Die Verletzlichen

Narratives Können und gedankliche Tiefe

Die amerikanische Schriftstellerin Sigrid Nunez hat in ihrem neuesten Roman «Die Verletzlichen» die Zeit der Corona-Pandemie mit allen ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft thematisiert. Schon mit dem Buchtitel wird auf Covid 19 hingewiesen, denn vulnerabel waren nicht nur Alte und Vorerkrankte, unter dem Lockdown litten auch die medizinisch nicht betroffenen Menschen. Die Autorin und ihre namenlose Protagonistin sind beide Schriftstellerinnen im Alter um die siebzig, wohnen in New York, arbeiten als Dozentinnen für kreatives Schreiben. Sie sind kinderlos, beide unverheiratet geblieben, und sie lieben Tiere, quasi als die besseren Menschen. In diesem zeitlich im Frühjahr 2022 angesiedelten, autofiktionalen Roman markiert ein kleiner Papagei, ein grüner Ara namens Heureka, narrativ eine rote Linie durch den fast ereignislosen Plot, denn gerade diese Spezies leidet ebenso unter Einsamkeit wie der Mensch, kann daran sogar zu Grunde gehen.

Eine in einem anderen Bundesstaat lebende Freundin bittet die alternde Protagonistin, sich um einen Ara zu kümmern, der in einer luxuriösen New Yorker Wohnung ganz in ihrer Nähe Opfer des Lockdowns geworden ist. Denn sein mit ihr eng befreundetes Besitzerpaar wurde auf einer Reise von der Pandemie überrascht und kann nun wegen der strengen Restriktionen nicht mehr zurückkehren. Und so geht die Protagonistin täglich für mehrere Stunden in die fremde Wohnung, nicht nur um den Papagei zu füttern, sondern auch, um mit ihm zu spielen und zu ihm zu sprechen. Eines Tages ist plötzlich ein junger Mann in der Wohnung, der schon vor ihr den Vogel versorgt hatte und sich nun wieder um ihn kümmern will. Trotz des großen Altersunterschieds und dem anfänglichen Unmut zwischen den Beiden kommt es zu interessanten Gesprächen zwischen ihnen zu den verschiedensten Themen, wobei ihr lebhafter Gedanken-Austausch manchmal sogar durch gemeinsames Kiffen wohltuend beflügelt wird.

In der typisch amerikanischen, schnörkellosen Schreibweise verfasst, ähnelt dieses Buch durch seine Fülle an tiefgründigen Gedankengängen eher einem Essay als einer autofiktionalen Erzählung. Der Papagei dient der Autorin dabei als Katalysator für ihre Selbst-Beobachtungen zu Themen wie Älterwerden, Einsamkeit und Erinnern sowie den Schreibprozess als solchen, wobei sie auf Texte, Zitate und Äußerungen von berühmten und weniger bekannten Kollegen aus der schreibenden Zunft zurückgreift. Es ist ein Füllhorn literarischer Erfahrungen und Erkenntnisse, die sie unermüdlich vor dem Leser ausbreitet, immer eng verbunden mit dem Schreiben als schöpferische Tätigkeit, an der die raue Wirklichkeit gespiegelt wird. Wer halbwegs belesen ist, begegnet bei der Lektüre so manchem ihm wohlbekannten Schriftsteller. Man wird allerdings auch mit amerikanischen Autoren konfrontiert, deren Namen man noch nie gehört hat, die nicht auf der eigenen Leseliste stehen und deren Bedeutung man als an die deutsche Sprache gebundener Leser nicht einzuschätzen vermag. Sigrid Nunez trifft mit ihrem melancholischen Roman einen Nerv der Zeit, der die eigene Verletzlichkeit ebenso aufzeigt wie die vielen Leerstellen in den zwischen-menschlichen Beziehungen, die das Miteinander erschweren oder sogar völlig unmöglich machen.

Obwohl vom Stil her essayartig angelegt, wird diese allumfassende Erkundung des eigenen Innenlebens leichthändig, oft humorvoll und unterhaltend erzählt, ohne dadurch an Relevanz einzubüßen. Besonders stechen dabei die vielen Anekdoten der zitierfreudigen Autorin hervor, die pointiert fast alle Felder der Literatur abdecken. So ganz nebenbei gewähren sie viele erhellende Einblicke in eine Kunstgattung, die wie keine andere als unabdingbare Voraussetzung für die kulturelle Entwicklung des Homo sapiens gelten muss. Narratives Können und gedankliche Tiefe verbinden sich hier auf unterhaltsame Weise zu einer lang nachwirkenden Lektüre.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten

Ich lese dieses Buch seit einem halben Jahr und bin noch nicht „durch“. Pro Tag etwa drei Objekte, und manche immer wieder. Was können alles Objekte sein? Annabelle Hirsch erklärt es uns und beginnt mit einen 30 Tausend Jahre alten weiblichen Oberschenkelknochen, der einen verheilten Bruch zeigt.

Im Vorwort berichtet sie, dass ein Mann losprustete, als sie im Kreis von Bekannten über den Plan sprach, die Geschichte der Frauen an Objekten zu beschreiben: Frauen wären doch selbst Objekte!

Von den hundert beschriebenen kann es hier nur eine kleine Auswahl werden. Ihr profundes Wissen auch über Mythologie, Religionen und Geschichte verblüfft, auch wie sie Zusammenhänge darstellt. Es geht um Sex and Crime, um Religion und Mystik, um Recht und Liebe, wie sie von Frauen erlebt werden.

Zurück zum Oberschenkel: Margret Mead berichtet von der Frage eines Studenten, was wohl ihrer Meinung das älteste Zeugnis menschlicher Zivilisation sei. Sie antwortete: Dieser Oberschenkel zeigt, dass die Frau mit dem gebrochenen Oberschenkel über Wochen auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen war; die sie fütterten, vielleicht auch trugen. Ein Tier wäre, ohne Laufen zu können, gestorben…

Dann geht es nicht nur ums Überleben, auch um die weibliche Lust: Drei Dildos stellte sie vor, der erste im 17. Jahrhundert aus Muranoglas. Venedig war ein Ort der raffinierten Sünde, schade, dass die katholische Kirche nichts von Onanie hält.

Da war man 1984 weiter, als in den USA der kleine Rabbit Pearl entwickelt wurde, mit einem Kitzler für den Kitzler. Im Film Sex and the City wurde Miranda süchtig nach ihm und man sprach davon.

Dann geht es um die Rechte der Frauen im Grundgesetz: Von den vier „Müttern“ des Grundgesetzes war nur eine, Elisabeth Selbert, konsequent gegen die Fortführung der Formulierung des Textes der Weimarer Republik. „Männer und Frauen sind gleichberechtigt,“ forderte sie, das ist etwas anderes als: sie sind gleich. Als auch die anderen drei Mütter eher zu Kompromissen bereit waren, betrieb Frau Selbert Öffentlichkeitsarbeit in Fabriken, auch im Radio und „erklärte den Frauen, was auf dem Spiel stand“. Das erinnert mich an den Film „Die Unbeugsamen“ von Torsten Körner, wo die CDU-Frauen vor Adenauers Haus dagegen protestierten, dass er immer nur eine (Alibi) Frau als Ministerin zulassen wollte.

Aus Großbritannien stellte sie die Hungerstreikmedaille vor: Als Frauen vor und während des ersten Weltkrieges bürgerliche Rechte forderten, sahen sie, dass es andere Aktionen gegen brauchte, notfalls mit Gewalt. Auch gegen sich selbst; sie hungerten. Dazu gab es den „Cat and Mouse Act“. Wenn die Frauen so geschwächt waren, dass sie drohten zu sterben, wurden sie entlassen, aber zurück ins Gefängnis gebracht, wenn sie wieder hungerten. Erst später gab es dann die Medaillen.

In den USA gab es eine Medaille für Women Airforce Service Pilotinnen, die während des Krieges dienten. Als die Männer zurückkamen, wurden sie nicht mehr gebraucht. Sie könnten doch Stewardessen werden…

Frau Hirsch ist Deutsch-Französin und hat auch in Paris studiert. Viele ihrer Objekte stammen aus Frankreich.

Etwa das vom Buch des Essayisten de Montaigne aus dem sechzehnten Jahrhundert. Da geht es um die Freundschaft im Sinne des Humanismus. „Weil ich es war, weil er es war“ beschreibt er eine Beziehung. Das ist etwas Anderes, als die Nächstenliebe. Wie kann die funktionieren, wenn mir ein Mensch nicht angenehm ist.

