insel leben, ihre soziale «Halbinsel» ist nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Konventionen. Mit zwei Wanderungen durch das Watt zu einer Hallig, der Extremform einer Insel, werden außerdem auch Bezüge zu der mental labilen Situation der beiden Frauen hergestellt. Sei es, dass Anett auf der ersten Wanderung im Watt einen Ziegelstein findet als Zeugnis einer einst im Meer versunkenen Stadt, eine Metapher für die Vergänglichkeit alles Irdischen, Oder dass, mitten im Watt, ein Pferd wegläuft, aber nicht instinktiv Richtung Ufer, sondern Richtung Meer, Metapher für die Desorientierung der beiden Frauen. Die aufkeimenden Konflikte zwischen ihnen haben ihre Ursache im Verdrängten, was die Autorin knapp, aber prägnant, ohne ein Wort zuviel, aber auch ohne eins zu wenig schildert. Ihr betont ruhiger, angenehm lesbarer Stil ist stimmig, der Plot bleibt jederzeit nachvollziehbar, und ihre Botschaft im Hinblick auf den Klimaschutz kommt gottlob ganz ohne den erhobenen Zeigefinger aus!

Fazit:   erfreulich

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne

Das Geleitwort sagt auf Englisch, dass es die Zeit ist, die verhindert, dass alles auf einmal geschieht, und danach kommt die Bitte von Herrn Stanisic, man möge der „Reihe nach lesen“.

In der ersten Geschichte sind die Kumpels von der Schulzeit, die vom Buch Herkunft, wie damals, im Juni 1994, im Weinberg zusammen.

Weiterlesen


Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand