Herzklappen von Johnson & Johnson

Der Schmerz ist das zentrale Thema des dritten Romans der österreichischen Schriftstellerin Valerie Fritsch, der in seiner vier Generationen umfassenden Geschichte die Frage aufwirft, wie Schmerz und Schuld den Menschen formen. Seine Protagonistin Alma spürt darin einem Familiengeheimnis nach, das sie als Trauma seit frühester Kindheit verfolgt und ihr keine Ruhe lässt. Alles andere als ein Wohlfühlroman also, fußt sein Impetus doch auf der zivilisatorischen Zäsur, die der Zweite Weltkrieg mit seinen Gräueln bedeutet hat. Deren Folge war die weitverbreitete Sprachlosigkeit einer ganzen Generation, zu der auch Almas Großeltern gehören. Ist es möglich, dass derart traumatische Erfahrungen über Generationen hinweg weiterwirken, und ist Empfindungslosigkeit vererbbar?

Alma wächst in einem klinisch sauberen Haushalt auf, in einer wenig anheimelnden Atmosphäre, die ihr mitunter geradezu kulissenartig vorkommt. Ihr Großvater kam aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück und leidet seither daran, dass ausgerechnet er als einer der wenigen überlebt hat und viele seiner Kameraden nicht. Er hat sich in das Schweigen geflüchtet, denn durch seine Mitwirkung bei grausamen Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung ist er zum Mörder geworden. Anders als er erzählt die kranke Großmutter, die das Haus nicht mehr verlässt und sich völlig in ihre Häuslichkeit zurückgezogen hat, Alma von der schicksalhaften Vergangenheit. Damit löst sie bei ihrer Enkelin jedoch Ängste aus, die sich zunehmend auf die Persönlichkeit der weltabgewandten, jungen Frau auswirken, die als Illustratorin arbeitet. Als sie Mutter wird, stellt sich schon bald heraus, dass ihr Sohn unter einer genetisch bedingten Analgesie leidet, dem krankhaften Fehlen von Schmerzen. Damit fehlt ihm der somatische Selbstschutz, die Warnfunktion des Schmerzes also, was auf seinen Körper verheerende Auswirkungen hat. Seine Mutter wird ständig in Atem gehalten, weil er sich dauernd irgendwo verletzt, ohne es zu merken. Sie muss ihm den Schmerz deshalb rein verbal demonstrieren, die Sprache fungiert dabei als Stellvertreter.

Mit Schmerz und Leid geht natürlich auch die Empathie-Empfindung einher. Valerie Fritsch versucht hier quasi, psychische und physische Gefühllosigkeit und das daraus resultierende Schweigen als Antipoden in eine Metapher zu binden. Sie stellt dem Schweigen des Großvaters die Sprachlosigkeit des Kindes gegenüber, das sich nicht beklagt, weil es nichts spürt. Der Großvater stirbt schließlich, «Er schwieg sich davon», heißt es im Buch, «Sein innerer Winter ergriff vollends von ihm Besitz». Drei Tage später erschießt sich die Großmutter. Nach der Doppel-Trauerfeier beginnt Alma, nacheinander die Orte der Vergangenheit zu besuchen, erst die in der Nähe, dann die entfernten. Und schließlich will sie auch nach Kasachstan, zum Gefangenenlager des Großvaters. Der Roman wirft plötzlich alle Statik ab und mutiert in den letzten zwei der zehn Kapitel zur Road Novel. Ihr Mann hat einen Auftrag bekommen zum Fotografieren von Industrie-Brachen und Fabrik-Ruinen in den Ländern des Ostens. Sie wird mitfahren und diese Reise dann bis nach Kasachstan ausdehnen. Es folgt eine wochenlange Autofahrt durch endlose Weiten, armselige Dörfer und quirlige Großstädte, jeden Tag gibt es Neues zu sehen. Und plötzlich sind sie da. «Was immer sie erwartet hatte, trat nicht ein. Der letzte Vorhang fiel nicht» heißt es am Schluss.

Stilistisch bleibt Valerie Fritsch sehr zurückhaltend, sie zeigt mehr, als dass sie beschreibt in ihrer geschliffenen, kargen Prosa. Ihre Figuren bleiben sprachlos, sie wirken, ganz ohne direkte Rede, wenig lebendig. Das wichtigste narrative Element, die medizinisch extrem seltene Schmerzlosigkeit des Sohnes, ist arg weit hergeholt, erzählerisch wenig glaubhaft umgesetzt und zudem eher beiläufig in diese Geschichte eingebaut. Das gilt am Ende auch für die spontane Reise, die thematisch ambivalent neben dem zentralen Thema der Analgesie steht.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

LTB Sonderedition: Literatur aus Entenhausen 1

Inhalt

“Die tragische Geschichte von Don-Romeo und Julia” basiert auf einem kätzischen Missverständnis. “Ducklet” hingegen muss sich mit seinem Onkel herumschlagen, der ein Opfer des Zaubertrankes Halluzinus geworden ist. Die sich daraus ergebenden Verwicklungen kosten ihn fast seine Liebe zu Odesia. Als Minnie nach langer Zeit wieder in “Nussknacker und Mäusekönig” ihre alte Tante auf dem Land besucht, erzählt sie ihr von einem seltsamen Traum. “Die Verwandlung des Gregor Ducksa” beschreibt den allseits bekannten Pechvogel Donald, wie er wieder einmal eine verhängnisvolle Pechsträhne hat. Aber ausnahmsweise gibt es für Donald diesmal eine Revanche. “Graf Phantula” hingegen treibt sein Unwesen bei den Frauen und macht sie verrückt auf rote Beete. “Gittas Sommernachtstraum” entpuppt sich leider nicht für Gitta als wahrgewordener Traum, sondern für eine Rivalin. “Der Schatz auf der Bohnenranke” endet für Onkel Dagobert nicht so wie erhofft. In “Des Widerspenstigen Zähmung” gelingt es Gitta endlich, sich ihren Wunschprinzen zu angeln. Aber ob da wirklich Liebe im Spiel ist?

LTB Literatur aus Entenhausen Nr. 1

Literatur neu interpretiert

Man ahnt es schon, diese Sonderedition knöpft sich Bekanntes aus der Weltliteratur vor und verduckifiziert sie gnadenlos. Das kann man, je nach Geschmack, gut oder schlecht finden. Die einen werden in der z.T. sehr freien Interpretation der Originale eine Verschandelung sehen. Die anderen, zu denen auch ich gehöre, finden es sehr amüsant, die Originale  mit den Adaptionen zu vergleichen und sich Gedanken darüber zu machen, wo es Unterschiede gibt und was diese bezwecken. Dabei geht die Skala bzgl. der Ableger von “noch überraschend nah am Original” bei “Graf Phantula” über “das Original als Ausgangspunkt für eine Weiterführung der Story genutzt” bei “Gittas Sommernachtstraum” bis hin zu “ui, das ist jetzt doch recht frei” (und im Gegensatz zum alptraumhaften, depressiven, pessimistischen Kafka-Original wohltuend bissig optimistisch) in “Die Verwandlung des Gregor Ducksa”. Humorvoll sind sie allesamt allemal, selbst wenn wie in “Graf Phantula” sogar die Farben an das düstere Original erinnern.