Aber, geht das nur unter Männern? De Montaigne hatte eine Brieffreundschaft mit einer Frau und wünschte sich nach seinem Tode, dass sie sein Werk weiter betreut, und seine Witwe bat sie darum.

Oder der Nervenarzt Charcot, der sich auf hysterische Frauen spezialisierte und es schaffte, dass sie sich vor großem Publikum in einem Krampfanfall hineinsteigerten. Selbst Freud hat sich das mal angesehen. Von dessen Theorie vom Penisneid hält sie dann auch nichts.

Auf dem Klappentext steht: von diesem Buch kauft frau sich am besten gleich zwei; eins für sich und eines für die beste Freundin. Ich habe es schon dreimal verschenkt.


Genre: Feminismus, Politik und Gesellschaft, Sachbuch
Illustrated by Kein & Aber Zürich

Wild nach einem wilden Traum

Der jüngst erschienene Roman «Wild nach einem wilden Traum» von Julia Schoch ist der letzte einer unter dem Titel «Biografie einer Frau» erschienenen, unabhängig voneinander zu lesenden Buchreihe. Auf dem Umschlag des Buches hat sie dazu erklärt: «Was ich in der Trilogie erzähle? Dass wir unterschiedliche Rollen im Leben haben und oft nicht wissen, was wir für andere sind. In den drei Büchern möchte ich Gerechtigkeit walten lassen. Ein Wunschtraum, vielleicht. Aber ein schöner.» Herausgekommen ist dabei zum Abschluss nun dieser autofiktionale Roman, in dem von einer Schriftstellerin aus Mecklenburg-Vorpommern erzählt wird, die an einem Kipppunkt ihres Lebens steht. Die namenlos bleibende Protagonistin des Romans erzählt in zwei Handlungs-Strängen von der Liebesaffäre mit einem Mann und von der für ihr Leben folgenreichen Begegnung als Mädchen mit einem jungen Soldaten.

Anlässlich eines Stipendiums in den USA lernt sie als angehende Schriftstellerin einen spanischen Kollegen kennen, der nicht müde wird zu betonen, er sei Katalane. Was sie als in der DDR aufgewachsenes Kind sehr erstaunt, war doch die Wiedervereinigung der zwei deutschen Staaten für sie ein endlich wahr gewordener, lang ersehnter Traum. Der ebenfalls namenlos bleibende Katalane hingegen träumt von der staatlichen Abtrennung seiner Region von Spanien. Sie ist fasziniert von diesem charismatischen Mann, der als Schriftsteller bereits sehr erfolgreich ist, und sucht bei den abendlichen Gesprächen der Stipendiaten seine Nähe. Denn er ist auch ein begnadeter mündlicher Erzähler, dem alle gern zuhören. Als er ihr wenige Tage später nach einem Abendessen per Handzeichen signalisiert, er erwarte sie in fünf Minuten in seinem Zimmer, folgt sie ihm ohne Zögern. Sofort, ohne jedes verliebte Vorgeplänkel, haben sie einfach nur rauschhaften Sex miteinander. Unmittelbar danach reden sie dann wieder über Literatur und das Schreiben, für das sie ja alle hierher gekommen sind, in die ablenkungsfreie Ruhe einer ländlichen Ödnis nahe New York.

Die Begegnung der damals zwölfjährigen Protagonistin mit dem jungen NVA-Soldaten aus der benachbarten Garnison am Stettiner Haff, in der auch ihr Vater als Offizier stationiert ist, markiert einen zweiten Kipppunkt ihres Lebens. Sie trifft ihn zufällig bei einem Spaziergang im Wald, wo er Pilze sucht, unterhält sich angeregt mit ihm, und bald treffen sie sich dann regelmäßig an gleicher Stelle. Er ist sehr an Literatur interessiert und bestärkt sie wirkungsvoll in ihrem «wilden Traum», eine Schriftstellerin zu werden. Beide Themen, die Liebe und die Schriftstellerei, werden in diesem Roman abwechselnd und in parallelen Handlungssträngen mit allerlei philosophischen Gedankengängen verknüpft. Erzählerisch auffallend distanziert, quasi nebenbei, erfährt der Leser dass die Protagonistin verheiratet ist, zwei Kinder hat, früher gerne mit ihrem Mann gereist ist und ihn jetzt nur noch manchmal zum Essen in einem Restaurant trifft. Mehr erfährt man nicht dazu!

Julia Schoch nähert sich ihrer Thematik völlig emotionslos. Der Katalane im Roman ist Liebhaber der Ich-Erzählerin für wenige Wochen, von einer verzehrenden Liebe ist hier nicht die Rede. Ihre Affäre mit ihm war letztendlich nur der Anstoß für die Protagonistin, ihr bisher eher langweiliges, angepasstes Leben neu zu  ordnen. Es geht um das Verstehen in diesem Roman eines Frauenlebens, um die Wechselwirkungen des Lebens und des Schreibens, letztendlich um die Frage, was wahr ist. Schafft das Schreiben eine neue Wahrheit? Verändert das Schreiben die Wahrheit? Ist Liebe Wahrheit oder Illusion? Ist Liebe überhaupt ein eindeutiger Begriff? Wie verändert Zeit die Liebe? Kann Literatur Wirklichkeit schaffen? In stilistischer Form des Bewusstseinstroms geht ein wahrer Regen an Fragen auf den Leser nieder, die ihn förmlich zu kontemplativer Mitwirkung anregen, vielleicht sogar dazu zwingen. Wenn Literatur das schafft, hat sie wahrhaftig ihren Zweck erfüllt!

Fazit:   erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Der Meister und Margarita

Der Meister und Margarita. Gebunden, mit Farbschnitt, Prägung, Lesebändchen und 25 beeindruckenden, ganzseitigen Illustrationen von Alexander Fedorov: das ist eine Festausgabe des russischen Kultbuchs von Michail Bulgakow. Der am 15. Mai 1891 in Kiew geborene und am 10. März 1940 in Moskau – vor bald 85 Jahren – gestorbene Autor beschäftigt die Literaturgeschichte seit mehr als 100 Jahren. Ebenso sein Hauptwerk, das nun in einer bibliophilen Ausgabe beim Anaconda Verlag erschienen ist. Weitere ähnlich gestaltete Neuauflagen seiner anderen Werke finden sich auf der Verlagsseite.

Die letzten Gerechten: Meister und Margarita

“Der Meister und Margarita” wurde von Bulgakow zwischen 1928 und März 1940 verfasst. Die letzte Fassung wurde von ihm persönlich seiner Frau quasi am Totenbett diktiert. Das Werk erschient aber erst November 1966, 26 Jahre nach dem Tod des Autors, in Fortsetzungen in der Literaturzeitschrift Moskwa. Er war von der Zensur um rund ein Achtel gekürzt worden. Die Zeitschrift hatte eine Auflage von immerhin 150.000 Exemplaren und war binnen weniger Stunden ausverkauft. Die von der Zensur herausgekürzten Textteile wurden sogar handschriftlich vervielfältigt und als Samisdat heimlich im Untergrund weiterverbreitet, so beliebt war die Geschichte. Viele Menschen lernten ganze Passagen sogar auswendig, um sie weitergeben zu können. Aber was regte die stalinistische Zensur damals eigentlich so auf? Der Plot spielt hauptsächlich in der immer noch existierenden Wohnung Nr. 50 in der Sadowaja 302b, in der der Autor von 1921 bis 1924 ein Zimmer bewohnte. Inzwischen sei die Wohnung längst zu einem beliebten Ausflugsziel von Bulgakow-Verehrern geworden, so diverse Quellen. Im Moskau zu Beginn der 30er-Jahre sucht der Teufel höchstpersönlich die Stadt heim und stürzt ihre Bewohner:innen mit tatkräftiger Unterstützung seiner Zauberlehrlinge in ein Chaos aus Hypnose, Spuk und Zerstörung. Die verdiente Strafe für Heuchelei, Korruption und Mittelmaß trifft alle gleichermaßen, bis auf die letzten zwei Gerechten. Der im Irrenhaus sitzende Schriftsteller, genannt “Meister” und Margarita, dessen einstige Geliebte.

