Ich bin schizophren und es geht mir allen gut

Bernemann wird alt. Inzwischen hat er die 30 deutlich überschritten und ist immer noch auf der Suche nach sich selbst. Als Autor möchte er weder schubladisierbar noch schubladesk sein und behauptet, seine Literatur führe eine Art Angriffskrieg. Davon ist in seiner nunmehr vierten Buchveröffentlichung leider wenig zu spüren.

Ubooks hat seinen bisher einzigen Bestseller-Autor dazu verdammt, Neues auf den Markt zu werfen. So greift der geforderte Autor in die Ablage und zaubert einige halbgare Texte hervor, um sein Publikum zu beglücken. Er nennt sie »persönlich«. Alle, die seine Texte kennen, meint Bernemann, hielten ihn für einen Depressiven, manisch Fingernägel kauenden und ewig beunruhigten Alptraumtänzer, einen weit draußen Stehenden, der so far out of space zu sein scheint, dass er »nur an Weltraumbahnhöfen verweltreist«. Tatsächlich will er ein »Kopfkrieg-Youth« sein. »Ich bin ein Modeschmuckgeschäft, in dem es lediglich Assoziationsketten gibt«, brüllt er die Alleen entlang, wenn er zwischen Leipzig, Herne und Trier auf die Suche nach dem Leser geht.

Zum Beweis publiziert er einige kurze Geschichten im Genre Fuckrockblutkotzeliteratur. Das Material füllt kein Buch, Bernemann greift zur Technik, die er schon in seinem Erstling »Ich hab die Unschuld kotzen sehen« anwandte: er schiebt dreißig Seiten Gedichte und Songtexte ein, die er »lyrische Manifeste« nennt. Und tatsächlich: mehr als Assoziationsketten bietet er nicht.

Seiner Zielgruppe, der »schwarzen« Subkultur im Rahmen der Post-Punk- und Dark-Wave-Bewegung, mag das vielleicht genügen. Mit Hilfe eines Lektors, der sein Potential fordert, könnte aus ihm jedoch deutlich mehr werden. Geschichten wie »Der Campingstuhl« jedenfalls zeigen das literarische Vermögen des Autors: ein 18jähriges Mädchen zieht mit einem frisch erworbenen Sitzmöbel auf ein wildes Rockfestival und definiert sich darüber. Auf diesem Klappstuhl sitzt sie als ultimativ Gerockte und betrachtet das Universum, das sich ihr bald in Form von Bier, Schnaps, Haschisch und fröhlichen Freiern vorstellt und findet sich dabei maximal cool und extravagant.

Die eindrucksvolle Beschreibung der Fete rund um das Klappmöbel beweist auch, dass sich im Selbstverständnis junger Leute und ihrer Erlebniswelt in den zurück liegenden 30 Jahren wenig geändert hat und auch die Subkultur immer noch in ihrem Wesen beständig ist. Insofern ist die Lektüre dieses literarischen Kleinods auch für die Altersgruppe 30+ durchaus geeignet. Ob eine Story allerdings genügt, das Buch zu kaufen, mag jeder selbst entscheiden.


Genre: Underground
Illustrated by Ubooks Diedorf

Hä??

Eine aufgebitchte Atze mit Achselkatze, Arschkordel und Arschvignette säuft Dackelwichse am Glutamat-Palast, während ihr Bonsaikeimling vor einem Komposthaufen herum bounct, statt zum Brettergymnasium zu gehen. Da überreicht ihr ein bratziger Hunger-Harry im Asselanzug mit Butterkopf, der frisch aus der Fantafarm kommt, einen Heuchlerbesen …

Keine Peilung, Alter?

Wieder mal nix gerafft?

Dann wird es Zeit für die Anschaffung eines Lexikons der Jugendsprache, das der Verlag Langenscheidt soeben heraus gebracht hat.

500 Wörter und Sprüche aus der deutschen Jugendsprache wurden zusammen getragen und gleich noch ins britische und amerikanische Englisch, ins Italienische, Spanische und Französische übersetzt. Nachdem gerade die »Gammelfleischparty« als Vergnügung der Über-30jährigen zum Jugendwort des Jahres 2008 ernannt wurde, kommt dieses kleine Büchlein gerade recht.

Wer es braucht? Nun, vielleicht derjenige, der das obige Textbeispiel übersetzen möchte.

Und das bedeuten die mit Hilfe des Lexikons verfassten Eingangszeilen auf Hochdeutsch:

Eine aufgetakelte Frau mit starker Achselbehaarung, Stringtanga und Steisstattoo trinkt Eierlikör am Schnellimbiss, während ihr Kind vor einem Bioladen herum springt, statt die Sonderschule zu besuchen. Da überreicht ihr ein dümmlich wirkender magerer Mann im Trainingsanzug mit angeklatschten Haaren, der gerade aus der Entziehungsklinik kommt, einen Blumenstrauß …


Genre: Wörterbücher
Illustrated by Langenscheidt Berlin

Führer in die Innere Mongolei

Der Ich-Erzähler erbt von einem Freund, der sich aus dem Leben verabschiedet, einen Job: Er soll eine Reportage über die Volksrepublik Mongolei verfassen. Dieser Auftrag wurde von einer Zeitschrift vergeben, deren erste Nummer allerdings erst in ein paar Jahren erscheinen soll, sofern sich Geldgeber finden, die das Erscheinen des Blattes finanzieren. Da eine Arbeit aber nun einmal erledigt werden muss, so sinnlos sie auch scheint, reist der Autor aus Berufsethos nach Ulan Bator. Dort strandet er im Hotel »Dschingis Khan«, bleibt an der Bar kleben und pendelt zwischen Hotel und dem Bistro »Stern des Ostens«.

Absurde Typen kreuzen seinen Weg: ein holländischer Bischof, der trotz vieler Glaubenszweifel im nahe gelegenen Bordell missioniert; ein amerikanischer Korrespondent, der für ein längst eingestelltes Bostoner Abendblatt schreibt, ein Lama, der als Spitzel zum KGB übergewechselt ist, und ein angeblicher Doktor, der zu Seancen auf sein Hotelzimmer einlädt. Und während der Chefmeteorologe des Landes wegen einer falschen Voraussage hingerichtet werden soll, sitzt die britische Schauspielerin Charlotte Rampling in der Lobby, blättert in der »Times« und trinkt Cappuccino. Schließlich stößt noch ein gewisser Herr Mercier hinzu, jener alte Wüstling, der Sylvia Kristel in den Softpornoreihe »Emmanuelle« gegen dickes Honorar in die orientalischen Finessen der Fleischeslust einführte. Der Kerl war in Wirklichkeit schon über fünf Jahre tot, doch das kümmert wenig in der Mongolei, wo man selbst Kadavern mit ausgesuchter Höflichkeit begegnet.