Davon einmal abgesehen bergen solche Adaptionen die Chance, Kinder spielerisch an die Weltliteratur heranzuführen und sie auf die Originale neugierig zu machen. Meinem Sohn jedenfalls gefallen die Geschichten, und im Fall des Märchens mit der Bohnenranke ist ihm auch schon der ein oder andere Unterschied zum Original aufgefallen.

Fazit

Adaptionen, egal wie frei sie sind, bieten die Chance auf Neues, Neugier auf die Originale, amüsante Vergleiche mit den Originalen. Und sie holen so manches Stück Weltliteratur, das allmählich in Vergessenheit gerät, wieder aus der Mottenkiste hervor. Allein dafür lohnt sich schon die Anschaffung.


Genre: Comic
Illustrated by Egmont Ehapa Media

I had that same dream again 2

I had that same dream again 2

“Das Leben ist eben wie eine Wassermelone” (Nanoka)

Immer noch auf der Suche nach dem, was eigentlich Glück ist, erfährt die 10-jährige Nanoka auch das Gegenteil: Nachdem ihre neue Freundin Minami ihr eindringlich das Versprechen abgenommen hat, dass sich Nanoka wieder mit ihren Eltern vertragen soll, ist Minami wie vom Erdboden verschluckt. Nanoka spekuliert mit ihrer mütterlichen Freundin Frau Abazure, dass ihr ein Geist erschienen sei. Später stellt sich heraus, dass die Lebensgeschichte der beiden jungen Frauen recht ähnlich ist. Mit Frau Abazure spricht Nanoka aber auch über die beiden Jungen aus ihrer Klasse, die ihr viel bedeuten. Der eine liest wie sie gern und ist beliebt, der andere ist ein begabter Maler, aber ängstlich und verschlossen. Auch Frau Abazures Vorstellung von Glück gibt sie an Nanoka weiter.

Mit ihrer Eratzoma spricht Nanoka, als sie ein wunderschönes Gemälde bei ihr mit der Unterschrift “live me” entdeckt, über ihren malenden Freund Hikari, der von den anderen Jungen gemobbt wird. Die ältere Frau erklärt ihr, dass manche Menschen besonders sensibel sind und besonders tief empfinden. Trotzdem ist Nanoka enttäuscht, als sie sich in Absprache mit ihrer Lehrerin für ihren verschlossenen Freund einsetzt und von ihm dafür Hassgefühle erntet. In ihrer Klasse wird sie für ihren mutigen Einsatz danach wie Luft behandelt. Besonders verletzt sie, dass ausgerechnet der kluge Bücher lesende Ogiwara dafür verantwortlich ist, dass Hikari ständig angegriffen wird.

Traurig berichtet sie Frau Abazure von ihren schlimmen Erlebnissen, die ihr daraufhin von einem immer wiederkehrenden Traum erzählt.

Mütterliche Freundinnen

Nanoka hat vier ältere Freundinnen, die schon ihre Lebenserfahrungen gemacht haben und diese an Nanoka weitergeben. Im Gegenzug dazu bereichert Nanoka sie mit ihrer kindlichen Weltsicht und bricht so alte Strukturen auf. Beides ermöglicht für alle Beteiligten Weiterentwicklung. Minami, Frau Abazure und Nanokas Klassenlehrerin, sowie die ältere Frau erinnern an das weibliche göttliche Dreigestirn des Mädchens (Minami), der Frau (Frau Abazure und die Lehrerin) und der weisen alten Frau (die Ersatzgroßmutter), die in verschiedenen Lebensphasen stehen und der Frau beistehen.

Bewusst oder unbewusst wird hier das uralte Muster der Frauenfreundschaft aufgegriffen, das Frauen und Mädchen durch das weibliche Netzwerk Schutz und Geborgenheit bietet. Dabei wird nicht verschwiegen, dass das Leben wie eine Wassermelone ist, deren Fruchtfleisch (das Gute) man schnell verschlingt, die Kerne (das Negative) aber aussortiert. Aber auch in den Tiefen der schlimmen Erlebnisse kann man noch einen Schatz heben und daran wachsen: Wenn man die Kerne sammelt und einpflanzt, anstatt wegzuwerfen, erwachsen daraus neue Pflanzen. Oder anders ausgedrückt: Aus gemeisterten Problemen erwächst eine gestärkte Persönlichkeit.

Hochsensibilität

Die Psychologin Elaine Aron prägte in den 90ern den Begriff der Hochsensibilität /Hochsensitivität für Menschen, die besonders tief empfinden können und eine besonders hohe Verarbeitsungsdichte von Informationen haben, was sich sehr positiv auf Empathie, Kreativität und die Analyse und Interpretation des Lebens auswirkt. Diese Hochsensibilität wird von der älteren Frau im Manga entsprechend positiv dargestellt, um Nanokas negative Sicht auf den vermeintlichen Feigling zu relativieren. Nanoka befindet sich allerdings noch in einem Entwicklungsprozess, sodass sie Hikari nur teilweise versteht und für sein Verhalten verurteilt.

Mobbing

Mobbing ist ein grundlegendes Problem der Gesellschaft, das sich durch alle Zeiten hinweg überall zeigt, sowohl auf der Arbeit, als auch in der Schule oder Freizeit. Jede(r) kennt wohl z.B. Ausenseiter/innen in der Klasse, mit denen man nicht gern gesehen werden wollte. Wie auch in dem Manga gut dargestellt, geht Mobbing zurück auf eine engstirnige Weltsicht, auf Ignoranz, auf Vorurteile, auf Lust am Quälen anderer, auf Gerüchte, auf Rufmord, auf das Aufbauen des eigenen (niedrigen) Selbstbewusstseins, indem man sich selbst erhöht und andere dafür erniedrigt. Nanoka stellt sich dem entgegen und erntet dafür den kompletten Ausschluss aus der Klasse. Das Herdentier Mensch mag es eben nicht, wenn man gegen den Strom schwimmt. Das bekommt auch Nanoka schmerzlich zu spüren, nachdem sie sich auf die Seite des Außenseiters gestellt hat. Sie beweist Mut und zeigt mit ihrem Verhalten, dass dieser Mut den anderen fehlt. (Mangelnde) Zivilcourage ist immer noch ein heißes Eisen in der Gesellschaft. Der Manga legt den Finger auf diese Wunde.

Außerdem dreht Nanoka mit ihrem Verhalten das traditionelle Rollenmuster um: Sie beschützt einen Jungen (und  nicht umgekehrt). Das weckt Urängste vor einer starken Frau, die Nanoka von ihren männlichen Klassenkameraden prompt gespiegelt bekommt.

Träume (s. Titel des Mangas)

Träume, Mythen, Märchen bedienen das Unterbewusste. Dementsprechend erzählt Frau Abazure Nanoka ihr Leben in Form eines Traumes. Nanoka erfasst unbewusst den Kern und Frau Abazure wird zurückversetzt in eine Schlüsselszene ihrer Kindheit. Außerdem erzählt sie, was passiert, wenn man sich selbst enfremdet.

