Das Frausein in den Sechzigern

ferrante3Sich zu entscheiden, heißt jemandem wehtun“. Lena befindet sich in einem außergewöhnlichen Transformationsprozess, ganz so wie die bewegten Siebziger Jahre um sie herum. Es wird viel demonstriert und diskutiert und die Frauen werden sich ihrer unterdrückten Rolle im Patriarchat bewusst. Aber nicht nur die Arbeiter befinden sich im Ausstand, auch Studenten kommen zu ihren Prüfungen mit einer geladenen Pistole, um ein besseres Prüfungsergebnis zu erzielen. So ergeht es zumindest Pietro, dem Ehemann Lenas, der an der Hochschule in Florenz als Professor arbeitet. Der dritte Teil der Neapolitanischen Saga hat es in sich: privat und politisch.

Frausein unter Freundinnen

Mit dem Vorwurf konfrontiert „Liebesgeschichtchen“ zu schreiben räumt Lena in „Die Geschichte der getrennten Wege“ endgültig auf, denn sie zeigt sich zunehmend politisiert und wird sich ihrer Rolle als Frau in der Gesellschaft bewusst. Ihr zweiter Roman, den Lena während ihrer Ehe und zwei Schwangerschaften zu schreiben versucht, entpuppt sich zwar als Flopp, dafür thematisiert sie im dritten Buch ihr Frausein und die Rolle der Frauen in der (italienischen) Nachkriegsgesellschaft und davor: „Die Reduzierung meiner Person auf eine gedeckte Tafel für den sexuellen Appetit des Mannes, auf ein gut gekochtes Gericht, damit ihm das Wasser im Mund zusammenläuft.“ Und dennoch unterwirft sie sich der klassischen Stutenbissigkeit als sie ihrer Konkurrentin, Eleonara, der Frau ihrer Jugendliebe Nino, begegnet und misst sich mit ihr, um nicht gerade schöne Worte über sie finden. Aber das beruht bekanntlich auf Gegenseitigkeit.

Sprache der Klasse

Schöne sprachliche Bilder wie „Ich legte den Hörer auf, als hätte ich mich an ihm verbrannt“ oder „Mein Kopf war ein Tränenquell wie der des rasenden Rolands“ wechseln sich mit Überlegungen zur eigenen Sprachfindung ab. Denn der „Rione“ – das Viertel Neapels in dem Lena geboren wurde – nötigte ihr immer wieder dann seine Sprache auf, wenn sie nervös und unzufrieden war und das beeinflusste auch ihr Denken, obwohl sie längt in die höheren Sphären der Gesellschaft aufgestiegen ist und in Florenz lebt, mit einem hochangesehenen Ehemann, zwei Kindern und den Ariostas, einer einflussreichen Familie, im Hintergrund. Reife bestehe darin, denkt sich Lena, sich nicht zu sehr aufzuregen und die Wende zu akzeptieren, die das Leben nehme, „einen Weg zwischen der Praxis des Alltags und theoretischem Erkenntnissen einzuschlagen, zu lernen, sich anzusehen, sich zu erkennen, während man auf große Veränderungen wartete“. Mit einem gekonnt arrangierten Cliffhanger leitet Elena Ferrante zum vierten Teil der Neapolitanischen Erfolgssaga über, der aber auf Deutsch bei Suhrkamp erst am 5. Februar 2018 – mit dem Titel „Die Geschichte des verlorenen Kindes“ – erscheinen wird. Man(n) kann es gar nicht mehr erwarten.

Elena Ferrante
Die Geschichte der getrennten Wege – Band 3 der Neapolitanischen Saga (Erwachsenenjahre)
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
D: 24,00 € /A: 24,70 € /CH: 34,50 sFr
2017, gebunden, 540 Seiten
ISBN: 978-3-518-42575-6


Genre: Belletristik, Biographien, Briefe, Emanzipation, Erfahrungen, Erinnerungen, Feminismus, Frauenliteratur, Gesellschaftsroman, Memoiren
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Meine geniale Freundin

Meine geniale Freundin von Elena Ferrante

Elena Ferrante: Neapolitanisches Epos Band 1

 