Der Autor des geplanten Reiseführers würdigt ausführlich die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, die ihm bereits in den ersten Augenblicken seiner Mongolei-Visite fasziniert. Dabei erkennt er, dass das Fiktive grundsätzlich dadurch begünstigt ist, dass es überzeugender und in jedem Sinne der Wahrheit näher ist. So wird sein Bericht zu einer Parodie über die Auswüchse des Sozialismus bei den Erben Dschingis Khans, die sich so oder ähnlich auch in Basaras Heimat Jugoslawien abspielten. Dabei nähert er sich unvermeidlich auch der eigenen Biographie und stößt inmitten der dicken Schlammablagerungen seiner Seele auf ein paar Goldkörner.

Aber ist der Autor überhaupt in der Mongolei oder hält er sich lediglich in seinem Wohnzimmer auf und träumt ein wenig, während er sich betrinkt? Denn im Alkohol erkennt er das günstigste Mittel, um auszuschwärmen und die dunkelsten Winkel übel riechender Seelen zu erforschen, Schmutz ans Tageslicht zu fördern und die Vernunft vollends zu zerstören. Oder aber, um die Zeit anzuhalten. Denn Basara ist vom Phänomen der Zeit fasziniert. Immer wieder wirft er einen Blick auf die nächste Uhr, um zu sehen, ob die Zeit stehen bleibt, ob sie langsamer wird und allmählich ihre wahre Geschwindigkeit erreicht, ob sie ein kontinuierlicher Fluss oder ein wilder Sturzbach ist, und ob man vielleicht sogar durch sie hindurch gehen kann.

Der bereits 1992 entstandene Text des serbischen Autors ist absurd, verrückt, anarchistisch und genial zugleich. Idee und Anlage des Romans entspricht den Prinzipien des Gonzo-Journalismus. Basara ergeht sich in Aus- und Abschweifungen aller Art und taucht zugleich in philosophische Tiefen: denn der inneren Mongolei in uns entkommen wir nur schwer, es sei denn in Kunst und Literatur.


Genre: Romane
Illustrated by Unbekannter Verlag

In 80 Tagen um die Welt

»Le tour du monde en quatre-vingts jours«, »Reise um die Erde in 80 Tagen« nannte Jules Verne seinen 1873 veröffentlichten Erfolgsroman. Darin beschreibt er die höchst abenteuerliche Weltreise eines reichen englischen Exzentrikers namens Phileas Fogg sowie seinen Dieners Passepartout. Der Journalist Helge Timmerberg reist 135 Jahre nach Vernes großem Wurf ebenfalls »In 80 Tagen um die Welt«, wobei ihm wesentlich schnellere Verkehrsmittel zur Verfügung standen als dem leidenschaftlichen Whist-Spieler Phileas Fogg. Während Fogg noch sein halbes Vermögen in bar mit sich führte, wurde Timmerbergs Reise durch ein gut gefülltes Spesenkonto abgefedert, das weltweit verfügbar ist.

Der Autor zischt per ICE mit 230 Stundenkilometern von Berlin nach München, wo er in einer Wohnzimmer-Kneipe im Bahnhofsviertel landet, in der sich einsame Männer beim Weizen trösten. Er reist weiter nach Venedig und begegnet bereits am Bahnhof einer Prozession von tausenden Touristen mit Masken, spitzen Nasen und schwarzen Umhängen. Venedig feiert Karneval, und wer so bescheuert ist, ausgerechnet in diesem Trubel den Canale Grande sehen zu wollen, der zahlt für das einzige freie Zimmer im »Marco Polo« eben 330 Euronen, selbstverständlich ohne Frühstück. Irgendwie fällt unserem Weltreisenden auch hier nichts Besseres ein, als die nächste Trinkhalle aufzusuchen, um sich die Kante zu geben. Ihm geht es dabei um »das disziplinierte, konzentrierte, mathematische Besaufen«.

Die dritte Nacht seiner Weltreise verbringt Timmerberg in Triest, und – raten Sie mal – wo er landet? Na klar, in einem kleinen Weinlokal, an den Stehtischen für Raucher. Die Welt in achtzig Tagen zu umreisen verlangt nicht, wie zu Jules Vernes Zeiten, permanentes, pausenloses und zielstrebiges Voraneilen. Heute braucht es das glatte Gegenteil: Trinkfestigkeit, Drogenerfahrung und ein gewisses Klebenbleiben, eine gewisse Unentschlossenheit. Als unentschlossen erweist sich der Autor immer wieder, dies ist sein deutlichster Charakterzug. Später, denn hier soll nicht jede Station erwähnt werden, als er in Bombay, das heute Mumbai heißt, weilt, überlegt er beispielsweise, mit welchem Verkehrsmittel er sich weiter bewegen will. Jules Verne ließ seinen Helden mit dem Zug von Bombay nach Kalkutta reisen, und der hat während dieser Fahrt die Frau seines Lebens getroffen. Die Frau des Lebens, sinniert Timmerberg, ist keine schlechte Vision, aber dafür zweiunddreißig Stunden mit dem indischen Zug?

Nun geht eine Weltreise in heutiger Zeit dank moderner Verkehrsmittel sehr viel unkomplizierter als anno Verne. Und dennoch hat Helge immer wieder Entscheidungsschwierigkeiten, die sein Wesen auszumachen scheinen. Der Reisende, der noch die Nachwehen der Hippie-Zeit in sich spürt, wendet sich an einen Guru um Rat. Schließlich bereiste Timmerberg bereits in der Blütezeit der Gurus Indien und kennt sich nach eigenem Bekunden auf diesem Gebiet aus. Jedoch fehlt die Antwort des Meisters nicht zur Zufriedenheit des Reisenden aus, denn letztlich empfiehlt er ihm, eine Münze zu werfen. So kann es Weltreisenden ergehen! – In dem Augenblick fällt dem Rezensenten ein, dass er selbst eine solche Entscheidermünze in seinem Schreibtisch in Griffnähe hat. Diese Münze, ein Geschenk einstiger Kollegen, sollte ihm helfen, grundsätzliche Entscheidungen seines Lebens zu fällen, da er zu jener Spezies gehört, und hier entsteht eine Gemeinsamkeit mit Timmerberg, die unfähig sind, sich zu entschließen.