Fazit

Der 2. Teil setzt das hohe Niveau des 1. Bandes fort. Man darf gespannt sein auf den 3. und abschließenden Band!

 


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen Manga!

Goldene Jahre

Ironisches Requiem

Mit «Goldene Jahre» ist kürzlich das zwölfte Buch des Schweizer Schriftstellers Arno Camenisch erschienen, freudig bejubelt von seiner Fan-Gemeinde. Auch die Juroren des diesjährigen Frankfurter Buchpreises waren so beeindruckt, dass sie den 100-Seiten-Band auf die Liste der Nominierten gesetzt haben. Wie in vielen seiner Bücher geht es auch hier thematisch um die Vergänglichkeit, ein Abgesang also auf Gewohntes, Liebgewonnenes. Aber das Besondere daran ist wieder die Sprache, in der da erzählt wird, dieses spezifische, rätoromanisch durchsetzte Camenisch-Idiom. Davon schwärmen besonders jene Leser, die den Autor in Lesungen selbst erlebt haben.

Handlungsort des Romans ist ein Kiosk in einem Dorf in der Surselva, der Talschaft des Vorderrheins in Graubünden. Mit seiner Leuchtreklame auf dem Dach ist er weithin sichtbar, und mit seiner Zapfsäule ist er auch die einzige Tankstelle im Ort, ein zentraler Treffpunkt für dessen Einwohner. Margrit und Rosa-Maria hatten ihn 1969, im Jahr der Mondlandung, eröffnet, und vor kurzem erst haben sie ihr fünfzigstes Jubiläum gefeiert. Die beiden inzwischen über siebzig Jahre alten Damen haben ihre festgelegten Rituale, vor allem halten sie ihren Kiosk blitzblank. Und es hat sich über die Jahre auch kaum etwas geändert an ihrem Tagesablauf, alles ist bestens eingespielte Routine. Über sich selbst geben sie rein gar nichts preis. Eine Familie haben sie wohl beide nicht, und ob sie Schwestern sind oder nur Freundinnen, das bleibt offen.

Dieses nostalgische Narrativ von einer Welt im Wandel wird allein dialogisch vorgetragen, durch das nicht abreißende, vor sich hinplätschernde Gespräch der Beiden an einem typischen Arbeitstag. Beginnend am frühen Morgen mit dem Aufschließen, Fegen des Bürgersteigs, Fensterputzen, Herauslegen typischer Mitnahmeartikel auf die breite Ablage am Fenster. Zu den historischen Ereignissen, über die da getratscht wird, gehört die Mondlandung, der Dreh für einen James Bond-Film mit Roger Moore, aber auch die Tour de Suisse. Die hatte nämlich einmal durch den Ort geführt, was heute nicht mehr möglich wäre, dafür ist die Dorfstrasse in einem viel zu schlechtem Zustand. Mit der Umgehungsstrasse ist dann auch das Geschäft zurückgegangen, aber es reiche ja noch für sie, sagen die Beiden. Einmal hatte eine Kundin mit einem Los von ihnen 500 Fränkli in der Lotterie gewonnen. Es gab auch Prominenz als Kunden, diverse Liebesgeschichten und Skandale werden da durchgehechelt, und Ereignisse wie Tschernobyl oder der Mauerfall in Deutschland sind noch gut in Erinnerung. Die Zwei reden über Hochwasser, Lawinen und den nicht mehr zu übersehenden Klimawandel. Früher war der Kiosk ja schon mal bis übers Dach zugeschneit, heute aber falle kaum noch Schnee. Am Kiosk flitzen jetzt ältere Damen auf ihren Elektro-Fahrrädern vorbei wie einst Eddy Merckx, und die prominenten Gäste schweben mit dem Helikopter ein. Bei allem Klatsch sind Margrit und Rosa-Maria jedoch äußerst diskret, kein Mensch wird je erfahren, welche Art von Lektüre der Pfarrer gelegentlich bei ihnen kauft.

Arno Camenisch hat seinen Dörflern als Chronist sich ändernder Zeiten sehr genau ‹aufs Maul geschaut›. Die beiden unentwegt schwätzenden, einfältigen Kiosk-Damen kommen vom Stöckchen zum Hölzchen in ihrem Tratsch. Denn der schließt letztendlich alles ein, vom belanglosen Dorfklatsch bis hin zum großen Weltgeschehen, das auch in diese alpenländische Idylle hineinwirkt. Es gibt keine Handlung, ihr Zwiegespräch wird auch von keinem Kunden unterbrochen, alles entwickelt sich in Rückblenden allein aus dem Dialog. Es wird also quasi in Echtzeit erzählt, man braucht als Leser für die knapp hundert Seiten dieses kleinformatigen Büchleins kaum zwei Stunden. Und da ist es bei den Damen, die zu Beginn der Geschichte morgens ihren Kiosk aufschließen, ja noch nicht mal Mittag. Dieses ironische Requiem auf den Kiosk als solchen ist mit seinem amüsanten, alpenländischen Idiom eine angenehm unterhaltende Lektüre.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Engeler-Verlag

Selbstverteidigung – Eine Philosophie der Gewalt

Selbstverteidigung – Eine Philosophie der Gewalt. In ihrem Prolog zum Buch stellt die Philosophie-Professorin eine Foltermethode des beginnenden 19. Jahrhunderts den Geschehnissen um die Ermordung von Rodney King durch das LAPD im 20. Jahrhundert gegenüber. In beiden Fällen galt, dass je mehr sich der „Delinquent“ wehrte, desto mehr wurde er geschlagen oder gefoltert. Der Prozess um die Polizisten endete mit einem Freispruch. Rodney King hatte sich verteidigt, doch indem er sich verteidigte, wurde er unverteidigbar. Der Inhalt des Zeugen-Videos wurde in seiner Bedeutung einfach umgedreht. Schuldumkehr.

Selbstverteidigung: Tanz als Widerstand

Die Ergebnisse des Freispruchs sind bekannt. Die als „L.A. Riots“ in die Geschichte eingegangenen Unruhen von 1992 kosteten weitere 63 Tote und 2000 Verletzte sowie einen Sachschaden in Milliardenhöhe. Die Geschichte der USA ist vor allem auch eine Geschichte von Rassismus. Die USA waren eine Sklavenhaltergesellschaft, deren Opferbilanz insgesamt sogar höher als der Holocaust ausfällt. Man schätzt, dass er 40 Millionen (schwarze) Leben kostete. „Jede Verknüpfung von Tanz, Gesang und Musik, deren Aufführung in einem Kreis eine agonistische Disposition annimmt, stellt eine Kampfkultur mit bloßen Händen dar und loste eine weiße Panik aus”, schreibt die Autorin. Dennoch entstanden Kampftänze, die zu den kodifizierten Formen der Gegenkultur gehörten, die als traditionelle Kultur bis heute überlebten. Während in Übersee die Sklaven also entwaffnet und unterworfen blieben, machte sich das französische Kolonialrecht mit Hilfe einer schwarzen Streitmacht auf eine Mission der Zivilisierung der Welt. Sie wurden sogar als „Geheimwaffe gegen Deutschland“ gehandelt, da die personellen Ressourcen unerschöpflich schienen.

