Die erste Überraschung war, dass das Buch auf Deutsch geschrieben ist, mit vielen originellen Einschüben auf Englisch. Die Romanheldin Niveditha Anand ist in Essen aufgewachsen und studiert nun in Düsseldorf an der Heinrich Heine Universität „postcolonial studies“, bei Saraswati, einer indischen Professorin, ein TV-Promi, die von ihr angehimmelt wird. Die Sympathie wird erwidert, Niveditha fühlt sich endlich angenommen und verstanden. Als Tochter eines indischen Mathematikstudienrates und einer polnischen Sozialarbeiterin, die zwar in Deutschland aufgewachsen ist, war ihr das bisher nicht in den Schoß gefallen, zu oft fühlte sie sich fremd hier.
Sie lebt mit dem Smartphone in der Hand, denn sie hat einen Blog, Identitty, wo sie gerne Dinge postet, die sie bei Saraswati gelernt hat. Außerdem wird sie immer und überall begleitet von Kali, einer Göttin mit vielen Armen, die ihr Alter Ego ist, aber auch gerne mal den inneren Schweinehund gibt. Dann meldet sich noch die Kusine Prity, deren Eltern auch aus Indien kommen, die aber in England aufgewachsen ist, inzwischen studiert sie auch bei Saraswasti. Aber eigentlich glaubt sie bei jedem Ton ihres Smartphones, dass sich Simon zurückmeldet. Er hat sie nun schon zum dritten Mal verlassen. Als der Skandal losgeht, ist sie froh, dass sie Simon wenigstens für eine gewisse Zeit vergessen kann.
Der Skandal findet statt, nachdem sie vom Deutschlandfunk interviewt wird, natürlich zu Saraswati. Die Moderatorin fragt sie als Erstes, wo sie herkommt, und sie, die diese übliche Frage hasst, straft sie, indem sie sagt: „ich lebe im Internet“. Dann erklärt sie, was „Weißsein“ bei Saraswati bedeutet, und dass „jeder ernst zu nehmende Intellektuelle einen Shitstorm überstanden haben“ muss.
Und der kommt: Saraswati ist eine Deutsche aus Karlsruhe, die ihre Farbe gewechselt hat, mit verschiedenen Eingriffen, eine Op der Augenlider ist dabei und Sprachunterricht. Die Studenten fühlen sich betrogen, Niveditha eigentlich auch, aber sie steht zu Saraswati, erstmal will sie sie verstehen und zieht bei ihr ein, Prity kommt nach, denn in der gemeinsamen WG werden sie nun als Verräterinnen an der Schwarzen Sache gedisst. Es gibt sogar eine Demo, organisiert von Oluchi, die auch in der WG wohnt. Sie ist besonders entrüstet über Saraswatis Betrug. Obwohl, oder vielleicht gerade, weil sie eigentlich mal Nivedithas Freundin war (und auch mal was mit Simon hatte!), ist sie besonders scharfzüngig in ihren Blogbeiträgen, wo sie als Zadie@Outside Sisters auftritt. (Zadie von Zadie Smith und Outside Sisters ist eine Sammlung von feministischen Essays von Audrie Lorde.)
Im Internet sagen alle möglichen Menschen, viele von ihnen real-existierende Internet-Promis, Journalisten, Soziologen, Feministinnen, PoCs ihre Meinung dazu, etwa: Wenn man seine geschlechtliche Identität selbst bestimmen kann, warum nicht auch die Rasse?
Und das ist die zweite Überraschung, für mich als alte weiße Frau, dass viele der Beiträge in der Tat von mir bisher unbekannten Internet-Promis sind, im Nachwort klärt die Autorin darüber auf, wie viele sie angeschrieben hatte, die dann an diesem Buch mit ihrem Klarnamen beteiligt wurden.
Was ist so besonders an Saraswati? Sie kann zu allem, was angesprochen wird, etwas Schlaues sagen. Und sie hat immer das letzte Wort. Während wir viel über indische Mythologie lernen, etwa, dass Kali bei Bedarf auch das Geschlecht wechseln kann, gibt sich Saraswati eher als weiblichen Jesus, nimmt das Opfer der Schwarzwerdung auf sich, um den mühseligen und beladenen PoC Mut zu machen. So kann Narzissmus auch aussehen. Sie tut das, um ihre Schützlinge, „zum Leuchten zu bringen“, und es hat funktioniert, nicht nur bei Niveditha.
Nebenbei gibt es viel zu erfahren über die Geschichte des Rassismus, etwa wie unterschiedlich er sich in den USA oder Europa zeigt. Dazu ein Beispiel: Obama war kein Schwarzer, weil nur Sklaven Schwarz sein können, sein Vater aber Kenianer war. In der DNA seiner Mutter fand man dann einige Prozente Sklavenanteil, von einem John Paul, der im 17. Jahrhundert lebte. Und wir lernen, dass Rasse anders ist als race, und Rasse ein Konstrukt.
Dann habe ich beim Googeln einige dieser mir bisher unbekannten Menschen kennengelernt, weiß nun mehr über die heutigen Feministinnen, sie gaben mir wichtige Denkanstöße, allen voran die Autorin, Mithu Sanyal, der ich gerne zusehe beim Reden, da sie so schön eindringlich mit Händen und Armen spricht. Vor diesem Roman hatte sie Sachbücher zu den Themen Vulva und Vergewaltigung geschrieben.
Dies alles lerne ich als Alte zusammen mit den jungen Frauen, die Saraswati an den Lippen hängen, fühle mich woke und bin gefesselt von der Situationskomik und den überraschenden Dialogen.
Und wozu taugen Männer? Da wäre Nivedithas Vater, der nicht nachvollziehen konnte, wie sie sich vom alltäglichen Rassismus gekränkt fühlte, das sei „Sonnenscheinrassismus“ im Gegensatz zu dem, was er erlebt hatte. Von Typen wie Simon hält frau schon mal gar nichts, und dann ist da noch Saraswatis großer Bruder, der aber schwer zu verstehen ist.
Wozu auch, das Leben geht weiter, für die wieder vereinten WG-Frauen mit gemeinsamen Schauen einer Satire Show mit Shappy Khorsandy aus Großbrittanien. Over the rainbow geht es weiter: beyond-race statt trans-race. Für Saraswati war das Ganze nur ein Sprungbett, sie baut jetzt an einer Eliteuni einen Studiengang zu Whiteness Studies auf. Viel Erfolg!
Fazit: erhellend und amüsant