Denken mit Oscar Wilde

Denken mit Oscar Wilde

Von Dublin über Oxford nach London. Dort wurde ihm eine Affäre zum Verhängnis und er musste ins Zuchthaus. Dem Alkohol verfallen lebte er danach in Italien und Frankreich und starb mit nur 46 Jahren in Paris. Es gab wohl nichts, was Oscar Wilde nicht in einem Bonmot auszudrücken wusste. Wolfgang Kraus hat davon die besten, verblüffendsten Aphorismen ausgewählt und stellt sie in einem handlichen Brevier für den Dandy, für den Wilde-Liebhaber, für jeden, der extravagant denkt oder sein möchte, vor.

Paradoxien und Sch(m)ockmomente

“Er schockierte und entzückte seine Zeitgenossen durch Paradoxien, die oft nichts anderes waren als verfrühte Wahrheiten der Zukunft und für uns heute weitaus näher und ernster als für die Gesellschaft, die sie belachte”, schreibt Kraus über Wilde im Vorwort zu vorliegender Taschenbuch deluxe Ausgabe des diogenes Verlages. Aber wie wusste schon Oscar Wilde selbst? “Ich habe mein ganzes Genie in mein Leben getan; in mein Werk nur mein Talent”. Aber beizeiten überkommt den “Dandy im Spiegelbild” auch Reue. Das Steuer seiner Seele habe er verloren, als das Vergnügen die Herrschaft über ihn gewann, wurde er sein Knecht, “Ich endete in Schande. Jetzt bleibt mir nur eines: völlige Demut”. Über die Aufgabe eines Jeden in dieser Welt ist sich Oscar Wilde aber sicher: “Jeder von uns hat nur eine Aufgabe zu lösen: sich selbst voll zum Ausdruck zu bringen.” Allerdings hätten heutzutage die meisten Angst vor sich selbst, dabei wäre “sich selbst zu lieben der Anfang einer lebenslangen Leidenschaft”. “Jedermann wird als König geboren. Und die meisten sterben im Exil – wie so viele Könige.”

Erfahrungen sind oft Irrtümer

Kaum jemand hat es wohl so gut verstanden Leben und Werk in Einklang zu bringen. Wer Oscar Wilde liest, hat das Gefühl, dem wohl einzigen authentischen Menschen gegenüberzusitzen, obwohl gerade ein Dandy alles dafür gibt, dass der Schein das Sein bei weitem übertrifft. “Die Natur hat gute Absichten, aber sie nicht ausführen. Die Kunst ist unser ritterlicher Versuch, der Natur den richtigen Platz anzuweisen.” Die Grundlage und die Energie des Lebens sei schließich das “Ringen nach Ausdruck”. Das Leben will nichts anderes als seine eigene Vielfältigkeit verwirklicht zu wissen. In allen Formen und Phasen. Weitere Gedanken und Aphorismen von Oscar Wilde finden Sie in dieser Auswahl auch zu folgenden Themen: Liebe, Schöpfung, Tragikomödie, Gleichnis, Magie der Schönheit, männliches Brevier. “Einen ethischen Wert besitzt die Erfahrung nicht, sie ist nur der Name, den wir unseren Irrtümern geben. Sie beweist, dass die Zukunft gleich der Vergangenheit ist.”

Denken mit Oscar Wilde
Extravagante Gedanken über die Magie der Schönheit und die allmächtige Kunst, Kritik als Schöpfung, das dekorative Geschlecht und die menschliche Tragikomödie
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Wolfgang Kraus. Aus dem Englischen von Candida Kraus
2021, Taschenbuch deluxe, Hardcover, 144 Seiten
ISBN: 978-3-257-26159-2
diogenes Verlag
€ 12.00


Genre: Aphorismen
Illustrated by Diogenes

Das Bildnis des Dorian Gray

Oscar Wilde – Das Bildnis des Dorian Gray

Die höchste wie die niedrigste Form von Kritik ist eine Art Autobiographie“, schreibt Oscar Wilde in seinem ersten und einzigen Roman “Das Bildnis des Dorian Gray” (1890). Das Buch, das auch vor Gericht gegen ihn verwendet wurde, hat schon viele Generationen von Dandys und Schöngeistern, besonders aber Liebhaber von Bonmots und Aphorismen, begeistert.

Ausschweifungen und Dekadenz

Dorian Gray ist ein junger Lebemann, der von einem gewissen Basil Hallward porträtiert wird. Das Bild soll eines seiner besten sein, aber dennoch schenkt er es dem Porträtierten. Dieser verbindet mit der Übergabe des Porträts ein Gebet zum Himmel, das sogleich Wirklichkeit wird: Statt Dorian altert von nun an sein Porträt, er selbst bleibt unverändert jung und schön. So kann sich der Bonvivant hemmungslos seinen Vergnügungen und Ausschweifungen hingeben, ohne Rücksicht auf Verluste. Hallward ist es auch, der Dorian Lord Henry Wotton vorstellt. Dieser rät ihm: “Ach! Nutzen Sie Ihre Jugend, solange Sie sie haben. Vergeuden Sie nicht das Gold Ihrer Tage, indem Sie langweiligem Geschwätz lauschen, den hoffnungsvollen Versager zu bessern trachten oder Ihr Leben an das Beschränkte, das Gewöhnliche und das Gemein wegwerfen.(…)Leben Sie! Leben Sie das wunderbare Leben, das in Ihnen ist. Lassen Sie sich nichts entgehen.” Diesen uneingeschränkten Hedonismus nimmt sich Dorian gerade dann zu Herzen, als er seinen beiden Freunden seine Angebetete, eine Schauspielerin, vorstellt. Diese gibt gerade Romeo & Julia am Theater und spielt nur leider grottenschlecht. Seine Freunde trösten ihn mit ihrer Schönheit, jedoch das Band zwischen ihr und ihm ist zerbrochen. Durch einige unglückliche Wendungen kommt es dann zu gleich drei (!) Todesfällen in dieser Geschichte, an denen Dorian nicht ganz unschuldig ist.

Spiegel seiner Zeit

Oscar Wilde hält mit Dorian Gray seiner Zeit einen Spiegel vor. Der “Prince Charming” (Märchenprinz) als der der Dorian gegenüber dem jungen Fräulein Sibyl Vane auftritt, entpuppt sich als grausame Maske, denn seine wahres Gesicht kennt nur das Gemälde, das sich bei jeder Verwerfung Dorians verzehrt und verzerrt. Ihr Tod wird zu einer ästhetischen Übung, in der sie gleich der Julia in das Reich der Kunst zurückkehrt, etwas von einer Märtyrerin umgebe sie. Der gefühllose Ästhet sieht in ihrem Tod nur eine “schönste Tragödie”, er entbindet sich jedweder Gefühlsregung indem er seine eigene Schuld an ihrem Tod ausklammert und ignoriert. “Devant une facade rose,/sur le marbre d’un escalier” zitiert er Theophile Gautier, als er seinen besten Freund, Basil Hallward, beseitigt hat und denkt dabei an Venedig. Eine dritte Person muss noch sterben, bis Dorian sich endgültig in eine der Opiumhöhlen Londons zurückzieht, um endlich das Vergessen zu finden, das er sein Leben lang suchte. “Du bist die Verkörperung dessen, was unsere Zeit sucht und was sie gefunden zu haben fürchtet“, ruft ihm Harry, sein letzter Freund zu und es stimmt. Denn seine Zeit hatte ein Monster erschaffen, das keiner besser inkarnierte als Mr. Dorian Gray. Ein rücksichtsloser Hedonist, der in der Anbetung der Jugend und Schönheit jede moralische Integrität verloren hat. “Die Jugend hatte ihn verdorben.”

Man könnte in dem Bildnis des Dorian Gray auch die Vorwegnahme des Idol-Kultes der heutigen Jugend sehen. Die Bilder und Fotos der Rockstars und die idealistische Anbetung dieser Ikonen der Moderne ähnelt sehr dem Personenkult um Dorian Gray, der als Symbol seiner Zeit sowohl den aufstrebenden Kapitalisten als auch den Rockstar vorwegnahm. Keiner verkörpert den Selfmademan der Moderne wohl besser als ein Rockstar, der nicht nur das Idealbild der Jugend verkörpert, sondern auch liebend gerne einen gleichsam religiösen Kult um seine eigene Person entfesselt. Im Anhang befindet sich ein Nachwort und eine kompakte Biographie des Autors.