Gewalt: Vigilanten und weiße Justiz

In einem weiteren Kapitel beschreibt die Autorin den Aufstand des Warschauer Ghettos als ein Beispiel der Zeugnisse der Selbstverteidigung (Kapitel 3). Eines der interessantesten Kapitel ist die Beschreibung des Vigilantismus in der jungen Nation der USA, der sich im Grunde bis heute erhalten hat. Während der gesamten Kolonisierung Amerikas schlossen sich Gruppen von Männern zu Verteidigungsmilizen zusammen, die sich selbst das außerordentliche Recht der Gerichtsbarkeit (Justiz und Polizei) einräumten. „Der Vigilant ist der große Verteidiger der amerikanischen Nation, der Held, der immer bereit ist, sie zu verteidigen: Die Kultur des Vigilantismus hält so das Narrativ von der weißen Rasse in Gang und aktualisiert es ständig.“ Diese sog. „Weiße Justiz“ (Kapitel 5) schreckte auch vor Lynchmorden nicht zurück, ein Begriff übrigens der auf den tatsächlich existenten Charles Lynch zurückgeht, der in Virginia, zur Zeit der Amerikanischen Revolution seinen Männern eine Blankovollmacht gab, um Pferdediebe und andere Banditen „auszumerzen“. Aber natürlich auch zur Verfolgung von Landstreichern, Fremden, weißen Dissidenten sowie schwarzen Sklaven und Rebellen. Die Legende vom Black Beast Rapist – dem schwarzen Vergewaltiger weißer Frauen -wurde dabei zur treibenden Kraft. Eines der düstersten Kapitel der „besten Demokratie auf Gottes Erden“. Etwa wenn man vom Waco-Horror von 1916 spricht, bei dem ein unschuldiger Schwarzer gelyncht und Teile seines Körpers als Souvenir verkauft und Fotos der Szene in Form pittoresker Postkarten verbreitet wurden, „um den Tourismus in der Stadt anzukurbeln“ (sic!).

Geschichte des Widerstands gegen den weißen Mann

Weitere Kapitel beschäftigen sich u.a. auch mit Martin Luther King, „der besten Waffe des weißen Mannes“ oder den Black Panthern for Self-Defense sowie feministischen Organisationen wie den Suffragetten oder der Association of Southern Women for the Prevention of Lynching oder auch anderen. Ein wichtiges Buch, das zwar keine Antwort auf

Die Autorin wurde mit dem Frantz Fanon Prize 2018 und dem Prix de l’Écrit Social 2019 ausgezeichnet.

 

Elsa Dorlin

Selbstverteidigung – Eine Philosophie der Gewalt

Aus dem Französischen von Andrea Hemminger

D: 32,00 € / A: 32,90 € / CH: 42,90 sFr

2020, Gebunden, 315 Seiten

ISBN: 978-3-518-58756-0

Suhrkamp Verlag

 


Genre: Philosophie, Politik, Selbstverteidigung
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe

Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe.„…äh…“, lautete die Antwort des President-elect Donald Trump auf die Frage eines Fox-Reporters nach seinen Plänen für die nächsten vier Jahre. Die beiden Spitzenjournalisten Klaus Brinkbäumer und Stephan Lamby betonen, nicht zu scherzen. Denn tatsächlich hat Donald Trump kein politisches Programm außer sich selbst. „Der Herrscher ist das Programm.“ L’etat c’est moi, meinte auch der Sonnenkönig von sich. Aber das war im 18. Jahrhundert. In Frankreich, einer Monarchie.

Im Wahn: Der Staat bin ich

Was lief damals, im 18. Jahrhundert, als die USA sich formierten, eigentlich falsch? Warum gaben sich die Gründungsherren der ersten Demokratie der Welt so ein abstraktes und konfuses Wahlsystem (electoral vs. people’s vote), das es einem Mann wie Donald Trump ermöglichte, an die Macht zu kommen? Das vorliegende Buch kann diese Frage zwar nicht beantworten, dafür aber viele andere. Es wurde sehr gut recherchiert und die beiden Journalisten hatten interessante Gesprächspartner. Sie ziehen durchaus nachvollziehbare Parallelen zu Richard Nixon und warnen eindringlich vor einem Mann, der alle vier Erkennungsmerkmale einer sterbenden Demokratie für die USA verwirklicht hat. Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, zwei Historiker, erforschten diese vier Kriterien als Gründe für die Selbstabschaffung einer Demokratie wie folgt: Der Anführer verpflichtet sich demokratischen Regeln nicht; er leugnet die Legitimation seiner Gegner; er toleriert oder fördert Gewalt; er schränkt Bürgerrechte und Pressefreiheit ein. Mit Ausnahme Richard Nixons hätte kein Präsidentschaftskandidat im letzten Jahrhundert auch nur eines der vier Kriterien erfüllt. „Trump erfüllt alle vier“.

Die amerikanische Katastrophe

Schonungslos decken die beiden Journalisten die Propagandalügen eines Präsidenten, der außer sich selbst kein Programm hat, und auch die seines „Haus- und Hofsenders Fox“ auf. Auch die Auseinandersetzungen um den Mord an George Floyd und der jahrhundertealte Rassismus in den USA werden in Bezug zu Black Lives Matter thematisiert. Aber auch der institutionelle Umbau, der aus dem an und für sich unparteiischen Supreme Court eine politische Institution machen soll, wird bloßgestellt und kritisch beurteilt. Dass sogar jemand wie Donald Trump, der zweimal bankrott ging, einmal Vorbilder hatte, wird ebenso erzählt. Rush Limbaugh, ein Talk-Radiomoderator, der schon in den Achtzigern durch seine populistischen Reden auffiel kann als solches gelten. Ihm wurde von der Präsidentengattin Melania die „Presidential Medal of Freedom“ bei der State of the Union Rede 2020 verliehen. Allein diese Tatsache spricht Bände, handelt es sich bei Limbaugh doch um einen gnadenlosen Verdreher von (Un-)Wahrheiten. Oder sollte man die 20.555 Lügen und Unwahrheiten allein in den ersten 1267 Amtstagen erwähnen, die die Post bei Donald Trump gezählt hat und belegen kann?

We, the people…

Das amerikanische Volk hat entschieden, wen es zu seinem Präsidenten haben möchte, das war auch bei Hillary Clinton so. Jedoch entscheidet in letzter Instanz das electoral vote. Oder die Gerichte. „Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe“ ist das Buch zur Zeit. Jeder der mitdiskutieren möchte und sich versucht zu erklären, warum ein Mann wie Trump die Welt in Atem hält, sollte es lesen. In einer Gesellschaft in der Hollywood wesentlich an der Gestaltung der Realität mitarbeitet, braucht es einen aber eigentlich auch nicht zu verwundern, wenn ein Serienstar („The Apprentice“) zum Präsidenten wird. Aber vielleicht wird Trump ja jetzt bald selbst von “seinem Wahlvolk” seinen Stehsatz aus der Serie zu hören bekommen: „You’re fired!

