Kommando Ajax

Kreativität um ihrer selbst willen

Der dritte Roman der kurdischen Künstlerin Semile Sahin mit dem Titel «Kommando Ajax» wurde von den Feuilletons recht unterschiedlich bewertet. Im Frühjahr wurde er für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, hat ihn aber nicht erhalten. Bei den Leser-Kommentaren im Online-Buchhandel gibt es derzeit drei Jubel-Rezensionen mit fünf Sternen unter den Überschriften «Bestes Buch seit langem», «Treffender geht es nicht» und «Packender Roman». Dabei weisen diese frühen Kommentare, einer sogar noch vor dem offiziellen Erscheinen des Buches am 17.9.2024, ziemlich eindeutig auf literarische Claqueure hin! Und bis heute, ein Jahr später, gibt es auch keinen einzigen neuen Kommentar mehr, das muss doch zu denken geben! So gar nicht in den Jubel passen übrigens auch die an gleicher Stelle mit derzeit 25 Prozent ungewöhnlich vielen, absolut negativen Bewertungen ohne ergänzende, schriftliche Begründung! Ein so noch nicht da gewesenes, wahrhaft zwiespältiges Echo mithin!

Der turbulente Plot dieses Romans aus lose ineinander verwobenen Action-Elementen und Migrations-Problemen handelt von einer nach Rotterdam emigrierten Familie aus Kurdistan. Er beginnt mit einer typisch kurdischen Hochzeit, bei der einer der Brüder aus der im Mittelpunkt stehenden Familie Korkmaz von einem Scharfschützen erschossen wird. Wie in einem Actionthriller geht es um einen Verräter, um Kunstraub alter Meister, um Rache, Liebe und um Zusammengehörigkeit innerhalb der großen kurdischen Familie in einem ausländerfeindlichen Umfeld.

Stilistisch stellt der Roman dieser äußerst vielseitigen Künstlerin ein ziemliches Novum dar mit seiner drehbuchartig an einen Spielfilm erinnernden, temporeichen Erzählweise, in der die Sprache, chronologisch unbekümmert, wie bildersatte, wilde Schwenks mit der Kamera gehandhabt wird. Ebenso unkonventionell ergänzt wird diese manchmal amüsante, kreative Prosa durch viele darin eingestreute, bunte Bild- und Texttafeln, an ein Kinderbuch erinnernd. Hinter all der vordergründig erscheinenden Action steht sinnstiftend die nachdenklich machende Geschichte von der schwierigen Migration einer kurdischen Familie in den als ausländerfeindlich beschriebenen Niederlanden. Die dort alltäglich spürbare Diskriminierung wird im Roman sinniger Weise «Europakrankheit» genannt.

Es gehört viel Mut dazu, Genregrenzen missachtend sämtliche Erzähl-Konventionen über Bord zu werfen und damit ja auch weitverbreitete Leser-Erwartungen zu negieren. Die an sich inhaltlich absolut nichts Neues bietende Geschichte wird stilistisch derart extravagant erzählt, dass man wirklich Vergleichbares kaum finden wird. Dieses den Roman narrativ kennzeichnende Alleinstellungs-Merkmal wird viele Leser gleichwohl kaum beglücken können, zu verstörend und oft auch irritierend ist die stakkatoartige Erzählweise der experimentier- und risikofreudigen Autorin. Man ist als Literaturfreund zuweilen ungut an die Sprachblasen in einem banalen Komikheft erinnert. Dieser Roman ist regelrecht überkonstruiert in dem erkennbaren Bemühen seiner Autorin, einen popartigen, unverwechselbar eigenen Stil zu kreieren, – l’art pour l’art, Kreativität also um ihrer selbst willen!

Fazit:   miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Unverdiente Ungleichheit Wie der Weg aus der Erbengesellschaft gelingen kann

Im Klappentext steht die Frage: “Arbeitest Du noch, oder erbst Du schon?“ Und im Text dann die Aufforderung, sich die Eltern gut auszusuchen; zu wessen Narrativ passt das? Darum geht es hier, wenn die Geschichte der Erbschaftssteuer im letzten Jahrhundert bearbeitet wird. Wer erbt unter den derzeitigen Bedingungen am wenigsten: da sind Frauen, Ost-Deutsche, als Folge der Arbeit der Treuhand, die (treuhänderisch) nur 5% der Betriebe in die Hände Ost-Deutscher legte. Und wie wird das begründet?

Frau Lynartes ist eine Wirtschaftswissenschaftlerin, die ihre Forderungen wohl begründet, fünfzehn Seiten nehmen die Fußnoten ein, die Literatur noch mehr.

Erst wird in einer „kurzen“ Geschichte der deutschen Erbschaftssteuer, das RAN, das Repertoire an Narrativen beschrieben, und das während der verschiedenen Phasen der Wirtschaftsdoktrinen: der Keynesianer, Ordoliberalen und Neoliberalen. Es zeigt sich, wie die Pro- bzw. Contranarrative wechseln, entsprechend der jeweils gängigen Doktrin.

Alle Daten werden in gelungenen Abbildungen untermalt, Frau Lynartes dankt zu Recht zuerst der Zeichnerin, die sie schuf.

Dann folgt ein Kapitel mit Interviews, die sie mit über 20 führenden deutschen WirtschaftsbossInnen führte, natürlich gut anonymisiert.

Deren Narrative überraschen zum Teil, aber die meisten glauben Investitionen bei der Bildung der ärmeren Kinder seien das Wichtigste, um die immer größer werdend Unterschiede auszugleichen.

Seit ich dieses Buch lese, kann ich die Narrative unserer Politiker besser verstehen: Ein führender FDP-Vertreter sieht uns in der Leistungsgesellschaft (die muss sich wieder lohnen!) wobei er nicht das meint, was die FDP sich zum Schluss der Regierung, deren Teil sie war, geleistet hatten. Und wer schadet uns mehr? Steuerhinterzieher oder betrügerische Hartz4 Empfänger? Hier noch ein Foto!

Die Erbschaftssteuer würde die Eigner der Großbetriebe vertreiben: Ist das der Grund, warum führende CSU-Vertreter sich wünschen, dass Erbschaftsteuern Länder Sache werden?

Wer sich fundiert mit Wirtschaftswissenschaften auseinandersetzen möchte, sich aber an den Piketty nicht wagt, lernt viel, ohne sich belehrt zu fühlen.


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Rowohlt

Die Verdorbenen

Das  Böse ohne Sinn

Der neueste Roman im umfangreichen Œuvre von Michael Köhlmeier mit dem Titel «Die Verdorbenen» widmet sich auf sehr spezielle Weise dem Bösen, eine Thematik, mit der sich der Autor immer wieder mal befasst hat. Auch benutzt er, wie derzeit oft praktiziert, Recherchezeit sparend ein biografisch geprägtes Milieu für seine Geschichte. Sein Protagonist ist Student an der Uni Marburg, er will Dichter werden und hat sich für Politik und Germanistik eingeschrieben. Dieses Lokalkolorit kennt der Autor aus seinen eigenen Studienzeiten, und auch die Handlungszeit des Romans in den 1970ern ist deckungsgleich mit seinen Jahren in Marburg.

Johann, der Ich-Erzähler des schmalen Bändchens, trifft als Tutor in Marburg auf Christiane und Tommi, die sich seit Kindheitstagen kennen und als Paar zusammen wohnen. Schon bei der nächsten Begegnung dieser Drei erklärt Christiane kategorisch, sie wolle künftig mit Johann zusammen sein, was Tommi anstandslos akzeptiert. Es gibt keinerlei Vorgeschichte zwischen Johann und Christiane, keine Annäherung, sie empfinden nichts für einander. Deshalb kommt ihr Wunsch wie ein Blitz aus heiterem Himmel über Johann, der als 24jähriger Spätzünder noch nie etwas mit einer Frau hatte. Es entwickelt sich eine skurrile Menage a trois. Johann zieht bei ihnen ein, sie schlafen sogar völlig ungeniert alle drei im selben Bett, Eifersucht hat keinen Platz in ihrer erstaunlichen Liaison so ganz ohne Liebe. Um diesen an sich schon seltsamen Handlungskern herum entwickelt der Autor einen drohenden Schatten, indem er von einem Gespräch Johanns mit seinem Vater erzählt. Der hatte den Sechsjährigen mal gefragt: «Was ist ein Wunsch für dein ganzen Leben? Überleg es dir gut, morgen frage ich dich noch einmal». Der Vater hatte vergessen zu fragen, aber Johann hätte es ihm auch nicht gesagt, denn so was kann man nur denken! Seine Antwort hätte nämlich gelautet: «Einmal in meinem Leben möchte ich einen Mann töten».