Der Liebe zum Durchbruch verhelfen

Die Biographie des Pontius Pilatus ist die eine Geschichte, die von Bulgakow als „Roman im Roman“ erzählt wird und darin verwendet er nicht nur die alten gräzisierten oder hebräischen Formen. Er weist darauf hin, in welchen Sprachen damals gesprochen wurde, neben Latein auch in Griechisch, aber vor allem Aramäisch. „Golgatha“ (aramäisch) wird nicht „Ort der Stirn“ (russisch: lobnoe mesto) genannt, sondern als Begriff der slawischen Folklore: Kahler Berg („Lysaja Gora“). Der berüchtigte Treffpunkt der Hexen, der im Westen durch Modest Mussorgskis „Noc’ na Lysoj Gore“ bekannt wurde. Zum Ausgangspunkt seines Romans wählt Bulgakow aber die Moskauer Patriarchenteiche, die wie der Name schon andeutet, einst dem Patriarchen, also der russischen Kirche, gehörten. Der Roman, der eine Dekade nach der Revolution begonnen wurde, zeigt wie der „Ziegensumpf“, der volkstümliche Name der Teiche, schon das Dämonische anklingen lässt: „Koz’e boloto“. Denn bei Ziege denkt man gleich an den Bocksfüßigen, der überall seine Hände im Spiel hat. „I was around when Jesus Christ had his moment of doubt and pain/Made damn sure that Pilate washed his hands and sealed his fate“, sangen die Rolling Stones und weiter: „I stuck around St. Petersburg, when I saw it was a time for a change…”. Nun, bei Bulgakow kommt der Teufel bis Moskau und zettelt zwar keine Revolution, aber doch ein ziemliches Chaos an. Im Zweiten Teil taucht dann endlich auch Margarita auf, der Leser spürt es schon im ersten Satz: „Wer hat dir erzählt, es gebe auf der Welt keine echte, wahrhafte, ewige Liebe? Möge dem Lügner seine schändliche Zunge abgetrennt werden!“

Faust lässt grüßen: Meister und Margarita

Ist es also allein dem Charme dieser Margarita zu verdanken, dass Woland (Professor W) mit Hilfe seiner Kumpanen, dem Kater Behemoth, dem wienernden Korowjew, Azazello und der Dienerin Gella, der Liebe zu ihrem Durchbruch verhilft, auch wenn er die Liebenden dann – wie bei Tristan und Isolde – zunächst Gift trinken lässt? „Und Sie bleiben auch ganz bestimmt auf dem Teppich?“ Neben den Patriarchenteichen und einem Theater spielt der vorliegende russische Jahrhundertroman des fantastischen Realismus auch in der Wohnung des verunglückten Berlioz, Nr. 302 Block B Wohnung 50, und der besagten Irrenanstalt. „Nun gut, der Liebende hat das Geschick des Geliebten mitzutragen“, heißt es am Ende der Schleife, in der Margarita und der Meister sich finden und die illustren 5 nicht gefasst werden können. 2023 erschien in Russland die Verfilmung von “Der Meister und Margarita” von Michael Lockshin (157 min, mit August Diehl, Yulia Snigir, Evgeniy Tsyganov). Kinostart Deutschland/Österreich ca. 1.5.2025

Michail Bulgakow
Der Meister und Margarita. Schmuckausgabe mit Illustrationen von Alexander Fedorov,
Mit Farbschnitt, Leseband, geprägtem Cover, übersetzt von Alexandra Berlina
2024, Hardcover, Pappband, 512 Seiten, 13,5×21,5cm, SW-Illustrationen
ISBN: 978-3-7306-1425-9
Anaconda Verlag
€ 18,00


Genre: Roman
Illustrated by Anaconda

Die Vegetarierin

Vielschichtig und lange nachwirkend

Das bisher wohl beste und auch bekannteste Werk der gerade erst mit dem Nobelpreis ausgezeichneten, südkoreanischen Schriftstellerin Han Kang mit dem Titel «Die Vegetarierin» wurde 2016 mit dem ‹Booker Prize International› geehrt als bester fremdsprachiger Roman. Die Feuilletons feierten das in mehr als 25 Sprachen übersetzte und inzwischen auch verfilmte Buch in höchsten Tönen. Wie schon in anderen ihrer Romane ist auch hier ein Traum der Auslöser für das thematisch an Kafka erinnernde, verstörende Geschehen. «Ich hatte einen Traum» ist die immergleiche Erklärung der Protagonistin für ihre plötzliche Obsession, mit der die Abwärts-Spirale zu den letztendlich sogar ihre Existenz vernichtenden Wahnvorstellungen zunächst scheinbar ganz harmlos beginnt.

«Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie in jeder Hinsicht für völlig unscheinbar», lautet der erste Satz. Und lakonisch weiter: «So fühlte ich mich weder von ihr angezogen noch abgestoßen und sah daher keinen Grund, sie nicht zu heiraten.» Alle seine Versuche wie auch die ihrer Familie bleiben erfolglos, Yeong-hye  von ihrer abrupten, kompromisslosen Entscheidung abzubringen, auf Fleisch zu verzichten, was in Korea schon fast als Sakrileg gilt. Das und ihre Ablehnung, einen BH zu tragen, führt schon bald zu einer für den Ehemann höchst peinlichen Situation. Als sie nämlich zum Essen mit seinem Chef eingeladen sind, wird ihr Vegetarismus zum Diskussions-Thema, und auch die sich unter ihrer dünnen Bluse deutlich abzeichnenden Brustwarzen sind für alle am Tisch recht peinlich.

Zwei Jahre später, im zweiten Teil des dreiteiligen Romans mit dem Titel «Der Mongolenfleck» wechselt die Perspektive zum Schwager von Yeong-hye, der als Video-Künstler arbeitet. Inspiriert von einer Theateraufführung möchte er ein neues Projekt angehen, bei dem sich ein am ganzen Körper mit Blumen bemaltes Paar eng umschlungen wie im Tanz bewegt. Er beschließt, seine inzwischen in Scheidung lebende Schwägerin Yeong-hye zu fragen, ob sie bereit wäre, für ihn Modell zu stehen und sich nackt bemalen zu lassen. Denn er weiß, dass sie ein als Mongolenfleck bezeichnetes Muttermal trägt, auch das eine Inspiration für ihn. Ohne Zögern sagt sie zu und lässt sich in seinem Atelier mit Blumen bemalen, wobei er den gesamten Arbeitsprozess per Video aufzeichnet. Er bitte sie, die Bemalung nicht abzuwaschen und noch ein zweites Mal zu kommen, um nun zusammen mit einem Kollegen Modell zu stehen. Sie ist bereit dazu, er bemalt auch den jungen Mann und fordert die beiden Nackten dann auf, sich miteinander in erotischen Posen zu bewegen, wobei er sie filmt. Während Yeong-hye keine Probleme damit hat und sogar bereit wäre, Sex mit dem Mann zu haben, bricht der Kollege die nach seiner Ansicht pornografisch werdende Aktion ab. Sie sein feucht geworden, gesteht sie dem Video-Künstler danach, lehnt es aber ab, statt mit dem Kollegen doch mit ihm zu schlafen. Es wäre die Bemalung des Mannes gewesen, die sie so erregt habe. Daraufhin lässt er sich sofort von einer ehemaligen Kollegin selbst bemalen und fährt noch in der gleichen Nacht zu Yeong-hye, wo sie rauschhaften Sex haben. Als seine Frau die Bemalten morgens im Bett findet, ruft sie den Notarzt, der die beiden ja ganz offensichtlich Geisteskranken in die Psychiatrie einweist.