 

Oscar Wilde
Das Bildnis des Dorian Gray
Übers. von Ingrid Rein
Nachw. von Ulrich Horstmann
2022, Paperback, 316 S.
ISBN: 978-3-15-020669-0
Reclam Verlag
10,00 €


Genre: Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Reclam Verlag

Auf Schiene

Auf Schiene. 33 Bahntouren durch Mitteleuropa

Auto-, stau- und abgasfrei reisen. Das kann man, wenn man will. Mit dem Zug! Trend-Journalist Othmar Pruckner hat Bahnverbindungen ausfindig gemacht, die es schon mehr als 100 Jahre gibt, aber durch das Fliegen verdrängt wurden. Dank Pandemie wurden sie nun von ihm wiederentdeckt und einem neuen, jüngeren Publikum auf charmante Weise zugänglich gemacht: als Reise-Buch!

Bahn fahren neu entdecken

Einige der Highlights gleich vorneweg: ans Schwäbische Meer, ins liebenswerte Kamptal, auf die Spitze der Zugspitze, für ein Budweiser nach Budweis, mit dem Reblausexpress von Retz ins kleine Drosendorf sowie mit der Wachaubahn nach Spitz. Hallstatt wird sogar per Zug und Schiff bereist. Dazu gibt es literarische Vorbilder wie Fritz von Herzmanovsky-Orlando auf einer Waldbahn-Radtour im Hintergebirge, mit Thomas Bernhard zum Schloss Wolfsegg oder auf den Spuren von Ferdinand Raimund nach Gutenstein und natürlich mit Gustav Klimt an den Attersee. Die Taurachbahn im Lungau, die Zahnradbahn auf den Schneeberg und schließlich eine Pilgerreise nach Mariazell sowie eine Begehung der Semmeringstrecke gehören zu den weiteren unvergesslichen Stationen dieses lesenswerten Reise-Führers. Darüber hinaus werden aber auch Anschlusstouren an die Zugfahrten und Ausflugsziele vorgeschlagen: Stadt- und Landbesichtigungen, Spaziergänge, Wanderungen, Radtouren quer durch Österreich, vom Neusiedler- bis zum Bodensee, von Südkärnten bis zum nördlichen Waldviertel, vom hohen Schneeberg bis zum fröhlichen Zillertal.

Vom Meer ins Gebirge

Mit der Bahn kann man sogar ans Meer fahren, ohne Österreich je zu verlassen. Das “Schwäbische Meer” ist selbstverständlich nichts anderes als der Bodensee und teilt sich auf Deutschland, Schweiz und Österreich auf. Wer einen Ausflug über die Landesgrenze nach Lindau wagt, kann – als ganz besondere Attraktion – Österreich sogar auf dem Seeweg erreichen. Das gibt es sonst nirgends mehr. Wer der Eisenbahn lieber treu bleibt, nimmt das “Wälderbähle” in Bezau und schafft es damit bis auf die Bergstation Baumgarten auf 1650 Meter Seehöhe. Aber auch das Montafon hat seine eigene Bahnlinie, das “Muntafunar Bähnle”, das inzwischen als S4 sogar von Bregenz aus bis nach Schruns fährt. Vom äußersten Westen des Landes bringt uns das 3. Kapitel dann an den Schneeberg (2076m), des Wiener liebsten Hausberges. Von Wien aus fährt man nach Puchberg am Schneeberg und passiert dabei auch das weltberühmte Bad Fischau. Beeindruckt wird man schon während der Zugfahrt, die 300 Höhenmeter bewältigt, von der Hohen Wand. Die Schneebergbahn ist eine der letzten drei Zahnradbahnen Österreichs, die Station Hochschneeberg auf 1796 Metern der höchstgelegene Bahnhof Österreichs.

Zu Nachbarn und Freunden

Aber auch für Kurzausflügler ist in vorliegendem reich bebilderten und mit Karten ausgestatteten Zugführer einiges dabei. Vielleicht begnügt sich der eine oder andere sogar mit einem Bier in Budweis? Ob man über die Franz-Josefs-Bahn und Ceske Velenice oder mit der sog. Summerauer Bahn durchs Mühlviertel via Linz anreist, so oder so, schafft man es von Wien aus an einem Tage hin und retour. Weitere Stationen führen den werten Leser ins Marchfeld, auf einen Spaziergang von Mödling nach Baden oder auch nach Wien, Bratislava, Neusiedl am See – Um den See – Esterházy-Stadt Eisenstadt – Sopron und ein Abstecher nach Győr und viele andere Ort mehr. Und das alles ohne CO2 Abdruck!

 

Othmar Pruckner
Auf Schiene. 33 Bahnreisen durch Österreich und darüber hinaus. Ein Reisebuch. Reihe Kultur für Genießer Falter Verlag
2022, 320 Seiten
ISBN: 9783854397076
Falter Verlag
€ 29,90


Genre: Reiseabenteuer, Reisen
Illustrated by Falter

Wer war Fritz Mandl?

Wer war Fritz Mandl

Im Zuge des Hypes um die Schauspielerin und Erfinderin Hedy Lamas wurde auch ein gewisser Fritz Mandl wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gespült. Der erste Ehemann des “Ekstase”-Filmstars war selbst aus jüdischer Familie stammend als europäischer „Patronenkönig“ in die Geschichte eingegangen. Er lieferte sein Produkt sowohl an die Heimwehren als auch an die Republikaner Spaniens. Im Exil arbeitete er mit Peron zusammen, später lieferte er auch nach Afrika.

Auf Du und Du mit Mussolini

Mandl hatte aus der Bewunderung für Mussolini keinen Hehl gemacht. Zu seinen besten Freunden gehörte Ernst Rüdiger von Starhemberg und die anderen Heimwehrler des Austrofaschismus, die “Heimwehr-Mandln”. Sein Hass auf den Sozialismus hinderte ihn aber nie daran, auch ihnen seine Patronen zu verkaufen. Die Historikerin Ursula Prutsch hat eine solide Biographie verfasst, die den ganzen Mandl zeigt. Dazu hat sie – nach eigenen Auskünften – nicht nur Zugang zum Nachlass der Familie bekommen, sondern auch Archivbestände in Wien, St. Pölten, Linz, Berlin, Weimar, Bern, London, Washington, Buonos Aires und Rom beackert. Reich bebildert und mit vielen Dokumenten illustriert zeichnet Prutsch das Leben eines typischen Unternehmers nach, der auf dieselbe Schule ging wie Paul Lazarsfeld, Hans Gelsen, Erwin Schrödinger, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Otto Wagner, Lise Meitner oder Elise Richter. 1924 übernahm Fritz die Geschäfte seines Vaters Alexander und wurde Direktor der Hirtenberger AG.

Sozialpartnerschaft einmal anders

Sein Verständnis von Sozialpartnerschaft war durchwegs paternalistisch: als “gerechter und gütiger” Firmenboss brauchten seine Arbeiter keine Gewerkschaft, da er für alle wie ein gerechter Vater sorgen würde. Im Aufsichtsrat der Hirtenberger Patronenfabrik saß nicht umsonst der Bundesparteiobmann der Christlich-Sozialen Partei, die Österreich in einen Ständestaat nach faschistischem Muster umbauten. Die Hirtenberger Waffenaffäre von 1932, bei der gesetzeswidrig Waffen von Italien nach Ungarn geleitet wurden, hätte dieses Projekt beinahe gefährdet. Aber Mandl und die Seinen kratzten nochmals die Kurve. Erst der Nationalsozialismus beendete das muntere, anti-demokratische Treiben der Christlich-Sozialen. Mit ihrer Spielart des Faschismus hatten sie jedwedes patriotische Bewusstsein der Österreicher für einige Jahrzehnte zerstört. 1938 wollte dann niemand mehr für dieses Österreich einstehen. Außer den Kommunisten, die sogar dann noch von einem österreichischen Nationalbewusstsein sprachen, als es illegal und letal war.

Patronen ob Krieg oder Frieden

Es scheint schier unglaublich, wie sich ein Mann durch all die Wirrnisse der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs hindurchlavierte und mehr oder weniger sein Hab und Gut bis in die Siebziger Jahre hinein retten konnte. Obwohl er von gleich mehreren Geheimdiensten beschattet und argwöhnisch betrachtet wurde, hatte er doch immer wieder die richtigen Kontakte, um sich den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Schließlich hatte er ja stets beide Seiten beliefert und war somit stets Geschäftsmann geblieben. Aber gerade dieses Zusammenspiel von Big Business mit Diktaturen nimmt Prutsch exemplarisch ins Korn und versucht zu erzählen, wie skrupellose Rüstungsgeschäfte und die Machenschaften der Geheimdienste das Europa des 20. Jahrhunderts zerrütteten. Fritz Mandl: ein österreichischer Unternehmer.

