Herzog

bellow-1Genie und Wahnsinn

«Das Kind in mir ist entzückt, der Erwachsene in mir ist skeptisch» war der Kommentar des US-amerikanischen Schriftstellers Saul Bellow zur Verleihung des Nobelpreises 1976. Mit «Herzog» gelang ihm 1964 der literarische Durchbruch, dieser Roman gilt heute als bedeutendstes Werk des jüdisch geprägten Autors und war zudem kommerziell erfolgreich, er machte ihn als Autor letztendlich auch in Deutschland bekannt. Wie in vielen anderen seiner Werke analysiert der hellsichtige Denker, – ein einsamer Solitär seiner nationalen Zunft -, hier die Lebensumstände einer dem Individuum immer weniger verständlichen, modernen Gesellschaft, in der seine intellektuellen Protagonisten hoffnungslos unterzugehen drohen.

«Wenn ich den Verstand verloren habe, soll’s mir auch recht sein, dachte Moses Herzog». Schon im ersten Satz ist ja, nach der Erkenntnis von Edgar Allen Poe, oft die ganze Geschichte enthalten, so auch hier. Ein an der Welt verzweifelnder, zerstreuter Professor mit Forschungsschwerpunkt Romantik hat nach der Scheidung von seiner zweiten Frau, die ihn mit seinem besten Freund betrogen hat, und nach einem von ihr erbarmungslos geführten Rosenkrieg, völlig den Boden unter den Füßen verloren. Der an Nabokovs «Pnin» erinnernde Held taumelt zunehmend orientierungslos durch das Leben, ist ständig in irgendwelche Gedankengänge verfangen und agiert meist völlig irrational, er scheitert am eigenen Unvermögen, was den profanen Alltag anbelangt. In Wissenschaftskreisen ist er weithin bekannt und hoch angesehen, und auch die Bindungen innerhalb der Familie sind sehr eng, seine durchweg lebenstüchtigen Brüder mögen ihn und helfen ihm, wo es geht. Bei schönen Frauen ist er überraschend erfolgreich, seine diversen Affären werden von Freunden recht neidisch registriert. Diese Frauen übrigens werden hinreißend beschrieben, fiel mir auf, aber Moses als Don Juan passt wirklich nicht so recht. Als der fünfmal verheiratete Saul Bellow mit 89 Jahren starb, hinterließ er eine 5-jährige Tochter (sic!), – das erklärt’s vielleicht, Charlie Chaplin lässt grüßen!

In immer wieder neuen Rückblenden wird die Vita eines tragisch-komischen Helden ohne religiöse Bindung vor uns ausgebreitet, der in vielerlei Aspekten übrigens unverkennbar ein Alter Ego des Autors ist. Mit brillanten philosophischen Exkursen hinterfragt Bellow in seinem Roman den Sinn des Lebens und erörtert soziologische Probleme der modernen Gesellschaft und der sich immer schneller wandelnden Lebensverhältnisse in den üppig wuchernden Metropolen der USA, – der Roman wirkt insoweit wie eine literarische Feldstudie des in Chikago beheimateten Autors. Diesen mühsamen Prozess der Selbstfindung realisiert der Autor sprachlich mit einem originellen Erzählstil, in dem er seinen verwirrten Helden Don Quichotte-artig immer neue Briefe an die unterschiedlichsten Personen schreiben lässt, ein wüstes Sammelsurium von Gedanken politischer, soziologischer und kultureller Art, ergänzt um viele wissenschaftliche Diskurse. Adressaten der fast immer nur imaginierten, nicht wirklich aufgeschriebenen und auch nie abgeschickten Briefe sind lebende wie auch tote Personen. Obwohl all diese inneren Monologe kursiv gesetzt und somit leicht erkennbar sind, erfordert die Lektüre doch einige Lesedisziplin nicht nur in Hinblick auf den geistigen Gehalt des Erzählten, sondern auch der abrupten Wechsel wegen, mit denen Bellow diese Gedankensplitter ins Textganze integriert.

Moses Herzog endet bei seiner Sinnsuche in einer Ablehnung des Nihilismus moderner Prägung, wie ihn Viele in seiner Umgebung praktizieren. Er beginnt nach dem Rückzug in sein entlegenes Landhaus die seelisch wohltuende Wirkung einsamer Natur zu entdecken, erkennt zudem den Wert selbstloser Liebe, wie sie ihm seine attraktive neue Freundin entgegenbringt, vor der er verstört dorthin geflüchtet war, – ein hoffnungsvoller Lichtblick am Ende des Tunnels seiner von Einweisung in die Psychiatrie bedrohten Existenzkrise.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

The Drop – Bargeld

 

the-dropDennis Lehane schreibt gerne Krimis über schwarze Schafe, doch der Protagonist des vorliegenden Mafia-Thrillers, der Barkeeper Bob Saginowski, wirkt beinahe harmlos im Vergleich zu den anderen Personen, die dieses Buch bevölkern. „Seine“ Kneipe – da wo er arbeitet – ist eine „Drop“-Kneipe, das bedeutet, dass Mafiageld dort gesammelt und zwischengelagert wird, bis „jemand“ kommt und es abholt. Wer wäre so dumm und würde eine solche Kneipe überfallen? Der sichere Tod wartete auf ihn. Als Cousin Marv, Sully, Donnie, Paul, Stevie, Sean und Jimmy dort zusammensitzen, um auf das 10-jährige Verschwinden von Richie „Glory Days“ Whelan anzustoßen, geschieht jedoch genau das: zwei Maskierte holen sich die Tageslosung, aber nicht den „drop“. Zufall? Absicht? Oder Training Day?

Erfolg ohne Vergangenheit

Der schüchterne Bob kramt einen verletzten Pitbull aus einer Müllkippe vor dem Haus von Nadia und so entsteht auch eine Liebesgeschichte, die sich durch einen knallharten Mafiathriller zieht wie Marillenmarmelade durch eine Sachertorte: „Er spürte eine plötzliche Rückkehr dessen, was er empfunden hatte, als er den Hund aus der Mülltonne gezogen hatte – etwas, das er mit Nadia verschwunden geglaubt hatte. Verbundenheit.“ Dennis Lehane verbindet die Geschichte der beiden unterschiedlichen Charaktere auf eine geschickte Weise, denn stets steckt der Schlüssel zur Gegenwart in der Vergangenheit seiner Figuren. Und die ist oft sehr dunkel: „Ein erfolgreicher Mann konnte seine Vergangenheit verbergen, aber ein erfolgloser Mann verbrachte den Rest seines Lebens damit, nicht in seiner zu ersaufen.“

Katze im Hals

Die „Via Dolorosa“ des Anti-Helden Bob Saginowski zieht sich durch East Buckingham, ein Viertel Bostons, in dem sich früher ein Gefängnis befand, selbst die Straßen erinnerten noch daran: Pen’ Park, Justice Lane, Probation Avenue und die älteste Kneipe im Viertel namens „Zum Galgen“. Wer hier lebt, den kann auch der Polizist Evandro Manolo Torres, dem „eine Glocke im Herz regelmäßig die Stunde schlägt“ (Anspielung auf eine Roman Hemingways) nicht mehr erschrecken. Denn auch wenn Torres Saginowski immer dicht auf den Fersen ist, kommt er ihm doch nie nahe genug. Drastische Bilder wie „er blickte mich mit den stumpfen Augen eines Maulwurfs an“ oder „mein Hals fühlst sich an, wie wenn ne verdammte Katze reingefallen ist und jetzt versucht, sich mit den Krallen hochzuarbeiten“ wechseln sich ab mit brutalen Gewaltszenen oder Worten wie diesen, die die Freundin Evandros an ihn richtet: „Du siehst nur dne Teil von mir, der wie du aussieht. Was nicht mein bester Teil ist, Evandro.“

Bürger im Käfig

Wir befreien uns nicht aus unseren Käfigen“ sagt Bob an einer Stelle zu Nadia, weil er genau weiß, dass die Bewohner von East Buckingham zwar nicht in einem Gefängnis leben, das Gefängnis aber in sich tragen. „Eines morgens rollte man im Bett auf die andere Seite und sah eine völlig neue Welt.“, heißt es am Ende eines packenden Leseabenteuers, also genau das, was einem beim Lesen von Dennis Lehane auch passieren kann.