Aus der Perspektive der Schwester wird im dritten Teil lakonisch der verhängnisvolle Abwärtsstrudel beschieben, der mit dem Erlöschen der Existenz von Yeong-hye endet, die schließlich glaubt, ein Baum zu sein. Der aus ursprünglich drei Novellen entstandene, abgründige Roman thematisiert subversiv, in einer betont nüchternen Sprache, das Unverständnis einer abweichenden Ernährungsweise gegenüber, ferner die Gefahren eines moralisch unkonventionellen Verhaltens und letztendlich eine Psychose, die apokalyptisch endet. Dieser vielschichtige Roman, der auf ganz verschiedene Weise gedeutet werden kann, wirkt thematisch, aber auch wegen seiner stilistischen Schlichtheit sehr lange nach.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Umlaufbahnen

Raumfahrt für Träumer

Der 2024 mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnete Roman der englischen Schriftstellerin Samantha Harvey hat eine ungewöhnliche Thematik. Er beschreibt einen Tag in der ISS, der internationalen Raumstation, die seit 1996 die Erde in etwa 400 Kilometer Höhe umkreist. Dem Buch ist eine Grafik vorangestellt, auf der die sechzehn ca. 90 Minuten langen Erdumkreisungen dargestellt sind, denen die sechzehn Kapitel des Buches entsprechen. Auslöser für ihren Roman war, wie die studierte Philosophin bekundet hat, eine spezielle Form des Eskapismus gewesen, ihre Sehnsucht nach dem Gefühl des Schwebens, im Übrigen aber war die reine Schönheit ihr Antrieb.

Die sechsköpfige Crew der Station besteht aus zwei Frauen und vier Männern, die mit unterschiedlichen Aufgaben betreut, im ständigen Kontakt mit der Bodenstation verschiedene wissenschaftliche Experimente durchführen. Sechzehn Mal am Tag geht für sie die Sonne auf und wieder unter, was ebenso Auswirkungen auf ihren Körper hat wie die permanente Schwerelosigkeit, der sie ausgesetzt sind. Täglich kontrollieren sie deshalb alle Körperfunktionen, analysieren permanent ihre Laborwerte, machen Aufzeichnungen über ihr seelisches Befinden. Neben diesen alltäglichen Tätigkeiten beobachten sie immer wieder die Erde, was sich im Roman zu gefühlt hundertfach wiederholten Schilderungen der Kontinente und Meere niederschlägt, über die sie hinweg fliegen. Wobei die «reine Schönheit» in immer neuen Formulierungen wiederkehrender Gegenstand dieser poetischen Beschreibungen ist. «Natural Writing» in einer fürwahr extremen Form, weil ja der Planet Erde nur immer aus dem gleichen Blickwinkel, aus 400 Kilometern Höhe beschrieben wird.

Das wird mit der Zeit ähnlich langweilig wie die Aktivitäten in der Raumstation selbst. Dem begegnet die Autorin, indem sie in vielen Rückblicken von der familiären Vorgeschichte der Crewmitglieder erzählt. Sie schildert den schwierigen Weg ihrer Figuren als künftige Astronauten und Kosmonaten, einen Traum, der sich ja nur für eine verschwindend kleine Anzahl von Bewerbern erfüllt. Die Rivalitäten zwischen den amerikanischen Astronauten und den russischen Kosmonauten an Bord manifestieren sich schon allein in der abweichenden Bezeichnung. Vor Beginn an hatten die Russen ganz unbescheiden ihre Ambitionen für die Raumfahrt mit «Kosmos» deutlich weiter gesteckt als die USA. Die aber waren seit dem 20. Juli 1969 schon sechs Mal auf dem Mond, ein Russe bis heute nicht. Da wundert man sich dann auch nicht als Leser, wenn es auf der Raumstation eine Toilette nur für Amerikaner gibt und eine separate für Russen. Natürlich wird auch die Geschichte der bemannten Raumfahrt behandelt, von der Explosion der Raumfähre Challenger im Jahre 1986 bis zu den verschiedenen Missionen zum Mond. Der Tod ist ständiger Begleiter dabei.

Es sind im Übrigen die großen Fragen der Menschheit, die von der Autorin angesichts der bestaunten Kulisse von Mutter Erde behandelt werden. Dabei bezieht sie die Kunst mit ein in ihre philosophischen Betrachtungen, zum Beispiel den Roman «Die Wellen» von Virginia Woolf mit einem ähnlichen Setting. Immer wieder wird auch das berühmte Gemälde «Las Meninas» von Velázquez herangezogen zur Verdeutlichung der Perspektive auf das Dargestellte. Der Kontrast zwischen der Winzigkeit der menschlichen Existenz angesichts der Großartigkeit des blauen Planeten und der Unendlichkeit des Weltalls ist Thema dieses Romans, der weder eine Handlung noch so etwas wie einen Spannungsbogen aufzuweisen hat. Was man als Leser der Lektüre dieses Romans zu verdanken hat, das ist das Weiten der Perspektive über den begrenzten Radius hinaus, an den das Erdendasein uns unerbittlich fesselt. Ganz unwillkürlich löst dieser Roman zwar auch viele rationale Fragen aus zum Thema Raumfahrt, aber eigentlich ist er ja wohl doch eher zum Träumen gedacht!

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Findet mich

Eher verstörend als unterhaltend

In ihrem Debütroman «Findet mich» zeichnet die Schweizer Schriftstellerin Doris Wirth das düstere Bild eines Mannes in einer psychischen Krise, die sich zu einer handfesten Psychose auswächst. Dabei beschreibt sie nicht nur den Krankheitsverlauf ihres Protagonisten, sie schildert vielmehr in allen Details auch dessen familiäres Umfeld, das unter den Symptomen seiner Erkrankung am meisten zu leiden hat. Oberflächlich betrachtet könnte man von einer späten Midlifecrisis des gerade arbeitslos gewordenen 51Jährigen sprechen, aber die Ursachen für sein zunehmend krankhafter werdendes Verhalten liegen in Wahrheit tief in ihm selbst, sein Seelenfrieden ist massiv gestört. Der narrative Rahmen des Romans beginnt mit der unangekündigte Flucht seines Protagonisten Erwin, der sich eines Tages einfach in sein Auto setzt und seine Familie im Kanton Zürich mit unbekanntem Ziel verlässt, und er endet mit dem pflegebedürftigen, kaum wieder zu erkennenden Kranken, nur noch ein Schatten seiner selbst, der nach langer, intensiver Therapie wieder zu Hause ist.

In einem fünf Generationen umfassenden Prolog führt Florence, die erwachsene Tochter von Erwin und Maria, den Leser als Ich-Erzählerin in die familiäre Geschichte ein. Aus auktorialer Perspektive wird dann im ersten Teil des Romans der Aufbruch von Erwin geschildert, der seinen rigorosen Rückzug aus der Familie als Spiel begreift, immer nach dem titelgebenden Motto: «Findet mich». Er wird, hat er sich vorgenommen, höchstens hier und da mal eine Spur von sich hinterlassen, hält sich aber für so clever, sich trotzdem nicht erwischen zu lassen bei seiner Flucht. Denn er fühlt sich klar überlegen und lacht bei dem Gedanken, was er da alles auslösen wird bei der bald beginnenden, hektischen Suche nach ihm. Aus Erwins Innensicht erzählend, oft in der narrativen Form des Bewusstseinsstroms, schildert die Autorin die vordergründigen Motive für seine odysseeartige Irrfahrt aus der für ihn unerträglich gewordenen Realität in eine imaginierte, rosige Zukunft. Er träumt vom geradezu archaischen Leben in unverfälschter Natur, frei von allen lästigen Zwängen und von den nervtötenden, alltäglichen Querelen, insbesondere die mit seinen beiden Kindern. Florence leidet an Bulimie, und Lukas ist ein Kiffer, der sich nicht für die Schule. sondern nur für seine Musik interessiert.

Aus ständig wechselnden Perspektiven und zeitlich vor und zurück springend beschreibt Doris Wirth sehr anschaulich und nachvollziehbar ihren Protagonisten als einen naiven Freigeist, der untertaucht in ein vermeintlich wildes Abenteuer. Er wird dargestellt als kompromissloser Aussteiger aus dem verachtenswert angepassten und miefigen Leben des typischen Spießbürgers zwischen Arbeit, Kleinfamilie und dem obligatorischen Feierabendbier. Der dann auch noch jeden Samstag vor der Garage sein Auto auf Hochglanz poliert wie all die Nachbarn auch. Seine Tochter Florence, aber auch sein Sohn Lukas fordern mit ihrer nachlässigen Lebensweise zunehmend seinen Unmut heraus, er ist bald nicht mehr bereit, ihren Schlendrian und die Faulheit hinzunehmen, die sie an den Tag legen im familiären Zusammenleben. Am Ende rastet er schon beim kleinsten Anlass aus und brüllt die Beiden völlig unbeherrscht an, ohne damit allerdings irgendwas ändern zu können. Seine Frau steht auf Seiten der Kinder und versucht ihn zu bremsen, meistens allerdings vergeblich.