Ursula Prutsch
Wer war Fritz Mandl
Waffen, Nazis und Geheimdienste. Die Biografie
2022, Hardcover mit SU, 304 Seiten
ISBN 978-3-222-15071-5
Molden Verlag
€ 24,99


Illustrated by Sryria Verlag Graz

Die Imker

Gerhard Roth – Die Imker

Der preisgekrönte Grazer Autor ist Anfang dieses Jahres im Alter von 80 Jahren verstorben. Unter seinen zahlreichen Romanen, Erzählungen, Essays und Theaterstücken ist vor allem der 1991 abgeschlossene siebenbändige Zyklus “Die Archive des Schweigens” und der Orkus-Zyklus zu erwähnen. Zuletzt veröffentlichte er drei Venedig-Romane (Die Irrfahrt des Michael Aldrian, Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier und Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe).

Imker als Astronauten

Sein nun letzter Roman “Die Imker” ist unter dem Eindruck der weltweiten Corona-Pandemie entstanden und handelt von nichts Geringerem als der Apokalypse, oder dem Weltuntergang. Aber anders als in den geläufigen Erzählungen des Endes der Welt geschieht dieses bei Roth nicht mit einem großen Tata, sondern leise und still. Am Morgen des 1. April zieht ein gelber Nebel auf, der Menschen in Luft auflöst. Franz Lindner, Patient einer Einrichtung für psychisch beeinträchtigte Künstlerinnen und Künstler, und einige andere haben die Katastrophe überlebt. Sie bauen eine Dorfgemeinschaft aus Bienenzüchtern auf und versuchen ihr Über-Leben zu organisieren. Aber es ist schwer, denn “alles ist verschwunden“. “Dann wusste ich mit einem Mal, wo ich Orientierung fand: im meiner Kindheit”, meint Lindner zu sich selbst und entdeckt, dass er sich plötzlich mit den Tieren unterhalten kann. In Gedanken, stumm. Delirierend schreibt oder sagt er auch einige Gedichtzyklen auf, die sich über mehrere Seiten des Romans hinwegziehen. “Die Weintraube ist der Globus der Trinker” heißt es da vielsagend in “Gedichte I”, andere Sätze bedürfen der Reflexion, denn viele stehen für sich alleine und nicht als Teil des sie einrahmenden Gedichtes. So wie das Sanatorium Hoffmann, in dem Franz Kafka gestorben ist. Es befindet sich in der Nähe der (tatsächlich) existierenden Künstler-Kolonie in Gugging, unweit von Wien. Aber auch die Malerei stellt Roth ins Zentrum seiner Betrachtungen. Denn “Die Jäger im Schnee” von Pieter Bruegel dem Älteren wird von ihm aus dem Kunsthistorischen Museum kurzerhand entwendet oder sollte man sagen ausgeborgt? Für Lindner sind Imker “Astronauten, die in ihrer Schutzkleidung in die Welt der Bienen eindringen, um sie zu entdecken, zu erforschen, auszurauben”. Inspiriert wird er auch von den Filmen des Russen Andrej Tarkowski, auch sie handeln zumeist von einer Art Weltuntergang.

Schreiben als Therapie

Auch wenn der Weltuntergang zunächst befremdlich auf die Überlebenden wirkt, beginnen doch einige, ihn auch als große Chance zu sehen. “Waren wir nicht alle Opfer von Normalität gewesen, die über uns bestimmt hatten?, fragte ich mich zum x-ten Mal. Wir durften jetzt sein, wie wir waren, wie wir sein mussten, und das befreite uns.” Und was macht Lindner? Er schreibt. Und dieses Schreiben wird ihm alsbald zum heiligen Ritual, zum Ort, den man wohl Heimat nennt und von wo es nur Gutes zu erwarten gab: “In der Stille, der Einsamkeit wiederum erfahre ich die beseelte Welt. Das Schreiben macht es mir möglich.” Das Schreiben wird zum “Durch-Wände-Gehen” und sogar “Fliegen”, das schreibende Ich zum eigentlich Ich, das immer wieder und wieder in “pausenloser Verwandlung” ein anderes Ich annehmen kann, sich in andere Wirklichkeiten versetzt, Bücher liest. “Ich verspüre beim Schreiben eine Verwandtschaft mit den Bienen. Wörter sind für mich wie Blütenpollen. Ich liebe sie und wünsche, ihren Nektar zu saugen und ihn zu Honig zu verarbeiten.” Ein Imker, der über das Leben eines Schriftstellers nachdenkt wird denn wohl über das Schreiben auch nicht anders formulieren können als so: “Schreiben ist die Metamorphose der Gedanken, von der Erlebnisraupe zur Erinnerungspuppe zum Buchstabenschmetterling.

Gerhard Roth hat mit “Die Imker” einen philosophischen Roman im Setting einer Dystopie verfasst, eine Art Abschiedsgeschenk an sich selbst. “Die Imker” behandelt nicht nur die Entstehung von Gesellschaft und das Wesen des Menschen, sondern vor allem auch die Bedeutung des Unbewussten und das Rätsel des Todes. Ein Spätwerk, das in einem parabelartigen Gedankenspiel noch einmal alle Motive von Rohts Denken und Schreiben versammelt und so auch die Apokalypse erträglicher und jedenfalls nachvollziehbarer macht.

 

Gerhard Roth
Die Imker. Roman
2022, Hardcover, 560 Seiten
ISBN: 978-3-10-397467-6
Verlag: S. FISCHER


Genre: Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by S. Fischer

Lerne lachen ohne zu weinen

Kurt Tucholsky – Lerne lachen ohne zu weinen

Ignaz Wrobel, Theobald Tiger, Peter Panter oder Kaspar Hauser waren nur einige der Pseudonyme von Kurt Tucholsky. Wie die Herausgeber in der editorischen Bemerkung zu vorliegender Ausgabe anführen, handelt es sich bei “Lerne lachen ohne zu weinen” um Tucholskys letztes Buch, das 1931 beim Rowohlt Verlag in Berlin erschienen war. Kaum zwei Jahre später wurde es neben vielen anderen Werken der deutschen Weltliteratur von den Nazis am Scheiterhaufen verbrannt.

Von der “Schaubühne” zur “Weltbühne”

Tucholsky galt vielen als scharfsinnigster und gleichzeitig unterhaltsamster politischer Journalist der Weimarer Republik. Dennoch nahm er sich weitere zwei Jahre später – also 1935 – in Göteborger Exil das Leben. Die Themen über die Kurt Tucholsky sind ebenso allgegenwärtig und aktuell, wie sein Kampf gegen den Nationalsozialismus und Faschismus. Denn auch mehr als 100 Jahre später, ist dieser Schoß noch fruchtbar, aus dem das kroch. In sieben Kapiteln finden sich in vorliegender Ausgabe schriftstellerische Interventionen zu allen wichtigen Themen unserer Zeit. “Kapitalismus, Klassenkampf, Kriegstreiberei, Nationalismus, Lebensfallen, Neurosen und Geschmacklosigkeiten der bürgerlichen Kultur und Sexualität, die Idiotie des Klerus und der Presse, über die Bücher und das Büchermachen selbst.” Aber auch zärtliche Zeilen, etwa über die Hände von Muttern in starkem Berlinerisch: “Heiß warn se un kalt. Nu sind se alt. Nu bist du bald am Ende. Da stehen wa nu hier, und denn komm wir bei dir und streicheln deine Hände”.