Dennis Lehane
The Drop – Bargeld
Diogenes, 2014, 224 Seiten
ISBN 978-3-257-60451-1
€ (D) 17.99 / sFr 23.00* / € (A) 17.99


Genre: Kriminalliteratur, Kriminalromane, Romane, Thriller
Illustrated by Diogenes Zürich

Prinz Eisenherz: Der Schatz

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Prinz Eisenherz Werkausgabe 91

 

„…und Deine Verbündeten vor der Küste müssen abziehen, sobald sie kein Trinkwasser mehr haben“, grinst der Widersacher von Prinz Eisenherz ihm hämisch ins Gesicht. Der Pirat Strakonus bringt Eisenherz gleich zu Beginn dieses Abenteuers in eine ordentliche Bredouille, denn der Prinz muss sich zwischen der Befreiung seines Sohnes Nathan und der Befreiung von Aleta und ihren Töchtern entscheiden. Doch dann bekommt Prinz Eisenherz unverhofft Schützenhilfe von einer Inselbewohnerin. Die Wahnsinnige Thanaa, die stets von einem schwarzen Panther und einem Leoparden begleitet wird, hasst die Piraten, vor allem aber wegen ihrem Sklavenhandel, den sie als Freie abgrundtief verurteilt.

Aletas besänftigende Umarmung

Ein Zweikampf zwischen Strakonus und Eisenherz endet mit der Gnade des letzteren, denn Thanaa hält ihn davor zurück, noch mehr Rache an Strakonus zu nehmen, es hat ja schon genug Tote gegeben. Aber „Wenn es etwas gibt, das Eisenherz’ Kampfeslust besänftigen kann, dann ist es Aletas Umarmung. Ihre Ankunft hat Strakonus gerettet.“, eigentlich. Die überlebenden Piraten werden mit einem harten aber gerechten Urteilsspruch konfrontiert: entweder auf der Insel zu bleiben oder zu helfen die Schiffswracks zu reparieren und zu den Nebelinseln aufzubrechen, um dort ihr eigentliches Urteil zu erwarten. Wer sich erinnert wie dort mit Piraten umgegangen wurde, als Aleta und Eisenherz noch nicht verheiratet waren, dem wird bange um das Schicksal der Verurteilten. Aber haben sie denn ein anderes Schicksal verdient, nachdem was sie Eisenherz’ Familie alles angetan haben? Natürlich beugen sich alle, nur Strakonus schmiedet weiterhin Rachepläne für seine erneute Meuterei auf den Schiffen Skjalddis und Calypso.

Prinz Eisenherz’ Tochter auf der Flucht

yeates2Aber auch in dieser Folge der Abenteuer des unsterblichen Helden von Hal Foster muss Eisenherz wieder eine Menge familiäre Probleme bewältigen oder zumindest zu ihrer Lösung beitragen. Als Valeta, seine Tochter, sich bei ihm über Karen, seine andere Tochter, beschwert, greift der Vater beherzt in die Liebesabenteuer seiner Zwillinge ein und spielt dabei den Amor mit dem Liebespfeil. Auch Bukota ist bei diesem Abenteuer wieder mit dabei und als sich auf dem Marktplatz die Händler über seine alte Heimat Ab’Saba und seine Königin Makeda unterhalten wird er hellhörig und die alte Sehnsucht flammt wieder auf. Doch dann schlittert sein Sohn Nathan unversehens in ein anderes Abenteuer, das mit dem seltsamen Artefakt etwas zu tun hat, das Guryan Sur umklammert wie einen Schatz. Ein fremder einäugiger Zauberer taucht auf und behauptet etwas über den verschwundenen Ehemann Karens, Prester John, zu wissen und prompt wird die Familie Eisenherz wieder durch eine anderes Abenteuer auseinander gerissen, ganz so, wie es ihm einst in jungen Jahren die Hexe Hobbit prophezeit hatte: „Du wirst aller Herren Länder sehen, Reiche untergehen und auferstehen sehen, aber Zufriedenheit, das wirst du nie erreichen.“ Wird Eisenherz seine verschollene Tochter und das Artefakt wiederfinden? Wird Karen wirklich zu ihrem Ehemann geleitet? Band 92 ist bereits in Vorbereitung!

Thomas Yeates
Prinz Eisenherz Band 91: Der Schatz
Originalseiten 4053 bis 4098
Aus dem Amerikanischen von Wolfgang J. Fuchs
2017, Carlsen Comics, 48 Seiten
ISBN: 978-3-551-71604-0
12,40.-

 


Genre: Comics, Fantasy, Kulturgeschichte
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Meine geniale Freundin

Meine geniale Freundin von Elena Ferrante

Elena Ferrante: Neapolitanisches Epos Band 1

 

“Meine geniale Freundin” ist die Geschichte der Kindheit zweier Freundinnen, die in Neapel aufwachsen und sie wird von Elena Ferrante im Original teilweise in dem Dialekt erzählt, aus dem sie geboren wurde. „L’ammore nun te fa mangia’/te fa suffri’ te fa’ pensa“, heißt es zum Beispiel in einem neapolitanischen Volkslied namens „Lazzarella“, das auch in dem vorliegenden Roman eine große Rolle spielt: die Liebe füttert dich nicht, sie macht dich nur leiden und nachdenken.  Als „Lazzaroni“ wiederum werden die armen Bewohner Neapels bezeichnet und auch die Maestra Oliviero (Lehrerin) der Ich-Erzählerin des Romans verwendet eine ähnliche Bezeichnung für die Bewohner des Viertels in dem sie aufwächst: Plebs. „Was der Plebs war,“ – sinniert Lenuccia am Ende des aufsehenerregenden ersten Teils der neapolitanischen Familiensaga – „der Pöbel, erkannte ich in jenem Augenblick und viel klarer als damals, vor Jahren, als die Oliviero mich danach gefragt hatte. Der Pöbel, das wir waren wir.“ Aber die Lazzaroni Neapels waren es auch, die den Aufstand gegen die Obrigkeit während der Parthenopäischen Republik anzettelten. Später entwickelte sich aus ihren Reihen allerdings auch die Camorra, von der in vorliegender Erzählung immer nur indirekt gesprochen wird.

Elena Ferrante: „piano, pianissimo, intimo, dolce“

Der erste Teil der Familiensaga über die Cerullos und Grecos schildert die Kindheit der beiden „besten Freundinnen“ Raffaella genannt Lina und Elena genannt Lenuccia oder Lenú. Das Aufwachsen in einem eher popularen Viertel Neapels ist voller Hingabe zu Details geschildert und zeigt auch die Brüche auf, die die italienische Gesellschaft auch heute noch durchziehen: ein Mangel an Vergangenheitsbewältigung. Eigentlich spielt der Roman nach dem Krieg, aber er ist wohl ebenso zeitlos wie allgemeingültig, wenn man an die schweren Hürden denkt, die junge Frauen in Italien auch heute noch zu nehmen haben: Bildung ist in diesem volkstümlichen Rione (ital.: für Viertel) der Stadt am Vesuv verpönt, besonders für Mädchen, die ohnehin nur zum Heiraten geboren werden, so die allgemeine Ansicht und auch die der Eltern der beiden Freundinnen. So muss Lina Cerullo alsbald ihrem Bruder und Vater in der Schusterwerkstatt helfen, obwohl sie für die Schule eigentlich viel talentierter als Lenuccia (ein vezzeggiativo für Elena) wäre. Aber mit viel Fleiß schafft letztere es beinahe bis zum Abitur, bis der erste Teil der Neapolitanischen Familiensaga mit der Hochzeit von Lina jäh abbricht. Denn auch Heirat ist eine Möglichkeit der Armut zu entkommen und wie es aussieht, die viel einträglichere Methode, um zu Reichtum und einem besseren Leben für sich und die ganze Familie zu kommen. Aber für Lenuccia sieht es weniger rosig aus: „Bei ihnen (die Bewohner des Viertels, JW) konnte ich nichts von dem anwenden, was ich Tag für Tag lernte, ich musste mich zurücknehmen, mich gewissermaßen herabsetzen.“

An Ferragosto wird alles anders

Lenuccia muss nicht nur gegen ihre Mutter ankämpfen, die sie lieber arbeiten sehen würde, sondern auch gegen die Verlogenheit der Nachkriegsgesellschaft und die Bewohner ihres Viertels, die nichts von Bildung halten. Auch nach dem Krieg geht es vor allem jenen besser, die sich während des Krieges auf Seiten der Schwarzhemden hielten. Ein solcher ist Don Achille Carracci, der von dem Tischler Alfredo Peluso wohl aufgrund einer alten Fehde getötet wird und Lenuccia verliebt sich ausgerechnet in seinen Sohn Pasquale. Aber noch schlimmer ist, dass Lina den Sohn von Don Achille, Stefano, heiraten wird. Und auch wenn er sehr reich ist, klebt ein stinkender Geruch an seinem Geld. Doch auch Nino Sarratore, der Sohn des dichtenden Eisenbahners, wirkt sehr anziehend auf Lenuccia. Von beiden Jungs – Pasquale und Nino – lernt sie ein politisches Bewusstsein, das alsbald den ganzen Rione durcheinanderwirbelt. Ein groß angelegtes Epos über zwei Freundinnen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten und das gut inszeniert und pointiert zu einer spannenden Kulmination auf einer Hochzeit führt. Gekonnt geschrieben und spannend erzählt von der Schauspielerin Eva Mattes. Wer von den beiden – Lina oder Lenuccia – nun die geniale Freundin des Titels ist, wird aber hier aber nicht verraten.