Ansonsten erweist sich Timmerberg als arrivierter Althippie, der mit gefülltem Säckel nicht mehr in Hauseingängen oder der Bahnhofsmission kampieren und per Anhalter durch die Galaxis trampen muss. Er genießt den Luxus der Sterne-Hotels und lässt sich vor Ort gern mit dem Taxi chauffieren. Bedrängt ihn ausnahmsweise das nackte Leben, wie beispielsweise in Shanghai in Gestalt besonders aggressiver Bettler, rettet er sich vor dem Mob in eine Droschke und braust davon. Sozialkritik ist nicht das Thema des Buches.

Immerhin schafft es der Autor, seiner Weltreise eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen, die den Leser in Bann schlägt. Er unterstützt dies durch eine flotte Sprache sowie milieudichte Schilderungen über Drogenexzesse. Hier spürt der Leser, dass Timmerberg life dabei war und sein Wagemut ihn bevorzugt ins Land der Kopfreisen führte. Er kennt die Illusionsromantik des Reisens, er predigt Toleranz und fühlt sich schließlich doch am wohlsten dort, wo er startete und wieder ankommt: im multikulturell gefärbten Berlin.

»In 80 Tagen um die Welt« ist lesenswert für den gestandenen Reisenden, der sich an dies oder jenes erinnern möchte. Es ist kein Reiseführer, und es sucht auch nicht Erkenntnisse in Slums und Absteigen, wie sie von einem Journalisten vielleicht erwartet werden. Das Buch ist amüsant, und der Autor ist fraglos weit herumgekommen. Die Freude am Reisen, mit Ausnahme des Abstechers nach Mexiko-Stadt, scheint ihm dabei jedoch mit den Jahren verloren gegangen zu sein.


Genre: Reportagen
Illustrated by Rowohlt

Ehre Deinen Vater

Denkt der Durchschnittsleser an die Mafia, stellt er sich meist wild bewegte Schwarzweißszenen und blutige Gewalttaten vor, dramatische Intrigen und illegale Millionen-Dollar-Projekte sowie große schwarze Limousinen, deren Insassen die Gehsteige mit Maschinenpistolenfeuer überziehen. Vieles von dieser Hollywood-Version entspricht zwar der Wahrheit, aber die wesentlichen Umstände der Existenz eines Mafioso werden dabei völlig ignoriert: eine Routine endlosen Wartens, der Langeweile, der Notwendigkeit, immer wieder unterzutauchen, und die zwangsläufigen Folgeerscheinungen jener Phasen, die man in Deckung verbringen musste – Kettenrauchen, zu reichliche Kost bei zu wenig körperlichem Ausgleich, das eingesperrt Sein in Zimmern mit herabgelassenen Rollläden, die zermürbende innere Leere, der man ausgeliefert ist, während man alles tut, um am Leben zu bleiben.

Der Mythos der blutrünstigen Mafia, die eine Spur des Todes durch die USA legte, diente in den Siebziger Jahren vor allem der amerikanischen Propaganda. Während US-Truppen die grausamsten Verbrechen in Vietnam beging, der CIA in aller Welt folterte und mordete und Spezialeinheiten wie die »Green Berets« sich 1969 eines Doppelagenten entledigten, indem sie ihn töteten und die Leiche mit Ketten beschwert ins Meer warfen, war der Regierungspropaganda jedes Mittel recht, um auf den angeblichen Staatsfeind Nummer Eins abzulenken. Millionen Dollar wurden investiert, um den Polizeiapparat aufzurüsten, und die Presse überschlug sich mit bizarren Schlagzeilen und Aufmachern bei jedem Delikt, das dem organisierten Verbrechen in die Schuhe geschoben werden konnte. Dabei spielte der Einfluss der Mafia längst nicht die große Rolle, die ihr öffentlich angedichtet wurde. Vieles ähnelt dem heutigen Propagandakampf gegen die bösen Terroristen, die angeblich unser Dasein zerstören wollen, während »wir« klammheimlich Kulturstaaten in Schutt und Asche legen und aus purer Gewinnsucht Jahrtausende alte gewachsene Strukturen vernichten.

Die amerikanische Mafia ist berühmt als gefährliche Geheimgesellschaft, kriminell, undurchschaubar, aber auch faszinierend. Sie war Stoff unzähliger Romane, von denen Mario Puzos furioses Werk »Der Pate« durch die Verfilmung von Francis Ford Coppola der berühmteste ist. Es ist eine Welt, die von überlieferten italienischen Familienwerten, pompösem Lebensstil und politischen Verstrickungen bis in die höchsten Schichten Amerikas bestimmt wird. Puzo hatte allerdings nie mit einem echten Mafioso gesprochen und schrieb sein fiktionales Werk allein aus seiner Vorstellungskraft.

Der amerikanische Journalist und Autor Gay Talese liefert dagegen mit »Ehre Deinen Vater« die erste und bislang einzige Tatsachenschilderung aus dem Inneren der Mafia. Es ist die Geschichte der Familie Bonnano, die in den sechziger Jahren die Unterwelt New Yorks dominierte. Talese wandte sich im Januar 1965 in der Verhandlungspause eines Prozesses, den er für die »New York Times« beobachtete, direkt an den Angeklagten Bill Bonanno und schlug ihm vor, ein Buch über dessen Werdegang zu schreiben. Obwohl die Macht der Mafia auf jenem Gesetz des Schweigens beruht, das die Paten »Omertà« nennen, knackte Talese diesen Kodex.

In mühsamer Kleinarbeit gelang es ihm, ein Vertrauensverhältnis zu dem Mafiaboss aufzubauen. Bill Bonanno war der Sohn des berühmt-berüchtigten New Yorker Mafiabosses Joseph »Joe Bananas« Bonanno. Es war die Zeit, als Bonannos 450 Mann starke Verbrecherorganisation sich gerade in einem blutigen Krieg gegen rivalisierende Familien befand, der als »Bananen-Krieg« in die Kriminalgeschichte einging. Der Journalist begleitete ihn sechs Jahre lang, kam mit seinen Freunden und Verwandten in Kontakt und besuchte schließlich sogar die sizilianische Heimat der Bonanno-Familie.

Taleses Erzählung beginnt an einem regnerischen Tag im Jahr 1964, als Bills Vater Joseph Bonanno spurlos verschwindet. Nie wurde geklärt, ob er entführt wurde oder sich versteckt hielt, weil er die Vorladungen vor staatliche Untersuchungsausschüsse umgehen wollte. Der Autor schildert die brutale Fehde innerhalb der Mafia und schlägt einen weiten Bogen zu den Ursprüngen der Familie in den sizilianischen Bergen. Er schildert das Alltagsleben der Mafiosi und ihre Kommunikationsstruktur. Die Reportage endet mit der Verurteilung von Bill Bonanno aus fadenscheinigen Gründen und dem Antritt einer langjährigen Haftstrafe.