“Meine geniale Freundin” ist die Geschichte der Kindheit zweier Freundinnen, die in Neapel aufwachsen und sie wird von Elena Ferrante im Original teilweise in dem Dialekt erzählt, aus dem sie geboren wurde. „L’ammore nun te fa mangia’/te fa suffri’ te fa’ pensa“, heißt es zum Beispiel in einem neapolitanischen Volkslied namens „Lazzarella“, das auch in dem vorliegenden Roman eine große Rolle spielt: die Liebe füttert dich nicht, sie macht dich nur leiden und nachdenken.  Als „Lazzaroni“ wiederum werden die armen Bewohner Neapels bezeichnet und auch die Maestra Oliviero (Lehrerin) der Ich-Erzählerin des Romans verwendet eine ähnliche Bezeichnung für die Bewohner des Viertels in dem sie aufwächst: Plebs. „Was der Plebs war,“ – sinniert Lenuccia am Ende des aufsehenerregenden ersten Teils der neapolitanischen Familiensaga – „der Pöbel, erkannte ich in jenem Augenblick und viel klarer als damals, vor Jahren, als die Oliviero mich danach gefragt hatte. Der Pöbel, das wir waren wir.“ Aber die Lazzaroni Neapels waren es auch, die den Aufstand gegen die Obrigkeit während der Parthenopäischen Republik anzettelten. Später entwickelte sich aus ihren Reihen allerdings auch die Camorra, von der in vorliegender Erzählung immer nur indirekt gesprochen wird.

Elena Ferrante: „piano, pianissimo, intimo, dolce“

Der erste Teil der Familiensaga über die Cerullos und Grecos schildert die Kindheit der beiden „besten Freundinnen“ Raffaella genannt Lina und Elena genannt Lenuccia oder Lenú. Das Aufwachsen in einem eher popularen Viertel Neapels ist voller Hingabe zu Details geschildert und zeigt auch die Brüche auf, die die italienische Gesellschaft auch heute noch durchziehen: ein Mangel an Vergangenheitsbewältigung. Eigentlich spielt der Roman nach dem Krieg, aber er ist wohl ebenso zeitlos wie allgemeingültig, wenn man an die schweren Hürden denkt, die junge Frauen in Italien auch heute noch zu nehmen haben: Bildung ist in diesem volkstümlichen Rione (ital.: für Viertel) der Stadt am Vesuv verpönt, besonders für Mädchen, die ohnehin nur zum Heiraten geboren werden, so die allgemeine Ansicht und auch die der Eltern der beiden Freundinnen. So muss Lina Cerullo alsbald ihrem Bruder und Vater in der Schusterwerkstatt helfen, obwohl sie für die Schule eigentlich viel talentierter als Lenuccia (ein vezzeggiativo für Elena) wäre. Aber mit viel Fleiß schafft letztere es beinahe bis zum Abitur, bis der erste Teil der Neapolitanischen Familiensaga mit der Hochzeit von Lina jäh abbricht. Denn auch Heirat ist eine Möglichkeit der Armut zu entkommen und wie es aussieht, die viel einträglichere Methode, um zu Reichtum und einem besseren Leben für sich und die ganze Familie zu kommen. Aber für Lenuccia sieht es weniger rosig aus: „Bei ihnen (die Bewohner des Viertels, JW) konnte ich nichts von dem anwenden, was ich Tag für Tag lernte, ich musste mich zurücknehmen, mich gewissermaßen herabsetzen.“

An Ferragosto wird alles anders

Lenuccia muss nicht nur gegen ihre Mutter ankämpfen, die sie lieber arbeiten sehen würde, sondern auch gegen die Verlogenheit der Nachkriegsgesellschaft und die Bewohner ihres Viertels, die nichts von Bildung halten. Auch nach dem Krieg geht es vor allem jenen besser, die sich während des Krieges auf Seiten der Schwarzhemden hielten. Ein solcher ist Don Achille Carracci, der von dem Tischler Alfredo Peluso wohl aufgrund einer alten Fehde getötet wird und Lenuccia verliebt sich ausgerechnet in seinen Sohn Pasquale. Aber noch schlimmer ist, dass Lina den Sohn von Don Achille, Stefano, heiraten wird. Und auch wenn er sehr reich ist, klebt ein stinkender Geruch an seinem Geld. Doch auch Nino Sarratore, der Sohn des dichtenden Eisenbahners, wirkt sehr anziehend auf Lenuccia. Von beiden Jungs – Pasquale und Nino – lernt sie ein politisches Bewusstsein, das alsbald den ganzen Rione durcheinanderwirbelt. Ein groß angelegtes Epos über zwei Freundinnen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten und das gut inszeniert und pointiert zu einer spannenden Kulmination auf einer Hochzeit führt. Gekonnt geschrieben und spannend erzählt von der Schauspielerin Eva Mattes. Wer von den beiden – Lina oder Lenuccia – nun die geniale Freundin des Titels ist, wird aber hier aber nicht verraten.