Weil der Ich-Erzähler dieses philosophischen Romans als alter Mann auf seine offenbar ziemlich schuldbeladene Jugendzeit zurückblickt, ahnt der Leser natürlich, dass diese Episode aus der Kindheit sich wie ein Orakel wohl noch erfüllen wird im Verlauf der Erzählung. Köhlmeier schildert minutiös den studentischen Geist jener Jahre, in dem revolutionäres Gedankengut immer mehr zur reinen Pose verkommt. Bis Johann in einer ungewöhnlichen Selbstbefreiungsaktion schließlich seine Eltern besucht, deren Notgroschen für schlechte Zeiten an sich nimmt und ohne bestimmtes Ziel auf eine Reise geht. die ihn bis in die belgische Hafenstadt Ostende führt. Dort wird das einstmals bös Gedachte wahr, als er in einem Strandkorb nächtigend überfallen wird und beim Kampf den Mann erschlägt, der ihn ausrauben will. Er kehrt unbehelligt nach Marburg in seine Wohnung zurück und trifft in seinem Zimmer auf die blutüberströmte Leiche von Tommi. Christiane sitzt  unbeteiligt und nicht ansprechbar in der Küche, hat aber keinerlei Blutspuren an sich. Johann ruft die Polizei, nimmt die Schuld auf sich, aber man glaubt ihm nicht. Vierzig Jahre später trifft er sie beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt wieder. «Sie hatte sich nicht verändert», bemerkt er.

Dieser Roman verortet die Natur des Bösen in den vielen merkwürdigen Verhaltensformen der Moderne, die rational kaum mehr nachvollziehbar sind. Dabei geht die seelische Deformation so weit, dass getötet wird um des Tötens willen, ohne moralische Hemmnisse, möglich gemacht durch eine weit verbreitete innere Leere. Was Johann und Christiane schicksalhaft miteinander verbindet ist ihre erschreckende Empfindungslosigkeit. Ihr Leben ist in Wahrheit nur vorgetäuscht, es wird nicht wirklich «erlebt» im wahren Sinne des Wortes. Dieser Roman mit seinen geradezu erschreckend leidenschaftslosen Figuren ist in einem angenehm lesbaren Stil geschrieben. Was den Lesefluss allerdings ziemlich stört, das sind die philosophischen Implikationen, über die man, oft zu heftigem Widerspruch animiert, stolpert als Leser!

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Batman: Hush (little baby, don’t you cry…)

Hush. Große Oper ist diese Batman Erzählung im  praktischen Taschenbuchformat von 15X23cm. Denn nicht nur, dass Batman in der Oper gegen Harley Quinn auftritt, nein, auch eine Vielzahl aller anderen seiner Widersacher setzt dem Dunklen Ritter in dieser famos illustrierten Geschichte zu. Aber es gibt einen, der die Fäden hinter all dem zieht. Nur, wer ist es?

Batman: ganz große Oper

Wir sind wohl beide zu alt geworden…“. Autor Jeph Loeb und Zeichner Jim Lee gaben für diesen Batman aus dem Jahre 2002 wirklich alles. Sie lassen nämlich neben den Schurken, die gegen die verkleidete Fledermaus aus Gotham City auftreten, auch alle seine Freunde vorbeischauen. Darunter ist neben dem Stählernen und einzigartigen Superman natürlich auch Nightwing, Robin, Huntress, Red Hood und Oracle auch James Gordon, der Batman davor zurückhält, einen furchtbaren Fehler zu begehen. Nachdem er sich bei einem Crash von einem Wolkenkratzer ernsthafte Verletzungen zugezogen hat, weil ihm jemand das Bastei durchgeschnitten hat, ist der Dunkle Ritter so heiß, dass er den Joker beinahe kurzerhand erwürgt.

Zwischen Selina und Talia al Guhl

Die aufgestaute Wut, die Schmerzen, die Verzweiflung über sein eigenes Liebesleben lassen ihn beinahe auf dasselbe Niveau seiner Widersacher herabsinken: Batman wird gerade nicht zum Mörder, dank seinem besten Freund Gordon. Abgesehen davon, dass er sein Alter in den Knochen spürt ist er auch noch zwischen zwei Frauen gefangen. Auf der einen Seite die altbekannte Liebesaffäre mit Selina Kyle als Catwoman, auf der anderen Seite die Tochter Ra’s al Ghuls, Talia. Das Gewicht seiner Erinnerungen trägt zusätzlich schwer, denn Batman weiß, wie er selbst sagt, dass er “das Schicksal aller Monster teilt: er ist allein“.

Batmans Freundeskreis

Nur weil du mich küssen darfst…bin ich noch lange nicht Dein Bat-Häschen“, flirtet Catwoman mit Batsy kokett. Also so allein ist er dann doch nicht. In die Oper geht er dann mit seinem alten Freund Elliot, dem Chirurgen, der ihm das Leben rettete. Aber eben auch mit Selina. Was folgt ist ganz großes Kino, denn auf die Idee die Reichen in der Oper auszurauben, darauf kann Harley Quinn unmöglich allein gekommen sein. Die Szene von Batmans Auftritt in der Oper ist sogar auf einer Doppelseite zu sehen, die bis ins letzte Detail alles zeigt. Aber auch düstere Momente werden entsprechend großformatig zelebriert. Das Begräbnis seines Freundes etwa, bei dem Bruce ausgerechnet Walt Whitman zitiert. Bilder, die man nicht so schnell vergisst…

Batmans Schurkenreigen

Neben Poison Ivy, Lady Shiva, Killer Croc, Double-Face, Ra’s al Ghul mit Tochter Talia, dem Riddler ist es aber vor allem eines, das Batman am meisten quält: sein eigenes gebrochenes Herz, wie Alfred, der gerade mal wieder seine äußeren Wunden verarztet, Selina klagt. Batman trägt Narben wie Erinnerungen, andere haben dafür Fotos, meint Selina überrascht, als sie seinen Körper sieht. Direkt über seinem Herzen, die Spuren von mehreren Krallen. “Ich… habe keine Erfahrung. Mit Freunden, Partnern“, resümiert Batman am Ende, “Alles endet mit Verrat und Tod. Wenn ich je dazu fähig war, dann vor der Nacht, in der meine Eltern ermordet wurden“.

Hush, hush, hush…

Wohl eines der besten Batman-Abenteuer, das je geschrieben wurde. “Hush” ist auch in der “DC Must-Have – Batman – Hush” und als “Batman – Hush (Deluxe Edition)” zu haben. Der Titel bezieht sich übrigens auf ein altes Schlaflied für Kinder und bedeutet so viel wie “Psst…!”, also Schweigen, Stille. Dabei sollte man es eigentlich ganz laut allen weitersagen, dass Hush mehr psychologischen Tiefsinn besitzt als so mancher dicke Schinken. “Hush, little baby, don’t you cryoderHushvon Deep Purple, wie man so will…

Jeph Loeb/Jim Lee
Panini Pocket – Batman – Hush
2025, Comics, 312 Seiten, Format: 15X23cm
ISBN: 9783741640858
Panini Verlag
16,99 €

 


Genre: Comic, Graphic Novel
Illustrated by Panini Comics

Die Unbehausten

Great American Novel

Der kürzlich erstmals auf Deutsch erschienene Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Barbara Kingsolver mit dem deskriptiven Titel «Die Unbehausten» berichtet davon, was es heißt, keine Zuflucht zu haben in einer feindlich erscheinenden Welt. In achtzehn zeitlich jeweils zwischen der ersten Trump-Kandidatur 2016 und dem Jahre 1874 wechselnden Erzählebenen, aber am selben Orte angesiedelt, wird von den existentiellen Problemen einer heutigen Mittelstands-Familie und denjenigen berichtet, die hundertfünfzig Jahre zuvor ein Schullehrer beim Vermitteln der Erkenntnisse von Charles Darwin hatte. Als stilistisches Aperçu bilden dabei die Schlussworte jedes Kapitels die Überschrift des jeweils folgenden, beginnend mit »Ruine» und endend mit «Überleben».