Europa als Vision einer besseren Welt

Neben Gedichten finden sich auch kurze Prosatexte oder ein “Interview mit sich selbst”. In diesem begegnen sich der junge und der alte Peter Panter, ersterer ratsuchend. Beugen will er sich nicht, aber genau das rät ihm der ältere Panter, denn ohne das gäbe es kein Weiterkommen. “Sie werden sich beugen. Sie müssen sich beugen. Eines Tages werden Sie auch Ihrerseits Geld verdienen wollen, und Sie beugen sich. Es ist so leicht.” Aber die Pointe am Schluss, macht klar, dass auch der Erzähler Position bezieht, denn er ist eindeutig der jüngere Peter Panter und urteilt über den alten: “Ein ekelhafter Kerl”. Aber wer weiß, in dreißig Jahren? An anderer Stelle nimmt Kurt Tucholsky das vorweg, was sich zumindest nach rund 100 Jahren gebessert hat. In “Wahnsinn Europa” schreibt er nämlich (schon 1935!): “Wir in Europa sind kapitalistisch längst eine große Familie, und die Einteilung in Staaten, wie sie heute sind, ist eine anachronistische Kinderei, eine gefährliche und eine unehrliche dazu.” Erstaunlich visionär kritisiert und charakterisiert Kurt Tucholsky die politischen Geschehnisse am Vorabend der Machtergreifung durch Hitler und deren mögliche Konsequenzen. Tucholsky empört sich auch in seinem letzten Buch öffentlich über die unwürdigen Vorgänge seiner Zeit und setzt sich im Kampf für die Demokratie und Menschenrechte ein. Vor allem aber für die Wahrheit.

Kurt Tucholsky
Lerne lachen ohne zu weinen
2017, 416 S., gebunden in feines Leinen, 12,5 x 20 cm.
ISBN: 978-3-7374-0980-3
Marix Verlag


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Marix

Neulich im Beet: Alles dauert ewig, und die Hälfte misslingt. Aber es gibt nichts Schöneres als Gärtnern

Zu jedem der 26 Kapitel gibt es ein passendes Bild, gemalt von Monika Dietrich-Bartkiewiecz, der Klappentext berichtet, dass sie eine naturverbundene Architektin sei. Die kleinen Bilder sind großflächig angelegt, mit auffallenden Farben und sehr stimmig, obwohl sie gar nicht vorhaben, naturgetreu zu sein.

Kennengelernt habe ich die Artikel aus der ZEIT, wo die beiden eine Kolumne füllen, die ich mit Vergnügen lese. Das Vergnügen nahm beim Buch noch zu, sind die Texte doch länger und können deshalb auch Hintergründe und Zusammenhänge aufzeigen.

Frau Flamm hat als Berlinerin in der Uckermark für die fünfköpfige Familie ein altes Haus mit viel Land gekauft und lässt uns teilhaben an den Freuden, aber auch ihren Leiden als Anfängerin.
Schon im Vorwort werden wir vorbereitet: Ein Garten ist kein Balkon (wo es reicht, Pflanzen zu kaufen und dann zu gießen) es wird viel gestorben, ein Baum kann von einer Krankheit „hingerafft“ werden. “Und dann fängt man wieder von vorne an.” Aber: “Und aus der Erkenntnis, dass man die Dinge hier nicht vollständig im Griff haben muss, weil man sie gar nicht vollständig im Griff haben kann, erwächst eine große Freiheit und ein großes Glück.”

Da ist die Bestandsaufnahme in einem Garten, in dem die Vorbesitzer immer die Weihnachtsbäume ausgepflanzt hatten, nun ist der Boden sauer und nicht alle Pflanzen mögen das. Überhaupt die Erde: die Uckermark ist nicht sehr fruchtbar, also bestellt sie eine Wagenladung (5,2 t!) Dünger, der aber noch nicht verrottet ist und nun mühselig verteilt wird. Der angelegte Komposthaufen trägt, fast aus Versehen, riesige Kürbisse, die sich in der Nachbarschaft herumsprechen und großzügig verteilt werden. Auch das ein Schritt, dass die Nachbarn nicht mehr von den Berliner Buletten sprechen, sondern sie wie Nachbarn behandeln.

Nutzgarten oder Ziergarten? Frau Flamm versucht beides und weiß viel zu berichten. Tomaten können mit Basilikum zusammen gepflanzt werden, sie sind beide Pegeltrinker, Letzteres mag Kaffeesatz als Dünger, Borretsch ist nicht nur bitter, auch giftig, und man sollte Kindern erlauben, es wieder auszuspucken, wenn es nicht schmeckt. Sie schreibt, wie ich es mag, von ihren Erfahrungen, wo das Schwarze unter den Fingernägeln noch durchschimmert und uns noch ahnen lassen, wie Gartenarbeit sich anfühlt.

Für mich als Ziergärtnerin hätte es mehr zu Blumen sein können. Aber, was bilde ich mir da ein, mich als “Gärtnerin” zu bezeichnen? Als Frau Flamm das tat, hat eine Profigärtnerin sich das verbeten, wir seien “Menschen, die sich im Garten aufhalten”. MDSIGA macht sie daraus, weil das Schaffen langer Abkürzungen so in Mode ist.

Mir ist bei manchen Artikeln aufgefallen, dass ich mein Buch vor zehn Jahren schrieb, und ich lasse mich gern auf den aktuellen Stand bringen, etwa bei Rosen, wo wir nun die nicht-gefüllten bevorzugen, weil sie bienenfreundlicher sind.

Oder die Diskussion mit dem selbsternannten Naturgärtner, der sie überreden will, einen Garten ganz ohne Dünger zu entwickeln. Er ist, übrigens, auch ein MDSIGA, der sein Geld als Banker in Frankfurt verdient. Und ganz zum Schluss kommen die Schottergärten. Ich fühle mich als Gartenoma nicht nur gut informiert über das Gärtnern heutzutage, vor allem auch gut unterhalten.


Genre: Garten, Natur
Illustrated by Knaur München

Abby: Mit Butch Cassidy auf dem Outlaw Trail (Erster Band der Reihe)

Frauen als Outlaws

 

Die 16-jährige Abigail (Abby) Clearwater ist mit ihrem Leben unzufrieden: Als Mormonin aufgewachsen, soll sie nun als 5. Frau an einen alten Mann verschachert werden, um diesen den heiß ersehnten Sohn zu gebären. Also nutzt sie die Gelegenheit zu fliehen, als sich diese mit dem Outlaw Fynn Johnson ergibt. Abby ist von der Vorstellung fasziniert, ebenso frei, wild und ungebunden leben zu können wie die Outlaws und macht sich mit Beharrlichkeit und Selbstbewusstsein daran, von den Männern akzeptiert zu werden. Das gelingt ihr auch und sie ist nicht nur bei mehreren Überfällen dabei, sondern überfällt sogar allein eine Bank. Abby genießt ein paar Jahre lang die Freiheiten und den Geldsegen. Sie hat sich z.B. die Freiheit erkämpft, ein ähnliches Liebesleben wie die Männer zu führen, die wechselnde Liebschaften haben, ohne dass sich die Gesellschaft daran stört. Außerdem lernt sie ausgezeichnet schießen, reiten und die unwirtlichen Lebensbedingungen in den Verstecken auszuhalten. In ihren Freiheitsbestrebungen wird sie nicht nur von Fynn unterstützt, sondern auch von Butch Cassidy und Elzy Lay. Es bleibt aber bei der Unterstützung, denn Abby will sich selbst Respekt verschaffen. Auch das gelingt ihr, denn Elzy lehrt sie Verteidigungstechniken, die Abby ohne zu zögern anwendet, wenn ihr Gefahr droht. Aber irgendwann stellt sie fest, dass dieses Leben ohne Weiteres mit dem Tod enden kann und sie will auch nicht mehr die Unbequemlichkeiten der Verstecke auf sich nehmen. Eine Auszeit in San Franzisco verschafft ihr Klarheit über ihr weiteres Leben: Sie will sich niederlassen und heiraten.

 

F*ck you, Patriarchat!

 

Wer jetzt aber denkt, dass damit Abbys mühsam erkämpfte Freiheiten wieder für den Teufel sind (wie oft in der nicht nur historischen Literatur immer wieder propagiert), der irrt: Sie sucht sich ihren künftigen Gatten genau aus und geht offen mit ihrem Liebesleben und ihrer gesetzlosen Vergangenheit um. Außerdem steht sie finanziell auf eigenen Füßen, sodass sie ihren Gatten jederzeit verlassen kann.

Claudia Fischer stellt hier eine Frau vor, die ihr Leben unter schwierigsten Umständen in die eigenen Hände nimmt, und verweist dabei auf historische Frauenfiguren, denen ihre erfundene Abby nachempfunden ist. Abby und ihre historischen Vorbilder sind in jedem Fall Vorbilder, denn sie zeigen Frauen, wie frau sich aus allen toxischen Beschränkungen befreit, die das Patriarchat ihnen auferlegen will.