In kurzen Sätzen und bunt durcheinander werden die Ereignisse aus wechselnder Perspektive aller vier Familienmitglieder sehr ausführlich geschildert, oft auch als innerer Monolog, wobei eine gewisse Orientierungslosigkeit erkennbar ist, die familientypisch zu sein scheint. Jeder von ihnen sucht seine Freiräume, nicht nur der Vater, der dies am konsequentesten tut, ausgedrückt nicht nur durch seine irre Flucht, sondern auch durch sexuelle Kapriolen, die seine Frau zu akzeptieren gezwungen ist. Konsequent am Thema einer Reise in die unbekannten Tiefen einer Psychose bleibend, wirkt dieser Roman als Lektüre eher verstörend als unterhaltend.

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Geparden-Verlag Zürich

Kaltblütig

Ohne den genre-typischen Horror

Mit «Kaltblütig», seinem bekanntesten Werk, hat der amerikanische Schriftstellers Truman Capote das neue literarische Genre New Journalism  geschaffen, den Tatsachenroman. Darin schildert er mit den narrativen Methoden einer literarischen Erzählung den im November 1959 tatsächlich passierten, vierfachen Mord an der Familie des Farmers Clutter im Westen des US-Staates Kansas. Darauf aufmerksam geworden ist er durch einen Artikel in der Zeitschrift «The New Yorker». Er begann schon bald mit umfangreichen Recherchen zu dem großes Aufsehen erregenden Fall. Sein Buch erschien dann sechs Jahre später. Er musste sogar warten, hat er erklärt, bis die Hinrichtung der beiden Täter nach verfahrens-technischen Verzögerungen dann auch tatsächlich stattgefunden hatte. Und wer nicht vorinformiert ist als Leser, dem winkt natürlich der größte Lesegewinn, was spätestens ab dieser Stelle hier wirklich wohlmeinend zur Nachahmung empfohlen wird!

Aus wechselnden Perspektiven erzählend berichtet der Autor zunächst sehr ausführlich von der Familie Clutter, deren Oberhaupt es als strebsamer, prinzipientreuer Farmer zu einigem Wohlstand gebracht hat. Er ist als fairer Arbeitgeber bei seinen Arbeitskräften sehr beliebt und zahlt gut. Im Haus wohnen außer den Eltern die halbwüchsige Tochter Nancy und der kleine Kenyon. Zwischen die Beschreibungen der Opferfamilie wird immer wieder mal ein kurzer Schwenk zu den Tätern eingefügt, dem 28jährigen Dick und seinem 31jährigen Kumpel Perry. Die Beiden kennen sich aus dem Gefängnis, wo sie für unterschiedliche Straftaten einige Jahre eingesessen haben. Dick hat ebenfalls dort von Floyd Wells, einem Mitgefangenen, von der Farm der Clutters gehört, wo Floyd ein Jahr lang gearbeitet hat. Dort im Büro befände sich ein Tresor, der tausende von Dollars enthalten müsse, so reich wie Clutter ist. Nach ihrer Entlassung beschließen Dick und Perry, diese Farm, die sie nur aus der Erzählung kennen, nachts zu überfallen. Um nicht erkannt zu werden, wollen sie sich schwarze Damenstrümpfe über den Kopf ziehen. Die sind aber nirgendwo zu bekommen in der dünn besiedelten, ländlichen Gegend. Der Überfall findet statt, ein Tresor aber ist nicht vorhanden, denn Mr. Clutter hat aus Prinzip nie Bargeld im Haus, er zahlt immer nur mit Scheck. Als Bargeld aus den verschiedenen privaten Geldbörsen der Familie kommt letztendlich nur ein Betrag von 40 Dollar zusammen, ein Fiasko für die Verbrecher. Denn ohne Maskierung müssen sie ja alle Anwesenden als Augenzeugen töten, um unerkannt zu bleiben. Und das tun sie denn auch, absolut kaltblütig!

Die Polizei steht vor einem Rätsel, es wurden kaum Spuren hinterlassen, und es fehlt vor allem auch ein Motiv für die schrecklichen Morde, mit dem sich ein Täterkreis eingrenzen ließe. In der kleinen Ortschaft kursieren die wildesten Gerüchte, aber die Clutters waren als brave Kirchgänger überall sehr beliebt, niemand hätte einen Grund gehabt, sie alle umzubringen. Die um drei Beamte des FBI verstärkte Mordkommission bekommt nach drei Monaten plötzlich einen Tipp von Floyd Wells, der als Informant für die Tat lange gezögert hat, sich zu melden, weil er nicht mit hineingezogen werden wollte. Nun geht alles ganz schnell, die Täter werden gefasst, vor Gericht gestellt und zum Tod durch den Strang verurteilt.

Minutiös berichtet Truman Capote von der spannenden Ermittlungsarbeit, dem komplizierten Prozessverfahren, und er legt zudem geradezu sezierend die psychologischen Defekte der Täter offen, denen bis zuletzt, bis zum Galgen, aber jedes Unrechts-Bewusstsein fehlt. Auch hier gilt «Der Weg ist das Ziel», dieser journalistisch präzise erzählte Bericht ist eine bereichernde Lektüre, die so ganz ohne die genretypischen Horror-Szenarien auskommt.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste

Wie Grischa. “Frühling kann sich sehr kalt anfühlen.” Psychiater und SPIEGEL-Bestsellerautor Jakob Hein hat zuletzt gemeinsam mit Kat Menschik auch das illustrierte Kompendium der psychoaktiven Pflanzen veröffentlicht. Bekannt geworden ist er auch durch Mein erstes T-Shirt (2001), Herr Jensen steigt aus (2006), Wurst und Wahn (2011), Kaltes Wasser (2016) und Die Orient-Mission des Leutnant Stern (2018) oder Hypochonder leben länger und andere gute Nachrichten aus meiner psychiatrischen Praxis (2020).

Import Export Geschäfte der “Bruderländer”

Der etwas sperrige Titel des hier neu vorliegenden absurd-abgedrehten Romans über ein bisschen Gras, einen genialen Coup und das Wunder von Bayern entführt die Leserinnen in die Achtziger Jahre als noch FJS in Bayern herrschte, Afghanistan von der Sowjetunion besetzt war und die Mauer gerade noch so stand. Wenn auch etwas wackelig schon. Aber ausgerechnet durch eine fette Finanzspritze aus Bayern konnte das Überleben der DDR noch ein paar Jahre gesichert werden. Wie es dazu kam, dass ausgerechnet Bayern den bankrotten Sozialismus finanzierte, erzählt die hier vorliegende herrlich abgedrehte Geschichte. Der “Held der Arbeit” ist in diesem Fall der Titelheld Grischa, der nicht nur Filmliebhaber ist, sondern auch für den Staatsdienst arbeitet, Assistent der Plankommission.

Als lebten sie schon im Sozialismus

Als solcher macht er sich Gedanken über die Finanzsituation seines Landes und überlegt sich, was das Bruderland Afghanistan, die DR Afghanistan, der D-DR im Austausch für ihre Güter anbieten könnte. Da das Land für klassische Landwirtschaft nicht so gut geeignet sei, bauten die Bauern dort vor allem Opiate und Cannabis an. Unter Einfluss des letzteren fühlten sich die Menschen, “als lebten sie schon im Sozialismus”, beschreibt ein wissenschaftlicher Kollege den Cannabis-Rausch. Was als spreche gegen eine Import-Export-Deal mit dem Bruderland am Hindukusch?

Schelmenstück mit viel trockenem Humor

Im Deutsch-Afghanischen-Freundschaftsladen im Grenzgebiet West-Berlins und der DDR wird alsbald das Harz des Cannabis im Zehnerpack verkauft, neben Wollschals und anderen Gewürzen. Frau Dr Frühling, die etwas seiner Lieblingsschauspielerin Jelena Metjolkina aus dem Film “Die Frau aus dem All” ähnelt, assistiert Grischa bei seinem Unternehmen, auch wenn sie wenig davon überzeugt ist. “Es ist das Gefühl einer großen Verbindung mit der Jugend der Welt im Geiste des Sozialismus“, so Genosse Burg poetisch über das fernöstliche Kraut, das sich bald wie warme Semmeln verkauft. Und genau der Erfolg des “Produkts” wird dann zu einem so großen Problem, dass es auch die Westdeutsche Regierung auf den Plan ruft.

