Juno, die Erzählerin, ist Anfang Fünfzig. Sie lebt mit Jupiter, ihrem seit Jahren bettlägerigen Mann in einer kleinen Wohnung in Leipzig. Er ist Schriftsteller, sie freiberufliche Performancekünstlerin, die, nicht nur zu Coronazeiten, gerne häufiger Engagements hätte.
Sie teilt ihren Alltag mit den Leser:innen, ihre Gedanken, Vorlieben, Sorgen, Erinnerungen und ihre Moralvorstellungen, manchmal auch mit Gedichten.
Wichtig ist ihre Tanzgruppe, macht dafür auch täglich Dehnübungen. Mit über fünfzig kann sie nicht mehr jede Rolle spielen, aber, die sie begleitenden Darsteller lassen sie das nicht spüren.
Mal besucht sie ihre Mutter in den Bergen, wichtiger sind die immer neuen Tattoos, die sie sich, zurück in Leipzig, stechen lässt. Ihre Beine sind lang, da passen viele‚ rauf. Kein schlechtes Leben also, wenn nur die Schlaflosigkeit nicht wäre. Da grübelt sie Stunden lang. Der Weltuntergangsfilm Melancholia von 2011 lässt sie nicht los. Ein Planet raste auf die Erde zu, die dann unterging. Welche der Rollen hätte sie da gespielt—diejenige, die die Gefahr verdrängen konnte? Nun grübele ich, die Rezensentin: Sagt man nicht heute Depressionen, zu dem, was mal Melancholie hieß?
Sie beobachtet aufmerksam. Tagsüber funktioniert sie und beschreibt die Einschränkungen Behinderter. Was für ein Aufwand es ist, mit einem Mann im Rollstuhl mit der Bahn nach Berlin zu fahren. Da ist ein Literaturfestival, auf dem ihr Mann den ersten Preis bekommt: mit den € 15,000 kommen sie gut über die nächsten Monate.
Und nachts entschwindet sie dem Alltag ins Netz: leider nehmen ihr die Infos aus eben diesem Netz die Freude daran. Sie weiß nämlich: Die Männer, viel jünger als sie, sitzen in irgendeinem Internetcafé, geben sich aber als arrivierte Daddys aus. Und wie viele Frauen sind darauf reingefallen, eine hat sogar Selbstmord gemacht, als sie alles nach Übersee geschickt, Haus und Hof verloren hatte und merkte, einem Betrüger, die heißen nun Scammer, vertraut zu haben.
Es beginnt eine flirtende Plauderei erst mit dem Scammer, dann wird er zu Benu aus Nigeria. Sie denkt sich Witziges aus, spricht von ihren vielen Lovern, er freut sich daran. Mehrere Videocalls vertiefen den Kontakt, sie weiß nun, dass er arbeitslos ist, bei seiner Mutter wohnt und immer um 23 Uhr das Licht ausgeht und er eine Kerze anzündet.
Sie bestellt und liest Bücher über Afrika, auch über den deutschen Kolonialismus, stellt fest, dass es im Ballett oft gegen Schwarze Menschen geht. Ist sie eine Kolonistin oder ist es eine niedliche Brieffreundschaft, um die nächtliche Stimmung aufzumuntern? Um Geld bittet er nie.
Dann kommt es: als sie sich im Profil zeigt, verändert er seine Miene und er sagt später, er glaubt, er hätte sich verliebt.
Achtung, jetzt will er ihr Geld! Jetzt könnte sie sagen, dass sie zwar im Vergleich zu ihm wohlhabend ist, aber nichts abgeben kann, schon wegen Jupiter. Aber: Wenn sie sich geschmeichelt fühlt, bereut sie es gleich. „Sie war aus Beton. Hatte ein Herz aus Fels.“
Später kommt es zu einer langen Pause seinerseits, sie verfolgt viele, teils widersprüchliche, Deutungen, bis er, der ja ihre Nummer hat, es wieder versucht, mit einem weich gezeichneten Bild. „Bist Du verheiratet?“
Leider fällt ihr nur ein, ihn zu blockieren. Ich hätte mir gewünscht, sie sagte: „Ja, Du auch, und mit wie vielen?“
Ihre schroffe Antwort lässt mich im Nachgang weiter grübeln. Mit dem Cover fing es schon an: Da greift ein weißhaariger Mann mit Vollbart und Sixpack nach einer barbusigen Schönen, die seine Tochter sein könnte. Leider fand ich im Buch keinen Hinweis, wer sie waren, und was er vorhatte. Auch nicht im Text. Aber das Nachdenken macht auch Spaß…