Was Abby hier auch zeigt, ist nach dem Buch „Die Wahrheit über Eva“ genau das, was Jäger*innen und Sammler*innen schon in der Steinzeit gelebt haben: Frauen waren angesehene Mitglieder der Gesellschaft, die ihr Liebesleben frei leben konnten (sich dabei aber ihre Männer – wie Abby auch – genau aussuchten) und sich damit sogar Vorteile sicherten. Denn da die Männer nicht genau wussten, wer der Vater der Kinder ist, versorgten mehrere Männer den Nachwuchs mit und ermöglichten damit weit bessere Überlebenschancen der Kinder – und sogar die Entwicklung des Gehirns über den Affenstatus hinaus zum Menschen! Die patriarchale Erfindung der lebenslangen Ehe hatte dagegen nur einen Zweck: Die Frau in ihrer Sexualität einzuschränken, so ihre Kraft zu schwächen und dem Mann sicherzustellen, dass der Nachwuchs nur von ihm allein ist – während der Mann selbst so viele Liebschaften haben konnte, wie er wollte. Aber selbst unter diesen Bedingungen suchten sich Frauen ihre Liebhaber aus und die so entstandenen Kinder waren dann eben Kuckuckskinder. Patriarchale Beschränkungen funktionieren nicht und haben nie wirklich funktioniert, denn Frauen suchen sich und finden immer ihre eigenen Wege (entweder offen oder heimlich), um die für sie toxischen Regeln zu umgehen. Abby rebelliert offen, muss dafür aber überstark sein, um das auch durchzusetzen. Das ist leider ein Preis, den auch heute noch viele Frauen zahlen müssen, um im Leben zu bestehen.

Die Gemeinschaft, die in dem Buch beschrieben wird, hat mich noch weiter an die Traditionen der Jäger*innen und Sammler*innen erinnert (denn auch Frauen jagten damals und waren in ihrem Alltag besser trainiert als weibliche Olympioniken): Die Gemeinschaft sichert das Überleben. Und da kann man(n) sich unnütze Beschränkungen der Frau schlicht nicht leisten, zumal Frauen ganzheitlich denken und das als Qualität für Führungspersönlichkeiten nachgewiesen ist. Auch Abby sorgt mit ihren Ideen und ihrer Vorgehensweise immer wieder für eine Verbesserung der Situation und sichert sogar an einigen Stellen das Überleben der Gruppe in brenzligen Situationen. Und ein weiteres Merkmal der Jäger*innen und Sammler*innen hat Abby als Überlebensstrategie (wieder-)entdeckt: die Vernetzung mit anderen Frauen. Frauennetzwerke sind extrem stark und effizient, deshalb wurden und werden sie vom Patriarchat immer wieder attackiert. Abby nutzt die wenigen Freundschaften mit Frauen, die sie in der Zeit des gesetzlosen Weges und später in der Ehe mit James hat, optimal, um Rückhalt zu gewinnen, wenn sie diesen braucht.

 

Ein paarmal bin ich über Ungereimtheiten gestoßen, die sich aber meist im Laufe der Lektüre geklärt haben. Ich habe mich z.B. gefragt, warum Abby bei all ihren Liebschaften keine Kinder bekommen hat. Fischer erklärt das mit mehreren Fehlgeburten, die plausibel klingen, wenn man bedenkt, welch hartes Leben Abby hat führen müssen. Warum Abby sich aber trotzdem in die Rolle der Hausfrau bei den Outlaws hat drängen lassen, obwohl sie sonst so durchsetzungsstark ist und alle Rollenklischees gesprengt hat, hat sich mir nicht wirklich erschlossen. Es wäre ihr ein Leichtes gewesen, den Männern den Kochtopf und den Putzlappen vor die Füße zu knallen und zu sagen: „Macht doch euren Scheiß allein – ach ja und wenn wir schon dabei sind: Ich will Eintopf zum Mittagessen, aber pronto!“

 

Wunderbar an dieser Reihe ist auch, dass in dem sonst so männer- und testosterondominierten Western-Genre eine Frau die Hauptrolle spielt. Frauen wurden in der Geschichtsschreibung immer wieder absichtlich ausradiert, was allmählich mehr und mehr ans Tageslicht kommt. Eine logische Konsequenz ist die Sichtbarmachung der Frau nicht nur in einer gendergerechten Sprache, sondern auch in der Geschichtsschreibung und darüber hinaus in der Belletristik. Ein weitere Sichtbarmachung gerade in angeblich männerdominierten Genres ist also sehr wünschenswert und Claudia Fischer trägt mit ihrer Reihe ihren Teil dazu bei.

 

Empfohlen!


Genre: Emanzipation, Western
Illustrated by Bogner

Love and Fortune 4 und 5

Love and Fortune 4

Love and Fortune 5Ältere Frau, jüngerer Mann

 

Wako hat sich von Fu getrennt und baut sich ein neues Leben auf. Sie fühlt sich befreit von Fus Schuldzuweisungen und seinen Forderungen. Während Wako noch mit Wohnungs- und Jobsuche beschäftigt ist, gelingt es Yumekai endlich, soziale Beziehungen zu seinen Klassenkameraden aufzubauen. Besonders zu einem Mädchen hält er engeren Kontakt. Und dieses Mädchen ist nicht nur freundschaftlich an ihm interessiert.

Wako dagegen wird von ihrer Verwandtschaft damit konfrontiert, dass sie endlich heiraten und Kinder bekommen soll – sonst sei der Körper zu alt dazu. Ihr wird Sorglosigkeit vorgeworfen. Wako weiß das alles, aber sie will in Ruhe entscheiden und von niemandem gedrängt werden. Am Schulfest von Yumeakis Schule trifft sie ihn endlich wieder und verlebt einen schönen Tag mit Yumeaki. Mit ihrem neuen Zeitarbeitsjob will sie v.a. Geld verdienen, um sich außerhalb der Arbeitszeit ein schönes Leben zu machen. Aber nach anfänglichen Schwierigkeiten gewinnt sie in ihren Arbeitskolleginnen auch neue Freundinnen.

In ihrer Beziehung mit Yumeaki will sie die Fehler, die sie bei Fu gemacht hat, nicht wiederholen und arbeitet an sich. Yumeaki hat sich derweil vorgenommen, einen Film zusammen mit seinen neuen Freund*innen zu drehen. Wako unterstützt ihn. So bleibt aber weniger Zeit für ihre Paarbeziehung und er verbringt mehr Zeit mit seiner Klassenkameradin. Dabei kommen die beiden sich näher.

Wako fühlt sich derweil einsam. Bei einem abendlichen Spaziergang durch die Stadt trifft sie ihren Ex Jo wieder und bemerkt, dass dieser sich zum Besseren gewandelt hat. Es folgen noch einige Treffen mit ihm, in denen sie sich angelegentlich überlegt, wie eine jetzige Beziehung mit Jo aussehen würde. Die Treffen mit ihrem Ex verheimlicht sie Yumeaki.

Dieser überlegt sich mittlerweile ebenfalls, ob eine Beziehung mit einer Älteren gut gehen würde, zumal er seiner Klassenkameradin seine Liebe zu Wako gestanden hat. Diese reagiert mit Ekel und Unverständnis. Und Yumeaki selbst bemerkt, dass Wako ihn manchmal wie ein Kind behandelt und hegt Zweifel an Wakos Treue, denn sie war ja schon einmal untreu und könnte auch ihn betrügen. Daraus resultiert eine für Wako unangenehme Eifersucht Yumeakis, die sie in ihrem Sozialleben beschränkt. Deshalb sucht sie Trost bei Jo, der ein offenes Ohr für sie hat. Und sie fällt wieder in ihr altes Muster des Sich-Zurücknehmens zurück, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden.

Als sie wegen einer Lungenentzündung ins Krankenhaus muss, soll ein anderer Erwachsener für sie bürgen. Da sie momentan niemanden hat, fällt ihr nur Jo ein. Damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf, denn nachdem sie das Krankenhaus wieder verlassen hat, macht ihr Jo einen Heiratsantrag – was Yumeaki unfreiwillig mitbekommt.