Meine geniale Freundin
Band 1 der Neapolitanischen Saga: Kindheit und frühe Jugend
Die Neapolitanische Saga (1)
Ungekürzte Lesung mit Eva Mattes
Hörverlag Buch erschienen bei Suhrkamp
€ 22,99 [D]* inkl. MwSt.
Hörbuch MP3-CD
ISBN: 978-3-8445-2352-2
Der Hörverlag/Random House


Genre: Belletristik, Biographien, Dokumentation, Erinnerungen, Frauenliteratur, Kulturgeschichte, Liebesroman, Memoiren, Roman
Illustrated by Hoerverlag, Random House UK

Die Rote

andersch-1Mumpitz und Humbug

Der zweite der vier Romane von Alfred Andersch, erstmals erschienen 1960, trägt seinen Titel «Die Rote» nach der Haarfarbe der Protagonistin, einer 31jährigen Frau auf der Flucht, auf der Suche nach sich selbst, nach innerer Freiheit. Eine wichtige Thematik des Existentialismus, die sich ähnlich auch in anderen Werken dieses ebenso streitbaren wie umstrittenen Autors der deutschen Nachkriegsära findet, literarisch realisiert mit Außenseitern der Gesellschaft als handelnden Figuren.

Da ihr Chef, mit dem sie jahrelang ein Verhältnis hatte, Franziska nicht heiraten wollte, hatte sie Herbert geheiratet, den Exportleiter der Firma. Bei einem gemeinsamen Geschäftstermin in Mailand eskaliert ein Streit der Beiden um die Besichtigung einer Kirche, bei dem Kunstfreak Herbert ihr schließlich die kleinen Freiheiten vorhält, die er ihr doch lasse. «Dass ich mit deinem Chef schlafe, wann immer er es wünscht, das nennst du meine kleinen Freiheiten», entgegnet sie empört, und als sie zudem erwähnt, dass Herbert sie möglicherweise kürzlich erst geschwängert habe, spricht er nur lapidar von einem «Betriebsunfall». Spontan steht sie auf und verlässt ihn, nimmt den nächsten Zug, egal wohin, nur weg! Die attraktive Frau landet ohne Gepäck und mit wenig Geld in Venedig und trifft dort auf verschiedene Männer. «Die Rothaarigen sollen ja schärfer sein als die anderen» heißt es im inneren Monolog eines ihrer machohaften Bewunderer. Aber damit hat sich’s auch schon, soviel vorweg, es geht mitnichten um Amouröses oder gar um Sex in dieser Erzählung, die temporeich einem wahrhaft absurden, vier Tage umfassenden Plot folgt, über den man sich nur wundern kann als Leser.

Zunächst begegnet Franziska Patrick, einem schwulen Iren mit eigener Yacht, der während des Krieges als Spion aufgeflogen ist und vom Gestapomann Kramer durch Folter zum Verrat an anderen Agenten gezwungen wurde. Er habe nun Kramer zufällig in Venedig wieder getroffen, wolle ihn töten und anschließend die Stadt mit seiner Yacht verlassen, er bietet ihr an, ihn zu begleiten. Die beiden Kontrahenten kennen sich und treffen sich sogar, und dabei gerät nun auch Franziska in Gefahr, denn der mafiöse Kramer fürchtet, sie könne ihn bei Interpol anzeigen. Ein zweiter Protagonist, dessen Geschichte im Wechsel mit der Franziskas erzählt wird, ist der ehemalige kommunistische Partisan Fabio, der politisch frustriert aus der KPI ausgetreten ist und nun als Geiger im Theatro La Fenice arbeitet, Franziska trifft ihn auf dem Campanile. Man begegnet ferner einem halsabschneiderischen Juwelier, – ein Jude natürlich -, bei dem die inzwischen finanziell abgebrannte Franziska notgedrungen ihren Brillantring weit unter Preis versetzt. Was dann überraschend – und völlig unlogisch – Kramer auf den Plan ruft, der den Juwelier unter Drohungen dazu bringt, ihr nachträglich einen angemessenen Preis zu zahlen.

Es geht immer weiter so in dieser Kriminal-Groteske, die von einem Klischee-Fettnäpfchen ins nächste stolpert und deren Ende so kitschig war, dass der Autor sich veranlasst gesehen hat, 1972 eine überarbeitete Neufassung herauszugeben, bei der das Ende offen bleibt. Dass oral im Bier zugeführtes Strychnin nicht zum Mord geeignet ist, da man es selbst in extremen Verdünnungen herausschmeckt, ist dem Autor entgangen, es gibt Hanebüchenes mehr. Sprachlich ist der Roman uninspiriert, völlig humorfrei zudem, stilistisch dominieren oft mitten im laufenden Text einsetzende innere Monologe, hier jeweils kursiv abgesetzt, ergänzt noch um in Kleinschrift gesetzte Traumsequenzen. Patrick und Fabio sind als potentielle Gegenspieler unglaubwürdig, und völlig deplaziert ist auch der Kampf zwischen Ratte und Katze, er hat nicht das Geringste mit der Handlung zu tun. «Grauenhaft und kitschig» lautete einst das Verdikt von Marcel Reich-Ranicki, «dass der Roman ‹ein wichtiges Werk der deutschen Nachkriegsliteratur› sei, ist Mumpitz und Humbug». Dem ist meinerseits nichts hinzuzufügen!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Am grünen Strand der Spree

scholz-1Decamerone in der Jockey-Bar

«So gut wie ein Roman» lautet der ironische Untertitel eines der unterhaltsamsten Bücher, die ich seit vielen Jahren gelesen habe. «Am grünen Strand der Spree», 1955 erschienen und ein geradezu sensationeller Erfolg damals, ist heute nur noch antiquarisch zu haben. Und auch dessen Verfasser Hans Scholz ist, trotz einer Neuausgabe der berühmten fünfteiligen Fernseh-Verfilmung auf DVD, – ein echter «Straßenfeger» zu jener Zeit -, und trotz diverser TV-Wiederholungen, als Autor inzwischen leider weitgehend in Vergessenheit geraten. Seinem wie ein Komet am Literaturhimmel aufleuchtenden Debütroman folgte nämlich kein weiterer.

Am Abend des 26. Aprils 1954 treffen sich einige Männer in der Jockey-Bar in der Nähe des Kurfürstendamms in Berlin, Anlass ist die Rückkehr ihres Freundes, des Majors Hans-Joachim Lepsius, aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Als Gastgeber fungiert im Auftrag und gesponsert von des Heimkehrers wohlhabendem Vetter, der selber verhindert ist, der Werbefilmproduzent Hans Schott, die Runde wird vervollständigt durch den Maler Fritz Georg Hesselbarth und den Schauspieler Bob Arnoldis. Zu später Stunde gesellen sich der trinkfesten Runde weitere Teilnehmer hinzu, und am hellen Morgen, so lange dauert das Treffen, taucht dann auch noch Barbara Bibiena genannt Babsy auf, eine von allen gleichermaßen verehrte Frau, «Sie ist nach wie vor so schön, dass ihr Anblick Kranke heilen kann» heißt es im Roman. Die Vorlage für seine Figur, ließ der Autor wissen, lieferte ihm die erste deutsche Miss Germany, Susanne Erichsen.