Wie Grischa beinahe…

Denn die Käufer des landestypischsten Produkts Afghanistans, das Cannabis, ist hauptsächlich die westdeutsche Jugend, die aufgrund der hohen Qualität sogar aus fernen Bundesländern extra anreist. Bei einem Gulasch mit Extra-Würze entscheidet sich alsbald das Schicksal der DDR und Grischa und Frühling spielen dabei so gut zusammen, dass zumindest für den einen der beiden ein Orden abfällt: Held der Arbeit fürs Nichtstun. Aber wer würde 1 Milliarde DM nicht als Gewinn ansehen? Vordergründig ging es 1984 zwar um den Abbau der Selbstschussanlagen an der deutsch-deutschen Grenze, aber Grischa und Frühling wissen es besser.

Ein lesenswerter Schelmenroman, der die historische Tatsache des FJS eingefädelten Kredits für die DDR durch die Bong raucht. Witzig und lesenswert, voller versteckter Pointen und mit viel trockenem deutschen Humor.

Jakob Hein
Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste
2025, Hardcover mit Schutzumschlag, 256 Seiten
ISBN: 978-3-86971-316-8
Galiani-Berlin
€ 23,00


Genre: Roman
Illustrated by Galiani

Die Glücklichen

Bonjour Tristesse

Die Schriftstellerin Kristine Birkau hat für ihren schwermütigen Debütroman den ironischen Titel «Die Glücklichen» gewählt. Denn Glück ist es ja gerade nicht, über das sie da schreibt, es sei denn, man ist psychisch ein Masochist, der seinen eigenen sozialen Abstieg genießen kann. Der vor zehn Jahren erschienene Roman erweist sich im Nachhinein als geradezu prophetisch, indem er konkret soziale Ängste beschreibt, die sich inzwischen sogar schon politisch, im Wahlverhalten der jungen Generation nämlich, nieder zu schlagen beginnen, eine latente ökonomische Skepsis hat inzwischen die Oberhand gewonnen, Zuversicht war gestern!

Mit scharfem Blick für verborgene Details beschreibt die Autorin ein junges Paar aus dem Mittelstand, das sich über ihren zweijährigen Sohn freut und ihn liebevoll umsorgi, ja geradezu verhätschelt. Ehemann Georg ist Journalist bei einer großen überregionalen Zeitung, Isabell spielt Cello im 15köpfigen Ensemble eines Musical-Theaters. Sie leben als überzeugte Großstädter komfortabel in einer schönen, geräumigen Wohnung, ihre Ehe ist harmonisch, und der kleine Matti macht das familiäre Glück vollkommen. Aber schon auf Seite Zwei des Romans deuten sich Störungen dieser von der Gesellschaft allgemein als selbstverständlich angesehenen Komfortzone an, in der man sich wohlversorgt und unbeschwert tummelt. Isabell hat nach der Mutterpause Schwierigkeiten, als Mitte-Dreißigjährige in ihren Beruf als Cellistin zurück zu kehren. Ihre Hände zittern zuweilen völlig unkontrolliert, sie findet einfach nicht mehr in ihr souveränes Spiel von früher zurück. Alle ihre Bemühungen scheitern, die Ärzte können ihr nicht helfen, es scheint ein psychisches Problem zu sein, mit dem sie es da zu tun hat, kein physisches. Trotz diverser Psychotherapien gelingt es ihr aber nicht, sich aus diesem beruflich katastrophalen Dilemma zu befreien, sie verliert schließlich bei einer anstehenden Verkleinerung des Ensembles völlig resigniert ihren Job.

In Verlagskreisen tauchen schließlich Gerüchte auf, die Zeitung, für die Georg arbeitet, würde verkauft werden, andere sprechen gar von Auflösung des Verlags. Auch hier setzt sich die Spirale nach unten für das junge Paar fort, denn auch Georg verliert seinen Arbeitsplatz, beide leben nun von Arbeitslosengeld. Isabell gibt fortan Musikunterricht, springt gelegentlich schon mal als Cellistin ein und bewirbt sich, allerdings vergeblich, auch mit einem Vorspiel bei einer Tanzkapelle. Der 42jährige Georg bewirbt sich erfolglos für alle möglichen Stellungen. Er muss viele Angebote ausschlagen, weil er sich mit der Arbeit einfach nicht identifizieren kann, sich aber auch sein Renommee in der Branche nicht endgültig zerstören will. Neben den beruflichen Pleiten werden die beiden Protagonisten auch mit einer kaum zu stemmenden Mietpreis-Erhöhung konfrontiert, sie werden den Gürtel künftig viel enger schnallen müssen. Während Isabell große Schwierigkeiten hat, ihre konsumtiven Ansprüche zurück zu stellen, ist sich Georg als Realist des drohenden finanziellen Desasters bewusst und wäre bereit, aufs Land zu ziehen. Er bringt seine widerstrebende Frau sogar dazu, ein günstig zu mietendes Objekt auf dem Lande zu besichtigen, aber realistisch betrachtet ist das im Vergleich zu Großstadt bedenklich kulturarme, eher dröge Landleben letztendlich denn doch keine Option für die Beiden.

Diese aus permanent wechselnder, weiblicher und männlicher Perspektive der Protagonisten erzählte Geschichte von Verlust und Niedergang räumt auch gründlich auf mit dem Anspruchs-Denken der heutigen Konsum-Gesellschaft, mit dem alles beherrschenden, biblischen «Tanz ums goldene Kalb». Und es gibt auch kein Licht am Ende des Tunnels, denn der trickreich als Leitmotiv in den Plot eingebaute, wiederentdeckte Tresor im Wohnzimmer lässt sich ebenso wenig knacken wie sich die Hürden überwinden lassen, mit denen die leider ziemlich farblos bleibenden, voll mit sich selbst beschäftigten und nicht gerade sympathischen  Protagonisten konfrontiert sind.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Wild nach einem wilden Traum

Wild nach einem wilden Traum. Nach “Das Vorkommnis” und “Das Liebespaar des Jahrhunderts” nun der letzte Teil der Trilogie “Biographie einer Frau“. Die beiden ersten erscheinen zeitgleich auch schon als Taschenbuch und die Autorin geht auf Lesereise durch Deutschland West und Ost.

Verwandlung im Namen der Liebe

Julia Schoch stammt aus Mecklenburg und lebt heute in Potsdam. 2022 wurde ihr die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen, 2023 der Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen, 2024 der Mainzer Stadtschreiber-Literaturpreis. Die ersten beiden Bände sind sowohl Leser:innen- als Kritiker:innenlieblinge und standen auf der SWR- wie der ORF-Bestenliste. Während es im ersten Band um die Ursprungsfamilie und im zweiten um die Partnerbeziehung ging wird in “Wild nach einem wilden Traum” sowohl die Literatur als auch die Liebe in’s Zentrum der Erzählung gerückt. “Die Erinnerung an eine Liebe kann intensiver sein als diese Liebe selbst“, schreibt sie etwa, als sie fern von zu Hause einen Mann kennenlernt, den sie stets schlicht als “Katalanen” bezeichnet. Namen sind ohnehin Schall und Rauch und so bleibt auch die Ortschaft A., wo die beiden eine “artists in residence”-Beziehung in einer Künstlerkolonie eingehen, im Dunkeln. Ebenso ihr Ehemann, der stets nur der Mann ist, ohne Namen, ohne Alter, auch ihre zwei Kinder.

Wild nach einem wilden Traum

Der Katalane kommt aus einem Land, das sich abspalten will, die Erzählerin aus einem Land, das sich gerade wiedervereinigt hat. Offen bleibt, ob nicht auch Deutschland bald gewissen Auflösungstendenzen anheim fallen wird, denkt sie und verwirft den Gedanken sogleich. “Vielleicht passiert die Liebe, dieses Gefühl, wenn wir uns zu jemandem hingezogen fühlen, immer nur so: stellvertretend für etwas viel Früheres, Älteres, das uns verloren gegangen ist und das wird zurückverlangen wollen. Alle Liebe ist nur ein Ersatz-Haltegriff, habe ich irgendwo gelesen“, schreibt sie und reißt damit einen Graben auf, der sich nicht mehr zuschütten lässt. “Wahrscheinlich geschieht es nur einmal, dass man sich voller Begeisterung für jemanden aufgibt. Diese Verwandlung im Namen der Liebe. Später braucht man sich nicht mehr. Später: wenn man wieder man selbst geworden ist.” Und was heißt denn schon zurückkommen? “Wer weiß denn schon, ob das, was zurückkehrt, auch das ist, was verschwunden war?