Brinkbäumer, Klaus / Lamby, Stephan

Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe

ISBN: 978-3-406-75639-9

2020, Hardcover, 4. Auflage, 391 S., mit 25 Farbabbildungen im Tafelteil, Gebunden

C.H. Beck Verlag

22,95 €


Genre: Politik und Gesellschaft, Sachbuch, Zeitgeschichte
Illustrated by C.H. Beck München

Der letzte Satz

Schwaches Büchlein

In dem neuen Roman «Der letzte Satz» greift der österreichische Schriftsteller Robert Seethaler erneut den Tod als Thematik auf, wie schon in seinem vor zwei Jahren erschienenen Roman «Das Feld». Konträrer aber können zwei aufeinander folgende Romane eines Autors gar nicht sein, was ihre literarische Qualität anbelangt. Während der in jeder Hinsicht erstklassige Vorgänger mit seinen 29 verstorbenen Ich-Erzählern eine, wie ich es damals formuliert habe, «unpathetische Antwort auf die Sinnfrage» gibt, behandelt das neue Buch völlig uninspiriert das Siechtum des Dirigenten und Komponisten Gustav Mahler. Der berühmte Musiker ahnt 1911, auf seiner letzten Schiffpassage von New York nach Europa, den nahen Tod voraus und denkt über die Höhen und Tiefen seines Lebens nach. Dabei listet dieser in jeder Hinsicht enttäuschende, schmale Band geradezu lexikalisch nüchtern hinlänglich bekannte Stationen im Leben des Protagonisten auf. Und daraus entsteht dann letztendlich nichts anderes als erzählerischer Kitsch, nicht bereichernd, abstoßend rührselig, völlig ereignis- und spannungslos obendrein!

Auf einer Kiste an Deck sitzend starrt Gustav Mahler sinnierend auf den grauen Atlantik, während er sein Leben rekapituliert. Ein Schiffsjunge, extra für ihn abkommandiert, sorgt sich um sein Wohlergehen. Er serviert ihm regelmäßig den Tee und achtet vor allem darauf, dass der oft fiebernde Passagier immer warm in seine Decke eingehüllt ist. Seine mitreisende Frau Alma und die innig geliebte Tochter Anna besuchen ihn nicht auf dem zugigen Sonnendeck. Das banale Geschehen auf dem Schiff dient hier lediglich als narratives Gerüst für Erinnerungen, Selbstgespräche und Träume des Fünfzigjährigen. In einem schon fast peinlichen Schlusskapitel schließlich liest der ehemalige Schiffsjunge in einer Hafenkneipe vom Tod des «Direktors», wie er ihn immer genannt hat.

Seinen Durchbruch hatte Gustav Mahler als Kapellmeister und Direktor des Wiener Opernhauses, das er in seiner zehnjährigen Tätigkeit zu großem Erfolg geführt hat. Der Weg war steinig dorthin, aber er habe seine Opernreform letztendlich ja durchsetzen können, stellt er befriedigt fest. Seine ihm immer wichtiger werdende kompositorische Arbeit aber musste er hintanstellen, er denkt mit Wehmut an sein Komponierhäusel zurück, wo er bis zuletzt in den spielzeitfreien Sommermonaten an seinen Sinfonien gearbeitet hat. Mit denen er dann aber bei weitem nicht den Erfolg hatte, den er sich erhoffte. Natürlich fehlt in seiner Rückbesinnung auch die ‹Sinfonie der Tausend› nicht, jene monströse Uraufführung vor dreitausend Besuchern in München, die ihm nun, ein Jahr später, eher peinlich ist. Er denkt an seine gescheiterte Ehe mit Alma, die als Femme fatale in den Wiener Salons und in Künstler-Kreisen von den Männern umschwärmt wird. Wehmütig erinnert er sich auch an seine Tochter Maria, die als Kind überraschend starb, und besonders niederschmetternd ist für ihn die derzeitige Affäre von Alma mit Walter Gropius, der im Roman nur als «Baumeister» bezeichnet wird. In Paris hatte Mahler sehr widerwillig bei Rodin Modell gesessen für eine Büste, und in der holländischen Stadt Leiden war er vier Stunden lang bei Siegmund Freud. Der aber konnte ihm letztendlich, wie er inzwischen weiß, mit seiner psychoanalytischen Expertise auch nicht weiterhelfen in seiner Seelenpein.

«Meine Zeit wird kommen» hatte der echte Gustav Mahler vorausgesagt, und sie kam dann auch, Jahrzehnte später allerdings, mit der Wiederentdeckung seiner Sinfonien lange nach dem Zweiten Weltkrieg. Robert Seethaler aber bleibt hier weit unter seinen Möglichkeiten, entschieden zu oberflächlich und erzählerisch geradezu lieblos hingeschludert wirkt dieser schmale Band. Die starke Persönlichkeit, die ihm da als literarische Vorlage dient, bleibt auch in den Rückblenden als Figur leider völlig konturlos. Nach Lektüre dieses schwachen Büchleins mag man wirklich kaum glauben, dass vom gleichen Autor auch «Das Feld» geschrieben wurde!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Streulicht

Durchs Raster gefallen

Als literarischer Senkrechtstarter erweist sich der kürzlich erschienene Debütroman «Streulicht», mit dem Deniz Ohde erstmals an das Licht einer breiteren Öffentlichkeit getreten ist. Prompt wurde er nämlich für den Preis der Frankfurter Buchmesse nominiert und landete schließlich sogar auf der Shortlist. Es handelt sich um einen klassischen Bildungsroman, dessen Besonderheit darin liegt, dass seine der Autorin in einigen Punkten autobiografisch ähnelnde Ich-Erzählerin durchs Raster gefallen ist. «Wenn’s nichts wird, kommst wieder heim» lautet denn auch resignativ der letzte Satz. Coming-of-Age also ganz ohne Fortune!

Die namenlose Protagonistin erzählt als Erwachsene anlässlich eines Besuchs an der Stätte ihrer Jugend ihre Lebensgeschichte. Sie wird als Kind einer türkischen Putzfrau und eines deutschen Fabrikarbeiters in Frankfurt am Main geboren, ganz in der Nähe des Industrieparks Hoechst. Ihre Aufstiegschancen aus den prekären Verhältnissen im bildungsfernen Elternhaus sind gering. Sie ist schüchtern bis hin zur Verstocktheit und wird zudem von diffusen Ängsten beherrscht. Obwohl sie Deutsche ist, wie ihre Mutter immer wieder betont, leidet sie unter dem Stigma, Tochter einer Türkin aus dem hintersten Anatolien zu sein, aus einem armseligen Dorf am Schwarzen Meer. Sie rasiert sich also die Monobraue, um nicht als Türkin zu gelten, und gibt immer nur ihren zweiten, den deutschen Vornamen an, wird aber trotzdem schon früh von den anderen Kindern gehänselt. «Frau A-?» fragt im Buch ein Chef die Heldin beim Empfang zu einem Bewerbungsgespräch, ihre Namenlosigkeit wird eisern durchgehalten im Roman. Ihr Vater ist lebenslang in der chemischen Fabrik als einfacher Arbeiter mit immer der gleichen, stupiden Tätigkeit beschäftigt. Ein äußerst eintöniges, trostloses Arbeitsleben also, das er mit viel Alkohol und stoischer Ruhe erträgt. Wie schon der Großvater ist er ein typischer Messi, der sich von nichts trennen kann, dessen Wohnung immer mehr vermüllt, deutliches Anzeichen für eine pathologische Entscheidungs-Schwäche.