Gay Talese, Jahrgang 1932, gehört mit Tom Wolfe, Hunter S. Thompson und Truman Capote zu den wichtigsten Vertretern des »New Journalism«. Der Begriff für diese Stilrichtung wurde von Tom Wolfe geprägt. Es handelt sich dabei um einen Reportagestil, der höchst subjektiv ist und Wert auf starke literarische Stilmittel setzt, ohne jedoch von den Fakten abzuweichen. »Ehre Deinen Vater« liest sich wie ein Roman, tatsächlich ist es eine bis ins kleinste Detail wahre Geschichte, die spannender ist als jede Fiktion. Es handelt sich bei dem vorliegenden Werk um eine der besten Reportagen, die je veröffentlicht wurden.


Genre: Reportagen
Illustrated by Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins Berlin

Das Einstein-Projekt

Als Professor Marini auf unerklärliche Weise ums Leben kommt, gerät Mathematikdozentin Elisa Robledo, eine Mischung aus Albert Einstein und Marilyn Monroe, in Panik. Elisa, die eine Aura umgibt, die ihre Umwelt »Elisa-Mysterium« nennt, kannte Marini gut. Beide eint ein Geheimnis, das zehn Jahre zurück liegt.

Seinerzeit musste sie mit einem Team von Spitzenwissenschaftlern verschiedener Disziplinen ein Projekt der höchsten Geheimhaltungsstufe beenden, und nun regt sich ein düsterer Schatten der Vergangenheit. Wie Marini wird ein Teilnehmer des Geheimprojekts nach dem anderen auf grauenhafte Art und Weise ausgelöscht. Elisa ergreift die Flucht und bittet als einzigen Vertrauten ihren Kollegen und Freund Viktor um Hilfe. Die überlebenden Wissenschaftler spüren, dass die Vergangenheit auch sie einzuholen versucht. In panischer Angst versuchen sie, ihre seinerzeit jäh unterbrochenen Experimente wieder aufzunehmen und zum Abschluss zu bringen, um eine Erklärung für die rätselhaften Morde zu finden. Dazu kehren sie zum Ausgangsort ihrer Forschung auf einem militärisch abgesicherten Atoll im Indischen Ozean zurück, um einen Wettlauf mit der Zeit zu beginnen.

Der Thriller des auf Kuba geborenen und heute in Spanien lebenden Autors basiert auf dem physikalischen Phänomen der Zeit. Somoza hat einen Wissenschaftskrimi geschrieben, er setzt sich mit der für Laien kaum fassbaren String-Theorie auseinander und macht sie zur Basis seines Romans. Danach gibt es weit mehr Dimensionen als die vier, die uns bislang bekannt sind.

Bei der String-Theorie geht es um eine Verbindung zwischen der Relativitäts- und der Quantentheorie. Einsteins Relativitätstheorie trifft auf fast alle Situationen zu außer auf die Welt der Atome. Für diese greift die Quantentheorie, und beide gelten als die vollkommensten geistigen Schöpfungen, die der Mensch bisher hervorgebracht hat. Mit diesen beiden Theorien lässt sich nämlich fast die gesamte Wirklichkeit erklären. Das Problem ist nur, dass wir dafür beide benötigen, denn was auf der einen Ebene gilt, stimmt nämlich nicht auf der Ebene der anderen und umgekehrt.

Strings, auch Superstrings genannt, stehen für eine hoch komplexe mathematische Theorie. Danach sind die Elementarteilchen, aus denen das Universum besteht, also Elektronen, Protonen und die kleineren Teilchen, aus denen sie wiederum zusammen gesetzt sind, keine Kügelchen, wie bisher angenommen, sondern lange Schnüre, eben Strings. Könnten diese Schnüre geöffnet werden, dann werden dahinter weitaus mehr Dimensionen sichtbar. Da ebenso wie die materielle Welt auch die Zeit aus Strings besteht, ist die Forschung bemüht, mit Hilfe von Teilchenbeschleunigern die Strings zu öffnen.

An diesem Punkt setzt die Story an, denn die Wissenschaftler versuchen, Aufzeichnungen von Zeitstrings zu öffnen und damit eine Zeitreise in die Vergangenheit zu unternehmen. Sie sind fasziniert von den Möglichkeiten eines quasi fotografischen historischen Rückblicks, und militärische Kreise wiederum sind begierig, das Phänomen für eigene Machenschaften zu nutzen. Bei den Experimenten mit der Zeitmaschine kommt es trotz aller Sicherheitsmassnahmen zu einer Verkettung von unbezähmbarem Ehrgeiz einiger Forscher und den Unwägbarkeiten physikalischer Prozesse. So entspringt das Grauen einem der Zeitstrings und wird auf ungeheuerliche Weise real.

Somozas Krimi ist wie alle seine Werke bizarr und eigenwillig. Es gelingt dem Autor, die Spannung feingliedrig aufzubauen und diese bis zum Schluss des 560 Seiten starken Buches durchzuhalten. Nach seinem hoch dekorierten Krimi »Clara«, einem Werk um »hyperdramatische Kunst«, bei der Menschen als Leinwände benutzt, gestaltet, ausgestellt und verkauft werden, »Das Rätsel des Philosophen«, »Die Elfenbeinschatulle« sowie »Die dreizehnte Dame«, einem surreal, stockfinster und dabei extrem blutrünstigen Werk um »mentale Fürze« handelt es sich beim »Einstein-Projekt« um das fünfte in deutscher Sprache erscheinende Buch des Spaniers. Es ist zwar nicht sein stärkstes, doch wer spanische Autoren mag und sich gern auf Reisen ins Ungewisse einlässt, der wird von Somoza auch mit diesem Opus raffiniert und zuverlässig bedient.


Genre: Thriller
Illustrated by Ullstein Berlin

Tokio-Killer

John Rain, halb Japaner, halb Amerikaner, ist Auftragskiller. Er hat sich auf den natürlich erscheinenden Tod spezialisiert. Sein Einsatzort ist Tokio. Hier erledigt er blutige Jobs, die ihm telefonisch von einem Parteibeamten der LDP übermittelt werden. Als Rain einen führenden Kader der Regierung mittels eines übersteuerten Herzschrittmachers tötet, fällt ihm auf, dass die Ermordung von ungewöhnlichen Umständen begleitet wird. Dabei geht es um einen Datenträger, den das Opfer bei sich haben sollte, um ihn einem amerikanischen Journalisten zu übergeben. Darauf sind Informationen gespeichert, die milliardenschwere Verstrickungen zwischen Regierung, Parteizentralen, Bauindustrie und der japanischen Yakuze belegen.