Einer das Vehikel des andern

Künstler seien keine glücklichen Menschen, sie taugen nichts fürs Leben, offenbart ihr ein älterer Freund, der Soldat, von dem sie auch den Titel ihres Romans ausgeborgt hat. “Man muss wild danach sein. Wild nach einem wilden Traum.” Das sind starke Sätze, die die Autorin da findet: “Wir bewohnen unsere Vergangenheit, wie man Träume bewohnt“. Verblassenden Erinnerungen oder nachlassendem Gedächtnis kann sie etwas positives abgewinnen. Denn auf das Vergessen sei Verlass und ohne es gebe es keine Geschichten. “Sie sind das, was übrig bleibt.” Auch in der Liebe benutzt man einander, ist “Vehikel“, wie sie schreibt, für einander und bringen fernere, frühere, dunklere Bereiche ans Licht. Oder man lebt in einem “glücklichen Irrtum“.

Maske der Ehrlichkeit

Mit einem Mal gebe es dann keinen Unterschied mehr zwischen Erinnerung und Erzählung. Schließlich sei auch nur die Ehrlichkeit eine Maske. Das sitzt tief. Schriftsteller würden die vergangene Zeit spüren, die Zukunft und das, was noch kommt. Sie hätten eine intensivere Verbindung zu den Toten und eine bessere Verbindung zum Schmerz in der Welt, sagt er, der Katalane. Und obwohl sie diese Meinung für überzogen und pathetisch hält, stimmt sie ihr insgeheim zu. “Bücher sind beinahe magische Objekte. Schon das Lesen war eine Art heilige Handlung, ganz zu schweigen vom Schreiben.

Einspruch gegen die Unmöglichkeit der Liebe

Und lesen kann tatsächlich bessere Menschen aus uns machen, davon sind wir alle überzeugt, alle die lesen natürlich nur. Am allerschönsten finde ich die Stelle in der sie über das Jung-sein schreibt. “Ich habe den Glauben, man könne den Menschen befreien ja vielleicht sogar Die Welt retten, in den Jahren danach immer wieder vermisst. Ich vermisse ihn noch immer.” Das große Seufzen verbindet uns alle, nicht nur die Mütter, die dadurch die Brücken zum Rest der Menschheit schlagen. “Man sollte Einspruch erheben gegen das Gerede von der Unmöglichkeit der Liebe.” Das ist Julia Schoch in jedem Fall gelungen.

Mehr zu den drei Bänden hier

Julia Schoch
Wild nach einem wilden Traum
Roman.
2025, Hardcover, 160 Seiten
ISBN: 978-3-423-28425-7
dtv
23,00 €


Genre: Frauen, Liebe, Literatur, Roman
Illustrated by dtv

Die Verdorbenen

Die Verdorbenen. Eine klassische Ménage-à-trois ist die Beziehung zwischen Johann, dem Protagonisten und dem Paar Tommi und Christiane. Eigentlich beginnt alles ganz harmlos, doch dann gesellt sich zu Liebe, Lust und Spiel auch das Böse.

Des Vaters Liebe zum Leben

Einmal im Leben möchte ich einen Mann töten“, sagt der junge Johann zu seinem Vater, der alles liebte. “Aber es war etwas das man nicht sagen, das man nur denken darf.” Und so schweigt Johann lieber und hofft, das sein Vater die Frage wieder vergisst. Der Dolmetscher, der mit einer Engländerin verheiratet ist, schreibt selbst und liebt das Leben über alles. “Er liebte die Bücher, er liebte die Vögel, er liebte die Musik, den Sternenhimmel, den Föhn im Frühling, frische Honigsemmeln zum Frühstück, er liebte seine Frau und er liebte seinen Sohn – er liebte, und wenn er nicht liebte, war er nicht.” Wie konnte dieser Vater einen so missratenen Sohn zeugen oder aufziehen? Lag es an der Frage, ob er jemanden habe, dass dies alles auslöste?

Liebe zu dritt: “Das ist Hippieshit

Denn Johann fühlt sich unter Druck, eine Freundin zu haben und dringt so in die Paarbeziehung zwischen Tommi und Christiane. Aber eigentlich ist es Christiane, die sich vor ihm auszieht. Ein harmloser Spaziergang um einen Teich wird zum Beginn einer einseitigen Liebesgeschichte und der Zerstörung einer anderen. Mit 22 Jahren studiert Johann in Marburg an der Lahn und lernt, dass Freud einen Mangel an Scham als ein Zeichen von Schwachsinn bewertet habe. Dass ihm die “prächtige Herrschaft” über sein Leben entgleiten könnte, das wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Aber als er entdeckt, dass Tommi und Christiane ihre “Doktorspiele” schon seit sie neun sind spielen, braucht er ein Ventil und reist per Anhalter an die Nordsee. “I shot a man in Reno just to watch him die“, zitiert der Autor Johnny Cash’s Folsom Prison Blues. Gut gepasst hätte aber auch Stereo Total: Liebe zu dritt, das ist Hippieshit.

Hänsjes Krankheit

Dort geschieht plötzlich das Unbeschreibliche. Köhlmeier beschreibt es. “Wo das Leben nur mehr aus Langeweile besteht, ersetzen die Erinnerungen die Taten.” In einer Mischung aus Selbsthass, Wut aber auch Langeweile und dem existentialistischen Ennui tötet er tatsächlich einen Menschen, auch wenn es wie Notwehr erscheint. “Manchmal mitten am Tag, ergriff mich ein ungewisses Entsetzen vor dem Tod. (…) Dann Resignation, und hinter mir wartete die Langeweile.” In drei Kapiteln und einem Epilog vierzig Jahre später erzählt Michael Köhlmeier die Geschichte des unschuldigen, aber verdorbenen Johann, der sich durch die Liebe von Christiane so eingeengt fühlt, dass er einen verzweifelten Ausbruch sucht. Stets seinen “Zarathustra” in der Tasche und mit klassenkämpferischer Miene und schwarzer Lederkleidung hat er in den vom Kommunismus und der Ölkrise inspirierten Siebzigern keine Ahnung vom Klassenkampf oder von der Liebe.

Obsessive Liebe als Brutstätte des Bösen

Zu selbstbezogen und immer mit seiner eigenen Nabelschau beschäftigt, verliert er den Boden unter den Füßen und die Augen im purpurnen Meer. Michael Köhlmeier hat mit “Die Verdorbenen” einen autofiktionalen Roman geschrieben, der die Frage stellt, was aus ihm geworden wäre, wenn er der Obsession einer anderen Frau nachgegeben hätte. Eine Miniatur über die Liebe, ihre Besitzansprüche, Auswüchse und nicht zuletzt auch ihre Nestwärme der Brutalität. Denn oft erwächst das wirklich Böse aus schlecht kommunizierter Liebe. Oder Lust. Meisterlich geschrieben regt auch dieser Roman von Michael Köhlmeier zum Nachdenken an und verführt zur Rekapitulation seiner Erinnerungen. Zwischen “Die Träumer” und “Der Fremde” eine Erkundung des Bösen.

Michael Köhlmeier
Die Verdorbenen. Roman
2025, Hardcover, 160 Seiten
ISBN 978-3-446-28250-6
Hanser Verlag
23,00 €

 

 


Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Grün ist die Hoffnung

Nur Unterhaltung

Als einer seiner frühen Romane bestätigt «Grün ist die Hoffnung» geradezu archetypisch das narrative Konzept des amerikanischen Schriftstellers T. C. Boyle, Komik sei seine Art, mit Tragik und Verzweiflung umzugehen. Schon im ironischen Titel dieses Romans deutet «Grün» auf Pflanzen hin und «Hoffnung» auf ein Scheitern. Konkret geht es um den illegalen Anbau von Marihuana, mit dem ein alternder Hippie reich zu werden hofft, der Spoiler ist hier also schon im Buchtitel enthalten. Was den Lesegenuss aber keineswegs schmälert, denn wie es dazu kommt, das ist das Thema dieses amüsanten Buches, frei nach Konfuzius also: «Der Weg ist das Ziel».