 

Toxische Rollenklischees

 

Die beiden Bände führen die Geschichte um das altersmäßig ungewohnt ungleiche Liebespaar weiter. In den Bänden wird deutlich, womit Frauen in der Gesellschaft zu kämpfen haben: Bei älteren Männern und jüngeren Frauen zuckt man nur mit den Schultern, aber bei der umgekehrten Paarung ist der Widerstand, der Ekel und das Entsetzen groß. Außerdem wird Frauen eingetrichtert, dass sie sich zugunsten anderer (v.a. der Männer und Kinder) in ihren Bedürfnissen zu beschränken haben. Das verursacht aber letztlich nur Unzufriedenheit, die sich auf die Umgebung überträgt, denn es ist von der Natur nicht vorgesehen, dass man sich permanent beschränkt. Das geht nur eine kurze Weile gut. Und den Frauen geht dieses permanente Opferdasein an die geistige und körperliche Gesundheit. Frauen werden immer noch als opferbereite Mutter und Gebärmaschine betrachtet, denen es in diesem Zuge nicht zugestanden wird, allein glücklich zu werden, keine Kinder bekommen zu wollen oder sich eine*n ungewöhnliche*n Partner*in auszusuchen.

Wako spürt all dies, kann aber ihre Einschränkungen nicht benennen. Sie ist dem ganzen Druck gegenüber sprachlos. Aber sie wehrt sich auf ihre eigene Art, indem sie schweigt und dann macht, was sie für richtig hält. Dabei lernt sie, was sie glücklich macht, was sie nicht haben will und woran sie noch arbeiten muss. Damit ist sie weiter als ihre Schwester, die die Rollenklischees nicht hinterfragt und ihr zusammen mit ihren Eltern vorschreiben will, was Wako zu tun hat. Und noch eine weitere Ungerechtigkeit deckt dieser Manga, allerdings mehr nebenbei, auf: Frauen wird es übelgenommen, wenn sie fremdgehen, während es bei Männern als Kavaliersdelikt gilt.

Die Männer in dem Manga kommen nicht so gut weg, wobei aber zumindest Jo eine Entwicklung in die richtige Richtung durchmacht. Fu dagegen sieht seine Fehler in der Beziehung nicht wirklich ein – es bleibt bei leeren Versprechungen. Und Yumeaki macht sich keinerlei Gedanken darüber, wie sich Wako fühlt, die allein den Druck der ungewöhnlichen Beziehung schultert und dabei – weil sie eine Frau ist – doppelt schlecht wegkommt. Sie weiß, was sie alles verlieren kann, wenn die Beziehung öffentlich wird. Yumeaki dagegen wird ungeschoren davonkommen und als Opfer angesehen werden.

Yumeaki ist letztlich nur mit sich selbst und seinen eigenen Gefühlen beschäftigt, die zwar nachvollziehbar sind, sich aber in eine für Wako ungesunde Richtung entwickeln. Auch das spürt Wako, kann es aber wieder nicht richtig fassen. Sie handelt instinktiv richtig, indem sie sich wiederholt neue Möglichkeiten eröffnet und diese in Gedanken durchspielt. Die Erwartungen an Männer und Frauen kommen in diesem Manga zwar nur teilweise deutlich heraus, aber sie spielen im Hintergrund immer eine fundamentale Rolle und beeinflussen Beziehungen negativ. Auch wenn Frauen oft nicht benennen können, warum sie nicht glücklich sind oder es ihnen nicht gutgeht, spüren sie doch, dass etwas ganz und gar nicht stimmt – und handeln entsprechend. Das wird kein Patriarchat der Welt je abstellen können, denn es liegt in der Natur des Menschen, Ungerechtigkeiten, die einem widerfahren, zu bekämpfen. Das kann explosiv oder still geschehen, aber es geschieht. Und auch das macht der Manga deutlich.

 

Empfohlen.


Genre: Manga, ungewöhnliche Beziehungen
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

Avengers, Assemble!

Avengers, Assemble!” (Rächer, sammelt Euch!). Dieser Lockruf erfolgte erstmals Anfang der Sechziger. Nachdem sich die meisten Superhelden als Einzelhelden schon etabliert hatten, war es endlich auch Zeit für ein Super-Team: die Avengers. Stan Lee und Zeichner Jack Kirby versammelten den Iron Man, Ant-Man, The Wasp, Thor und Hulk, um die erste Super-Group im Kampf gegen das Verbrechen zu gründen. Die ersten 20 Geschichten in einem Band plus viele Hintergrundstories, Fotos und Insiderinfos für Fans.

Avengers: Superhelden und Superschurken

The Avengers: die Rache ist unser!

Der vorliegende Avengers-Sammelband des Marvel Age (Avengers-Hefte 1–20 im XXL-Format) zeigt die mächtigsten Helden der Welt in ihren Anfangstagen, von 1963–1965. Ihre Gegner – allesamt Superschurken – waren damals zum Beispiel Loki, Kang der Eroberer, Wonder Man, Count Nefaria, Baron Zero und die Meister des Bösen und Immortus. Oder ehemalige Mitglieder wie The Hulk, der sich in einem Abenteuer mit dem Submariner gegen die Avengers stellt. Aber es konnten auch Schurken wie Hawkeye, Quicksilver, Swordsman, Hercules, Black Panther, Vision, Black Knight und die Scarlet Witch zu Helden werden, genauso wie Hulk das Team verließ, Captain America beitrat und Ant-Man zu Giant-Man wuchs. Die Zusammenstellung der Avengers wurde immer wieder verändert bis schließlich nur noch Captain America alleine übrig blieb, um die letzte Generation der neuen Helden um sich zu scharen und anzuführen. Auch Spiderman-Fans kommen in vorliegendem Band auf ihre Kosten. Es war The Wasp, die der Gruppe ihren bis heute einträglichen Namen verlieh. Das Headquarter der Avengers stand schon damals in New York City, einem Gebäude namens Avengers Mansion. Dort regierte allerdings vorerst Edwin Jarvis, der Butler der illustren Truppe mit dem fünfmotorigen Quinjet.

Die ersten 20 Stories in XXL

The Avengers im Taschen Verlag mit vielen Extras

Die Sechziger waren das erste Jahrzehnt, in der sich die fünf Gründer-Avengers zu einer starken Truppe formierten und den Kampf gegen das Böse gemeinsam aufnahmen. In enger Zusammenarbeit mit Marvel und der Certified Guaranty Company wurden die makellosesten Ausgaben der Serie neu abfotografiert. Jede Seite wurde genau so reproduziert, wie sie vor mehr als einem halben Jahrhundert gedruckt wurde. Mit modernster Retusche-Technik gelang das digitale Remastern in einer Qualität, die den minderwertigen Druck der Zeit ausgleichen konnte und nun – rundumerneuert – wie frisch aus einer der besten Druckmaschinen der 1960er-Jahre wirkt. Das Vorwort stammt von Kevin Feige, Präsident der Marvel Studios. Eine ausführliche historische Darstellung von Kurt Busiek – Autor und Eisner-Award-Gewinner –, der mit Originalzeichnungen, selten gezeigten Fotos und Dokumenten bebildert ist, folgt darauf (“History”). Ebenfalls erhältlich ist eine Deluxe-Ausgabe (Collector’s Edition von 1.000 nummerierten Exemplaren. Auch erhältlich als XXL Famous First Edition) mit einem Aluminiumeinband mit Kunstlederrücken und Folienprägung. Sie wird ebenfalls in einem Schuber geliefert.

 

Marvel Comics Library. Avengers. Vol. 1. 1963–1965
Famous First Edition: Nummerierte Erstauflage von 5.000 Exemplaren
Kurt Busiek, Kevin Feige, Stan Lee, Jack Kirby
Hardcover, 28 x 39,5 cm, 4,44 kg, 630 Seiten
ISBN 978-3-8365-8234-6
Ausgabe: Englisch
Famous First Edition: Nummerierte Erstauflage von 5.000 Exemplaren.
taschen.com


Genre: Comics, Marvel
Illustrated by Panini Comics

Das Politikverbot in der Schlaraffia

Der Künstlerbund Schlaraffia hatte sich mit seiner Gründung anno 1859 ein Politikverbot auferlegt. Mitglieder sollten sich Freundschaft, Kunst und Humor widmen können, ohne von profanen Themen wie Politik und Religion auseinandergebracht zu werden. Doch das bedeutet nicht, dass die Schlaraffia tatsächlich stets unpolitisch war. Eher das Gegenteil ist der Fall wie eine Arbeit des Schlaraffen Christian Säfken akribisch nachweist. Weiterlesen


Genre: Kulturgeschichte, Sachbuch
Illustrated by Selbstverlag

Yakuza goes Hausmann 7

Yakuza goes Hausmann 7Hausmann, Katzen-Café und Yakuza

 

Tatsu wird vom Nachbarschaftsverein gebeten, 500 Yen Gebühren einzutreiben. Seine Yakuza-Ausstrahlung ist da eindeutig von Vorteil. Allerdings jobbt er auch im Katzen-Café, das für seine Niedlichkeit bekannt ist. Haustiere spielen aber auch bei seinem Boss eine Rolle: Dessen Hundedame hat Geburtstag. Was ihr schenken? Gut, dass Tatsu nähen kann. Aber auch im Krankenhaus tut Tatsu Gutes – als Bösewicht verkleidet. Auf einem Camping-Ausflug liefert er sich ein Kochduell mit einem Rivalen. Aber auch der Haiku-Club und ein bekannter Clan, der ebenfalls lyrisch interessiert ist, liefern sich Duelle – in der Dichtkunst. Um seinen Bro zu finden, trotzt Tatsu sogar einem Taifun. Aber auch ein Hexenschuss stellt ihn vor Herausforderungen. Selbstgebranntes ist eigentlich illegal. Aber Tatsu kennt da so seine Schlupflöcher.