Nach Art von Boccaccios «Decamerone» werden an diesem Abend Geschichten erzählt oder vorgelesen, beginnend mit dem Kriegstagebuch eines verschollenen Freundes, der den deutschen Einmarsch 1941 in Russland und die SS-Gräuel, die er dabei miterlebt hat, sehr anschaulich beschreibt. Von der weit angenehmeren, da kampflosen Etappe im besetzten Norwegen erzählt ferner eine Spionage-Geschichte, die Gespräche der Fahrgäste einer Busfahrt wiederum zeugen sehr real von den profanen Alltagsproblemen des damals noch Ostzone genannten Arbeiter- und Bauern-Paradieses. Eine in den Siebenjährigen Krieg, in die Schlacht bei Kunersdorf 1759 zurückreichende Geschichte aus der Chronik der Familie Bibiena wird verlesen, eine weitere Episode um ein Soldatengrab vom Ende des Zweiten Weltkriegs im Wald nahe Berlin wirft einige Rätsel auf. Ferner wird eine höchst amouröse Geschichte aus Italien erzählt sowie eine eigentlich unmögliche Romanze aus einem amerikanischen Gefangenenlager in Frankreich. Meist stehen übrigens Frauen im Zentrum dieser Geschichten, als roter Faden quasi wirkt dabei die Figur der Babsy, die immer wieder mal auftaucht in den verschiedenen Erzählungen, sie ist bis zum glücklichen Ende präsent.

Äußerst virtuos spannt Hans Scholz die Fäden seines Plots zwischen den Figuren sowie zwischen den Epochen, in denen sie agieren, zu einem dichten Handlungsnetz zusammen, wobei ein mosaikartiges Bild Berlins und der beiden Deutschlands entsteht. Er benutzt dabei sprachlich eine Melange aus gehobenem Berlinisch, dem gemäßigten Dialekt gutbürgerlicher Kreise also, einen sehr saloppen Kasino-Jargon der Militärs, die ironisch übertriebene, fast schon snobistische Sprechweise äußerst gutgelaunter Intellektueller, die Musikersprache sowie das Idiom einschlägig geprägter Barbesucher. Er habe, sagte Scholz dazu, «nur aus meinen ewigen Saufereien ein bißchen Kapital geschlagen» für seinen Roman. Geistreicher Witz mithin ist das beherrschende Stilmittel dieses Ausnahme-Erzählers, der die Menschlichkeit selbst in den bedrückenden Passagen seiner Geschichten obsiegen lässt, eine erzählerische Meisterleistung, wie das Feuilleton damals jubelte, – auf Augenhöhe mit Tucholsky, füge ich hinzu! Die lebensecht beschriebenen Teilnehmer dieser ebenso feuchtfröhlichen wie intellektuellen Tafelrunde jedenfalls bleiben dem schmunzelnden Leser noch lange nach der Lektüre sehr angenehm im Gedächtnis.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by VAT Verlag André Thiele Mainz

Schau heimwärts, Engel

wolfe-1Vom «feinsten Scheitern»

Den 1929 erschienenen Debütroman «Schau heimwärts, Engel» des amerikanischen Schriftstellers Thomas Wolfe nannte Hermann Hesse damals «Die stärkste Dichtung aus dem heutigen Amerika», und auch die Nobelpreisträger Faulkner und Lewis schätzten ihren Kollegen literarisch sehr hoch ein. Ein Riesenerfolg also gleich auf Anhieb, an den spätere Werke des früh verstorbenen Autors nicht mehr anknüpfen konnten. Seit 2009 liegt dieser inzwischen zum Klassiker avancierte Roman nun in einer überzeugend gelungenen Neuübersetzung vor.

Wir haben es mit einem typischen Entwicklungsroman zu tun, dessen Held Eugene eingebettet ist in eine kinderreiche Familie mit markanten, lebenshungrigen Charakteren, deren wechselvolles, unangepasstes Leben letztendlich das fatale Scheitern des American Dream widerspiegelt. Die autobiografischen Bezüge in diesem Erstling sind überdeutlich, so zum Beispiel der unschwer als Thomas Wolfes Geburtsstadt Ashville in North Carolina erkennbare Handlungsort, – was ihm denn auch prompt einigen Ärger einbrachte bei seinen Mitbürgern, die sich im Roman wieder erkannten und verunglimpft fühlten. Aber auch viele Gemeinsamkeiten in der Familie und insbesondere im Werdegang seines Helden sind unübersehbar, er fühlt sich ebenfalls zum Schriftsteller berufen, und auch sein Vater ist Steinmetz. So ist also der «mit einem Lächeln milder Statueneinfalt» aus Granit gemeißelte Engel im Roman nicht nur titelgebend, sondern wird schon auf der zweiten Seite auch leitmotivisch eingesetzt, er begleitet den Leser fortan ganz ohne religiöse Konnotation als sinnfällige Metapher für ein wohlbehütetes Leben.

Es ist das Auf und Ab im Daseinskampf, die Widersprüchlichkeit des Lebens, die den heranwachsenden, hochbegabten Eugene zunehmend verzweifeln lässt. Seinem stadtbekannten Vater als versoffenem, schwadronierendem Künstlertyp mit großer Attitüde steht die äußerst energische, geschäftstüchtige, aber geradezu krankhaft geizige Mutter gegenüber. Er und seine Geschwister stehen zwischen diesen Fronten eines nimmer endenden Ehekriegs ihrer völlig entzweiten Eltern, deren konträre Visionen ebenso kläglich scheitern wie die ihrer höchst verunsicherten Kinder. Ihnen allen ist kein Glück beschieden, und Eugene erlebt gleich bei seiner ersten Liebe einen schnöden Verrat, der den Gutgläubigen völlig aus der Bahn wirft. Sein Glück, soviel ahnt er dann als unschlüssig dahin Treibender nach dem Ende seines Studiums, liegt in ihm selbst, nicht in der großen weiten Welt, in die es ihn hinauszieht, in die er sich geradezu flüchten will auf der Suche nach Lebenssinn und Erfüllung.

Vom «feinsten Scheitern», wie Faulkner es umschrieb, handelt dieser stilistisch hochklassige Roman, der mit einigem Pathos erzählt wird. Er überzeugt mit einer geradezu genialen Beschreibungskunst, mit lebensecht gezeichneten Figuren und stimmigen Dialogen, mit einer sinnreich ausgeklügelter Metaphorik vor allem, die ihresgleichen sucht. Die Stofffülle ist selbst nach den radikalen Kürzungen des Manuskriptes noch sehr üppig geblieben, der gleichwohl ziemlich handlungsarme Roman erfordert zudem mit seiner geradezu ausufernden Intertextualität und den vielen historischen, politischen und kulturellen Anspielungen, – die hilfreichen Anmerkungen hierzu umfassen allein 45 Buchseiten mit 614 Verweisen -, so einiges an Durchhaltevermögen beim Leser. Der episodische Roman schildert in seiner stärksten Szene sehr ergreifend einen qualvollen Todeskampf und endet mit einer ebenso faszinierenden Geisterszene, in der Eugene auf seinen verstorbenen Bruder Ben trifft, der ihm als Todesengel die Tür zur scheinbar entschwundenen Welt weist, die in ihm selber läge. Der «Homer des modernen Amerika», wie Kritiker ihn überschwänglich nannten, folgte seiner Theorie «Wir sind die Summe aller Augenblicke unseres Lebens». Entsprechend weit verzweigt und üppig ist das Geflecht unzähliger Impressionen in diesem an den «Ulysses» angelehnten, grandiosen Klassiker.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Chaos: 429 Tage ohne Strom

ChaosChristin und ihre Dorfmitbewohner werden von dem flächendeckenden Stromausfall hart getroffen. Es ist Winter, die Vorräte sind knapp und niemand weiß, wann es wieder Elektrizität geben wird. Um zu überleben, muss sich die Dorfgemeinschaft neu organisieren.
Als die nahegelegene Großstadt zu brennen beginnt, flüchten Tausende von hungrigen, verzweifelten Menschen aufs Land. Mit ihnen kommen Krankheit, Verwüstung und Tod. Die Werte menschlichen Miteinanders werden im Kampf ums eigene Überleben auf eine harte Probe gestellt. Christin erzählt von dem beinahe aussichtslos erscheinenden Kampf gegen Hunger, Angst und dem Schrecken von Verbrechen und Vergeltung.

Christin und ihr Mann leben in einem 300-Seelendorf irgendwo in Schleswig-Holstein. Es beginnt damit, dass eines Tages das Licht immer wieder mal anfängt zu flackern oder der Strom kurzzeitig ausfällt. Nach kurzer Zeit werden die Stromausfälle immer länger, und eines Tages bleibt der Strom komplett weg. Die Menschen in dem kleinen Ort wissen nicht, was passiert is,t denn Radio, Fernsehen und Internet gibt es nicht mehr, und auch als der Strom noch teilweise vorhanden war, erfuhren die Menschen nicht, was die Ursache für die Stromausfälle ist, nur dass an einer Lösung gearbeitet wird.

