Beinahe hätte der Erzähler diese Geschichte nie aufschreiben können. Denn er besteigt den Thorong-La-Pass im Annapurnamassiv in Nepal. Oben angekommen lässt er sich glücklich auf die Knie fallen und küsst bei eisiger Kälte eine Metallplatte mit eingravierten tibetanischen Buchstaben. In diesem Augenblick frieren seine feuchten Lippen an der Gebetsplatte fest und er hört schon die Sterbeglocken läuten. Da kommt die rettende Idee: er nimmt seinen Trinkbecher, pisst ihn voll und gießt sich anschließend den dampfenden Inhalt über den Mund. Er hat sich buchstäblich frei gepisst und kann endlich seine Geschichte erzählen.
Hoch hinauf in den von der Mittsommersonne beschienenen Norden entführt uns der Autor. Es geht nach Vittula, ein Flecken an der schwedisch-finnischen Grenze, der übersetzt »Fotzenmoor« bedeutet, was wohl daher kommt, dass dort sehr viele Kinder geboren werden. Willkommen in Lappland! Man spricht schwedisch und finnisch und eine nach der Gegend Tornedal-Finnisch genannte mundartliche Mischung aus beiden Sprachen. Die Männer sind harte Burschen, die finnische Frauen bevorzugen, und ihr Lebensrhythmus wird von den Gewalten der Natur bestimmt.
Der Roman handelt von Kindheit und Jugend des kleinen Matti und seiner Freunde. Der Ich-Erzähler lebt in der Einöde, die schon aufgrund der Einsamkeit und Härte des beruflichen Alltags eine Reihe knorrig-krauser Gestalten hervorbringt. Bevorzugtes Erziehungsmittel sind Schläge, Schläge und nochmals Schläge. Mattis Freund Niila spricht anfangs überhaupt nicht, bewegt sich dann aber im Esperanto als einer Art Geheimsprache, das der ansonsten schweigsame Niila am Radio gelernt hat und nun seinen Freund lehrt. Dafür bringt dieser ihm das Zungenküssen bei.
Das Tornedal entpuppt sich in dem Bericht vom Älterwerden als ein Ort mit dünnen, unsichtbaren Angelschnüren, die sich kreuz und quer unter den Menschen ausbreiten. Ein kräftiges, riesiges Spinnengewebe aus Hass, Anziehung, Angst und Erinnerung fesselt die Menschen, von denen nahezu jeder mit jedem über Kreuz verwandt, verschwägert oder verfeindet ist. Dieses Netz zwischen extremer Religiosität und Aberglaube wirkt vierdimensional und dehnt seine klebrigen Fäden sowohl nach hinten als auch nach vorn in der Zeit aus, hinauf zu den Toten in der Erde und hinauf zu den noch Ungeborenen im Himmel.
Den männlichen Jugendlichen wird eingebläut, auf keinen Fall »knapsu«, das heißt weiblich, zu wirken. Männliche Tätigkeiten sind Holzfällen, die Elchjagd, mit Baumstämmen zimmern, flößen und sich auf dem Tanzboden prügeln. Als knapsu gelten hingegen Gardinenaufhängen, Stricken, Teppiche weben, mit der Hand melken, Blumengießen und Ähnliches. Doch die Jungen werden vom Virus der Beat-Musik infiziert, der auf Umwegen auch die Tundra erreicht. Niila erhält eine Schallplatte der Beatles, und wie eine Botschaft vom anderen Stern empfinden die Kinder die Hits der Londoner Pilzköpfe. Sie gründen eine eigene Band und treten sogar auf, ohne wirklich spielen zu können.
Die Musik der Rockgruppe läuft Gefahr, knapsu zu sein. Zumindest sind die Erwachsenen der Auffassung, dass die Jungen zu viel Zeit haben und verwöhnt werden. Singen wird als unmännlich angesehen, zumal wenn es im nüchternen Zustand geschieht. Besonders knapsu ist, das auch noch auf Englisch zu tun, »dieser Sprache mit viel zu wenig Kauwiderstand für die harten finnischen Mäuler, so nuschelig, dass nur Mädchen gute Noten darin bekommen konnten, dieses schneckenhafte Rotwelsch, lallend und feucht, erfunden von Schlamm tretenden Küstenbewohnern, die nie kämpfen mussten, die nie gehungert oder gefroren haben, eine Sprache für Faulenzer, Grasfresser, Kissenfurzer, so ohne jede Kraft, dass die Zunge wie eine abgeschnittene Vorhaut im Mund herumschlenkert.«
»Populärmusik aus Vittula« ist das wundervolle Sittengemälde einer Jugend, die selbst in entlegenen Winkeln unserer Welt ihren eigenen Weg sucht und findet. Das Unwiderstehliche an diesem Roman ist die farbenprächtige Schilderung der Bräuche und Eigenarten der Landleute und ihrer Familien. So gibt es gewaltige Prügelszenen, es folgt eine infernalische Hochzeit mit Armdrücken, Fingerhakeln und einem Saunawettbewerb, die Beerdigung einer Oma samt folgender Erbstreitigkeiten sowie der 70. Geburtstag von Mattis Opa, der westeuropäischen Koma-Trinkern zeigt, was finnische Kampftrinker vertragen. Wer dank Henning Mankells depressiv wirkendem Kommissar Kurt Wallander die Nase gestrichen voll hat von nordischer Literatur, der erlebt bei Mikael Niemi, dass schwedische Schriftsteller sowohl über Humor wie über Tiefgang verfügen.
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