 

Allerlei Klischees durch den Kakao gezogen

 

Der 7. Band der Reihe spielt erneut mit Yakuza-Klischees und der Hausfrauenrolle, die der ehemalige Yakuza Tatsu als Hausmann einnimmt. Das generiert immer wieder Situationskomik, wenn diese beiden so unterschiedlichen Welten aufeinanderprallen, und garantiert, dass Rollenklischees, egal welcher Art, immer wieder durch den Kakao gezogen werden. Ist ein Mann weniger männlich, wenn er Hausarbeit verrichtet? Der Manga sagt eindeutig: Nein! Rollen werden neu definiert und der Manga regt durch seinen speziellen Humor zum Nachdenken an. Und Frau seufzt am Ende der Lektüre: Gäbe es doch nur mehr solcher echten Männer!

 

Weiterhin empfohlen!


Genre: Manga, Rollenklischees
Illustrated by Carlsen Manga!

LTB 558: Das Zeitportal

 

 

Kreuz und quer nicht nur durch die Zeitnews 558

„Das Zeitportal“: Beim Spielen finden Tick, Trick und Track eine seltsame Box, die sich nach mehreren Versuchen als Zeitportal herausstellt. Dieses will ein Spiel mit den Ducks spielen. Die Ducks machen gezwungenermaßen mit, denn es geht um nichts Geringeres als um die Rettung der Welt. Dafür erfindet Daniel Düsentrieb eine Zeitmaschine, damit Donald die von der Box geforderten Dinge einsammeln kann.

„Besondere Fundstücke“: Dussel hat eine auf den ersten Blick verrückte Geschäftsidee – aber sie funktioniert. Zumindest vorerst.

„Die Legende des ersten Phantomias (16) – Der Dieb und der Milliardär“:  Dankmar ist zwar genial, aber ein Lügner und Betrüger. Er hat sich bei Dagobert Duck eingeschmeichelt, um an dessen Rubin zu kommen. Deshalb hat er für ihn ein unüberwindbares Sicherheitssystem entwickelt. Aber Dankmars Bruder will auch ein Wörtchen mitreden. Er und Phantomias wollen dem Maulhelden eine Lektion erteilen.

„Zeitreisen ist relativ“: Auf einem bekannten Foto mit anderen Berühmtheiten ist Albert Einstein verschwunden. Micky vermutet, dass er gekidnappt wurde. Deshalb reist er mit Goofy in die Vergangenheit, um die Entführung zu vereiteln.

„Die Hexe aus dem All“: Gundel Gaukley will einen neuen Angriff auf Dagobert Ducks Geldspeicher starten. Dabei kommen ihr zwei Ufo-Forscher gelegen, die sie für ihre Pläne einspannt.

„Reale virtuelle Realität“: Die Drillinge Tick, Trick und Track geraten aus Versehen in ein virtuelles Spiel und müssen Aufgaben lösen, um wieder in die Realität zurückzufinden.

„Schweigen ist Gold“, gerade in einer Bibliothek. Aber selbst dort ist Daniel Düsentrieb nicht vor Störungen sicher.

„Das Verkaufstalent“: Dolly Duck soll für Dagobert Duck einen unrentablen Küchenroboter verkaufen. Mit viel Optimismus und unermüdlichen Einsatz gelingt ihr das Unmögliche: Sie bringt die Charge an die Käufer*innen. Aber damit tauchen neue Probleme auf.

„Die Heimwerkerprofis“: Eigentlich ist es nicht so schwer, einen Zaun zu reparieren. Es sei denn, man heißt Goofy. Da fällt sogar dem sonst so einfallsreichen Micky bald nichts Hilfreiches mehr ein.

„Klub gegen Klub“: Klaas Klever hat für den Milliardärsclub eine neue, extrem luxuriöse Bleibe gekauft und mit allen Schikanen renovieren lassen. Dabei gründet er auch gleich einen neuen Club und gräbt so dem alten die Mitglieder ab. Das will Dagobert Duck nicht auf sich sitzen lassen.

„Freund und Leid“: Daisy und Donald verbringen ihre Freizeit regelmäßig mit Freund*innen. Aber diese sind eher eine Last denn eine Bereicherung, v.a. für Donald. Eines Tages aber scheinen die beiden Glück zu haben: Die neuen Nachbarn erweisen sich als wahrer Traum – der allerdings schnell zum Alptraum wird.

Jubiläum für Daniel Düsentrieb

70 Jahre wird Daniel Düsentrieb dieses Jahr alt. Deshalb hat der Verlag zwei LTBs mit Daniel-Düsentrieb-Geschichten herausgegeben. Das vorliegende LTB ist eines davon, das andere habe ich hier schon rezensiert. 12 Geschichten bietet das vorliegende LTB rund um Daniel Düsentrieb. Aber nicht nur das Geburtstagskind hat hier seine Auftritte, sondern auch andere bekannte Protagonisten.

Da Düsentrieb v.a. für Technik steht, kommt in seinen Geschichten auch vorwiegend diese zum Tragen, aber auch die Naturwissenschaften und ihre Gesetze bzw. deren Aushebelung. Damit sind ein paar der Geschichten der Science-Fiction zuzuordnen, inklusive Themen wie Zeitreisen und virtuelle Realität – beliebte Sujets der SF. Auch die Probleme, die in der SF angesprochen werden, kommen hier zum Tragen: die Gefahr einer Veränderung der Zeit oder der Einbruch der virtuellen Realität in das normale Leben. Manche Geschichten warten auch mit weiteren hintersinnigen Gedanken auf, z.B. dass Geld nicht alles ist im Leben und andere Werte durchaus mehr zählen oder dass man sich seine Freund*innen sehr genau aussuchen und im Notfall auch Tacheles mit ihnen reden sollte.

Lustige, spannende Geschichten, oft mit mehr Tiefsinn, als der leichtfüßige Erzählstil es vermuten lassen würde. Aber: Es werden wieder einmal v.a. die männlichen Protagonisten in den Fokus gestellt, die weiblichen sind eher Beiwerk, das sich wenig zum Identifizieren für Leserinnen eignet. Einzig Dolly Duck bekommt neben Dussel eine Funktion als Protagonistin und einmal Daisy neben Donald. Das ist deutlich zu wenig.


Genre: Comic
Illustrated by Egmont Ehapa Media

Die Tschechow-Leserin

Traumverlorene Selbstreflexion

Der Titel des Debütromans der italienischen Literatur-Wissenschaftlerin Giulia Corsalini lässt aufhorchen, «Die Tschechow-Leserin» dürfte zumindest die an gehobener Literatur interessierten Leser neugierig machen. Die vierzigjährige Ich-Erzählerin und Protagonistin Nina stammt aus Kiew. Sie hat einen Ruf als Spezialistin für Tschechow, lebt aber mangels beruflicher Chancen mit ihrem pflegebedürftigen Mann und der achtzehnjährigen Tochter Katja in prekären Verhältnissen. Um ihre finanzielle Lage zu verbessern und vor allem der Tochter ein Medizinstudium zu ermöglichen, verlässt sie die Ukraine und nimmt in Italien eine Stelle als Pflegerin bei einer alten Dame an.