Protagonistin der Jetztzeit ist im ersten Kapitel Willa, eine toughe Frau Mitte fünfzig, die als freie Journalistin plötzlich ohne Aufträge dasteht. Zusätzlich droht deren Mann Iano auch noch der Verlust seines Arbeitsplatzes, er hangelt sich immer wieder mit Einjahresverträgen mühsam von Job zu Job. Zeke, Sohn der Beiden, Harvard-Absolvent und voller Zuversicht in Boston ins Investment-Geschäft eingestiegen, ist gerade Vater geworden, da nimmt sich seine an Depressionen leidende Frau das Leben. Er hat enorme Schulden, weil er ab sofort die hohen Gebühren für sein Studium zurückzahlen muss. Die aufmüpfige, jüngere Tochter Tig zieht nach zerbrochener Beziehung wieder ins Haus ein und jobbt fortan als Kellnerin. Der pflegebedürftige Großvater Nick ist ein glühender Anhänger von Donald Trump, der im Roman nur «Das Megafon» genannt wird. Nick lehnt es strikt ab, «ObanaCare» zu beantragen, womit er die enormen Krankheitskosten für die Familie abmildern könnte. Und zu all diesen Problemen droht das ererbte Haus, in dem sie alle wohnen und das ein Gutachter als Ruine bezeichnet hat, vollends über ihnen zusammen zu brechen. Die Kosten einer Sanierung oder der Wiederaufbau sind für sie finanziell geradezu utopisch hoch, der Familie droht die «Unbehaustheit».

Thatcher, der mutmaßlich 150 Jahre vorher in diesem Haus gelebt hat, war Lehrer an der örtlichen Reformschule. Er steht in einer heftigen Fehde mit seinem Schulleiter, der, religiös verblendet, Darwins Erkenntnisse über die Entstehung der Arten brandmarkt und sie als reine Blasphemie bezeichnet. Damit steht Thatcher auch im Widerspruch zu Captain Charles Landis, dem historisch verbürgten, allmächtigen Gründer der christlichen Freidenker-Kolonie Vineland, der dort so selbstherrlich wie heute Donald Trump regiert hat. Nachbarin von Thatcher ist die ebenfalls historisch verbürgte Naturforscherin Mary Treat, die wichtige wissenschaftliche Beiträge leistete und in lebhafter Korrespondenz mit Charles Darwin stand. Sie bestätigt Thatcher in seinen Überzeugungen, und auch der örtliche Zeitungsverleger stärkt ihm als guter Freund den Rücken im Streit mit dem allmächtig scheinenden, bigotten Captain Landis.

Das baufällige Haus stellt in dieser unterhaltsamen «Great American Novel» eine gelungene Metapher dar für das grandiose Scheitern des «American Dream». jener damals wie heute unrealistischer Idee, mit eisernem Willen sei für ‹jeden› praktisch ‹alles› erreichbar. Willas Kampf gegen Behörden-Willkür und soziale Ungerechtigkeiten ist ebenso vergebens wie Thatchers Versuche, das naive Bibel-Märchen von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu widerlegen. Man begreift als Leser sehr schnell, welch toxische Wirkung dem Populismus US-amerikanischer Prägung auch heute noch anhaftet und damit den Nährboden für wohlfeile Mythen bildet. Stilistisch glänzt der Roman durch seine gelungenen Dialoge, die in ihrer amüsanten Schlagfertigkeit, aber auch in den damit transportierten Erkenntnissen und Botschaften von einer erfrischenden Lebensklugheit der Autorin zeugen. Die Figuren ihres Romans sind wahrscheinlich gerade deshalb so sympathisch, weil sie eben nicht bis in die letzten Tiefen ihrer Psyche ausgeleuchtet werden.

Fazit:    erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Verzauberte Vorbestimmung

Geduld und Lust

Nach einer durch seine schwere Corona-Erkrankung bedingten Schreibpause hat der schweizerische Schriftsteller Jonas Lüscher jetzt unter dem rätselhaften Titel «Verzauberte Vorbestimmung» einen neuen Roman vorgelegt, der in die diesjährige Longlist für den Deutschen Buchpreis aufgenommen wurde. Ein extrem komplexes Werk, das sich facettenreich in diversen eigenständigen Geschichten auf stilistisch hohem Niveau mit dem Generalthema ‹Mensch und Maschine› beschäftigt. Im Feuilleton, das ausnahmslos positiv kommentiert, wird ebenso einträchtig darauf hingewiesen, dass dieser Roman viel Geduld und Durchhaltevermögen vom Leser fordert. Der Autor selbst hat erklärt, «… das ist vielleicht auch die Herausforderung für die Leser des Buches – dass diese Geschichten eben auch nicht immer zusammenpassen und keine klaren Antworten liefern, sondern dass man das Unklare, Zwiespältige aushalten und damit umgehen muss.»

In wechselnden Erzählperspektiven und Zeitebenen wird in dem fünfteiligen Roman gleich zu Beginn von einem algerischen Soldaten berichtet, der im Ersten Weltkrieg in einen Giftgasangriff der Deutschen gerät und angesichts des Sterbens um ihn herum das Kampffeld demonstrativ verlässt, davon überzeugt, dass auch der Feind, seinem Vorbild folgend, angesichts dieses Desasters den Kampf sofort einstellen würde. Ferner wird vom Kampf der Weber in dem seinerzeit als Klein-Manchester bezeichneten, böhmischen Varnsdorf berichtet, die durch die automatischen Webstühle ihre Existenzgrundlage verlieren. Nach vergeblichen Streiks dringen sie mit Gewalt in die neuen Fabrikhallen ein und zerstören die Maschinen mit Hammerschlägen. Die Kritik des Autors richtet sich einerseits gegen derartige, Existenzen zerstörende Technologien, andererseits aber berichtet er auch davon, wie modernste Apparate auf der Intensivstation sein eigenes Leben über wochenlanges Koma hinweg erhalten haben. Eine ihn nachhaltig prägende, konträre Technik-Erfahrung, die ihn bewogen habe, wie er erklärte, sie ebenfalls in diesen Roman «hineinzuschreiben».

Berichtet wird auch von dem französischen Briefträger Ferdinand Cheval aus Hauterives bei Lyon, der in 35jähriger Arbeit aus während seiner Touren aufgesammelten Steinen ein surreales «Palais Idéal» als Grabmal und Vermächtnis geschaffen hat. Das steht seit 1969 sogar unter Denkmalschutz und zieht heute als Besucher-Magnet hunderttausende von Touristen an. Der von Lüschers Ich-Erzähler als Bruder im Geiste bezeichnete und im Roman häufig zitierte Peter Weiss reiste 1960 dorthin und schrieb ein Essay darüber. Zum Ende hin trifft sein Alter Ego in einer Bar in Kairo eine Komödiantin, die während ihres Auftritts immer wieder zu einer Frau an der Bar hinblickt, sie später anspricht und Hand in Hand mit ihr davongeht. Das alles geschieht in einer dystopischen Zukunft in der neuen Hauptstadt Ägyptens, die in jeder Hinsicht von Größenwahn und völligem Unvermögen zeugt. Dazu passend ist die rätselhafte Frau von der Bar denn auch ein Cyborg! Am Ende sitzt Peter Weiss als mystischer Ba-Vogel, dem altägyptischen Text «Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele« entsprechend, dem fieberkranken Ich-Erzähler auf der Schulter, während er aus den Nachbarzimmer die beiden Frauen lachen hört, -«und ich weiß, sie lieben sich».