Es entsteht ein Wettlauf um die brisanten Dateien, und Rain spürt, dass es ihm dabei selbst an den Kragen gehen soll. Obwohl der in Vietnam und Kambodscha ausgebildete Profikiller meint, ein weithin unsichtbares Doppelleben zu führen, muss er feststellen, dass sowohl seine japanischen Auftraggeber als auch die CIA sehr wohl über seine wahre Identität und seine Adresse informiert sind. Nachdem sich auch die japanische Polizei in die Jagd einschaltet, wird immer undurchschaubarer, wer mit wem unter einer Decke steckt …

Eisler wählte die strenge Form des Berichts für seinen Erstling. Doch trotz der chronologisch-braven Schilderung des Ich-Erzählers entsteht knisternde Spannung. Der Roman lebt indes wesentlich von seiner Milieudichte und führt den Leser durch Clubs, Bars und Hotels der japanischen Mega-Metropole. Protagonist John Rain tritt dabei in jeder Situation als unüberwindlicher Einzelkämpfer auf. Er windet sich aus allen Situationen heraus und trotzt jeder Übermacht. Diese Selbstverliebtheit des Helden in seine eigenen Fähigkeiten ist ein deutliches Manko des Werks und führt zum Punkteabzug. Insgesamt ist »Tokio-Killer« ein gut lesbarer, rasant geschriebener Kriminalroman ohne intellektuellen Tiefgang.


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Scherz Frankfurt am Main

Populärmusik aus Vittula

Beinahe hätte der Erzähler diese Geschichte nie aufschreiben können. Denn er besteigt den Thorong-La-Pass im Annapurnamassiv in Nepal. Oben angekommen lässt er sich glücklich auf die Knie fallen und küsst bei eisiger Kälte eine Metallplatte mit eingravierten tibetanischen Buchstaben. In diesem Augenblick frieren seine feuchten Lippen an der Gebetsplatte fest und er hört schon die Sterbeglocken läuten. Da kommt die rettende Idee: er nimmt seinen Trinkbecher, pisst ihn voll und gießt sich anschließend den dampfenden Inhalt über den Mund. Er hat sich buchstäblich frei gepisst und kann endlich seine Geschichte erzählen.

Hoch hinauf in den von der Mittsommersonne beschienenen Norden entführt uns der Autor. Es geht nach Vittula, ein Flecken an der schwedisch-finnischen Grenze, der übersetzt »Fotzenmoor« bedeutet, was wohl daher kommt, dass dort sehr viele Kinder geboren werden. Willkommen in Lappland! Man spricht schwedisch und finnisch und eine nach der Gegend Tornedal-Finnisch genannte mundartliche Mischung aus beiden Sprachen. Die Männer sind harte Burschen, die finnische Frauen bevorzugen, und ihr Lebensrhythmus wird von den Gewalten der Natur bestimmt.

Der Roman handelt von Kindheit und Jugend des kleinen Matti und seiner Freunde. Der Ich-Erzähler lebt in der Einöde, die schon aufgrund der Einsamkeit und Härte des beruflichen Alltags eine Reihe knorrig-krauser Gestalten hervorbringt. Bevorzugtes Erziehungsmittel sind Schläge, Schläge und nochmals Schläge. Mattis Freund Niila spricht anfangs überhaupt nicht, bewegt sich dann aber im Esperanto als einer Art Geheimsprache, das der ansonsten schweigsame Niila am Radio gelernt hat und nun seinen Freund lehrt. Dafür bringt dieser ihm das Zungenküssen bei.

Das Tornedal entpuppt sich in dem Bericht vom Älterwerden als ein Ort mit dünnen, unsichtbaren Angelschnüren, die sich kreuz und quer unter den Menschen ausbreiten. Ein kräftiges, riesiges Spinnengewebe aus Hass, Anziehung, Angst und Erinnerung fesselt die Menschen, von denen nahezu jeder mit jedem über Kreuz verwandt, verschwägert oder verfeindet ist. Dieses Netz zwischen extremer Religiosität und Aberglaube wirkt vierdimensional und dehnt seine klebrigen Fäden sowohl nach hinten als auch nach vorn in der Zeit aus, hinauf zu den Toten in der Erde und hinauf zu den noch Ungeborenen im Himmel.

Den männlichen Jugendlichen wird eingebläut, auf keinen Fall »knapsu«, das heißt weiblich, zu wirken. Männliche Tätigkeiten sind Holzfällen, die Elchjagd, mit Baumstämmen zimmern, flößen und sich auf dem Tanzboden prügeln. Als knapsu gelten hingegen Gardinenaufhängen, Stricken, Teppiche weben, mit der Hand melken, Blumengießen und Ähnliches. Doch die Jungen werden vom Virus der Beat-Musik infiziert, der auf Umwegen auch die Tundra erreicht. Niila erhält eine Schallplatte der Beatles, und wie eine Botschaft vom anderen Stern empfinden die Kinder die Hits der Londoner Pilzköpfe. Sie gründen eine eigene Band und treten sogar auf, ohne wirklich spielen zu können.

Die Musik der Rockgruppe läuft Gefahr, knapsu zu sein. Zumindest sind die Erwachsenen der Auffassung, dass die Jungen zu viel Zeit haben und verwöhnt werden. Singen wird als unmännlich angesehen, zumal wenn es im nüchternen Zustand geschieht. Besonders knapsu ist, das auch noch auf Englisch zu tun, »dieser Sprache mit viel zu wenig Kauwiderstand für die harten finnischen Mäuler, so nuschelig, dass nur Mädchen gute Noten darin bekommen konnten, dieses schneckenhafte Rotwelsch, lallend und feucht, erfunden von Schlamm tretenden Küstenbewohnern, die nie kämpfen mussten, die nie gehungert oder gefroren haben, eine Sprache für Faulenzer, Grasfresser, Kissenfurzer, so ohne jede Kraft, dass die Zunge wie eine abgeschnittene Vorhaut im Mund herumschlenkert.«

»Populärmusik aus Vittula« ist das wundervolle Sittengemälde einer Jugend, die selbst in entlegenen Winkeln unserer Welt ihren eigenen Weg sucht und findet. Das Unwiderstehliche an diesem Roman ist die farbenprächtige Schilderung der Bräuche und Eigenarten der Landleute und ihrer Familien. So gibt es gewaltige Prügelszenen, es folgt eine infernalische Hochzeit mit Armdrücken, Fingerhakeln und einem Saunawettbewerb, die Beerdigung einer Oma samt folgender Erbstreitigkeiten sowie der 70. Geburtstag von Mattis Opa, der westeuropäischen Koma-Trinkern zeigt, was finnische Kampftrinker vertragen. Wer dank Henning Mankells depressiv wirkendem Kommissar Kurt Wallander die Nase gestrichen voll hat von nordischer Literatur, der erlebt bei Mikael Niemi, dass schwedische Schriftsteller sowohl über Humor wie über Tiefgang verfügen.