Christin und ihr Mann haben sich notdürftig mit Wasser und Lebensmitteln eingedeckt. Aber nach ein paar Wochen wird Ihnen klar, dass etwas ganz gewaltig im Argen liegen muss und der Strom wohl so schnell nicht wiederkommen wird. Dies bedeutet aber auch, dass es bereits nach ein paar Wochen keine neue Lebensmitteln in der Geschäften, kein Benzin, keine ärztliche Versorgung und keine Medikamente mehr geben wird, denn unsere heutige Gesellschaft ist extrem abhängig vom Stromnetz. Bricht das Stromnetz zusammen, dann bricht auch alles andere ziemlich schnell zusammen und das normale Leben kommt zum Erliegen.

Christin, ihr Mann und die Dorfbewohner sind noch recht gut dran, denn sie leben auf dem Land. Vor der Haustür gibt es Wälder und die Natur bietet einigermaßen Wasser und Nahrung. Aber die Menschen aus den nahe gelegenen größeren Städten sind gezwungen, diese zu verlassen, um überleben zu können, und es dauert nicht lange,  bis unzählige hungrige und verzweifelte Menschen das kleine Dorf erreichen, das selbst ums Überleben kämpfen muss.

Dies war nach „Rattentanz“ und „one second after“ das dritte Buch, das ich zum Thema “Apocalypse-Stromausfall” gelesen habe. Das Besondere an diesem Buch ist, dass es zur Abwechslung mal aus der Sicht von einer schon etwas älteren Frau erzählt wird. Ihr genaues Alter erfährt man nicht. Aber Christines Töchter sind beide bereits erwachsen und Ihre Enkelkinder sind 7, 4 und 2 ½ Jahre alt. Die gesamte Geschichte wird in Tagebuchform erzählt, welches von Christin geführt wird. Der Leser liest also ausschließlich ihre Aufzeichnungen, die sie ungefähr jeden zweiten Tag niederschreibt.

Christin tut dies für sich selbst aber auch für die Nachwelt, denn schließlich weiß sie nicht, was noch alles passieren wird. Da die gesamte Geschichte ausschließlich Ihre Tagebuchaufzeichnungen umfasst, weiß der Leser auch nur, was Christin weiß, selbst mitbekommen oder durch andere Leute erfährt, es gibt keinen allwissenden Erzähler.

Interessant fand ich auch, dass es kaum Namen gibt und man das ganze Buch über nicht weiß, wie die einzelnen Leute eigentlich heißen. Da es sich um Christins Aufzeichnungen handelt, erfährt man hauptsächlich, wie es ihr und ihrer Familie ergeht, aber sie spricht immer nur von „meinem Mann“, „meiner großen Tochter“ oder von „meinem Schwiegersohn“. Auch dass sie selbst Christin heißt, weiß man eigentlich nur durch den Klappentext. Man erfährt eigentlich nur die Namen Ihrer beiden größeren Enkelkinder und von ein paar Leuten aus dem Dorf, denen besonders schlimme Dinge wiederfahren sind oder die etwas besonders Schlimmes getan haben.

Ich denke, dass die Autorin damit zeigen will, dass Namen in einer Ausnahmesituation völlig egal sind und wir alle gleich sind. Trotz der fehlenden Namen baut man eine sehr starke Bindung zu Christin und Ihrer Familie auf ,denn schließlich liest man hauptsächlich über sie und Ihre Familie und erfährt aufgrund der Tagebuchform auch sehr viel über Ihre Empfindungen, Ängste und Gedanken.

Dadurch ist die Geschichte natürlich sehr emotional, man leidet förmlich mit Christin, ihrer Familie und den Menschen in ihrem Dorf mit und ich war an vielen Stellen sehr betroffen und hatte hin und wieder auch ein Tränchen im Auge. Ich habe das Buch verschlungen und fand es schade, dass ich die 512 Seiten so schnell durch hatte.

Das Ende hat mir auch gut gefallen ,denn es ist zwar, wie fast alle Endzeitgeschichten, offen aber man erkennt, in welche Richtung sich alles entwickeln wird und es gibt auch kein Friede-Freude-Bratkartoffel-Ende. Eine wirklich tolle, spannende, emotionale und erschreckend realistische Geschichte, die einem zeigt, wie schnell es in unserer hochentwickelten Welt doch zum Ausnahmezustand kommen kann. Eine Geschichte über Stärke, Not und Verzweiflung, über Zusammenhalt, Einfallsreichtum, Familiensinn und Menschlichkeit.

Ein großartiges Buch, ich kann es nur wärmstens empfehlen!

Bianca Bolduan ist Autorin und Unternehmerin und lebt mit ihrem Mann auf dem Land bei Bad Segeberg in Schleswig-Holstein. Sie engagiere sich für Tier- und Umweltschutz und für Obdachlose.
Seit 2010 schreibt sie ehrenamtlich für eine Straßenzeitung in Neumünster und hat im April 2013 die Buchreihe “LebensART – Ohne Dach und doch Zuhause” ins Leben gerufen. Mit dem Verkauf dieser Bücher unterstützt sie mit 50% der Erlöse Projekte für Leute, die ohne Dach über dem Kopf leben.


Genre: Dystopie, Endzeitgeschichten, Self-Publisher
Illustrated by CreateSpace Independent Publishing Platform

Homali Sagina – Wie die Viecher

Homali SaginaImmer mehr Personen verschwinden spurlos aus Lindas Umfeld. Als schließlich sogar ihre geliebte Mutter wie vom Erdboden verschluckt ist, macht sie sich auf die Suche nach ihr. Eine Suche, die jedoch schnell in einem nicht enden wollenden Albtraum endet.
Auf dem Planeten Homali Sagina werden Menschen von Außerirdischen wie Tiere in enge, stinkende Käfige gesperrt und zur Gewinnung von Fleisch, Milch und Kleidung missbraucht. Menschen die gequält, ausgebeutet und geschlachtet werden, um die Gier einer überlegenen Spezies zu befriedigen.

Linda ist Mitte 20 und arbeitet, nicht besonders glücklich, als Krankenschwester in einem großen Krankenhaus. Dass Sie dort nicht glücklich ist, liegt aber nicht daran, dass Sie Ihren Job nicht mag, sondern eher an den Kolleginnen. Außerdem gibt es noch den Arzt Dr. Tristan Schönbeck, der ein Auge auf Linda geworfen hat und sie immer wieder belästigt.

Zu Hause wartet dann auch noch ihr fauler Freund Sven auf sie, der sein Leben nicht auf die Kette bekommt, ständig sein Studienfach wechselt und eigentlich lieber den ganzen am PC spielt als zur Uni zu gehen oder zumindest im Haushalt zu helfen.

Als dann auch noch Lindas Mutter verschwindet, ist das alles zu viel für sie, und Linda beginnt auf eigene Faust, nach ihr zu suchen. Die Suche endet aber, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat, und Linda erwacht in einem engen Käfig, auf einem fremden Planeten zwischen anderen entführten Menschen und ausgerechnet der verhasste Dr. Schönbeck sitzt auch noch in diesem Käfig …

Eine sehr ungewöhnliche Geschichte und eine sehr ungewöhnliche Lektüre für mich, denn Science-fiction ist eigentlich  nicht mein Ding. Die Geschichte klang aber so interessant und ausgefallen, dass ich dem Buch einfach eine Chance geben wollte, und ich habe es absolut nicht bereut!

Etwas gewöhnungsbedürftig fand ich die Außerirdischen, die von der Autorin geradezu lächerlich beschrieben werden. Es handelt sich um orangefarbene, knetgummiartige Wesen mit Elefantenrüsseln und Tentakeln auf dem Kopf, die sich durch meerschweinchen-ähnliche Laute verständigen, und ich dachte noch: „Na, das kann ja nichts werden.“ Wie sehr ich mich da doch getäuscht habe ,denn ihr lächerliches Aussehen machen die Außerirdischen vom Planeten „Homali Sagina“ durch ihre extrem grausamen Taten wieder wett und bilden somit einen krassen und sehr interessanten Kontrast.

Die Geschichte ist extrem heftig, blutig, brutal und absolut nichts für Leser mit schwachen Nerven oder empfindlichen Mägen. Selbst mir ist an einigen Stellen  flau geworden.