Kein Wunder, dass die Tochter als unterprivilegiertes «Kellerkind» in dem Glauben, weniger wert zu sein als alle anderen, in der Schule häufig scheitert. Sie wird überall ausgegrenzt und hat außer Sophia und Mikka keine Freunde. Gleichwohl kämpft sie sich tapfer auf dem Umweg über die Abendschule bis zum Abitur durch, erreicht einen hervorragenden Notenschnitt und beginnt zu studieren. Auf der Uni lernt sie dann einen Kommilitonen kennen, der erste Freund der inzwischen über Zwanzigjährigen. Mit dem sie dann sogar im Bett landet, erst- und einmalig aber, muss vermutet werden. Mehr erfährt man nämlich nicht in dieser radikal sexfreien Geschichte. Sie ist und bleibt eine verklemmte junge Frau, deren Fremdheitsgefühl manifest zu sein scheint. Beim Erzählen aus ihrem Leben verliert sich die Protagonistin in endlosen Betrachtungen der trostlosen Umgebung und der chaotischen elterlichen Wohnung.

Diffus, wie es schon der Buchtitel andeutet, von der geraden Bahn abgelenkt also, ist nicht nur das Licht an dem vom ewigen Industrie-Smog geplagten Handlungsort, diffus ist auch die Erzählweise dieses Romans. Der Lebensweg seiner von äußeren Negativ-Zuweisungen geschädigten Protagonistin wird nämlich in allzu vielen sprunghaften Rückblenden erzählt. Wobei besonders die dauernden Wiederholungen immer der gleichen Szenarien und schmerzenden Gefühle den Leser schnell ermüden. Die von Hoffnungslosigkeit und Entmutigung gebeutelte, bindungslose Außenseiterin wirkt als Figur wenig überzeugend, was gleichermaßen für die Figurenrede gilt. Eine unterprivilegierte Herkunft ist auch das Thema von Nicolas Mathieu, dessen Roman «Wie später ihre Kinder» die daraus resultierende soziale Schieflage allerdings vehement anprangert. Was bei Deniz Ohde nur als hilflose Frage im Raum stehen bleibt: «Wie konnte dieses Kind durchs Raster fallen?», darauf gibt ihr französischer Kollege eine klare Antwort.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Alle unsere Gestern

Beten hilft nicht

Zu den frühen Werken der italienischen Schriftstellerin Natalia Ginzburg gehört «Alle unsere Gestern», ihr dritter Roman. Mit «Tutti i nostri ieri», wie er im Original heißt, hatte sie 1952 ihre literarische Kariere eingeleitet, seither zählt sie zu den Großen ihrer Zunft in Italien. Dem Buch vorangestellt hat sie ein Motto aus dem ‹Macbeth› von William Shakespeare, auf das sich auch der Buchtitel bezieht: «All of our yesterdays have lighted fools the way to dusty death». Ein resignatives Zitat aus dem Monolog des lebensmüden Tyrannen nach dem Tod seiner Frau, das man sinngemäß mit ‹Alle unsere Gestern haben Narren den Weg geleuchtet zum schmutzigen Tod› übersetzen kann. Es passt optimal zur düsteren Thematik dieses Romans, der das wechselvolle Leben einer italienischen Familie vor und im Zweiten Weltkrieg beschreibt. Dabei sind autobiografische Bezüge unverkennbar. Die auch politisch stark engagierte Grande Dame der italienischen Literatur wurde 1940 selbst in ein Dorf in den Abruzzen verbannt, das dem Handlungsort im zweiten Teil ihres Romans ähnelt.

Diese Geschichte einer Familie, die mit engen Freunden als Nachbarn in der Nähe von Turin wohnt, erzählt aus der Zeit des Faschismus. Dem Vater der heranwachsenden Kinder Anna, Concettina, Giustino und Ippolito gehört eine Seifenfabrik, die Familie lebt komfortabel in großbürgerlichen Verhältnissen. Weil er partout nicht einverstanden ist mit dem Faschismus und dem sich abzeichnenden Kriegseintritt Italiens, schreibt der Patriarch schon seit Jahren verbissen an einem Buch, mit dem er die tyrannischen neuen Machthaber entlarven will. In einem Anfall von Weitsicht verbrennt er schließlich aber sein Manuskript und stirbt dann, kurz vor dem von ihm befürchteten Kriegseintritt Italiens. Zur Familie gehört als Haushälterin auch Tante Maria, bei der als Faktotum alle familiären Fäden zusammenlaufen. Die älteste Schwester Concettina nimmt, nach all den vielen Verlobten, die sie schon hatte, ein opportunistisches ‹Schwarzhemd› als Mann. Über ihrem Ehebett hänge jetzt bestimmt ein Bild von Mussolini, wird gelästert. Ihre Brüder und viele der Freunde betätigen sich derweilen als Verschwörer im antifaschistischen Untergrund, einige landen sogar im Gefängnis.

Heimliche Heldin des Romans aber ist die eher unscheinbare, stille Anna, die als sechzehnjährige Schülerin von einem älteren Mitschüler schwanger wird, weil sie mit ihm «in die Büsche gegangen ist». Der 48jähriger Cenzo Rena, ein alter Freund der Familie, der ihr spontan seine Unterstützung bei der geplanten Abtreibung angeboten hat, macht ihr dann aber überraschend einen Antrag. Der erste Teil des Romans endet mit der Heirat Annas, sie folgt ihrem so deutlich älteren Mann in sein abgelegenes Bergdorf. Dort erweist sich, im zweiten Teil, Annas charismatischer Ehemann als absolut dominante Figur in seinem Dorf. Er kennt jeden, hat nicht zuletzt auch durch sein Geld großen Einfluss, alle sind ihm gewogen, vom einfachen Bauern bis zum Carabiniere und Bürgermeister. Im Privaten zeigt er sich als liebevoller Vater des nicht von ihm gezeugten Kindes. Als der Krieg schließlich das Dorf erreicht und mit ihm das Chaos, hilft ihm seine Weltgewandtheit, er spricht fließend Deutsch und Englisch.