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Genre: Romane
Illustrated by btb München

Die Liebesblödigkeit

Wilhelm Genazinos Held ist ein freischaffender Zivilisations-Apokalyptiker, der mehr schlecht als recht von Verträgen, Kolloquien, Tagungen und gelegentlichen Essays in Fachzeitschriften lebt. Dafür ist er reich mit den Segnungen der Liebe ausgestattet: Der 52jährige unterhält intensive und langjährige Verhältnisse zu zwei höchst unterschiedlichen Frauen. Dabei handelt es sich um die gescheiterte Konzertpianistin Judith sowie die Büroangestellte Sandra, die sich plötzlich der Hobbymalerei zuwendet.

Die dauerhafte Liebe zu diesen beiden schenkt ihm nach eigenem Dafürhalten eine wunderbare Doppelverankerung in der Welt. Er hält die Liebe zu zwei Frauen weder für obszön noch gemein oder besonders triebhaft. Sie ist ihm vielmehr eine bedeutsame Vertiefung aller Lebensbelange. Dem Ich-Erzähler ist jedenfalls das Bewusstsein dafür, dass sein Sexualleben polygam genannt wird und nach den herrschenden Auffassungen niederträchtig ist, im Laufe der Jahre abhanden gekommen. So wünscht er allen Männern zwei Frauen und allen Frauen zwei Männer, wenigstens phasenweise, denn das sei die Mindestüppigkeit, mit der wir den Kampf gegen unser armseliges Leben antreten können, ohne uns gleich dem Gesetz der Kargheit auszuliefern.

Sein eigenes Leben ist trotz dieser Üppigkeit von keimenden Krankheiten, diversen Zipperlein und einem spürbaren Alterungsprozess bestimmt. Er beobachtet Krampfadern und das Zucken eines Augenlids und erlebt das schleichende Nachlassen seiner Manneskraft. Das alles serviert ihm einen guten Schuss Todesangst. Außerdem fürchtet er, aufzufliegen. Was soll werden, wenn er plötzlich ins Krankenhaus muss und beide Damen prallen aufeinander?

Auf einem seiner Apokalypse-Seminare in den Schweizer Bergen reift sein Entschluss, sich von einer der beiden Beziehungen zu verabschieden. Aber von welcher der höchst unterschiedlichen Damen soll er sich trennen, oder soll er sich sowohl von Judith wie auch von Sandra lösen und es dann noch einmal völlig neu versuchen? Beim Abwägen der Vor- und Nachteile verfällt der Prediger des Weltuntergangs zunehmend in einen von ihm als Liebesblödigkeit bezeichneten Zustand. Tatsächlich rutscht er in eine Depression, die ihm jede Entscheidungskraft raubt. Er kriecht immer stärker in sein Schneckenhaus und kommt vollends ins Schwimmen, als er auf seine Ex-Frau Bettina trifft, der er lieber aus dem Weg gehen möchte.

Er spürt seine Feigheit, empfindet sich als Versager und erlebt sich als ein Katastrophenbefallener. Auch sein Umfeld, der Postfeind Bausback, der Panik-Berater Dr. Ostwald, Herr Mannschott, der Alkohol-Sekretär der Turbinenfabrik Schnellinger, der Empörungs-Beauftragte Morgenthaler und Dr. Blaul, der als Ekelreferent tätig ist, helfen ihm wenig bei der Lösung des Problems. Sie sind selbst alle Verlorene, merkwürdige Gestalten am Wegesrand, die einfach nur komisch wirken.

Nun erwartet der Leser, der dem Geschehen folgt, wohl eine Lösung oder eine jähe Wendung. Ob die Damen zu guter Letzt vielleicht sogar ihren langjährigen Freund und Liebhaber verlassen, ob er selbst eine Entscheidung fällt und sich vielleicht in ein hübsches junges Ding verliebt, das seinen Weg kreuzt? Geübte Genazino-Leser ahnen jedoch, dass sich der Fortgang der Handlung auflöst in einer Reflektion über Todesangst wie über das Todesangsttheater, das seinen Helden verwirrt. Wie immer bei diesem Autor ist der Roman relativ handlungsarm und dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, spannend bis zur letzten Zeile.

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Genre: Romane
Illustrated by dtv München

Paradiese der Sonne

Der britische Autor James Graham Ballard gilt als ein Großmeister der Science-Fiction-Literatur. In den Sechziger und Siebziger Jahren waren seine Bücher in deutscher Übersetzung an jeder Ecke erhältlich. Dann wurde es still, vielleicht, weil seine drastischen Visionen im Zeitalter von Wirbelstürmen, Erdbeben, Tsunamis und Überflutungen zur täglichen Realität wurden. Der Edition Phantasia ist es nun zu verdanken, dass die bereits 1962 geschriebene Endzeitvision »The Drowned World«, auf deutsch ursprünglich als »Karneval der Alligatoren« vertrieben, unter geändertem Titel und in frischer Übersetzung wieder greifbar ist.

David Cronenberg verfilmte 1996 Ballards Roman »Crash«, einen Highway-Thriller über Todestrieb und Selbstzerstörungssehnsüchte. Stephen Spielberg hatte Jahre zuvor glücklos Ballards autobiographisches Werk »Im Reich der Sonne« verfilmt. Der jetzt vom Verlag gewählte Titel »Paradiese der Sonne« erinnert stark an diesen Titel, es handelt sich jedoch um ein eigenständiges Werk.

Ausgangspunkt des Romans ist eine extreme Erderwärmung in Folge gigantischer geophysikalischer Erschütterungen, die unsere Welt in die Zeit des Jura zurück katapultiert. Heftige Sonnenstürme lassen die Temperaturen stark ansteigen. Die Mehrzahl der tropischen Zonen wird unbewohnbar, ehemals gemäßigte Zonen werden tropisch, die Menschen wandern auf der Flucht vor Temperaturen zwischen 55 und 60 Grad nach Süden oder Norden. Sie besiedeln das antarktische Plateau und die nördlichen Grenzgebiete Kanadas und Russlands als letzte bewohnbare Lebensräume. Erdrutschartig hat Mutter Natur ihre Kreaturen wieder zurück in die Vergangenheit des Planeten geschickt.