Man braucht viel Geduld und es gehört auch Lust dazu, Jonas Lüscher bei seinem bravourösen Ritt durch Zeit und Raum und Bewusstseins-Ebenen zu folgen, den er bildungsbeflissen durch viele Zitate und Verweise angereichert hat. Darin liegt, der Titel des Buches zeugt davon, nicht nur bei den dystopischen Szenen ein gewisser Zauber, dem allerdings die Vorbestimmung als brutale Gewissheit diametral gegenüber gestellt ist. Der virtuose Stil, in dem dieser Roman geschrieben ist, entschädigt den Leser für die Mühe mit den unsortierten, kontemplativen Gedankenflügen darin. Man darf gespannt sein, wie das die diesjährige Jury in Frankfurt sieht!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Jenseits der See

Abenteuer und Kontemplatives

In seinem Roman «Jenseits der See» beschreibt der irische Schriftsteller Paul Lynch in einem kammerspiel-artigen Plot eine seelische Ausnahme-Situation menschlichen Daseins in der Ausweglosigkeit eines Schiffbruchs auf hoher See. Der vor seinem preisgekrönten Roman «Das Lied des Propheten» erschienene Band basiert auf einer wahren Begebenheit, bei der 2012 ein salvadorianischer Fischer mit seinem jüngeren Kollegen in einem Sturm in Seenot geriet. Er trieb hilflos auf dem Meer, ehe er nach 14 Monaten etwa zehntausend Kilometer entfernt allein auf der kleinen, zu den Marshall-Inseln gehörenden Insel Tile Islet an Land geschwommen war, sein Begleiter hatte nicht überlebt. Paul Lynch folgt dieser Vorlage ziemlich genau, wobei er sich thematisch auf die psychischen Aspekte dieser unglaublichen Geschichte konzentriert.

Obwohl ein Sturm droht, will der Fischer Bolivar unbedingt, trotz aller Warnungen, zum Fang aufbrechen. Er bringt einen zögernden und ängstlichen jungen Fischer, mit dem er noch nie zusammen gearbeitet hat, tatsächlich dazu, ebenfalls das Wagnis einzugehen. «Sag mir, Hector, was ist ein Sturm? Ein bisschen Wind, mehr nicht. Das Meer wird ein bisschen kabbelig. Echte Fischer sind so was gewöhnt. Mir ist noch kein Sturm begegnet, der mich unterkriegt». Außerdem bietet er ihm einen extrem hohen Lohn an, den Hector gerade gut brauchen kann, um seiner Freundin etwas bieten zu können. Sie fahren sehr weit hinaus und geraten dann auch in das angekündigte Unwetter, das den Motor und das Funkgerät zerstört und sie damit völlig von der Außenwelt abschneidet. Es beginnt ein Psychodrama, bei dem die Beiden, die sich vorher nicht kannten, heftig aneinander geraten, um sich dann aber notgedrungen gemeinsam dem Überlebenskampf zu stellen, denn Wasser und Proviant sind schnell verbraucht. Beim hilflosen Treiben auf dem Meer stoßen sie häufig auf große Müllinseln, die allerlei für sie nützliche Dinge enthalten. Sie finden Kanister, in denen sie Regenwasser sammeln, das sie mit den gefundenen Plastikbahnen auffangen. Immer wieder gelingt es ihnen auch, von Bord aus Fische zu fangen, die sie mangels Feuer roh verzehren, sogar eine Seeschildkröte ist dabei und allerlei anderes Meeresgetier. Und sie fangen auch Vögel, die auf dem Boot landen, sperren sie in einen improvisierten Käfig und verzehren sie nach und nach.

Weniger hoffnungsvoll gestaltet sich die seelische Situation der beiden Schiffbrüchigen, deren aussichtslos scheinender Lebenskampf sie psychisch immer stärker belastet. Wie schafft man es, in solch einer extremen Lage den Lebensmut nicht zu verlieren? Die Beiden sind konfrontiert mit der Sinnlosigkeit des Seins, die sich schon in der als Motiv vorangestellten Frage des Euripides findet: «Wer weiß schon, ob das Leben Tod sei oder der Tod das Leben»? In einem ständigen Wechselbad der seelischen Befindlichkeit lernen die Beiden sich durch ihre Gespräche immer besser zu verstehen, wobei Bolivar deutlich weniger verzagt ist als Hector, was ihre Situation anbelangt. Es erweist sich dabei, wie wichtig stabile Bindungen sind im Leben. Schiffbruch, das zeigt dieser an Joseph Conrads «Herz der Finsternis» erinnernde Roman jedenfalls sehr deutlich auf, ist eine geradezu ideale Leit-Metapher der Philosophie mit ihren schwierigen Sinnfragen.

Mit seinen beiden Figuren stoßen hier weltanschauliche Gegensätze aufeinander. Da ist einerseits die sinnenfrohe, an Lebensgier grenzende Diesseitigkeit Bolivars, der die schwermütige, religiös geprägte Ergebenheit in die unausweichliche Vorbestimmung entgegensteht, der sich Hector beugt und die ihn schließlich verzagen lässt. Dem abenteuerlichen Geschehen des Romans stehen bei der Lektüre narrativ die vielen, sich häufig wiederholenden psychologischen Exkurse in die menschliche Seele ambivalent gegenüber, eine Mixtur aus Abenteuer und Kontemplativem, die leider keine erzählerisch stimmige Einheit bilden!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Was blüht denn da?

Dieser Naturführer enthält auf fast 5 hundert Seiten Wissenswertes über eine Vielfalt von Pflanzen. Wer sich für den Reichtum der Natur interessiert lernt viel, vor allem die systematische Beobachtung und Bestimmung der Pflanzen, dazu gibt das Kapitel „Zum Gebrauch des Buches“ Anweisungen. Auch die die Namen der einzelnen Bestandteile der Pflanzen werden aufgeführt, auf über zehn Seiten.

Blühpflanzen werden nach Blütenfarben sortiert. Dann geht es um: höchstens vier Blätter, fünf, mehr als fünf oder in Körbchen, und zweiseitig symmetrische Blüten.

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Genre: Naturführer
Illustrated by Kosmos / Weltbild

Erste Töchter

Lakonisch knapp erzähltes Seelenchaos

In ihrem dritten Roman mit dem Titel «Erste Töchter» setzt die in Russland geborene und in Wien lebende Schriftstellerin Ljuba Arnautović die autobiografisch geprägten Erzählungen aus ihrer Familiengeschichte fort. Der schmale Band handelt von zwei Töchtern, deren Leben ganz entscheidend durch die wechselvolle Nachkriegszeit geprägt ist. Deren Vater Karl kehrt nach zwölf Jahren im Gulag nach Wien zurück, er hat in Russland geheiratet und in zähen Kämpfen die Ausreise-Erlaubnis für sich, seine russische Frau Nina und die zwei kleinen Töchter Lara und Luna erhalten. Aus der Danksagung im Roman ergibt sich, dass die zwei Jahre jüngere Luna in Manchem der Schwester der Autorin gleicht, während die Figur der Lara wohl der Autorin selbst nachempfunden ist.