Das Krasse an der Geschichte ist aber, dass den Menschen auf Homali Sagina wirklich nichts anderes angetan wird, als das, was wir auf der Erde täglich Millionen von Tieren für die Fleischindustrie antun. Es wird gemästet, gerupft, geschlachtet, kastriert, gezüchtet und gemolken, nur dass es sich auf Homali Sagina nicht um Tiere, sondern um Menschen handelt, die dies alles über sich ergehen lassen müssen.

Im Prinzip weiß man selbstverständlich ,dass das alles nicht ungewöhnlich ist. Aber der Mensch ist ja Weltmeister im Verdrängen, und diese Taten bekommen einen ganz anderen Stellenwert ,wenn man sich vorstellt, dass wir Menschen so behandelt werden würden, wie wir tagtäglich die Tiere behandeln, obwohl das ja eigentlich keine Rolle spielen sollte.

Die Autorin hat mit diesem Buch  eine großartige Geschichte geschaffen, um auf die unzähligen Missstände in der Massentierhaltung und der Fleischindustrie aufmerksam zu machen und vielleicht sogar den einen oder anderen Verbraucher dazu zu bewegen, respektvoller/bewusster mit Fleisch umzugehen.

Der Roman ist zwar in sich abgeschlossen, aber gleichzeitig auch offen, so dass ich persönlich auf eine Fortsetzung hoffe, denn mir hat das Buch ausgesprochen gut gefallen. Ich habe es regelrecht verschlungen, denn es war ungewöhnlich, spannend, sehr krass und mal etwas völlig anderes.

Absolut zu empfehlen, aber nur für abgehärtete Leser mit unempfindlichen Mägen, die es gern grausam, brutal und blutig haben.

Marie Wigand wurde 1988 in Zittau geboren und im Kreis Kaiserslautern aufgewachsen. Sie lebt heute mit Ihrem Mann und drei Kindern in Niedermohr. Sie studierte Germanistik und evangelische Theologie, danach machte sie ihren Abschluss zur Staatlich geprüften technischen Assistentin für Biologie und ist überzeugte Vegetarierin.

 


Genre: Science-fiction, Thriller
Illustrated by Books on Demand

Flauberts Papagei

barnes-4Ein Vexierspiel

Mit «Flauberts Papagei», seinem dritten, 1984 für den Booker Prize nominierten Roman, gelang dem britischen Schriftsteller Julian Barnes der Durchbruch. Inzwischen liegt ein stattliches Œuvre dieses Autors vor, der literarisch der Postmoderne zugerechnet wird. Kennzeichnend für seine subjektivistische Prosa sind zum einen die Betrachtungsweise aus einer dezidiert individuellen Perspektive, ferner seine häufige Beschäftigung mit historischen Themen sowie sein deutlich spürbares Faible für französische Lebensart und Literatur. Wobei Letzteres viele intertextuelle Bezüge mit einschließt, im vorliegenden Roman natürlich vor allem zu dem literarischen Olympier Gustave Flaubert. Und, – last, but not least -, gehört natürlich auch der typisch britische Humor dieses Romanciers dazu, dessen hintergründige Ironie ja schon im Titel des Romans aufblitzt.

Protagonist und Ich-Erzähler ist Geoffrey Braithwaite, Landarzt im Ruhestand und als Privatgelehrter ein geradezu fanatischer Flaubert-Forscher. Seine Spurensuche durch Museen  und Archive, durch Bibliotheken und Antiquariate bezieht auch jenen ausgestopften Papagei mit ein, der als Leihgabe zeitweise auf dem Arbeitstisch des Romanciers stand und ihm wohl als Inspirationsquelle diente. In «Ein schlichtes Herz», erste Erzählung des erfolgreichen Triptychons «Trois Contes» von 1877, jenem spöttischen Abgesang auf illusionäre Idealsuche, spielt der Vogel denn auch eine tragende Rolle. Barnes benutzt ihn als Leitmotiv in seinem Roman und erzählt in 15 Kapiteln von den laienhaften Forschungen des verwitweten Arztes. Dabei bleibt kein Aspekt aus der Vita des verehrten Schriftstellers ausgespart, seine Liebesaffären werden ebenso thematisiert wie seine zurückgezogene Lebensweise und diverse Marotten, zu denen zum Beispiel sein Hass auf die Eisenbahn gehört. Im Kapitel «Die Flaubert-Apokryphen» wird lebhaft über seine nicht geschriebenen Bücher spekuliert, in anderen stehen seine Beziehung zu Tieren im Vordergrund, und natürlich auch die gesellschaftlichen Anfeindungen, die der Roman «Madame Bovary» hervorgerufen hatte, ein gefährlicher juristischer Strudel damals, aus dem er glänzend rehabilitiert wieder aufgetaucht ist.

Selbstverständlich ist diese eindeutig bekannteste Romanfigur Flauberts im Roman allgegenwärtig, Julian Barnes lässt Emma Bovary geradezu lebendig werden, erhebt die Ehebrecherin beinahe zu einer historischen Figur. Und so wird denn auch die köstliche Anekdote erzählt, dass man in Hamburg schon ein Jahr nach Erscheinen des Romans eine «Bovary» mieten konnte, eine zum Kopulieren zweckentfremdete, ziellos herumfahrende Pferdedroschke, so benannt in Anspielung auf die berühmte Fiakerszene. Der Protagonist kann sich nach einem Museumsbesuch dann auch die Anmerkung nicht verkneifen, dass ihm die ausgestellten Droschken aus jener Zeit beängstigend klein vorgekommen sind und allesamt kaum geeignet seien für den von Flaubert ersonnenen, zweckentfremdeten Gebrauch. Typisch Barnes!

Mit seinem dilettierenden Literaturforscher Braithwaite karikiert der Autor gekonnt die ganze Zunft, weist auf Absurditäten und Hirngespinste hin, denen da so übereifrig nachgegangen wird. Ein Leser, der Flaubert nicht kennt, nichts von ihm gelesen hat, wird kaum auf seine Kosten kommen bei dieser Eloge auf den berühmten Romancier, zu häufig wird doch auf dessen Werk Bezug genommen. Das Fiktionale des Romans wird hier durch massenhaft Historisches unterfüttert, man glaubt sich beim Lesen zuweilen eher in einer Schriftsteller-Biografie angesichts der vielen Daten und Fakten, die da ausgebreitet werden. Aber die Rahmenhandlung mit ihrem Ich-Erzähler holt einen dann doch immer wieder ins Fiktionale zurück. Der experimentell aufgebaute Plot ist hervorragend durchdacht mit vielen stimmigen Verweisen, er wird in einer brillanten Sprache erzählt und vermittelt en passant eine Menge Wissenswertes über Gustave Flaubert. Einfach zu lesen ist dieses gekonnte Vexierspiel allerdings nicht.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Wer die Nachtigall stört

lee-1Neues von der Spottdrossel

Mit dem 1960 unter dem Titel «To Kill a Mockingbird» veröffentlichten Roman ist die US-amerikanische Schriftstellerin Harper Lee weltberühmt geworden, sie bekam im Jahr darauf den Pulitzerpreis. Nach «Wer die Nachtigall stört» wurde von ihr 55 Jahre lang nichts mehr veröffentlicht, laut eigener Aussage, weil sie den Vergleich eines neuen Buches mit ihrem so überaus erfolgreichen Debüt fürchtete. Die Spottdrossel, Wappenvogel etlicher Südstaaten der USA, wurde in der deutschen Ausgabe zur «Nachtigall», aus dem «Töten» wurde weniger martialisch ein «Stören», Beides ist eine treffende Metapher dafür, wie durch menschliche Vorurteile, durch stupiden Rassenhass nämlich, schreiendes Unrecht entsteht, die Idylle zerstört wird. Der weltweit mehr als 40 Millionen Mal verkaufte Roman, schon 1962 kongenial verfilmt mit Gregory Peck, hat inzwischen den Status eines zeitlosen Klassikers. Auf Deutsch liegt er, in einer nach mehr als fünfzig Jahren erstmals überarbeiteten Übersetzung, jetzt neu vor, versehen mit einem informativen Nachwort von Felicitas von Lovenberg.