Europa ist inzwischen nahezu vollständig überflutet, lediglich die Skyline der Wolkenkratzer ragt aus dem morastigen Dschungel empor. Wildwuchernde Schlingpflanzen und aggressive Reptilien haben die Herrschaft übernommen. Über den dampfenden Dächern der versunkenen Stadt London brechen Forscher ihre Station ab, um der immer brutaler brennenden Sonne zu entkommen. Aber die faulige Fieberhitze, die gnadenlos gleißende Glut und die schwülfeuchte Stimmung der Lagunenlandschaft hinterlassen auch in der Psyche der Menschen deutliche Spuren.

Der Biologe Dr. Kerans widersetzt sich mit einigen Kollegen dem Abzug und will in dem Außenposten bleiben. Die Psyche der Zurückbleibenden scheint sich unter dem Duft der bizarren Wasserpflanzen und dem Geschrei der hungrigen Leguane und Alligatoren zu verändern. Sie beginnen, zu halluzinieren und verlieren die Kontrolle über Zeit und Raum. Unvermittelt taucht ein Schiff mit Plünderern auf, deren Kapitän Strangman aus unerklärlichen Gründen nach Kunstwerken taucht. Er gebietet über ein Heer von Krokodilen und sonderbaren Gestalten. Die Truppe beginnt, das Wasser der Lagune zu stauen und einen Teil der Londoner City freizulegen. Benommen ziehen die Forscher durch die versumpften Straßen und erkennen einen Teil ihres früheren Lebens wieder …

»Paradiese der Sonne« erinnert an die wissenschaftliche begründete Phantastik, die in den Siebziger Jahren besonders aus dem osteuropäischen Raum auf den deutschen Markt flutete. Es handelt sich um bizarres Gedankenbild, das in den Klimakatastrophen der Neuzeit, wie der Überflutung New Orleans, bereits konkret wurde. Besonders spannend ist, dass sich Ballard für die mit den veränderten Verhältnissen einhergehenden Verschiebungen der sozialen Gefüge und damit letztlich jedes Einzelnen befasst. Thematisch ist das Werk Spitze, sprachlich wirkt es leider farblos und schon recht antiquiert.


Genre: Science-fiction
Illustrated by Edition Phantasia Bellheim

Ich hab die Unschuld kotzen sehen

Das was mal Unschuld war, meint Dirk Bernemann in seinem Erstlingswerk, nimmt nun Drogen, tötet aus Lust, ist viel zu frei erzogen, um klar und geordnet zu denken, aber entwickelt sich scheinbar natürlich, gar übernatürlich. Und es ist vor allem unaufhaltsam und nennt sich irgendwann, also bald, gar dreist: Die neu definierte Unschuld. Weiterlesen


Genre: Underground
Illustrated by Ubooks Diedorf

Und wir scheitern immer schöner

In Fortsetzung seines Erstlings »Ich hab die Unschuld kotzen sehen« geht Bernemann auch in seinem zweiten Werk hart zur Sache. Von wem oder was auch immer getrieben sucht er nach einem bescheidenen Seelenasyl, um sich niederzulassen. Diesen Platz suchen auch seine Figuren, und sie glauben wohl, den Seelenfrieden vor allem in der körperlichen Vereinigung finden zu können. Weiterlesen


Genre: Pop-Literatur, Underground
Illustrated by Ubooks Diedorf

Das große Buch der Körpersignale

Der Körper soll, zumindest in der Theorie, der beste Freund des Menschen sein. Tatsächlich gibt uns dieser Freund, wenn wir mit ihm im Einklang leben, eine Menge Hinweise und Tipps auf Vorgänge, die in seinem Inneren ablaufen. Ob diese Prozesse harmlos oder gefährlich sind, kann zwar nur ein Fachmann entscheiden. Zeichen des Körpers erkennen und deuten können wir indes auch selbst. Die vorliegende Publikation hilft dabei.

Körpersignale sind Frühwarnsysteme, mit denen uns der Körper über Veränderungen informiert. Sie sind meist äußerlich sichtbar. Im Gegensatz zu Symptomen wie Schmerzen, Fieber und Blutungen erfahren wir damit meist sehr früh von eventuellen Mängeln oder sich ankündigenden Krankheiten. Oft erscheinen sie uns banal und unspektakulär, peinlich oder einfach nur kurios. Wer diese Zeichen mit seinen fünf Sinnen wahrnimmt, sie sieht, hört, schmeckt, tastet oder riecht, der kann bereits im Frühstadium geeignete Maßnahmen einleiten und spätere Folgen mildern oder vollständig abwehren.

Der Ratgeber nimmt von Haaren bis Zehen alle möglichen Körperteile genau unter die Lupe. Die Fingernägel weisen Rillen oder weiße Flecken auf, man hat einen metallischen Geschmack im Mund oder starken Mundgeruch, Finger oder Beine kribbeln, Hautausschlag, Lidzucken, Schluckauf oder Zittern beunruhigen einen und werfen die bange Frage auf: ist man vielleicht ernsthaft krank? Das Buch bewahrt vor einem überstürzten Arztbesuch oder dem vorschnellen Ruf nach dem Notarzt und hilft, sich selbst besser zu beobachten und kennen zu lernen.

Das Werk ermuntert, mit seinem Arzt auch über Dinge zu sprechen, die vielleicht bislang nicht beachtenswert erschienen oder die peinlich scheinen. Es leitet an, ein diagnostischer Detektiv zu werden, der aktiv an der eigenen Gesundheitsfürsorge teilnimmt. Es zeigt damit einen neuen Weg zur Selbstdiagnose.


Genre: Gesundheit
Illustrated by Heyne München

Felis Vigor

\"nurel\"

Lediglich seinen Namen erinnert der junge Nurel, als er dem Tode nahe von drei Kämpfern in einem Waldstück aufgelesen und gepflegt wird. Alles andere liegt verschüttet im Brunnen seiner Erinnerung, und er erfährt nur stückweise seine Biographie. Danach wurde er in einem dunklen Verließ gefangen gehalten und mit schwarzmagischen Ritualen gequält. Alles deutet darauf hin, dass der Knabe in einen Katzenmenschen verwandelt werden soll.