Es beginnt im ersten Kapitel mit einer konventionell erzählten Szene in einem Café in München, in dem die 23jährige Medizinstudentin Dörte nach einem ihrer Museumsbesuche auf einen attraktiven Mann aufmerksam wird, ein «Frank-Sinatra-Typ», wie es heißt, der sie wegen der ausliegenden Zeitungen anspricht. Nicht lange danach werden Karl und Dörte heiraten. In den 38 folgenden Kapiteln berichtet die Autorin in wechselnden Rückblenden, nun sehr distanziert und betont sachlich, von den Schwierigkeiten, die sich dem traumatisierten Karl bei seiner beherzt angegangenen, beruflichen Kariere in den Weg stellen, sowie von deren Auswirkungen auf seine beiden erstgeborenen Töchter. Der als Neunjähriger von seinen kommunistisch gesinnten Eltern während der politischen Kämpfe in faschistischen Österreich vorsichtshalber ins Exil nach Russland geschickte Karl bringt als 21jähriger Heimkehrer nur sein exzellentes Russisch ins Berufsleben mit, er hat keinerlei Ausbildung. Mit eisernem Willen, es zu etwas zu bringen in seinem verpfuschten Leben, macht er Karriere als Dolmetscher, begleitet Geschäftsleute bei Besuchen in Russland. Er gründet schließlich sogar eine eigene Firma, die in einer monatlichen Zeitschrift über wissenschaftliche Veröffentlichungen in Russland berichtet und gut bezahlte Aufträge für Übersetzungen dieser Artikel ins Deutsche übernimmt.

Nach der Scheidung von Nina, bei der er durch einen fiesen Trick das alleinige Sorgerecht für die beiden Töchter bekommt, heiratet er Dörte und zieht mit ihr nach München. Schon bald aber trennt er die Töchter und schickt Luna zurück zur Mutter nach Wien. Fortan verkehren die Beiden in Briefen miteinander und sehen sich persönlich nur sehr selten. Geschickt baut die Autorin sämtliche relevanten gesellschaftlichen Ereignisse und Entwicklungen im post-faschistischen Österreich und Deutschland mit ein in ihre Familiengeschichte, eine politische Tour d’Horizon durch die 1970er und 1980er Jahre. Sie tut das zielgerichtet in einer protokollartig knappen, einfachen Sprache, wobei deren Nüchternheit geradezu verstörend wirkt in Anbetracht der seelischen Verheerungen, die der egoistische und autoritäre Vater rücksichtslos bei seinen «Ersten Töchtern» anrichtet. Am Ende des Romans ist er zum vierten Mal verheiratet und hat seinen Frauen allesamt übel mitgespielt, den Müttern wie den Töchtern.

Es fällt auf, dass die Autorin scheinbar gezielt vermeidet, näher auf die seelischen Schäden einzugehen, die Karl da anrichtet. Der Roman wird lakonisch knapp aus der Distanz heraus in einer an amtliche Protokolle erinnernden, zielgerichteten Sprache erzählt. Für Emotionen oder poetische Ausschmückungen ist darin keinerlei Platz, alles bleibt geradezu stocknüchtern sachlich. Ljuba Arnautović beleuchtet das Seelenchaos ihrer weiblichen Figuren und auch den Charakter von Karl in keiner Weise, klammert also psychische Wirkungen und Schäden weitgehend aus. Genau solche vom Leser erwarteten emotionalen Einblicke wären aber bei dem gewählten Thema unbedingt erforderlich für eine unterhaltsame oder gar bereichernde Lektüre, ein unverzeihliches Manko also dieses von so tief berührenden Schicksalen geprägten Romans!

Fazit:   5* erstklassig  4* erfreulich  3* lesenswert  2* mäßig  1* miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Zsolnay Wien

Der Problembär: Am Rande von Wien, Wanda und Wahnsinn

Der Problembär. Der Wiener Grind. Das popkulturelle Phänomen, das vor allem vom deutschen Feuilleton heubeigeschrieben wurde, bestand damals am Höhepunkt, 2015, vor allem aus Wanda, Nino, Voodoo Jürgens und Stefanie Sargnagel. Der Floridsdorfer Tausendsassa Stefan Redelsteiner, Musikmanager und Verleger, hatte beim Erfolg aller vier die Finger im Spiel.

Wiener Grind und Kind

In einer bisher so wohl noch nie dagewesenen Doppelconference legen der Falter-Musikjournalist Gerhard Stöger und Stefan “Plattenboss aus dem Plattenbau” Redelsteiner nun eine Erzählung vor, die “am Rande von Wien, Wanda und Wahnsinn” angelegt ist. Der eine erzählt, der andere schreibt auf und so entsteht eine authentische Geschichte, die so harmlos wie aufregend begann: 2008 tauchte das doch sehr eigenwillige Label “Problembär Records” auf, das mit “Der Nino aus Wien” erste Erfolge in der Wiener Indie-Szene feierte. Während sich dieser durchaus mit dem alten Austropop eines Wolfgang Ambros oder André Heller identifizieren konnte, legte Redelsteiner großen Wert auf Abgrenzung zu diesem Genre. Zu provinziell und Stadtrand, fast schon Land war dem aus der Vorstadt Floridsdorf stammenden Redelsteiner der Austropop. Nino stammt zwar ebenso aus “Transdanubien” wie Redelsteiner, nur der eine von der schöneren Seite, der Donaustadt, 1220, der andere eben aus Floridsdorf, dem proletarischen Flächenbezirk 1210. Anfangs wurden beide belächelt als Redelsteiner begann, Nino als österreichischen Bob Dylan zu präsentieren.

Rock`n´Roll mit Wiener Charme

Mittlerweile hat der schrullige Liedermacher mehr als ein Dutzend Alben veröffentlicht und ohne seine Vorarbeit würde es heute Bands wie Wanda oder Voodoo Jürgens wohl nicht geben, vor allem aber nicht das popkulturelle Phänomen namens Wiener Grind, das sich vor allem in Deutschland wie “warme Brötchen” (nicht Semmeln) verkaufte. “Bussi” hin oder her, aber: “Eine Gitarre richtig halten kann schnell wer”, verrät Redelsteiner sein Erfolgskonzept, “aber gebucht und gehypt wirst du über persönliche Beziehungen – die Wanda nicht hatten”. Eine echte deutschsprachige Rockband – das hatte bis dahin noch nicht gegeben. Und bei Wanda kam der Machismo des Rock`n´Roll mit Wiener Charme rüber, etwas das die Deutschen aufgrund ihrer Vergangenheits-Scham niemals zusammengebracht hätte, so Redelsteiner. Wenn einem so etwas einmal gelingt, dann kann es ja auch nur purer Zufall sein. Oder doch nicht?

Ausgebootet aber nicht ausgelotet

Stefan Redelsteiner gelang es gleich mehrmals hintereinander: Nino, Wanda, Voodoo Jürgens und Stefanie Sargnagel. Dennoch lebt er heute ein eher bescheidenes Leben, denn im entscheidenden Moment, als Wanda, die er aus ihrem Kunstuni-Milieu rausgeholt hatte, durchzustarten begannen, zerlegte er sich mit dem Schlagzeuger und wurde von seiner Ko-Managarin – quasi intrigant – ausgebootet. Die Freundschaft zwischen dem aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammenden Bandleader und ihm, dem Floridsdorfer Indie-aner, nützte ihm letztendlich nichts, da dieser gerade selbst eine persönliche Krise hatte. Die Verträge, die aufgrund der Freundschaft der beiden aber nur mündlich bestanden, mussten gar nicht erst gekündigt werden, da sie nicht offiziell nicht existierten. Und so bekam Redelsteiner nicht einmal Tantiemen für die Wanda-Alben, an denen er beteiligt war. Aber das große Geld war für ihn ohnehin nie das treibende Motiv, ganz im Gegensatz zu Wanda himself, der die Band immer schon in der größten Wiener Konzerthalle, der Wiener Stadthalle (14.000 Plätze), sah.

Wiener Grind von innen

Dass Wanda aber aus ihrer Kunstblase über den Indie-Typen Redelsteiner im klassischen Mainstream landeten, gehört zu den unglaublichsten Popwundern, die wohl nur in der Walzerstadt Wien möglich sind. Davon und von noch viel mehr erzählt die vorliegende Geschichte, die vom Herausgeber Stöger in der Ich-Form wörtlich aufgeschrieben und von Redelsteiner erzählt wird. So erfährt man viele Details über die Senkrechtstarter Wanda, das soziokulturelle Milieu der Wiener Zehnerjahre und auch einige Intimitäten über andere Popschaffende wie Rudi Dolezal oder den Hintergrund des Sargnagel-Artikels in der Süddeutschen Zeitung damals, der hohe Wellen schlug in der kleinen Wiener Grind Welt.

Ach ja, und übrigens hat Marco Wanda immer noch die DVD-Sammlung der Fernsehserie “Columbo” von Redelsteiners Freundin, die der Band zu ihrem Hit “Columbo” verhalf. Das Buch erscheint in Zusammenarbeit mit dem Verlag RDE (Redelsteiner Dahimène Ed.), Redelsteiners Buchverlag, den er gemeinsam mit Ilias Dahimène immer noch leitet.

Die andere Seite kann man sich hier anhören!

Gerhard Stöger
Der Problembär
Die Abenteuer des Musikmanagers Stefan Redelsteiner am Rande von Wien, Wanda und Wahnsinn
2025, 304 Seiten, Softcover
ISBN: 978-3-99166-029-3
Falter Verlag
€ 24,90


Genre: Biographie
Illustrated by Falter

Tinkers

Ein Roman vom Sterben

Für seinen Debütroman «Tinkers» erhielt der US-amerikanische Schriftsteller Paul Harding den Pulitzer Prize for Fiction des Jahres 2010. Der Autor hat sich damals in einem Radio-Interview als «modernen neu-englischen autodidaktischen Transzendentalisten» bezeichnet. Ähnlich kompliziert wie diese Selbsteinschätzung ist sein Roman selbst! Konkret geht es darin um die Reflexionen eines sterbenden Uhrmachers in den letzten Tagen und Stunden vor seinem Ableben. In denen erinnert er sich an sein eigenes Leben im Staate Maine und an das des Vaters und Großvaters zurück, wobei er sinnierend auch die Natur als prägendes Element in seine Rückschau mit einbezieht.

Auf dem Sterbebett, umgeben von Frau, Kindern und Enkeln, schwelgt George Washington Crosby als alter Mann in Erinnerungen, spult quasi den Faden seines Lebens noch mal rückwärts ab. Er denkt an frühere Geschehnisse, Erfahrungen, Glück und Unglück, reflektiert über seine Identität, über Sterblichkeit und das Dasein als solches. Dabei wechselt sein Bewusstsein immer wieder zu idealisierenden Traumphasen hinüber, in denen die Natur als übergeordnete Instanz einen breiten Raum einnimmt. Der Roman überspannt zeitlich drei Generationen. Sein an Epilepsie leidender Vater, den er wegen seiner Gefühle eigener Unzulänglichkeit als gequälte Seele erlebt hat, gehörte zu den titelgebenden «Tinkers», den früher bei den armen Leuten auf dem Lande regelmäßig tätigen Kesselflickern. Howard zog mit seinem Wägelchen herum, bot neben der Reparatur von undichten Metalltöpfen auch andere Dienste an und verkaufte zudem als fahrender Händler diverse Kurzwaren, die er immer mit sich führte. George war traumatisiert durch die epileptischen Anfälle seines Vaters, die seine Mutter aber vor den kleinen Kindern immer zu verbergen suchte. Er jedoch musste mithelfen, ihn in seinen Krämpfen zu bändigen, wurde einmal sogar schwer verletzt dabei, seine Gefühle für den Vater changieren zwischen inniger Liebe und finsterem Groll.

Der Großvater war ein psychisch kranker Prediger, in seinem Hause herrschten strenge Sitten, es wurde viel gebetet. Im Alter ist er dann zusehends dem Wahnsinn verfallen und wurde schließlich auf Betreiben seiner Frau, die mit der Pflege total überfordert war, in die Irrenanstalt eingewiesen. Für George sind seine geliebten Uhren Symbole der Vergänglichkeit, sie bestätigten als bedrückendes Trauma seine Ängste vor der eigenen Vergänglichkeit. Auch fragt er sich, ob es eine über Generationen andauernde, familiäre Beständigkeit denn überhaupt gebe. George reflektiert auf dem Sterbebett zudem über das Erbe, das er ja nun bald hinterlassen wird und das als Einziges von ihm noch für eine gewisse Zeit zurückbleiben wird.

Mit seiner lyrisch anmutenden Prosa schreibt Paul Harding eine an endlose Gedankenströme erinnernde Erzählung, die sich mit nichts weniger als den großen Fragen der Menschheit auseinander setzt, – eine Art letzte Meditation vor dem Exitus. Deren kontemplative Tiefe wird scheinbar konterkariert durch diverse banale Einschübe über das Reparieren und die Technik von Uhren, in denen sogar auf fachliche Texte verwiesen wird. Aber auch Auszüge von Predigten werden eingeschoben, und es wird auf die Schwierigkeiten beim Verfassen derselben angespielt. In diesem Gegenüber von profaner Materie und hochfliegendem Geist werden stilistisch viele narrative Konventionen missachtet, die Zeitlinien und Perspektiven werden unerwartet und oft auch schwer verständlich gegeneinander verschoben. Das fördert nicht gerade den Lesefluss, und auch wenn der Autor eine sehr poetische Form gefunden hat für seinen Roman, passt dessen Stil nicht wirklich überzeugend zur schwierigen Thematik vom Sterben. Ohne Zweifel aber regt «Tinkers» zu eigenem Nachdenken an, wenn man nicht gerade zu der Sorte Leser gehört, die ohne eigenes Zutun leicht und angenehm Lesbares suchen zur Unterhaltung und Entspannung.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Tristram Shandy

Satire als grandioses Vexierbild

Der siebenbändige Roman «Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentlemen» von Laurence Sterne, in der Literaturszene üblicherweise verkürzt als «Tristram Shandy» bezeichnet, löste 1759 beim Erscheinen der ersten beiden Bände einen Skandal aus. Der anglikanische Pfarrer hatte damit allerdings auch einen Jahrhundert-Roman geschrieben, dessen letzter Band 1767 erschienen war. Er wird als zeitloser Klassiker seither auch in jedem literarischen Kanon an prominentester Stelle genannt. Die erste deutsche Übersetzung erschien bereits 1774, zu den Subskribenten gehörte unter vielen maßgeblichen Autoren dieser Zeit auch Goethe, der ein großer Bewunderer des Autors war und ihn als «freiesten Geist» seines Jahrhunderts geehrt hat. Ein Jahrhundert später hat niemand geringerer als Friedrich Nietzsche Sternes Aufsehen erregende, narrative Methoden in einem Artikel ausführlich gewürdigt.

Aus wechselnden Perspektiven in einer Abfolge von einzelnen Skizzen realisiert, ist «Tristram Shandy» erzählerisch ganz unorthodox ein wildes Durcheinander ohne erkennbaren Plan. Der Roman ist ein mit gelehrsamen Gedanken üppig durchsetztes Konstrukt von Betrachtungen, Anmerkungen und Kommentaren, in dem Postulate nichts gelten. Der Autor selbst bezeichnet es an einer Stelle, den Leser direkt ansprechend, als «ein sorglos gemachtes, artiges, unsinnvolles, gutgelauntes Shandysches Buch, das allen Ihren Herzen gut tun wird. – Und auch allen Ihren Köpfen, – vorausgesetzt, Sie verstehen es!» Erzählt wird abwechselnd aus der Perspektive eines ungemein humorvollen Geistlichen namens Yorik und aus der des titelgebenden Protagonisten und Ich-Erzählers. Der will die Geschichte seines Lebens erzählen, beginnend bei seiner Zeugung, die er mit zwingender Logik sogar auf den Tag genau zu terminieren weiß. Und er erzählt auch, wie eine harmlose Bemerkung seiner Mutter den Vater dabei so irritiert habe, dass er als Krüppel geboren wurde, – als schlagenden Beweis zieht er dafür die Theorie John Lockes von der «Assoziation der Gedanken» heran.

Weiter berichtet er vom Ehekontrakt seiner Eltern, von seinem Onkel Toby und dessen Steckenpferd und Liebesabenteuern, von der Hebamme und der Art und Weise, wie diese als weise alte Frau durch Protektion des Pfarrers nachträglich auch eine offizielle Zulassung für diesen Beruf erhalten hat. Sich in Details verlierend erzählt er dann auch noch, warum der Pfarrer auf so einem armseligen Klepper herumreitet. Um schnell die weitab wohnende Hebamme herbei rufen zu können, habe man ihn immer wieder um sein rassiges, schnelles Pferd gebeten, das dabei aber oft zu Schanden geritten wurde in der Eile, er musste jedes Jahr ein neues kaufen. Weshalb er irgendwann beschlossen habe, den stolzen Gaul durch einen weniger stolzen zu ersetzen und sich an dessen gemächliche Gangart zu gewöhnen, auch wenn er sich damit nun dem Gespött aussetzt.

Der umfangreiche Roman wirkt wie das groß angelegte Vexierbild eines unkonventionellen Autors, in dem so ziemlich alles einen verborgenen Hintersinn hat, dem der Leser auf die Spur kommen muss, will er all die subtilen Botschaften darin gebührend würdigen. Weder von dem im Titel als Inhalt apostrophierten «Leben» noch von den «Ansichten» des Helden ist im Roman wirklich die Rede. Es ist vielmehr eine experimentelle Form des Erzählens, die, als «unendliche Melodie» bezeichnet, gerade davon lebt, ständig gebrochen zu werden und ins Unbestimmte abzugleiten, sich im permanent Mehrdeutigen zu verlieren, immer wieder zwischen untrennbar ineinander verwobener Posse und erstaunlichem Tiefsinn. All das ist durch eine umfassende Menschenkenntnis gekennzeichnet, die in jedem Detail durchschimmert. Gleichwohl wird der «normale» Leser kläglich scheitern, wenn er sich an einer plausiblen Deutung des «Tristram Shandy» versucht, und das besser den Literatur-Wissenschaftlern überlassen, die Veröffentlichungen dazu sind ja Legion. Man sollte diesem «freiesten Schriftsteller», wie er oft bezeichnet wurde, als nicht minder freier Leser folgen, alle narrativen Konventionen hier also einfach mal beiseite lassen und sich an den skurrilen Gedanken dieses satirischen Romans rückhaltlos erfreuen!

Fazit:   erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Insel Taschenbuch

Die Leiden des jungen Werthers

Im Werther-Fieber

Von der Lichtgestalt deutscher Literatur, Johann Wolfgang Goethe, wurde 1774 mit «Die Leiden des jungen Werthers» zur Leipziger Buchmesse ein Briefroman veröffentlicht, den er in vier Wochen geschrieben hatte. Er wird als sein bedeutendstes Prosawerk angesehen. Dem grandiosen Erfolg im Inland folgte ein ebenso überragender europäischer Erfolg, das Werk wurde in alle damals literarisch bedeutsamen Sprachen übersetzt. Zeitlich fiel die Veröffentlichung in die literarische Periode des «Sturm und Drang», dem Geniekult jener kurzen Epoche. Die vorliegende Ausgabe des vielfach ergänzten und überarbeiteten Romans folgt der Urfassung, stammt nach 250 Jahren also orthografisch aus einer noch dudenfreien Zeit, was das Lesen heutzutage ziemlich mühsam macht. Mit Hilfe einer Fülle von Randbemerkungen des Verlags jedoch bleibt nichts jemals unverständlich. Erfreulicher Weise sind im Anhang auch umfangreiche Kommentare, Goethes eigene Anmerkungen zum «Werther», die verschiedensten Interpretations-Ansätze sowie ausführliche Wort- und Sach-Erläuterungen beigefügt.

Zwei autobiografisch bedeutsame Ereignisse hat Goethe für seine Handlung herangezogen, seine eigene, hoffnungslose Liebe zur bereits verlobten Charlotte Buff und der Suizid eines Bekannten aus der Gesandtschaft in Wetzlar. Gleichwohl ist dieses Werk rein fiktional und kein Schlüsselroman. Sein junger Held hat zur Regelung einer Erbschaft in einem idyllischen Dorf Quartier bezogen und lernt bei einem Tanzabend Lotte kennen, Tochter des dortigen Amtmanns, die sich als älteste Tochter nach dem Tod ihrer Mutter rührend um ihre acht Geschwister kümmert. Werther und Lotte kommen sich schnell näher, sie sind verwandte Seelen und verstehen sich bestens. Er bewundert ihren Sanftmut, ihre Liebe zur Natur, ihre Musikalität, und er wird Dauergast im Hause des Amtmanns. Die kleinen Geschwister von Lotte mögen ihn von Anfang an und freuen sich immer sehr, wenn er kommt. Aber Lotte ist nicht frei, sie ist so gut wie verlobt mit Albert, der schließlich von einer Geschäftsreise zurückkommt und sich als ein äußerst sympathischer, besonnener Mann erweist, mit dem Werther schnell Freundschaft schließt. Auch wenn nur platonisch, belastet ihn nun seine schwärmerische Liebe zu Lotte seelisch dermaßen, dass er fluchtartig den Ort verlässt, ohne sich zu verabschieden.

Im zweiten Teil des Romans arbeitet Werther eine Zeitlang für einen Gesandten am Hofe, fühlt sich dort aber als Außenseiter und wird sehr deutlich auf seinen bürgerlichen Stand verwiesen. Er fühlt sich wie zerstört in seiner Existenz und kehrt auf Umwegen wieder in das Dorf zurück, wo Lotte und Albert inzwischen geheiratet haben. Bald schon beginnt er Lotte wieder zu besuchen, die unbewusst mit ihm kokettiert und seine Leidenschaft dadurch erneut entfacht. Bis sie ihn auf Wunsch von Albert kurz vor Weihnachten auffordert, vier Tage zu warten, bis er erneut zu Besuch kommt. Doch Werther besucht sie schon am nächsten Tag wieder, liest ihr aus seiner hoch emotionalen Ossian-Übersetzung vor und beginnt sie zu umarmen und zu küssen. Lotte flüchtet verstört ins Nebenzimmer und schließt sich dort ein. In einem letzten Brief verabschiedet er sich von ihr, leiht sich von Albert für eine bevorstehende Reise dessen Pistolen aus und erschießt sich an gleichen Abend. Er wird in einem abgelegenen Teil des Friedhofs ohne geistlichen Beistand anonym beerdigt.

Eine stilistische Besonderheit dieses Romans ist die Ergänzung und Weiterführung des Stoffes durch einen fiktiven Herausgeber, der den hoch-emotionalen Briefen Werthers in einer sachlichen Diktion folgt. Dieser Wechsel der Erzählperspektive war schon deshalb geboten, weil der traurige Held in seinen Briefen vom eigenen Tod, dem novellenartigen Höhepunkt der Handlung, ja nicht hätte berichten können. Die konträre Rezeption dieses zeitlosen Bestsellers mündete ein in eine regelrechte Lesesucht, die den einen oder anderen suizidalen Nachahmer hervorgebracht hat im damaligen «Werther-Fieber».

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Jenseits der Hitze

Möglicherweise wenden sich die etablierten Koryphäen der Lesekultur mit einem snobistischen Hochziehen der Nase ab, wenn sie das Stichwort „Liebesroman“ hören. Doch Halt! Bevor Sie von Ihrem – wahrscheinlich über Generationen vererbten – Recht auf Deutungshoheit in der Literatur Gebrauch machen, sollten Sie eines bedenken: Der Anteil der Liebesromane am globalen Belletristik-Markt liegt irgendwo zwischen 25 und 30 Prozent. Quantität ist nicht gleich Qualität, werden Sie jetzt vielleicht sagen. Nochmals Veto! Schaut man die nun schon lange ziemlich schwindsüchtige Buchszene an, trägt genau dieses Genre mit einer Vielzahl an innovativen Ansätzen zu fast 70 Prozent zum neuen Wachstum in der Erwachsenen-Belletristik bei. Zu diesen Ansätzen gehören neben vielen andern auch mehr Orientierung an diversesten Altersgruppen und entsprechende Niveau-Anpassungen, also punktuell mehr Tiefgang.

Interesse geweckt. Und dann taucht da auf einmal aus dem Nichts ein Debütroman auf und wird schon kurz nach seinem Erscheinen in den sozialen Medien als Geheimtipp des Sommers 2025 gehandelt – „Jenseits der Hitze“. Also warum nicht?

Und tatsächlich kann man bereits nach wenigen Seiten eine gewisse Überraschung nicht verhehlen. Da schreibt jemand, der eine unglaublich poetische Ader hat. Es wird mit wohlgesetzten, feinsinnigen Worten Atmosphäre erzeugt, Stimmung geschaffen. Im Kopf entsteht tatsächlich ziemlich schnell eine Filmszenerie. Der Roman hält sich nicht mit langen Dialogen auf, die man in seinen Liebesroman-Klischees abgespeichert hat („Ich liebe Dich, aber liebst Du mich so wie ich Dich? Kannst Du mich immer lieben? Wird unsere Liebe immer halten? Und was, wenn nicht? Liebst Du dann einen anderen/eine andere?“ und so weiter, üblicherweise geht das so den ganzen Julia-Roman durch), nein, die Handlung ist zielstrebig, ohne zu rasen, so wie man es zum Beispiel bei einem Ken Follett kennt oder bei einem Peter Stamm. Und es kommt noch besser – es wird spannend und es wird interkulturell. Ohne zu viel zu verraten, geht es natürlich auch um ein Paar, er aus München, sie aus Kabul, aber es geht auch um viel mehr, unter anderem um ungewöhnliche Lebens- und Beziehungsmodelle und um ganz aktuelle geopolitische Ereignisse. Und es bleibt durchaus spannend, da die Auflösung gewisser rätselhafter Umstände gut versteckt und den Roman hindurch transferiert wird. Sogar die übliche Frage, ob sie sich denn nun kriegen oder nicht, bleibt bis zum Schluss offen. Weil das Leben eben so ist, wie es ist – man weiß nie, was kommt.

Man muss sich am Schluss wirklich fragen, ob man gerade „nur“ einen Liebesroman gelesen hat. Diese poetische Sprache, die schön konstruierte Geschichte mit historischem und emotionalem Tiefgang wäre auch eines Michael Ondaatje oder einer Anne Michaels würdig.

Und das führt zum Schluss direkt zu einer anderen spannenden Frage: Wer ist Ellis Marant? Der Roman ist unter diesem Pseudonym erschienen und wie im Nachgang des Romans erwähnt, wohl ganz bewusst. Resümiert man nach den schnell zu lesenden 176 Seiten verwundert über den unerwarteten Stil und Inhalt, fallen einem unweigerlich Stephen King, J.K. Rowling, Mark Twain, Lewis Carroll und einige andere ein, die aus Lust an einem Experiment unter anderem Namen Werke meist in anderen Genres publiziert haben. Aber vielleicht ist das bei aller Überraschung dann doch zu viel der Ehre. Man wird sehen, ob da in der Zukunft noch mehr kommt, was diese Überlegungen rechtfertigt.


Genre: Liebesroman, Roman
Illustrated by tredition

Gute Ratschläge

Entlarvend und ungebeten

Dreiunddreißig Jahre nach seinem ersten Erscheinen in Großbritannien ist unter dem Titel «Gute Ratschläge» voriges Jahr ein bemerkenswerter Roman von Jane Gardam auch auf Deutsch erschienen. Die vor drei Monaten im hohen Alter von 97 Jahren verstorbene britische Autorin hat für ihre feministische Geschichte um eine zutiefst frustrierte, 51jährige Diplomatengattin die Form des Briefromans gewählt. Wobei diese Briefe einseitig bleiben bis zum Schluss, die Adressatin schickt nie eine Antwort, was die Schreibwut der Protagonistin allerdings nur noch mehr steigert. Aus den ungebetenen guten Ratschlägen aber, die sie mit wachsendem Eifer an die ehemalige Nachbarin Joan schickt, mit der sie kaum jemals Kontakt hatte – allenfalls mal einen Gruß über die Straße hinweg – werden allmählich immer mehr Selbsterkenntnisse, die zum Ende hin ungewollt in regelrechte Geständnisse münden.

Die Frau aus dem Haus gegenüber hat ihren Mann und die erwachsenen Kinder überraschend verlassen, das Konto leer geräumt und sich mit unbekanntem Ziel Richtung Asien abgesetzt, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, niemand wusste von ihren Absichten! In den anfänglich kurzen Briefen von Eliza Peabody mit der Aufforderung an Joan, doch besser zurück zu kehren, mischen sich Geschichten aus ihrem eigenen Leben ein, die allmählich immer mehr zu Klagen und Bekenntnissen werden über ihr eigenes, unerfülltes Leben. Sie schreibt sich zusehends um Kopf und Kragen, offenbart ungewollt ihr unerfülltes Leben. So berichtet sie zum Beispiel von ihrer einstigen Fehlgeburt, nach der sie keine Kinder mehr bekommen konnte, oder von ihrem unerfüllten Sexualleben an der Seite von Henry, ihrem Mann, der ständig in diplomatischen Missionen unterwegs ist und mit dem sie sich völlig auseinander gelebt hat. Sie hat ehrenamtlich eine Arbeit in einem Hospiz angenommen, um die Langeweile zu bekämpfen und etwas Sinnvolles zu tun. Dort aber wird sie als Küchenhilfe eingesetzt und hat nur selten mal selbst Kontakt zu den Sterbenden, was sie in ihren Briefen beklagt. Auch die Mitgliedschaft in einem Lesezirkel und ihre Teilnahme bei verschiedenen anderen Aktivitäten befreundeter Damen aus der gehobenen Mittelschicht, die alle gleichermaßen frustriert seien, empfinde sie als weitgehend sinnlos, bekennt sie.

Charles, Joans verlassener Ehemann, wird von Elisa und Henry aus Mitleid häufig eingeladen und befreundet sich schnell mit ihnen, die Männer führen lange Gespräche miteinander und verstehen sich bestens. Bis Henry eines Tages überraschend verkündet, dass er mit Charles zusammenzieht. Elisa steht vor einem Nerven-Zusammenbruch, ihr soziales Umfeld kollabiert ebenso wie ihre Psyche, sie steht vor den Trümmern ihres unerfüllten Daseins als Frau. Die guten Ratschläge für ein richtiges Leben, mit denen sie Joan in ihren vielen Briefen geradezu bombardiert hat, hätte sie lieber selbst befolgen sollen. Man fragt sich als Leser irgendwann, ob es die Adressatin denn überhaupt gibt. Ganz bewusst setzt Jane Gardam in diesem Roman das Stilmittel des unzuverlässigen Erzählers in Person ihrer als Figur eher unsympathischen Protagonistin voller Hirngespinste ein, was dem teils absurden, auch surreal angereicherten Plot eine psychologisch nachvollziehbare, narrative Struktur verleiht.

Die nervenden Briefe der Besserwisserin Joan werden immer länger und sind beim Lesen schließlich kaum noch als solche zu erkennen angesichts seitenlanger Dialoge. Es stellt sich daher schon bald die Frage, ob die Briefform wirklich optimal ist für die feministische Intention der britischen Erfolgsautorin. Der Roman steckt voller satirischer Seitenhiebe auf die saturierte, dekadente Mittelschicht in der gehobenen Londoner Vorstadt, in der diese Geschichte angesiedelt ist mit ihren ebenso wohlhabenden wie frustrierten Gattinnen aus der englischen Oberschicht zur Zeit des Thatcherismus. Diese satirische Färbung macht den Roman letztendlich zu einer amüsanten Lektüre, die allerdings an den Erfolg der «Old Filth» Trilogie nicht anknüpfen kann.

Fazit:   lesenswert

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Hansa Berlin