Die gleichförmige, wenig erfreuliche Arbeit und ihre Einsamkeit in der Universitätsstadt Macerata weckt in ihr wieder die Leidenschaft für Literatur, die lange Zeit unter dem Druck der widrigen Lebensumstände verdrängt war. Sie sucht in ihrer freien Zeit die Universitäts-Bibliothek auf, beginnt sich wieder intensiv mit Tschechow zu befassen und lernt im Institut für Slawistik den Professor De Felice kennen. Der bietet ihr schon bald einen befristeten Lehrauftrag an, den sie neben ihrem Putzfrauenjob in einem Supermarkt ausüben kann. Mit den Studenten untersucht sie in ihren Vorlesungen den Einfluss Tschechows auf die italienische Erzähl-Literatur und erfüllt zur Zufriedenheit aller die Erwartungen an ihre Dozentur. Ihre Beziehung zu dem zwanzig Jahre älteren Russisch-Professor bleibt, obwohl sie sich auch privat etwas näher kommen, rein intellektueller Natur, man zollt sich gegenseitig höchsten Respekt, auch wenn es manchmal scheint, als wäre da mehr. Als sie die Nachricht erhält, dass es ihrem Mann deutlich schlechter geht, beschließt sie, endgültig nach Kiew zurückzukehren. Dabei vertraut sie dem Freund ihrer Tochter, der Arzt ist, dass mit einem schnellen Ableben aber nicht zu rechnen sei, und schiebt ihre Abreise um zwei Wochen hinaus. Ihr Mann stirbt jedoch überraschend schon drei Tage später, sie ist also nicht mehr rechtzeitig an sein Sterbebett gekommen, was ihr die Tochter sehr übel nimmt.

Im zweiten Teil des Romans erzählt die Autorin, dass Nina in Kiew geblieben ist, dort eine Stelle am Institut für russische Sprache und Kultur angenommen und sich allmählich auch mit ihrer Tochter ausgesöhnt hat, die inzwischen selbst Mutter geworden ist. Acht Jahre nach ihrer überstürzten Abreise erhält sie aus Macerata die Einladung, auf einer dreitägigen Tschechow-Konferenz den Einführungs-Vortrag zu halten. Innerlich zerrissen widmet Nina sich dort aber einer ukrainischen Pflegekraft, die junge Frau ist im Umgang mit den Behörden völlig hilflos. Die Veranstaltung endet im Fiasko, sie lässt sich bei der Konferenz nicht blicken. Im Epilog wird geschildert, wie sie ein halbes Jahr später die Tochter besucht und die Nachricht erhält, dass De Felice gestorben ist. «Ich war eine leidenschaftliche Tschechow-Leserin: Es ist, als hätte ich dies alles schon immer vorausgeahnt», heißt es am Schluss.

Neben dem Thema Migration, welches im zweiten Teil einen breiten Raum einnimmt und ja auch die Protagonistin selbst betrifft, steht in diesem distanziert erzählten Roman aber vor allem Ninas innere Abkehr von ihrem ursprünglichen Leben im Blickpunkt. Ihr entgleiten die Dinge, sie tut nicht das, was sie eigentlich tun wollte und befindet sich am Ende in einer seelischen Vorhölle. Ein schicksalhafter Auflösungs-Prozess, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Es ist die permanente Selbstreflexion, die hier im Blickpunkt steht, als Romanfigur bleibt Nina auffallend blass, ihre Gefühle sind kaum zu entschlüsseln. Über allem liegt stilistisch die für Tschechow typische, traumverlorene Melancholie, und wie dieser belässt auch Giulia Corsalini vieles im Ungefähren und verzichtet auf psychologische Deutungen. Unpassend jedoch ist leider der Schluss des Romans, bei dem alle Dissonanzen zwischen Mutter und Tochter kurzerhand weggebügelt werden.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by nonsolo.Verlag

Zukunftsmusik

Aus der Kommunalka

Als Roman einer Zeitenwende beschreibt «Zukunftsmusik» von Katerina Poladjan den Beginn einer neuen Ära in Russland, die sich in diesem Fall ungewöhnlich exakt auf ein genaues Datum fixieren lässt, den 11. März 1985. Aber ebenso exakt lässt sich mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine der Tag für das Ende dieser Ära benennen, der 24. Februar 2022. Natürlich konnten die Menschen im Roman nicht ahnen, was sich mit der Wahl von Michail Gorbatschow zum ZK-Generalsekretär für sie verbessern würde, sie haben es allenfalls gespürt. So wie wir Heutigen noch nicht ahnen, was Putins Wahn letztendlich bedeutet.

Handlungsort ist eine unbenannte Stadt tausend Werst östlich von Moskau, wo sich in einer aus unterschiedlichsten Mitgliedern bestehenden, WG-ähnlichen Kommunalka mit sechs Mietparteien die Protagonisten des Romans eine Wohnung teilen. Da leben in einem der Zimmer auf engstem Raum Großmutter Warwara, pensionierte Hebamme, die aushilfsweise noch in der Klinik arbeitet und an diesem Tag einem Kind auf die Welt hilft. Mutter Maria arbeitet als Aufseherin im Museum und ist in Matwej verliebt. Ihre Tochter Janka schließlich arbeitet in Nachtschicht in der Glühlampenfabrik und will am Abend in der Küche ein Kwartirnik veranstalten, ein zur Umgehung der Zensur von jungen Leuten einfach in den Privathaushalt verlegtes Konzert. Der Ingenieur Matwej von nebenan hat einen schlechten Tag, denn einer der Probanden bei den von ihm betreuten Versuchen zur Aufhebung der Schwerkraft stirbt. Er hat die Marotte, alles aus seinem Leben in kleinen Kästchen aufzubewahren, deren Inhalte er geradezu zwanghaft ständig umsortiert. Der hoch angesehene alte Professor ist selten zu sehen, bei der Feier zu dessen letztem Geburtstag nutzte Ippolit, Schaffner bei der Eisenbahn, die Gelegenheit und flüsterte Warwara zu, «er sei schon lange hinter ihr her, ihre Verbindung sei durch die Vorsehung bestimmt, und nun sei es an der Zeit, sich dem Schicksal zu ergeben. Warwara ließ ihn wissen, sie werde über sein Ansinnen nachdenken und ihn bezüglich ihrer Entscheidung in Kenntnis setzen». Sie hat ihn erhört!

Bezeichnend für die Verhältnisse ist eine Szene, in der sich Maria an diesem 11. März spontan in einer Schlange mit anstellt, die bis weit auf die Straße hinaus reicht. «Was glauben Sie, was uns erwartet»? fragt sie den Mann vor ihr. «Am Anfang dieser Schlange erwarten uns feine, rosa glänzende Krakauer Würstchen, und wenn wir Pech haben, erwartet uns das Nichts. Und bis wir an der Reihe sind, ist uns die Möglichkeit gegeben zu überlegen, ob wir das, wofür wir anstehen, überhaupt brauchen». Zwischen Resignation und Aufbruch in bessere Zeiten strahlen die Figuren des Romans eine innere Unruhe aus, die sich bereits von der Gegenwart gelöst zu haben scheint und einem Gefühl Platz gibt, das vielleicht ja doch alles besser werden könnte. Wobei die Befreiung aus den beengten Wohnverhältnissen auf ihrer Prioritätenliste ganz oben steht.

Der für den Leipziger Buchpreis nominierte Roman enthält viele Anspielungen auf die russische Literatur, wobei besonders Zitate von Tschechow teils wörtlich übernommen werden. Deutliche Bezüge gibt es aber auch auf Bulgakow, dessen ins Surreale weisender Stil sich bei Katarina Poladjan in ihrem ins Fantastische übergehenden Schluss wiederfindet. Da öffnet sich der Flur plötzlich ins Freie, ohne das sich jemand daran stört. In der kleinen Küche tummeln sich unglaublich viele Leute, obwohl Janka selbst gar nicht auftritt. In Anspielung auf den «Kirschgarten» werden jede Menge kleine Bäumchen aus der Küche durch den Flur getragen, Menschen steigen aus dem Fenster und fliegen davon. Auffallend ist auch die Diskrepanz zwischen den geschliffenen Dialogen aller Bewohner, man siezt sich natürlich, und dem eher proletarisch anmutenden Leben in der beengten Wohnung. Dieser im Stil des Magischen Realismus ohne Larmoyanz geschriebene Roman aus einer Kommunalka ist eine bereichernde, aber auch amüsante Lektüre.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag