Die Liebesblödigkeit

Liebe in einer verhunzten Welt

Der Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino hat mit seinem Roman «Die Liebesblödigkeit» einen Buchtitel kreiert, der geradezu typisch ist für seine überwiegend resignativ geprägten Romane, in denen es immer auch um die Liebe geht als schier unerschöpflicher Erzähl-Fundus. Das vorliegende Buch handelt von der Beziehung seines Ich-Erzählers zu zwei Frauen, deren Ansprüchen er sich als alternder Liebhaber auf Dauer nicht gewachsen fühlt. Von einer sollte er sich trennen, aber von welcher?

Als freiberuflicher Apokalypse-Spezialist unterhält der 52jährige Protagonist schon jahrelang intime Beziehungen zu Judith, einer gleichaltrigen Pianistin, die recht und schlecht von Klavierunterricht und Nachhilfestunden lebt, aber gleichzeitig auch zu der neun Jahre jüngeren Chef-Sekretärin Sandra. Bisher lief alles bestens in dieser Ménage-à-trois, in der die Frauen natürlich nichts voneinander wissen und ihr Geliebter es sich gut gehen lässt. Warum, lautet sein Credo, soll man als Kind Vater und Mutter gleichermaßen lieben können, zwei Frauen gleichzeitig aber nicht! Als Hypochonder entdeckt er ständig neue, altersbedingte Veränderungen an seinem Körper, zu denen zum Beispiel auch Krampfadern gehören. Als der Arzt ihm neben einem Medikament auch Stützstrümpfe verschreibt, passt das so gar nicht zu seinem Selbstverständnis. Die sexuell sehr aktive Sandra, die ihn zu diesem Arzt geschickt hat, überrascht ihn mit einer kühnen Konstruktion an ihrer Schafzimmertür. Rechts und links hat sie je einen Getränkekasten hingestellt, auf die sie sich optimal zum Beischlaf draufstellen kann, während er sie in einer Krampfader schonenden Stellung beglückt. Aber seine erkennbar nachlassende Libido führt auch zu sexuellen Versagensängsten, die ihn permanent umtreiben. Andererseits kann er sich beim besten Willen jedoch nicht vorstellen, auf eine der liebevollen Damen zu verzichten, er hat sich sein Leben mit den beiden sehr kommod eingerichtet. Als ihm Sandra einen Heiratsantrag macht und auf die finanziellen Vorteile hinweist, die er als Freiberufler ohne eigene Rentenansprüche durch die Witwenrente später hätte, stellt er resigniert fest, dass eine Ehe für ihn absolut undenkbar wäre.

Die Figuren des Romans sind unauffällige Alltagstypen aus der Mittelklasse. Der namenlose Romanheld ist als Seminarleiter mit seinen Apokalypse-Vorträgen sehr beliebt und hat einen guten Kontakt zu den meist älteren Teilnehmern. Wie auch in anderen Romanen von Wilhelm Genazino sind hier immer wieder Passagen eingebaut, in denen der Held durch die Stadt streift und alltägliche, banale Szenen beobachtet, die er in schnellem Wechsel detailgenau beschreibt. Es ist das «signifikant Insignifikante», wie James Wood es genannt hat, das hier zu stets neuen, überraschenden Einsichten führt, als Flaneur erkennt der intellektuelle Erzähler scharfsichtig das Besondere im Allgemeinen. Gesellschaftskritisch konstatiert er einen zunehmenden «Freizeit-Faschismus», der die Köpfe bewusst vernebelt und zu einem ungebremsten Konsum-Fetischismus hinführt. Äußerst skeptisch sieht er auch die «frei schwebenden Intellektuellen», die im Roman auftreten, von ihm spöttisch Panikberater, Ekelreferenten oder Schockforscher genannt. Ihm erscheint die moderne Welt mit ihren absurden Automatisierungs-Zwängen schlicht als «verhunzt», seine in dieser irrealen Welt herumirrenden Figuren seien einer «zynische Inszenierung» ausgesetzt. Der Held selbst aber registriert all dies mit stoischer Gelassenheit.

Es wird chronologisch aus der Ich-Perspektive und im Präsens erzählt, wobei die Sprache mit allerlei Redewendungen und Bonmots angenehm aufgelockert ist. Sehr viele der kontemplativen Erkenntnisse des ständig sinnierenden, selbstkritischen Protagonisten sind erkennbar ironisch gemeint, andere wiederum regen zum eigenen Nachdenken an. Als Satire über die Liebe in einer verhunzten Welt ist dieser Roman eine amüsante Lektüre, die auch einiges an Tiefgang bietet.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Bei Regen im Saal

Die Romanhaftigkeit des Lebens

Das Markenzeichen des Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino ist ‹der gedehnten Blick›, den er in seinem gleichnamigen Essay konkret beschrieben hat und der auch den Roman «Bei Regen im Saal» prägt. Gemeint ist damit eine zeitlich gedehnte, intensive Wahrnehmung auch kleinster, banaler Details des Alltags. Erst bei längerer Betrachtung erschließe sich «die Tiefendimension eines Gegenstandes oder einer Situation», und damit verliere sich auch das Triviale, hat er im Interview erklärt. Ein weiteres Merkmal seiner Prosa ist der elegische, resignative Grundton, die Protagonisten sind misanthropische Antihelden, das Milieu ist durch die «kleinen Leute» gekennzeichnet im Kampf mit dem alltäglichen Wahnsinn unserer immer komplizierter werdenden, modernen Zeit.

Der erst ganz am Ende als Reinhard ‹benamste› Ich-Erzähler ist ein 43jähriger, promovierter Philosoph, ein Verlierertyp, der sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben schlägt und schließlich als Redakteur bei einer Lokalzeitung landet. Als unverbesserlicher Eigenbrötler wohnt er im Chaos seiner spartanisch möblierten, verschmutzten Wohnung, ein schlecht gekleideter, schlecht rasierter, schmuddeliger und ungepflegter Mann. Er ist antriebslos und verrichtet seine Arbeit gleichgültig, ohne jeden Ehrgeiz. Seinem tristen Zuhause, seiner ereignislosen Existenz entflieht der Flaneur durch häufige Streifzüge durch die Stadt, er beobachtet dabei mit scharfem Blick sein ihm immer unverständlicher werdendes, urbanes Umfeld. Einziger Lichtblick in seinem ansonsten bindungsarmen Leben ist seine Freundin Sonja, eine dralle Finanzbeamtin, mit der er ein äußerst erfülltes Sexualleben führt. Der auch vom Aussehen her wenig attraktive Mann mit seinen Marotten ist ein ausgesprochener Busenfetischist, BHs und Brüste üben eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus. Und erstaunlicher Weise machen ihm viele Frauen recht deutlich Avancen, weil sie seine Begehrlichkeit spüren, er aber weicht dem immer aus, seine eh schon schwach ausgeprägte Bindungsfähigkeit lässt ihn vor flüchtigen Affären zurückschrecken, seine Liebe gilt allein Sonja.

Eine Handlung ist in diesem kurzen Roman kaum auszumachen, das Wenige davon hier auszuplaudern wäre unfair, denn eine gewisse Spannung ergibt sich trotzdem, – es geht ja schließlich um Liebe, und die ist immer für Überraschungen gut! Die Geschichte als Ganzes lebt von den als Gedankenstrom erzählten Grübeleien und inneren Monologen des ewigen Flaneurs, den jede noch so kleine Begebenheit interessiert und oft zu abseitigen, philosophischen Betrachtungen animiert. Das Große im Kleinen zu erkennen, die tiefere Bedeutung auszuloten ist das erklärte Anliegen des Autors. Wobei politische, religiöse, ökonomische oder soziologische Aspekte ausgeklammert bleiben, das alltäglich Banale des menschlichen Seins steht im Fokus, hinzu kommen gelegentlich auch Beobachtungen in der Natur. Als Ergebnis solcher Selbstreflexion, als Extrakt dieser willkürlichen, sprunghaften Denkprozesse ergeben sich dann häufig völlig absurde, eigenwillige Einsichten und skurrile Assoziationen.

Wilhelm Genazino überrascht seine Leser zuweilen mit gelungenen Wortschöpfungen in einer angenehm lesbaren, den narrativ vorherrschenden Bewusstseinsstrom stimmig abbildenden, schnörkellosen Sprache. Zu der allfälligen Kritik an seinen handlungsarmen Plots hat der sich selbst als randständig verortende Schriftsteller in einem Interview angemerkt: «Denn unter den Lesern sind natürlich auch sehr viele, die nicht die entsprechende Muße aufbringen und stattdessen mehr Action wollen. Für diese Leser muss es viel mehr vordergründige Handlungsmuster geben, da müssen irgendwelche Scheidungen stattfinden und Liebesabenteuer usw. Wenn das nicht stattfindet, dann legen diese Leser so ein Buch wie eines von mir schnell beiseite und sagen: ‹Ach, wie langweilig›!» Die Romanhaftigkeit des Lebens ist selten actionreich, das wird beim Lesen dieses Romans sehr deutlich.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Das Glück in glücksfernen Zeiten

Zaudern und Übermut

Das umfangreiche Œuvre von William Genazino ist durch eine resignative Grundstimmung gekennzeichnet, die auch seinem 2009 erschienenen Roman «Das Glück in glücksfernen Zeiten» unterlegt ist. Auch dieser von Feuilleton durchweg positiv aufgenommene Roman beschreibt die Absurditäten eines Alltags, der so unspektakulär durchschnittlich ist wie sein Ich-Erzähler, ein promovierter Philosoph, den seine brotlose Wissenschaft nach dem Studium zwang, als Wäscherei-Ausfahrer zu arbeiten.

Der Roman lebt von den minutiösen Beobachtungen des inzwischen 41jährigen Gerhard, der zum Geschäftsführer in seinem Wäschereibetrieb aufgestiegen ist, ein melancholischer Flaneur, den sein Umfeld und die gesellschaftlichen Verhältnisse mehr beschäftigen als seine Arbeit, die der absurd Überqualifizierte bestenfalls gleichgültig, oft auch widerwillig ausführt. «Das einzige Straßencafé, das es in der Nähe unserer Wohnung gibt, ist wie üblich überfüllt» heißt es im ersten Satz. Er empfinde das Café an seinem Feierabend «als die erste Wohltat des Tages». Mit seiner hübschen, toughen Freundin Traudel, Filialleiterin einer Bank, bewohnt er in der Nähe eine Dreizimmerwohnung. Ihr Leben ist sexuell erfüllend für beide, verläuft aber ansonsten ziemlich ereignislos. Zur Kompensation plant er, mit staatlicher Förderung eine «Schule der Besänftigung» zu gründen und dort Vorlesungen zu Themen wie «Die Flucht vor der Selbsteintrübung der Welt» zu halten. Die Beziehung zu Traudel wird getrübt, als die 38Jährige ihm eröffnet, sie wünsche sich ein Kind. Gerhard, den schon sein Alltagsleben derart nervt, dass er sich ein «Halbtagsleben» wünscht, eine völlig ereignislose Zeit also, ist nun zutiefst irritiert und fühlt sich eingeengt, er kann sich an den Gedanken einer Vaterschaft absolut nicht gewöhnen. Zu der aufkeimenden Missstimmung kommt dann auch noch seine fristlose Entlassung hinzu, er wurde während der Arbeitszeit als Zaungast bei einer Demonstration beobachtet. Nach dieser Zäsur zeigen sich bei ihm nun zunehmend Verhaltensauffälligkeiten, ein um sich greifender Realitätsverlust, an dessen Kulminationspunkt ihn Traudel in eine psychiatrische Klinik einliefern muss. «Ich leide an einer verlarvten Depression mit einer akuten Schamproblematik», erklärt er seinem Therapeuten. Und schon bald fühlt er sich so geborgen dort, dass er gern für immer bleiben möchte.

Um diesen Handlungsrahmen herum rankt sich eine Erzählung, in der scheinbar völlig Banales im Fokus steht und zu oft ebenso überraschenden wie absurden Erkenntnissen führt. Die in weiten Teilen in Form des Bewusstseinsstroms erzählte Geschichte mit den alltäglichen Beobachtungen des Protagonisten mündet immer wieder kontemplativ in skurrilen Einsichten. «Lange bevor man tot ist, durchlebt man Phasen der Tödlichkeit. Was man dabei erlebt, erzählt man nicht gerne» sinniert der verunsicherte Protagonist an einer Stelle. Diese meist doppelbödigen Gedankengänge werden wohltuend tendenzfrei ohne erkennbar dogmatische, politische oder sonstige Hintergründe vor dem zum Mitdenken bereiten Leser ausgebreitet. Selbstreflexiv wird hier überwiegend aus dem Innenleben des depressiven Antihelden berichtet, der an seinem ihn verwirrenden Umfeld scheitert.

Diese vielschichtige Tragikkomödie reflektiert klug die zuweilen absurden Wirkungen des modernen Alltags auf den Menschen. Sie ist atmosphärisch dicht erzählt in einer klaren, schnörkellosen Sprache, die fast schon lässig wirkt und sehr amüsant zu lesen ist. Der Busenfetischist Gerhard sieht sich zum Beispiel als «Untermieter bei Traudels Busen» oder beobachtet angewidert eine wegen Flugausfalls im Hotel einquartierte Rentnertruppe, die sich «mit abstoßender Freude auf ein Büffet» stürzt. Das Anspruchsdenken auf Glück geht ins Leere, denn Glück, so die verblüffende Katharsis, macht nicht zwingend auch glücklich. «Zaudern und Übermut» lautet beziehungsreich der Titel eines Buches, das der unfrohe Held eigentlich schon immer mal schreiben wollte!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Die Liebesblödigkeit

Wilhelm Genazinos Held ist ein freischaffender Zivilisations-Apokalyptiker, der mehr schlecht als recht von Verträgen, Kolloquien, Tagungen und gelegentlichen Essays in Fachzeitschriften lebt. Dafür ist er reich mit den Segnungen der Liebe ausgestattet: Der 52jährige unterhält intensive und langjährige Verhältnisse zu zwei höchst unterschiedlichen Frauen. Dabei handelt es sich um die gescheiterte Konzertpianistin Judith sowie die Büroangestellte Sandra, die sich plötzlich der Hobbymalerei zuwendet.

Die dauerhafte Liebe zu diesen beiden schenkt ihm nach eigenem Dafürhalten eine wunderbare Doppelverankerung in der Welt. Er hält die Liebe zu zwei Frauen weder für obszön noch gemein oder besonders triebhaft. Sie ist ihm vielmehr eine bedeutsame Vertiefung aller Lebensbelange. Dem Ich-Erzähler ist jedenfalls das Bewusstsein dafür, dass sein Sexualleben polygam genannt wird und nach den herrschenden Auffassungen niederträchtig ist, im Laufe der Jahre abhanden gekommen. So wünscht er allen Männern zwei Frauen und allen Frauen zwei Männer, wenigstens phasenweise, denn das sei die Mindestüppigkeit, mit der wir den Kampf gegen unser armseliges Leben antreten können, ohne uns gleich dem Gesetz der Kargheit auszuliefern.

Sein eigenes Leben ist trotz dieser Üppigkeit von keimenden Krankheiten, diversen Zipperlein und einem spürbaren Alterungsprozess bestimmt. Er beobachtet Krampfadern und das Zucken eines Augenlids und erlebt das schleichende Nachlassen seiner Manneskraft. Das alles serviert ihm einen guten Schuss Todesangst. Außerdem fürchtet er, aufzufliegen. Was soll werden, wenn er plötzlich ins Krankenhaus muss und beide Damen prallen aufeinander?

Auf einem seiner Apokalypse-Seminare in den Schweizer Bergen reift sein Entschluss, sich von einer der beiden Beziehungen zu verabschieden. Aber von welcher der höchst unterschiedlichen Damen soll er sich trennen, oder soll er sich sowohl von Judith wie auch von Sandra lösen und es dann noch einmal völlig neu versuchen? Beim Abwägen der Vor- und Nachteile verfällt der Prediger des Weltuntergangs zunehmend in einen von ihm als Liebesblödigkeit bezeichneten Zustand. Tatsächlich rutscht er in eine Depression, die ihm jede Entscheidungskraft raubt. Er kriecht immer stärker in sein Schneckenhaus und kommt vollends ins Schwimmen, als er auf seine Ex-Frau Bettina trifft, der er lieber aus dem Weg gehen möchte.

Er spürt seine Feigheit, empfindet sich als Versager und erlebt sich als ein Katastrophenbefallener. Auch sein Umfeld, der Postfeind Bausback, der Panik-Berater Dr. Ostwald, Herr Mannschott, der Alkohol-Sekretär der Turbinenfabrik Schnellinger, der Empörungs-Beauftragte Morgenthaler und Dr. Blaul, der als Ekelreferent tätig ist, helfen ihm wenig bei der Lösung des Problems. Sie sind selbst alle Verlorene, merkwürdige Gestalten am Wegesrand, die einfach nur komisch wirken.

Nun erwartet der Leser, der dem Geschehen folgt, wohl eine Lösung oder eine jähe Wendung. Ob die Damen zu guter Letzt vielleicht sogar ihren langjährigen Freund und Liebhaber verlassen, ob er selbst eine Entscheidung fällt und sich vielleicht in ein hübsches junges Ding verliebt, das seinen Weg kreuzt? Geübte Genazino-Leser ahnen jedoch, dass sich der Fortgang der Handlung auflöst in einer Reflektion über Todesangst wie über das Todesangsttheater, das seinen Helden verwirrt. Wie immer bei diesem Autor ist der Roman relativ handlungsarm und dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, spannend bis zur letzten Zeile.

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Genre: Romane
Illustrated by dtv München

Ein Regenschirm für diesen Tag

Wilhelm Genazinos durch Frankfurt latschender Protagonist ist gut zu Fuß. Der Flaneur, der häufig das Gefühl empfindet, ohne seine innere Genehmigung auf der Welt zu sein, ist Meistertester der Schuhmanufaktur Weisshuhn. Im Auftrag des expandierenden Unternehmens prüft er handgearbeitetes Schuhwerk, schreibt darüber umfangreiche Gutachten und hält sich mit diesem Minijob mehr schlecht als recht über Wasser.

Seine langjährige Gefährtin und Geldgeberin Lisa hat den Schuhtester inzwischen verlassen, um ihn zu zwingen, sich endlich um einen besseren finanziellen Hintergrund zu bemühen. Die früh pensionierte Grundschullehrerin, »die sich für den Staat, für die Kinder oder für ihre Illusionen ruiniert hat«, meint damit seine »mangelhafte finanzielle Verwurzelung in der Welt«.

In ständigem Gedankenfluss wandert der namenlose Ich-Erzähler durch die Stadt. Er erlebt die Zerbröckelung, Zerfaserung und Ausfransung seines Lebens als Prozess, den er »Verflusung« nennt. Er stört sich an Kindern, die Schokolade essen ebenso wie an Autos, die am Straßenrand parken. Während er ziellos durch die Landschaft schlendert und sich vom Leben abzulenken versucht, beobachtet er unterschiedlichste Gestalten und notiert in Gedanken ihre Bewegungen, Eigentümlichkeiten und Eigenschaften. Es scheint ihm dabei so, dass der Auftritt einer Person, der es offenkundig noch schlechter geht als ihm, in ihm das Verhalten eines guten Menschen hervorruft.

Gelegentlich trifft er weibliche Bekannte, die ihn an seine Kindheit und Jugend erinnern. »Man wird die Leute nicht mehr los, denen man einmal von seiner Kindheit erzählt hat«, klagt er und kehrt in einen Frisiersalon ein, mit deren Inhaberin ihn ein gelangweiltes Gelegenheitsverhältnis verbindet. Auch eine Freundin aus der Jugendzeit rührt ihn nicht wirklich an, wenn er zum wiederholten Mal ihrem verpatzten Traum von einer Schauspielerkarriere lauscht.

Seine »Tagesverdammnis« will es, dass die Schuhmanufaktur sein Honorar für die Berichte auf ein Viertel kürzt. Er beschließt, den Job aus Verachtung aufgeben, doch er ist zu matt und erfindet künftig lieber aus Rache die Gutachten. Sein Dünkel besteht aus einem fast permanenten Zusammenstoß von Demut und Ekel. Die Demut gemahnt ihn, auch die dümmsten Geschichten seiner Mitmenschen anzuhören. Der Ekel stachelt ihn an, zu fliehen, um nicht in den Ausdünstungen seiner Mitmenschen unterzugehen.

Beiläufig stößt er auf den Redakteur des Generalanzeigers, für den er einstmals bereits tätig war. Obwohl er es eigentlich ablehnen möchte, nimmt er dann doch dessen Angebot an, für das Blatt lokale Berichte zu schreiben. Zudem erklärt er Leuten, die ihm ein Gespräch aufdrängen, er leite ein Institut für Gedächtnis- und Erlebniskunst. Zu ihm kämen Menschen, die das Gefühl haben, dass aus ihrem Leben nichts als ein lang gezogener Regentag geworden sei. Sein Institut versuche, Klienten zu Erlebnissen zu verhelfen, die wieder etwas mit ihnen selber zu tun haben, jenseits von Fernsehen, Urlaub, Autobahn und Supermarkt. Verstört reagiert er, als sich Menschen von seiner Notlüge angesprochen fühlen und sich ihm als Kunden aufdrängen.

Genazinos Roman besteht aus dem endlosen Monolog eines intellektuellen Stadtstreichers, der sich und seine Umwelt ständig beobachtet. Der Autor beschreibt haargenau Menschen, die sich im Alltag bewegen und lässt sich, genau wie im richtigen Leben, federleicht ablenken von Figuren, die wie Treibgut in sein Blickfeld schwimmen. Dabei fällt die ungeheure Kraft des Erzählers auf, den Leser nur durch Beobachtungen am Geschehen teilhaben zu lassen. Genazino verzichtet nahezu vollständig auf den Einsatz anderer Sinne, wie es den Teilnehmern jedes »Kreativ-Schreiben«-Kurs bereits in den ersten Lektionen ins Hirn gehämmert wird. Höchst selten findet ein Riechen, Schmecken, Hören oder Tasten statt, ein Geruch »fällt ihm auf«, aber dabei lässt er es auch schon bewenden.

Die lakonische Erzählweise Genazinos und das dabei entstehende Gemälde einer Persönlichkeit am Rande des Scheiterns sind eindrücklich. Der Autor arbeitet photographisch exakt, er belichtet ausgewählte Details und vergrößert sie für seine Prosacollage im »Gestrüpp, Geröll, Geraschel, Geschluppe, Geschlappe« des Lebens. Sein Roman über ein im Gleichmass verlaufendes «Ablenkungsleben» ist ein Buch für Leser, die zuweilen auch das Gefühl haben, dass ihr bisheriges Leben lediglich ein lang gezogener Regentag ist und «ihr Körper der Regenschirm für diesen Tag».

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Genre: Romane
Illustrated by dtv München

Mittelmäßiges Heimweh

Der Controller Dieter Rotmund wohnt allein in einer großen Stadt. Er lebt getrennt von seiner Frau, die im Schwarzwaldidyll siedelt und sich dort auf seine Kosten selbst verwirklicht. Doch da ist noch Susanna, die geliebte Tochter. Beide besucht er jeweils zum Wochenende. Edith weicht ihm ständig aus. Sie stürzt sich in eine Affäre und zieht sich und das gemeinsame Kind schließlich ganz von ihm zurück.

Rotmund fällt im Gefühl des Zerfalls seiner Ehe immer stärker in ein gleichförmiges, langweiliges Leben. Seine Sehnsucht nach Frau und Kind verkümmert zur Gleichgültigkeit. Obwohl ihm der Schwarzwald inzwischen ganz gut gefällt, empfindet er für den Ort, an dem seine Lieben sind, bald nur noch mittelmäßiges Heimweh. Darauf bezieht sich der Titel des Romans.

Mittelmaß und Gleichgültigkeit machen das Leben Rotmunds aus. Selbst als er in einer Kneipe plötzlich ein Ohr verliert, irritiert ihn das nur leicht. Später kommt ihm sogar noch eine Zehe abhanden. Er scheint sich damit allmählich im Mittelmaß aufzulösen. Sein unscheinbares Leben wird ungenau. Eine kleine Qual hat ihr Zelt in ihm aufgeschlagen und drangsaliert ihn von innen. Da hilft auch keine sexuelle Beziehung mit einer Frau, die zufällig in sein Leben tritt.

Deutlich merkt er, dass sein Gefühlsleben stehen geblieben ist und sich nicht bewegen will, obwohl er es manchmal anzuschieben versucht. In diesem Stillstand fällt ihm auf, dass er Sehnsucht nicht mehr von Heimweh unterscheiden kann. Früher war ihm klar, dass Sehnsucht dem Heimweh vorausgeht: »Du liebst eine Frau, dadurch entsteht Sehnsucht. Indem sich die Sehnsucht zeigt, bildet sich nebenbei auch Heimweh nach der Landschaft oder der Stadt, in der die geliebte Frau zu Hause ist. Indem du die Frau liebst, wird die Sehnsucht gestillt, und das Heimweh verschwindet. So einfach war das einmal. Zuerst wurde die Sehnsucht mittelmäßig, jetzt auch das Heimweh«. Rotmunds Leben verdichtet immer mehr zum inneren Monolog eines Menschen, der den Glauben an erfüllende Partnerschaften ebenso wie das Gefühl inneren Glücks verloren hat.

Wilhelm Genazino zeichnet in dem ihm eigenen resignativen Stil das Bildnis eines Mannes, der die Fremdheit überwinden will und doch von Fremdheit zugewuchert wird. Er konzentriert sich mit seinem Roman auf den merkwürdigsten Punkt im Leben: auf den Punkt, da sich ein zuvor heftiges Interesse plötzlich aufzulösen beginnt. Lakonisch und gleichzeitig haarscharf in der Beobachtung schildert er den Wärmetod des Gefühls, die Abflachung aller Emotionen und ihr Verlöschen in Mittelmäßigkeit.

Ausgeprägt ist seine enorme Beobachtungsgabe von Personen und Ereignissen. Detaillierte Beschreibungen alltäglicher Banalitäten münden durchaus in eigenwillige, skurrile Erkenntnisse. »Es ist diese Wahrnehmung, die meine Melancholie über den vielleicht ausbleibenden Sinn vertreibt und mich wieder ins Leben zurückholt«, lässt er seinen Helden sagen. Genazinos Verfremdungstechnik hilft, die eigene Verzweiflung durch die Situationskomik des Alltags zu betäuben. Aufgelöst wird sie dadurch nicht.

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Genre: Romane
Illustrated by Carl Hanser München