Angela Planert beschreibt in ihrem Roman das Sich-Entdecken des jungen Helden Nurel, der hin und her gerissen ist zwischen den Kräften heller und dunkler Mächte. Die schwarze Macht wird mit Hilfe geheimnisvoller roter Mondsteine ausgeübt von einem bösen Zauberer und seiner Helferin Kujana, die den Jungen abhängig machen und in verbrecherische Dienste stellen wollen. Die helle Macht hingegen, über die einige seiner neuen Freunde verfügen, bedient sich heilkräftiger weißer Mondsteine. Überhaupt spielt der Mond und sein Einfluss eine wesentliche Rolle in diesem Fantasy-Roman, den die Schriftstellerin, gemeinsam mit ihren inzwischen drei weiteren Romanen als »Selenorische Bücher« bezeichnet. Den Begriff leitet sie von der mythologischen Mondgöttin und Titanin Selene ab.

Die Autorin, die sich in ihrem Weblog selbst »Nurel« nennt und damit ihre Identifikation mit dem Protagonisten des vorliegenden Romans verdeutlicht, legt mit »Felis Vigor« eine atemberaubend spannende Erzählung vor. In lebendigen Dialogen wird das Wechselbad der Gefühle deutlich, die der Hauptheld durchlebt. Dabei versteht es die Autorin geschickt, den Spannungsbogen zu halten und ihn durch immer neue Ereignisse und Figuren stark zu steigern. Am Ende des 332 Seiten starken Werks weiß Nurel zwar einiges über sich und seine vermutliche Herkunft, doch der inzwischen ebenfalls veröffentlichte Roman »Vigor« beschreibt sein weiteres Schicksal, und das dürfte kaum weniger spannend sein.

Beachtlich ist, dass Angela Planert spontan und ohne jedes Exposé oder lektorale Hilfe ihre Romane schreibt. Angeregt von einer Freundin und motiviert durch die amerikanische Autorin Julia Cameron setzt sie sich in ihrer freien Zeit an den Schreibtisch und schreibt spontan los, wobei sie nach eigenen Angaben der Fortgang der Handlung überrascht. Das vorliegende Ergebnis ist beachtlich und wurde zu Recht beim 1. Fantasy-Award ausgezeichnet.

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Genre: Fantasy
Illustrated by Amicus Föritz

Der Ruinenwächter von Havanna

\"Ponte

Ponte liest. Foto: © Wilhelm Ruprecht Frieling

In seinem satirischen Roman »Unser Mann in Havanna« schreibt Graham Greene seinem Protagonisten James Wormold, einem als Staubsaugervertreter getarnten britischen Geheimagenten, ins Tagebuch: »Es war an der Zeit … seine Sachen zu packen und die Ruinen von Havanna zu verlassen«. Anders als Wormold verlässt Pontes Protagonist Havanna zum vollkommenen Unverständnis seiner Freunde nicht. Vielmehr hält er es mit Maupassant, der Frankreich wegen des Baus des von ihm und anderen Künstlern als »Schandfleck« bezeichneten Eiffelturms verließ, dann jedoch zurück kehrte und häufig im Restaurant der Stahlgiraffe anzutreffen war. Dies war nach seinem Bekunden der einzige Platz in Paris, wo er den Turm nicht sehen musste.

Antonio José Ponte versteht sich selbst als »Ruinologe«. Der in Kuba mit Preisen und einer Literaturprofessur geehrte Autor ist dort inzwischen in Ungnade gefallen und lebt seit 2006 im Madrider Exil. Er wurde vom kubanischen Schriftstellerverband »deaktiviert«, damit bleibt er zwar formal Mitglied, darf jedoch weder publizieren noch Ehrenämter bekleiden. »Der Ruinenwächter von Havanna« ist seine erste in deutscher Sprache vorliegende Publikation.

Ponte unternimmt literarische Streifzüge durch Havannas Altstadt auf den Spuren von Graham Greene, Jean Paul Satre und Ry Cooder. Er beschreibt die Altstadt der kubanischen Hauptstadt als einen Unfall in Zeitlupe, als ein unaufhaltsames Zerbröseln von Bausubstanz, von Gebäuden und Quartieren. Über Jahre häufte sich ein Berg von Problemen an, der auch durch die Einrichtung neuer Museen und von Bars, die sich bei näherem Hinsehen selbst als Museen entpuppen, nicht abgetragen wurde. Ponte meint, die größte städtebauliche Leistung durch die Revolutionsregierung bestehe darin, Havanna seinen Bewohnern entfremdet zu haben: »Derart fremd geworden, dass niemand sich für die Stadt verantwortlich fühlt, wird sie aus der Ferne vermisst«.

Der Autor beobachtet das Entstehen von etwas, das er »horizontale Ruine« nennt: nicht einzelne zusammen stürzende Gebäude, sondern eine ganze Stadt, die sich flächendeckend in eine gigantische Ruinenkonstruktion verwandelt, in der immer wieder der Strom ausfällt. Jahrelang leuchtete ganz oben an der Fassade des Bauministeriums die Losung »Revolution ist Bauen«. Allerdings wird die Ära Castro nach Ansicht des Autors wohl ohne bemerkenswerte bauliche Hinterlassenschaften zu Ende gehen; es fehlt sowohl an Verantwortungsbewusstsein für die Rettung der Altstadt als eine Architektur der Moderne.

Letztlich besteht der Irrtum der sozialistischen Wohnungspolitik darin, den Bewohnern die Verantwortung über den Wohnraum zu überlassen, die den vorherigen Eigentümern genommen wurde. Doch die neuen Besitzer, die in Havanna teilweise sogar ihre eigene Miethöhe festsetzen durften, verhalten sich wie Tauben: sie verlassen die Gebäude, sobald sie vollends unbewohnbar geworden sind und flattern durch die Löcher in den Dächern, um den nächsten freien Winkel zu besetzen.

Wann wird ein Gebäude zur Ruine, fragt Ponte und antwortet: »Man steht von dem Moment an vor einer Ruine, wenn die Schäden an einem Gebäude unwiderruflich sind. Wenn es nicht mehr das Verlangen nach Wiederaufbau weckt, hat das Gebäude angefangen, zur Ruine zu werden. Das Zeichen ist ein Sims, der unter allgemeiner Teilnahmslosigkeit am Boden landet, oder das nicht zur Kenntnis genommene Abfallen eines Balkons.«

Abseits aller Revolutionsromantik um Fidel Castro, Camilo Cienfuegos und Ernesto Che Guevara und dem von der Buena-Vista-Rhythmik beschworenen Mythos wird mit diesem ungewöhnlichen Werk das Ende eines Systems an einem seiner schwächsten Punkte karikiert: an seinem Umgang mit dem Altern der Hauptstadt. Der »Ruinenwächter von Havanna« ist ein romanhafter Essay mit verstörendem Effekt auf den Leser und sicherlich eines der ungewöhnlichsten Zeugnisse der aktuellen kubanischen Literatur.

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Genre: Romane
Illustrated by Kunstmann München