Harper Lee wird mit Truman Capote, William Faulkner, Carson McCullers, Tennessee Williams und vielen anderen Autoren der Southern Gothic zugerechnet, eine von Gewalt und Armut geprägte, kritische Südstaatenliteratur, zu der neben skurrilen Figuren und makabren Geschehnissen als integrales Element der Aberglaube und die Angst vor Geistern gehört. Auch hier im Roman überspannt die panische Angst der Kinder vor einem menschenscheuen Nachbarn, über den allerlei gruselige Geschichten kursieren, klammerartig den Plot.

Der Roman ist zeitlich in den Jahren 1933 bis 1935 angesiedelt, also in der als «Great Depression» bezeichneten Wirtschaftskrise, Handlungsort ist die fiktive Kleinstadt Maycomb in Alabama. Erzählt wird aus der Perspektive der ungewöhnlich selbstbewussten, aufgeweckten achtjährigen Jean-Louise, die von allen nur Scout genannt wird und einen nicht minder cleveren, vier Jahre älteren Bruder namens Jem hat. Ihr alleinerziehender Vater ist der von allen geachteter Anwalt Atticus Finch, ein äußerst geradliniger, integrer Mann, der für sie nicht nur Autorität verkörpert, sondern auch ihr um Antworten nie verlegener Lehrer und kumpelhafter Freund ist, die Kinder nennen ihn wie selbstverständlich immer nur beim Vornamen. Der zweiteilige, in 31 Kapitel gegliederte Entwicklungsroman behandelt im ersten Teil die Kindheit von Scout und Jem, deren Erziehung zu einem nicht unwesentlichen Teil in den Händen der resoluten, aber stets wohlmeinenden farbigen Haushälterin Calpurnia liegt. Im zweiten Teil wendet sich der Plot dem beherrschenden Thema des Romans zu, der angeblichen Vergewaltigung einer jungen Weißen durch einen Neger. In dem Prozess vertritt Atticus den farbigen Angeklagten, was ihm – und damit auch seinen Kindern – von fast allen Einwohnern der Stadt sehr übel genommen wird in ihrem dumpfen, blinden Rassenhass.

Besonders erfreulich war für mich neben der klug durchdachten Handlung mit ihren vielen lebensecht beschriebenen, markanten Figuren die stilsichere, lebendige Sprache von Harper Lee, leicht lesbar mit stimmigen Dialogen. Ihre warmherzige Story ist tiefsinnig und ethisch belehrend, sie behandelt Gewissen und Gerechtigkeit, ohne didaktisch moralisieren zu wollen, aber immer messerscharf zwischen gut und böse unterscheidend. Was die Lektüre jedoch vollends zum Hochgenuss werden lässt ist der unterschwellige Humor der Autorin, im Roman realisiert durch die kindliche Erzählperspektive der burschikosen Ich-Erzählerin und ihre ebenso naiven wie verschmitzten Gedankengänge, die den Leser immer wieder schmunzeln und oft auch laut auflachen lassen. Obwohl ruhig und unaufgeregt erzählt, enthält die Story durchaus Spannung und wartet mit überraschenden Wendungen auf. Letztendlich aber ist es die phänomenale Leichtigkeit, mit der das alles erzählt wird, die uns staunen macht bei dieser überaus erfreulichen Lektüre.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Fahrenheit 451

bradbury-1Albtraum für Bibliophile

Im Œuvre von so manchem Schriftsteller dominiert ein einzelnes Werk, überragt die anderen und begründet explizit seinen Ruhm. Im Falle des amerikanischen Autors Ray Bradbury ist es der 1953 erstmals erschienene Science-Fiction-Roman «Fahrenheit 451». Dessen Dominanz wird deutlich, wenn man weiß, dass der 2012 verstorbene Bradbury schon zu Lebzeiten seine Grabstelle ausgesucht und mit einem Stein markiert hatte, auf dem er «Author of Fahrenheit 451» einmeißeln ließ. Der dystopische Roman wurde mehrfach überarbeitet, von François Truffaut verfilmt, diente ferner als Vorlage oder Inspirationsquelle für weitere Filme, für Hörspiele, Theaterstücke und Comics. Der Titel bezeichnet – nach einer irrigen Annahme des Autors – die Temperatur, bei der sich Papier ohne äußere Einwirkungen angeblich selbst entzündet. Und damit wird gleich auch auf die Thematik des Romans hingewiesen, es geht um papierne Bücher.

In einem utopischen Staat, der die Bevölkerung ungebildet und damit vor allem unmündig halten will, sind der Besitz und das Lesen von Büchern streng verboten, es gilt als destabilisierend für die Gesellschaft, darin sind sich alle einig. Die Feuerwehr wird nun, da sämtliche Häuser aus nichtbrennbaren Materialien gebaut sind, nicht mehr benötigt, sie hat die neue Aufgabe, Bücher aufzuspüren und zu verbrennen. Statt Wasserspritze ist jetzt der Flammenwerfer das Arbeitsgerät der Feuerwehrleute, die auf ihren Uniformen neben der Zahl 451 den Salamander tragen als Symbol, also jenes Tier, das der Legende nach im Feuer leben kann. Der Begriff «The Fire Man», wie der Titel der ersten Fassung lautete, ist übrigens doppeldeutig, er bezeichnet den Bekämpfer des Feuers ebenso wie den Feuerleger. Der Protagonist des Romans, der Feuerwehrmann Guy Montag, zweifelt zunehmend an dem unmenschlichen System. Er beginnt heimlich Bücher zu sammeln und lernt durch die Begegnung mit Clarisse, einem 17jährigen Mädchen, den Wert von Kultur und Natur schätzen. «Sind Sie glücklich?» lautet ihre scheinbar naive Frage, die ihn vollends aus der Bahn wirft bei seiner Sinnsuche. Als er in dem ehemaligen Literaturprofessor Faber dann auch noch einen Mentor findet, eskaliert seine innere Auflehnung und endet schließlich äußerst dramatisch. Er flüchtet in die Wälder und beobachtet von Ferne den schon lange vorausgesagten Kriegsausbruch, der diese fragwürdige Zivilisation denn auch mit einem Schlage vernichtet.

Von den Visionen des prophetischen Autors ist manches tatsächlich real geworden. Den Büchern als Quell von Wissen, das zu unterdrücken sei, entsprachen die Störsender, mit denen zum Beispiel in der DDR der Radioempfang aus dem Westen unterbunden wurde, und Westfernsehen war dort ebenfalls unerwünscht und mit Sanktionen belegt. Die «Fernsehwände» des Romans sind in den großformatigen Flachbildschirmen oder Beamern unserer Zeit schon fast realisiert, die winzige Abhörwanze im Ohr ebenfalls, selbst die heutigen mörderischen Autorennen durchgeknallter Jugendlicher finden bereits im Roman von 1953 statt. Und die gezielte Verdummung der Massen mittels geistloser Dauerbespaßung im Fernsehen ist heutzutage ebenfalls weitgehend Realität geworden.

Er habe, hieß es in einem Artikel zum Tode des 91jährigen Autors, «ein Mahnmal gegen staatliche Zensur» geschaffen. Der Roman ist in meinen Augen darüber hinaus vor allem eine harsche Gesellschaftskritik, völlig zeitlos in ihrer Anklage gegen die Unterdrückung der Massen durch eine unsichtbar agierende Elite. Im Nachwort unter dem Titel «Feuerspracht» hat Bradbury die Entstehungsgeschichte seines Romans ungewöhnlich detailliert geschildert, – aber auch deutlich zu eitel! Der Plot erscheint mir als einem das Genre generell ablehnender Leser, – Franz Werfels «Stern der Ungeborenen» sei ausgenommen -, geradezu hölzern und unplausibel, die sprachliche Umsetzung ist zudem ziemlich uninspiriert. Gleichwohl, ich zähle diesen Roman zu den Klassikern, die man gelesen haben sollte.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Heyne München

Manhattan Transfer

dos-passos-1Big Apple als Protagonist

Zu den großen Romanen der Weltliteratur, deren Thematik Großstädte bilden, gehört neben «Ulysses» und «Berlin Alexanderplatz» vor allem «Manhattan Transfer» von John Dos Passos. Das nach einem Umsteigebahnhof benannte, 1925 erschienene Buch aus seinem Frühwerk war der erste größere Erfolg dieses Schriftstellers. Er hatte damit und mit der wenig später erschienenen USA-Trilogie nach einhelliger Meinung der Literaturkritik den Höhepunkt seines Schaffens erreicht. Wie Joyce in seinem drei Jahre früher erschienenen Jahrhundertroman wendet Dos Passos hier erstmals den Bewusstseinsstrom an. Er erzählt strikt aus der jeweiligen Perspektive seiner vielen Figuren, verbalisiert daneben aber ebenso bedeutungsschwer auch ihre spontanen, bruchstückhaften, unreflektierten Gedanken. Mit seinen 42 Romanen und vielen anderen literarischen Werken gilt er als einer der Väter des modernen Erzählens.

