Roland, der Protagonist in Dirk Bernemanns drittem Roman »Satt. Sauber. Sicher« lebt in einem »Haus der Lüge«. Darin wohnen auch Herbert und Karla, seine Eltern, und alles ist sauber.
Eine breite Hausfrauenzunge hat die Fugen zwischen den Fliesen im Wohnzimmer geleckt. Der Vater hat alles Unkraut in dem kleinen, bunten Vorgarten an der Wurzel abgehackt. Ein gewaschener Wagen steht vor der Tür. Hier wohnen gute Menschen, die wählen gehen, Freunde zum Grillen einladen und Bioprodukte genetisch veränderten Produkten vorziehen. Hier guckt man die Lindenstraße, die Tagesschau und den Tatort. So scheint es.
Tatsächlich ist der Vater eine lebende Leiche, ein sexuell frustrierter Fettsack, der Inbegriff der Bankrotterklärung der sozialen Fähigkeiten. Ein Bauarbeiter, der an allem außer an sich arbeitet. Ein Mann gemacht aus Inkompetenz, Intoleranz und einer ausgeprägten Selbstmitleidigkeit. Ein Arbeiter mit tiefen Leiden, resultierend aus der Unfähigkeit, die ihn umgebende Scheiße zu artikulieren oder wegzuräumen.
Mutter Karla, die sich wie eine Dose Cola mit abgelaufenem Verfallsdatum fühlt, wird später nach dem Ableben ihres Gatten nach Afrika reisen, weil sie in einem Fernsehbeitrag sieht, wie eine Urlauberin von einem Stammeshäuptling interessant gefunden wurde und jetzt im Inneren eines Zeltes ein Königinnendasein zu haben scheint.
Rolands Familie zählt zur Arbeiterklasse. »Kein Intellekt. Drei Fernsehprogramme.« Erziehung will erst gelernt werden, und bis man da was drüber weiß, wird erst einmal drauf gehauen, wenn die Brut nervt. So gibt es häufig »Überforderungskloppe«. Die Eltern rechtfertigen dies mit dem Nervfaktor, der von den Geräuschen der Kinder produziert wird.
Roland und sein Bruder Peter sind Opfer dieses unausgeloteten Familiensystems. Eine immer frustrierte Mutter, ein ständig malochender Vater, ein Geruch von Bier, Schnaps und Vaterkotze und dazwischen ein klein wenig Missbrauch in der Badewanne.
Beide Söhne brechen früh von zu Haus aus. Roland wird Broker, bleibt dabei aber unglücklich, fühlt sich unterfordert, ungeliebt und ausgebrannt. Sein Liebesleben liegt im Chaos. Polka, Pogo und Pornographie sind die eigentlichen Motive, die ihn treiben. Da gibt es die Krankenschwester Vera, die es mit ihm eine Weile aushielt, ohne zu wissen, warum. Vera bemerkt, dass Roland eine Kälte auszeichnet, die sie nie zuvor erlebt hat. Deshalb trennt sie sich, weil Liebe unter einer bestimmten Temperatur nicht geht. Und kalt und kalt ergibt viel Scheiß. Das kennt Roland schon von seinen Eltern.
Sein Bruder Peter ist bereits früher aus dem Haus weg von der »fucking family« gegangen. Roland hält ihn für glücklicher, tatsächlich ist auch er ein sozial degeneriertes Individuum, der sich als Heimbetreuer die Illusion von familiärer Gemeinschaft schenkt.
Roland ist krank, Darmkrebs wütet in ihm, und als er es endlich zum Arzt schafft, ist es längst zu spät. Es treibt ihn ein letztes Mal nach Hause, er versucht, sich seinen Eltern mitzuteilen, diese versagen erneut. In ihm wächst die Krankheit, in ihm brennt Elend, in ihm verbrennt der Mensch, der er ist. Er geht zugrunde.
Vera hat inzwischen einen neuen Liebhaber gefunden. Es ist ein Afrikaner, der jedoch zu später Stunde auf einem Bahnsteig Bekanntschaft mit drei besoffenen Bauarbeitern macht und von ihnen kaputt geprügelt wird. Sie stürzt sich darauf in den Alkohol und trifft schließlich auf Britta, die ihren in einer Pornoproduktion geschundenen Körper bei ihr wieder auffrischt. Die beiden ziehen zusammen und leben ihre verkorkste Weiblichkeit aus.
Bernemanns Roman ist ein aus verschiedenen Episoden geschickt zusammen gesetztes Mosaik, in der sein Personal sich mehrheitlich nur kurz wahr nimmt oder berührt. Jede Folge ist eine Spiegelscherbe, die über die innere Welt der jeweiligen Figur berichtet und damit Stück für Stück die Handlungsfolge und das Beziehungsgeflecht aufbröselt. Diesen Bau aus Versatzstücken beherrscht der Autor meisterhaft.
Lediglich die als Schlusslicht angehängten Kapitel entzaubern sein Werk, das eigentlich bereits abgeschlossen war, und keiner weiteren Berichte aus dem Schauspielhaus der Andersartigkeit bedarf, ganz so, als habe ihm der Umfang seines Werks missfallen, dass er dann noch ein wenig aufblähen musste.
In stilistischer Hinsicht wirkt der Text, als kotze Bernemann seine eigene proletarische Kindheit, ganz besonders die Auseinandersetzung mit dem Vater, aus sich heraus. Unabhängig davon, ob der Text autobiographische Züge trägt, ist er packend und milieudicht geschrieben. Gelegentlich stelzt er allerdings in Wortspielereien und Alliterationen (»Er sieht Menschen rennen und Schweine brennen«; »Sie verrecken in Verstecken. Sie verkümmern unter Trümmern«), die dem Text Wucht und Wut nehmen.
Das Werk versteht sich als ein Stück Untergrund-Literatur und ist in einem Verlag erschienen, der sich in der Gothic-Szene angesiedelt hat. Diese auch als »Schwarze« oder »Grufties« bezeichnete Subkultur im Rahmen der Post-Punk- und Dark-Wave-Bewegung sammelt junge Leute, die sich gern schwarz kleiden, gelegentlich von Brücken springen, Melancholie zelebrieren, und doch nicht genau sagen können, was sie eigentlich sind und wollen.
In diesem Segment ist der Autor erfolgreich. Er könnte darüber hinaus wachsen.