Natalia Ginzburg hat in ihrer melancholischen Chronik des italienischen Alltagslebens im frühen 20. Jahrhundert dessen Auf und Ab in vielerlei Aspekten beleuchtet. Sie berichtet sensibel vom Schrecken ebenso wie von der puren Daseinsfreude. Ihre Figuren müssen sich am Leben abarbeiten und gehen nicht selten gestärkt aus den vielen Zumutungen hervor. «Beten hilft nicht», hatte der Patriarch früher immer gesagt, «wenn es einen Gott gibt, dann weiß er schon, was zu tun ist». Lakonisch, in einer geradezu minimalistischen Sprache, erzählt sie ihre Geschichte und legt damit Zeugnis ab von dieser unseligen historischen Epoche. Allein durch ihre unbedarft wirkende, den Figuren angepasste Sprache gibt es dabei auch viel zu Schmunzeln.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Berlin in hundert Kapiteln, von denen leider nur dreizehn fertig wurden

Berlin in hundert Kapiteln, von denen leider nur dreizehn fertig wurdenDie beiden Journalisten des Buches
Berlin in hundert Kapiteln, von denen leider nur dreizehn fertig wurden kennen sich vom Tagesspiegel, für den sie seit Jahrzehnten schreiben. Manche Kapitel haben sie gemeinsam geschrieben, einige allein. Es geht um ihre immer wieder getrübte Liebe zu Berlin, wo sie trotz alledem gerne leben. Und sie können manche offene Frage mit ihrem profunden Hintergrundwissen aufklären. Es ist pointiert geschrieben, eben mit Herz und Schnauze, wozu sie auch Einiges sagen.

Im ersten Kapitel stellen sie sich vor, warum sie wann nach Berlin gekommen sind, wie das war mit Ost und West, dass sie, als Westdeutsche in den Osten durften, aber wir Westberliner nicht, jedenfalls, wenn wir keine Verwandten „drüben“ hatten. Das ist Zeitgeschichte und für jüngere und Neuberliner kaum zu glauben.

Im zweiten Kapitel „Ins Scheitern verliebt“ wird die Schludrigkeit der Berliner Corona Maßnahmen am Beispiel der geschlossenen Spielplätze in Erinnerung gebracht. Aber das ist nur ein letzter Höhepunkt. Eigentlich beziehen sie sich auf einen Karl Scheffler, der 1910 das Buch „Berlin, Ein Stadtschicksal“ schrieb, wo er den Hang zum Scheitern dieser Stadt schon damals erkannte. Früher war eben doch nicht alles besser.

Das dritte Kapitel Die Bürgschaft hat den Untertitel „Eine leider unvollständige Beschreibung der jüngeren Berliner Skandalgeschichte und der Versuch, ein Handlungsmuster zu erkennen.“ Wir werden an viele Bestechungsfälle in der Berliner Baubranche erinnert. Wobei es bemerkenswert ist, wie die CDU, die wesentlich kürzer den Regierenden stellte, als die SPD, doch mit diesen fast gleichzog, was die krummen Dinger anbelangte (Das ist nicht von den Autoren, sondern eine Anmerkung der Rezensentin). Gewarnt werden wir vor den Grünen, die in Friedrichshain-Kreuzberg auch schon das auffällige „Handlungsmuster“ an den Tag legen.

Wir lernen von den Imagekampagnen, dem seit Langem immer wieder geforderten Mentalitätswechsel, bei wem denn nun, fragt man sich allerdings. Natürlich wird der Flughafen BER gewürdigt, und wir sehen, was aus der Untersuchung zum Radikalismus in der Polizeischule herausgekommen ist: Nichts. Auch das ist ein Handlungsmuster.

Recht liebevoll geht man mit den Eigenheiten der Bezirke um, denn früher, als Wohnungen noch zu haben waren, wurde mehr umgezogen, natürlich mit Zapf: dem Spediteur, dessen Betrieb in den Händen der Belegschaft war.

Immer wieder fließen die Außensichten auf Berlin ein, das ja gerne eine Weltstadt sein möchte, allerdings ohne deren Widrigkeiten. Im englischen Magazin Time Out wird der Wedding empfohlen, als Ort, der sich nicht so schnell verändert, wie andere Bezirke, „Berlin als Spielplatz für Menschen, die nicht erwachsen werden wollen.“ Ob Menschen, die nicht erwachsen werden wollen, sich die Miete noch leisten können, wenn sie sich verdreifacht haben wird?

Besonders gefiel der Vergleich von Herrn Martenstein zwischen einer Zeitungsredaktion in München, wo er ein Jahr lang gearbeitet hatte und dem Tagesspiegel: Wie würde man ein Versagen der Politik dem Leser nahebringen? In München wäre es tröstend, mit Hinweisen auf Schönes, den Viktualienmarkt etwa, oder die schönen Frauen. In Berlin wäre, wie schon Marlene Dietrich gesungen hat, der Beifall ehrlich, wenn jemand hinfällt.

Im dreizehnten und letzten Kapitel üben die Autoren Selbstkritik, fragen sich, ob sie zu kritisch waren und nehmen sich vor, ein Buch mit 100 Lobreden zu verfassen. Aber vielleicht reicht es ja, wenn sie einfach weiter ihren Job machen, für eine möglichst lange Zeit, erst in der Zeitung und, falls nötig, mit weiteren Kapiteln über die Stadt, die nicht fertig wird.


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Ullstein

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seinen Weise

Pageturner par excellence

Überraschend, aber nicht unverdient hat Jean-Paul Dubois für seinen kürzlich auch auf Deutsch erschienenen Roman «Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise» 2019 den Prix Goncourt erhalten. Es ist die bisher höchste Auszeichnung für ein Werk aus seinem umfangreichen Œuvre, von dem bisher nur sehr wenig auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Wie bei vielen anderen seiner Bücher herrscht auch in dieser Geschichte ein melancholischer Grundton vor. Ein vom Schicksal gebeutelter Pfarrerssohn, der im Gefängnis sitzt, berichtet als Ich-Erzähler davon, warum er straffällig geworden ist und zu Recht dort hingekommen sei. Dabei zieht der französische Autor gekonnt alle Register für eine ebenso unterhaltsame wie – bis zum versöhnlichen Ende – spannende Erzählung, in der es auch manches zu schmunzeln gibt. Er erzeugt damit einen Lesesog, dem man sich kaum entziehen kann, ein Pageturner also ‹par excellence›.

Paul Hansen, der Sohn eines dänischen Pfarrers und einer attraktiven Französin, die in Toulouse ein Programmkino betreibt, erzählt aus seiner Kindheit und von der langsamen Entfremdung seiner Eltern. Die linksorientierte, aufmüpfige Mutter treibt es auf die Spitze, als sie 1975 den Skandalfilm «Deep Throat» zeigt, was ihren Mann vorhersehbar die Stelle kostet, er wird von seiner empörten Kirchengemeinde sofort entlassen. Das Paar trennt sich, er findet in Kanada schließlich eine neue Pfarrstelle. Sein damals zwanzigjähriger Sohn Paul folgt ihm ein Jahr später dorthin und schlägt sich zunächst als handwerklich begabter junger Mann mit allerlei Gelegenheitsjobs durch, ehe er in Montreal die Hausmeisterstelle einer gepflegten Wohnanlage mit 68 Wohnungen übernimmt. Mit großem Engagement kümmert er sich fortan nicht nur um das Gebäude, sondern auch um dessen Bewohner. Als Faktotum mit einer nie ermüdenden Hilfsbereitschaft ist er bei allen Bewohnern äußerst beliebt. Bis sich nach über zwanzig Jahren plötzlich alles ändert.