Der dreigliedrig angelegte Roman mit seinen achtzehn Kapiteln, deren jeweilige Thematik in einer Überschrift umrissen und in einer kursiv gesetzten Einleitung näher ausgeführt wird, ist collageartig ohne stringente Handlung erzählt. Erzählgegenstand ist das urbane Leben New Yorks, die drei Jahrzehnte vor dem Erscheinen des Buches umfassend, und der wahre Protagonist ist hier die Metropole selbst, die ein Eigenleben zu führen scheint. Die in kurzen Ausschnitten geschilderten Begebenheiten aus dem Leben der annähernd hundert Romanfiguren bilden einen repräsentativen Querschnitt der Masse Mensch in diesem großstädtischen Moloch. Viele dieser Figuren tauchen nur kurz auf und verschwinden dann für immer, andere stehen mehr im Blickpunkt, ihr Leben wird ausführlicher und den ganzen Roman hindurch thematisiert. Sie alle verkörpern die unterschiedlichsten Umstände und Situationen urbanen menschlichen Lebens und spiegeln die gesamte Gesellschaft. Die auktoriale Erzählweise beschränkt sich dabei stets auf persönliche Beobachtungen und Erfahrungen des Figurenensembles, der Leser nimmt also voyeuristisch nur das wahr, was die jeweilige Figur selbst sieht und erlebt. Immer aber ist dabei die Megacity als dominanter Faktor präsent, ist bestimmend für Glück und Unglück, Freude und Leid, Gelingen und Scheitern, übt die eigentliche Macht aus.

Wie in einem Film mit übergangslosen schnellen Schnitten und ständigen Perspektivwechseln ist «Manhattan Transfer» durchgehend fraktal erzählt, oft absatzweise zwischen den Ereignissen hin und her springend, was die Hektik der quirligen Metropole gekonnt verdeutlicht. Ein solcher Kamerablick lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers oft auch auf ganz unbedeutende Details, die richtig einzuordnen ihm überlassen bleibt. Eine Montagetechnik, deren durch Zeitdokumente angereicherte Erzählschnipsel übrigens oft in Form realitätsnaher Dialoge erzählt werden, mit Gassenjargon wie auch mit fremdsprachlichen Einschüben angereichert. Selbst völlig unbedeutende, nur kurz auftauchende Randfiguren werden jeweils wunderbar stimmig – in wenigen Worten – einprägsam beschrieben. Und immer steht der Mensch im Mittelpunkt der Erzählung, Orte und Umgebungen, oft Restaurants, sind lediglich die knapp skizzierte Bühne für ihr Handeln. Big Apple selbst aber, der eigentliche Protagonist also, wird schlaglichtartig in seinen vielen Facetten beschrieben, als eigenständige Existenz quasi, mit Gerüchen, Geräuschen, Bewegungen, belebt mit archetypischen Figuren.

Ich habe den Roman, dessen suggestive Bildkraft ihresgleichen sucht, als herbe Kritik an einer reizüberfluteten, lebensfeindlichen Megacity gelesen. Sein melancholischer Grundton zeugt von der tiefen Skepsis des Autors, für den dieser Moloch ein Stein gewordenes Verhängnis ist, dem keine seiner Figuren heil entkommen kann, eine wahrhaft apokalyptische Vision. Ob Alkoholschmuggler, Wall-Street-Banker, Rechtsanwalt, Journalist, Schauspielerin, Näherin, Kriegsveteran, Bankrotteur, Matrose, ein glückliches Ende ist niemandem beschieden in diesem grandiosen Roman.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Eine Geschichte des Lesens

manguel-1Vom Manna des Lesens

Wem das Lesen eine Passion ist, den wird über die reine Lektüre hinaus auch das Drumherum interessieren, Infos über Autoren, Interna aus Verlagen, Daten vom Buchmarkt, das Feuilleton natürlich, aber eben auch, und nicht zuletzt, literaturwissenschaftliche Themen. «Eine Geschichte des Lesens» von Alberto Manguel ist eines dieser Sachbücher, das den nicht nur am Lesegenuss interessierten Liebhaber von Literatur schon vom Titel her neugierig macht. 1996 erstmals erschienen, wird es inzwischen als das Standardwerk zum Thema angesehen, ein dickleibiger Band in prächtiger Aufmachung mit 624 Seiten Kunstdruck, jeder Seite gespickt mit wundervollen farbigen Abbildungen. Der in Argentinien geborene Autor aus einer Diplomatenfamilie, in Israel groß geworden, ist heute kanadischer Staatsbürger, er spricht mehrere Sprachen und war literarisch als Lektor, Dozent, Autor und Übersetzer tätig, seit 2016 ist er Direktor der argentinischen Nationalbibliothek. Manguel hat, als Kind seelisch vereinsamt, selbst früh zum Lesen gefunden, er ist inzwischen ein Bibliophiler durch und durch mit einer stattlichen, 30.000 Bände umfassenden Privatbibliothek.

Seiner Historie des Lesens ist das Zitat «Lies, um zu leben» aus einem Brief von Gustave Flaubert vorangestellt, und sie beginnt mit einem 2005 hinzugefügten Vorwort des Verfassers. Darin berichtet er staunend von seiner Entdeckung «einer weltweiten Gemeinde von Lesern, die auf individuelle Weise und unter Lebensumständen, die sich sehr von meinen unterschieden, die gleichen Erfahrungen gemacht hatten wie ich und die gleichen Initiationsriten, Offenbarungen und Obsessionen mit mir teilten». In den Hauptabschnitten «Akte des Lesens» und «Die Macht des Lesers» beleuchtet Manguel in diversen Kapiteln kenntnisreich alle Aspekte seines Themas bis in die allerletzten Winkel hinein, jener vor sechstausend Jahren entstandenen kulturellen Errungenschaft, deren Auswirkungen auf das Geistesleben man nicht hoch genug veranschlagen kann. Denn erst mit der Schrift, mit Schreiben und Lesen, war das Wissen der Zeit dauerhaft gespeichert und konnte als Fundament dienen, auf das dann weitere Entwicklungen aufbauen konnten.

Erstaunt erfährt man zum Beispiel, dass sich erst ab dem neunten Jahrhundert n. Chr. das stille Lesen endgültig durchgesetzt hatte, vorher wurde meist laut gelesen, körperlich oft auch begleitet von Bewegungen des Lesers, wie sie heute zum Teil noch rhythmisch im jüdischen Gebet praktiziert werden. «Die Ursprachen der Bibel – Aramäisch und Hebräisch – unterscheiden nicht zwischen dem Akt des Lesens und dem des Sprechens, beide werden durch dasselbe Wort ausgedrückt», erfahren wir. Manguels Buch ist eine Sammlung von Geschichten, oft mit netten Anekdoten angereichert, die thematisch, nicht chronologisch gegliedert, ganz unterschiedliche Zeiten und Kulturen umfasst. Dabei schimmert immer wieder die individuelle literarische Biografie des polyglotten Autors hervor, eine Intertextualität, die den Erwartungen seiner deutschen Leserschaft kaum entsprechen dürfte, ein kleiner Wermutstropfen mithin. Ob es um die noch nicht abschließend geklärten physiologischen Vorgänge beim Lesen geht, um das Lesenlernen, das Vorlesen, den weiblichen Leser, die Orte des Lesens, die Geschichte des Papiers, der Schrift und der Buchgestaltung, um Bibliotheken, die Sammelwut der Bibliophilen, die Prestigewirkung des Buches, Bücherdiebe, Bücherverbote und Bücherverbrennungen, um die metaphorische und soziale Komponente des Lesens, dieser Band erweist sich stets als eine historische Fundgrube par excellence.

Dem Liebhaber poetisch gestalteter Texte, dem Leser im engeren Sinne also, steht, so hat es Enzensberger mal konstatiert, der Analphabet als Normalfall der Geschichte gegenüber, zum nicht geringen Teil ja auch noch heutzutage. Wer dieses informative Buch gelesen, besser gesagt studiert hat, der kann ermessen, wie leer ein solches Leben sein muss, so ganz ohne das Manna des Lesens.

Fazit: erstklassig

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Genre: Sachbuch
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main