Der 31jährige Ich-Erzähler Felix aus San Francisco, der sich als Arbeitsloser mehr schlecht als recht mit Haus-Renovierungen durchschlägt und ständig in Geldnöten ist, bekommt eines Tages zu später Stunde überraschend Besuch von seinem alten Freund Vogelsang. Der unterbreitet ihm das Angebot, auf einer von ihm erworbenen, einsam gelegenen und seit zwanzig Jahren nicht mehr bewirtschafteten Farm Nord-Kaliforniens in der kommenden Saison illegal Marihuana anzubauen. Dabei würde für Felix ein Gewinn von einer halben Million Dollar herausspringen. Felix nimmt dieses verlockende Angebot ohne Zögern an, holt seine Freunde Gesh und Phil mit ins Boot, um ihm zu helfen, und bietet ihnen jeweils ein Drittel seines Anteils dafür an. Alle Drei malen sich aus, wie sie künftig als reiche Männer das Leben genießen würden. Begeistert starten sie ins «Sommerlager», wie sie ihr ländliches Domizil in der Nähe von Willits für die nächsten neun Monate verharmlosend bezeichnen. Vogelsang hat einen Botaniker engagiert, der den drei Großstädtern sporadisch bei der ungewohnten Landarbeit zur Seite steht und für alles Fachliche zuständig ist.

Die so frohgemut angetretene und streng geheime Unternehmung steht von Anfang an unter einem Unglücksstern, beginnend bei einer Polizeikontrolle auf dem Highway, wo Felix mit einem sadistischen Polizisten aneinander gerät und nun befürchten muss, dass der ihn künftig äußerst argwöhnisch beobachten wird. Auch der neugierige Nachbar in der ländlichen Einöde stellt eine Gefahr dafür dar, dass ihr Unternehmen auffliegt, weil er sie bei der Polizei anzeigt. Zudem läuft ein neues Programm des Staates zur Bekämpfung des Marihuana-Anbaus an, das stärkere Kontrollen aus der Luft einschließt. Und auch die mühevolle Arbeit mit dem Einzäunen der Anbauflächen, dem Ausheben von zweitausend Pflanzlöchern, dem Heranziehen der Samen in ihrem improvisierten Gewächshaus gestaltet sich schwierig und wird von allerlei Rückschlägen begleitet. Immer wieder ist Felix kurz davor, alles hinzuschmeißen und der trostlosen Hölle ihrer äußerst primitiven, vermüllten, vor Schmutz strotzenden Unterkunft zu entfliehen. Denn auch der zu erwartende Gewinn schrumpft von Rückschlag zu Rückschlag dramatisch zusammen. Das geht so bis zur vorzeitigen Noternte in einem herbstlichen Dauerregen, der den Ertrag letztendlich auf eine lächerliche Menge reduziert und sie dazu zwingt, die Trocknung der Pflanzen schließlich in der kleinen Wohnung von Felix in San Francisco vorzunehmen. Alles endet im Desaster, und es stellt sich auch heraus, dass Vogelsang sie hinters Licht geführt hat, er allein hat durch den Verkauf des Anwesens einen satten Gewinn eingefahren. Einziger Lichtblick bleibt für Felix, dass er dort in den nahen Ortschaft Willits eine nette Frau kennen gelernt hat, und frustriert kehrt er am Ende dorthin zurück.

Mit einer Überfülle von nicht immer gelungenen Metaphern erzählt der Autor seine klug ausgedachte Geschichte dreier Underdogs, die von einem aalglatten, undurchschaubaren, aber eben auch charismatischen Gauner bös hereingelegt werden. Die in einer leicht lesbaren, nüchternen Sprache verfasste Story ist originell und unterhaltsam. Sie entspricht damit dem erklärten Motto des Autors: «Literatur kann in jeder Hinsicht großartig sein, aber sie ist nur Unterhaltung». Und genau das trifft hier auch zu!

 Fazit:   lesenswert

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Der Weltensammler

Vom Clash of Civilizations

Im umfangreichen Œuvre des bulgarisch-stämmigen Schriftstellers Ilija Trojanow ist sein zweiter Roman «Der Weltensammler» auch gleich sein bekanntester geworden. Er wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet und in den Feuilletons teils euphorisch gefeiert als ein Abenteuer-Roman, der aufzeigt, wie wenig die westliche Welt von den Geheimnissen des Orients versteht. Der Plot orientiert sich an drei Phasen im Leben des authentischen, englischen Abenteurers Richard Burton, ein wagemutiger Exzentriker, der im neunzehnten Jahrhundert in den britischen Kolonien Asiens herumgereist ist, um unter Hintanstellung der eigenen Lebensgewohnheiten wissbegierig Land und Leute kennen zu lernen. Sein besonderes Augenmerk lag dabei auf den Sprachen der Einheimischen, die er eifrig studiert hat und die ihm als wichtige Voraussetzung galten, die Kulturen und Religionen jener Länder zu begreifen. Vor allem aber sollten sie auch helfen, die allfälligen Missverständnisse zwischen den unterschiedlichen Kulturen zu vermeiden, insbesondere im Verhältnis zur äußerst überheblich agierenden Kolonialmacht jener Zeit, dem British Empire. Derartige Gegensätze sind begrifflich als «The Clash of Civilizations» 1996 in die Politik-Wissenschaft eingegangenen.

Es sind drei markante, biografisch wesentliche Episoden, denen sich der Autor in den drei Teilen seines Romans widmet: Richard Burtons Jahre auf dem indischen Subkontinent, seine Reise nach Mekka und die Expedition auf der Suche nach den Quellen des Nils in Ostafrika. Ingesamt decken sie einen Zeitraum von etwa sechzehn Jahren ab, der damit beginnt, dass der 21Jährige als Angestellter der Ostindien-Kompanie die Nähe zu den Einheimischen sucht, oft lebt er wochenlang mitten unter ihnen. Bei seinem privaten Sprachlehrer lernt er eifrig diverse Landessprachen. Er findet eine einheimische Geliebte und lernt mit dem Sanskrit auch das Kamasutra kennen, das er später ins Englische übersetzen wird.

Während seine Jahre in Indien neben dem Studium der Sitten und Gebräuche dort vor allem dem Aufbau seiner Karriere dienen, sucht er durch die Wallfahrt nach Mekka, durch den Haddsch, als christlich geprägter Mensch Glaubengewissheit zu erlangen. Als indischer Moslem verkleidet bricht er zu seiner Pilgerfahrt nach Mekka und Medina auf, die letztendlich für ihn die Frage aufwirft, ob er nicht innerlich bereits längst zum Islam konvertiert ist. Als Forschungs-Reisender nimmt er an der Seite von J. H. Speke die Suche nach den Nilquellen auf, die er 1858 im Tanganjikasee gefunden zu haben glaubt. Trotz seiner Erfolge erreicht er nicht alle seine hochgesteckten Ziele, viele Hoffnungen und Erwartungen erfüllen sich nicht, er scheitert an seiner abendländischen Gesinnung. Und er muss auch erkennen, dass er sich rein menschlich immer mehr von seiner Umgebung entfremdet hat, bei seinem Tod in Triest erklärt ihn der Bischof mangels klarer religiöser Orientierung kurzerhand zum ‹Katholiken ehrenhalber›. Und seine niemandem mehr nützlich erscheinenden, persönlichen Notizen landen im Feuer.

Durch die Beschränkung auf sehr wenige, wirklich markante Lebensdaten seines realen historischen Vorbildes Richard Burton gelingt es Ilija Trojanow, einen Protagonisten zu erschaffen, dem er als literarischer Figur alles andichten kann, was ihm seine überreiche Phantasie eingibt. Diese aus wechselnden Perspektiven erzählte Geschichte vom Scheitern ist in einem flüssig zu lesenden, den Handlungsorten und Figuren entsprechenden Stil geschrieben. Nicht immer aber ist es gelungen, die innere Zerrissenheit des Romanhelden wirklich glaubhaft darzustellen, zumal häufig auch ein in der Jetztzeit gründendes, politisches und soziales Bewusstsein erkennbar wird, welches hier als wesensfremd der historischen Figur im wahrsten Sinne des Wortes regelrecht angedichtet wird. Und auch die arabeskenreiche Sprache lenkt eher ab, ja sie stört zuweilen sogar den Lesegenuss, den diese bereichernden Geschichten aus fernen Ländern und vergangenen Zeiten so manchem Leser ansonsten zu bieten vermögen.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München