Meine geniale Freundin
Band 1 der Neapolitanischen Saga: Kindheit und frühe Jugend
Die Neapolitanische Saga (1)
Ungekürzte Lesung mit Eva Mattes
Hörverlag Buch erschienen bei Suhrkamp
€ 22,99 [D]* inkl. MwSt.
Hörbuch MP3-CD
ISBN: 978-3-8445-2352-2
Der Hörverlag/Random House


Genre: Belletristik, Biographien, Dokumentation, Erinnerungen, Frauenliteratur, Kulturgeschichte, Liebesroman, Memoiren, Roman
Illustrated by Hoerverlag, Random House UK

Meine geniale Freundin

ferrante-1Geniales Marketing

Der Hype um die unter Pseudonym schreibende italienische Schriftstellerin Elena Ferrante hat nun auch Deutschland erreicht, als erster Band in ihrem vierteiligen Romanzyklus erschien jüngst der Titel «Meine geniale Freundin». Die wilden Spekulationen der Medien über die Identität der Autorin sind für die Auflage mindestens ebenso förderlich wie die Verbindung der einzelnen Bände dieser Tetralogie durch Cliffhanger. Die in den USA besonders durch Kritikerpapst James Wood hochgepushte Rezeption ist in Deutschland zwar weniger euphorisch, Bestsellerstatus aber hat der Roman mühelos auch hier erreicht. Ein literarisches Meisterwerk, wie der Buchumschlag dem Leser verheißt, ein Literaturwunder gar?

Dieses neapolitanische Epos zweier Freundinnen wird von einer der beiden, Elena (sic!) genannt Lenù, aus einem Abstand von etwa sechzig Jahren erzählt. In einem kurzen Prolog erfahren wir, dass ihre Freundin aus Kindertagen, Lila, spurlos verschwunden ist, der Sohn sucht nach ihr. Spontan setzt sie sich an den Computer und beginnt ihre Geschichte aufzuschreiben «mit allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist». In zwei Kapiteln erzählt die Ich-Erzählerin aus dem Leben der Mädchen in einem der ärmsten Vierteln Neapels, sie beide eint der Wunsch, diesem prekären Milieu zu entfliehen. Was ihnen auch gelingt, bei jeder auf unterschiedliche Art allerdings. Sie entkommen nämlich ganz klassisch, durch Bildung und Heirat, dem Albtraum eines ihnen vorgezeichneten, archaischen Frauenlebens in den Slums von Neapel. Ein Entwicklungsroman mithin, beginnend bei der frühesten Kindheit und endend mit der alle Klischees bedienenden, pompösen und turbulenten Hochzeit der sechzehnjährigen Lila. Von Herkunft gleich, unterscheiden sich die beiden Busenfreundinnen grundlegend in ihrem Wesen. Während Lenù von einer Karriere als Autorin träumt, fleißig und brav in der Schule durch Leistungen glänzt, entsprechend gefördert wird und sogar aufs Gymnasium kommt, ist Lila hochintelligent, ein Wunderkind, Lenù geistig weit überlegen, aber so unangepasst und sprunghaft, dass sie scheitern muss, als unbezahlte Arbeitskraft in der Schumacherwerkstatt ihres Vaters landet und zuletzt, ganz konventionell und gegen ihre Art, den reichen Sohn des Lebensmittelhändlers heiratet.

Konventionell wird auch diese Geschichte erzählt, geradezu brav einsträngig, chronologisch, in einer klaren, leicht lesbaren Sprache, und zwar aus einer strikt feministischen Perspektive, – die Frauen dominieren in diesem breit angelegten Sittengemälde, alle Männer sind nur Randpersonen. Das Figurenensemble des Romans ist ziemlich üppig ausgefallen, was trotz vorangestellter Personenliste die volle Aufmerksamkeit des Lesers fordert. All diese vielen Charaktere sind stimmig beschrieben, die beiden in ständiger Konkurrenz zueinander stehenden Protagonistinnen werden psychisch geradezu durchleuchtet bei ihrem pubertären Selbstfindungsprozess, sympathisch allerdings werden sie dem Leser leider nicht.

Zweifellos ist dieser Roman gekonnt aufgebaut, man hat aber das Problem, dass er Fragment bleibt. Als Cliffhanger dient hier das Entsetzen Lilas, als ihr verhasster Ex uneingeladen auf ihrer Hochzeit auftaucht und dabei auch noch die Schuhe trägt, die sie mit ihrem Bruder mühsam von Hand gefertigt hat, ein unglaublicher Affront, der bei Lilas Naturell nicht ungesühnt bleiben wird, – aber bis zum Band vier fehlen noch etwa 1300 Seiten, man muss Geduld haben. Das wortreiche Geplapper der Autorin über Belangloses, Unwichtiges, verschärft durch viele Wiederholungen, löst schnell Langweile aus, man erkennt nicht recht, wozu man all diese Banalitäten denn lesen muss. Besonders nervig fand ich die irgendwann unerträglich werdende Lobhudelei der Ich-Erzählerin über ihre schulischen Leistungen, man fragt sich, ob da nicht etwa eine echte Elena durchschimmert hinter der Romanfigur. Genial, so mein Fazit, ist nur das Marketing der Verlage, nicht dieser Roman.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main