«Seit einer Woche schneit es», heißt es im ersten Satz. In der ersten Erzählebene des Romans wird aus der viel zu kalten Gefängniszelle berichtet, die sich der zu zwei Jahren Haft verurteilte Paul mit einem hünenhaften Biker von den Hells Angels teilen muss. Sein furchterregender Zellengenosse, dessen Missetat ungeklärt bleibt, erweist sich im weiteren Verlauf aber als Sensibelchen, das vor den Mäusen in der Zelle Angst hat. Im zweiten Handlungsstrang erzählt Paul von seinem Leben, von der weitverzweigten dänischen Familie seines Vaters in Skagen, die seit Generationen vom Fisch lebt, vom Vater selbst, der mit den Jahren den Glauben verliert und spielsüchtig wird, seinen Beruf aber weiterhin ausübt. Er erzählt von seiner Frau, die er als Pilotin eines Flugtaxi-Unternehmens kennen lernt und die ihm, als indianisches Halbblut, die Schönheiten der grandiosen kanadischen Natur nahe bringt. Oder von einem guten Freund, der als Angestellter einer Versicherung nach Schwachstellen in der Vita des Verunglückten suchen muss, damit die fällige Versicherungsprämie für den Wert von dessen Leben möglichst weit heruntergedrückt werden kann. Was er ganz gegen seine innere Überzeugung tun muss, weil er für einen Berufswechsel schon zu alt ist.

Im Auf und Ab der Schicksale seiner zahlreichen Figuren entwickelt der Autor ein elegisches Bild des Lebens und kommt dabei erfreulicherweise ohne Klischees aus. Obwohl es um existentielle Themen geht, ist der Erzählton auffallend locker. Als langjähriger Journalist ist Jean-Paul Dubois ein genauer Beobachter, der sich beim Schreiben, wie er im Interview erklärt hat, immer an realen Figuren orientiere, so auch beim Protagonisten dieser Geschichte. Wobei in dieser comédie humaine mit ihrem programmatischen Titel auch die moralische Keule geschwungen wird, Gut und Böse sich exemplarisch gegenüberstehen. Eine komplexe Thematik, die in diesem tragikomischen Roman auf eindrucksvolle Weise aufgegriffen wird , ganz ohne philosophische Tiefenbohrungen.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Under the Moon. Mit Catwoman.

Under the Moon. Mit Catwoman. Oft ziehen Gegensätze sich an. Oder sind es doch die Gemeinsamkeiten die einst aus Batman und Catwoman ein Paar machen werden? Die Kindheit von Selina Kyle alias Catwoman ist jedenfalls alles andere als rosig im Vergleich zu der von Bruce Wayne alias Batman. Aber jeder muss mit seinen Dämonen eben selbst fertig werden, oder wie?

Treffsichere Milieuschilderung vom anderen Ende Gotham Citys…

Die junge Selina Kyle leidet unter den wechselnden Affären ihrer (geschiedenen) Mutter. Meistens gehen sie nach einiger Zeit wieder, nur dieser Dernell, ein egoistischer und gewalttätiger Kerl, ist hartnäckiger als alle anderen Männer ihrer Mutter zuvor. Er mischt sich immer mehr in das Leben von Selina ein und vergreift sich sogar an ihrem einzigen Trost, einem herzigen, kleinen Kätzchen, das ihr zugelaufen ist. Schließlich ist das Maß voll und Selina reißt – so wie das wohl jede Teenagerin einmal macht – von zu Hause aus. Nur in ihrem Fall wird es wohl für endgültig sein.

…abseits der Wayne Mansion: Catwoman

Die vorliegende Graphic Novel glänzt nicht nur durch ihre äußerst ästhetische Machart, das Artwork, das in kühles Schwarz/Blau gehalten ist, sondern auch die vielen authentischen Zeichnungen und Milieuschilderungen der Suburbs von Gotham City. Äußerst stimmungsvoll sind nicht nur die nächtlichen Ausflüge der Ausreißerin, sondern auch ihr Verhältnis zu ihren Klassenkolleginnen und ihren Freundinnen und Freunden, darunter auch der junge Bruce Wayne mit seinem nach Krähengefieder blau schimmerndem Haupthaar. Selina ist zwar bald obdach- und heimatlos, ohne Familie, ohne Freunde und ohne Menschen, denen sie vertrauen kann. Aber sie lernt schnell: die Gesetze der Straße und sich selbst zu behaupten.

Ästhetischer Hochgenuss (nicht nur) für Cat(woman)freunde

Die New-York-Times-Bestsellerautorin Lauren Myracle und der Comic-Künstler Isaac Goodhart erzählen die dramatische, aber auch romantische und mitreißende Geschichte von Selina Kyle als Geschichte eines Mädchens, das einst zu Catwoman wird. Eine abgeschlossene Geschichte ab 13 Jahren!

Lauren Myracle

Under the Moon. Eine Catwoman-Geschichte. Graphic Novel.

(Originaltitel: Under the Moon – A Catwoman Tale)

Gezeichnet von Isaac Goodhart

2020, Softcover, 224 Seiten

ISBN: 9783741617645

16,99 €

Panini Verlag


Genre: Adoleszenz, Catwoman, Comics, Graphic Novel
Illustrated by Panini Comics

Reiche Ernte

Reiche Ernte 1-3. Wer hier eine „reiche Ernte“ einbringt, wird dem Leser spätestens nach der zweiten Episode klar. In insgesamt drei Bänden legen der Comic-Künstler Chris Scheuer, der für sein Werk mit dem Max & Moritz-Preis in Erlangen und dem Prix de Petit Genie in Paris ausgezeichnet wurde, und der Schriftsteller Matthias Bauer ein Werk für Horror- und Terreur-Fans vor, das es zuvor so noch nie gegeben hat.

Kurzgeschichten aus dem Horrormilieu

Die beiden führen graphisch in düstere Abgründe hinab und erschaffen Geschichten, die Albträumen gleich überraschend und unerwartet daherkommen und einen hinterrücks überfallen. Ein Dorf, das ein jahrhundertealtes Geheimnis verbirgt, ein KZ-Kommandant, der sich mit einem mysteriösen Gefangenen auseinandersetzen muss, oder ein Wissenschaftler, der den „Schatten“ verfällt. Im zweiten Band geht es um einen verschrobenen Professor, der die Zeit verändern will. Oder einen eiskalten Profi-Killer, der die Abrechnung für seine Taten erhält. Ein Reporter, der eher durch Zufall in die Dienste eines genialen Wissenschaftlers gerät. Hinter allem verbergen sich noch mehr Geheimnisse.

Horror Comics von Chris Scheuer

Deftig Twists und Pointen

Aber auch ein ganz normaler Mann steht an einem ganz normalen Morgen auf – und muss mit Schrecken erkennen, dass nichts so ist, wie es war. Auch im Abschlussband, Band III, von REICHE ERNTE, dem sensationellen Comeback der Comic-Legende Chris Scheuer macht sich der Plot wieder gemeinsam mit Matthias Bauer in ein fantastisches und morbides Terrain auf. Atmosphärisch, makaber und überraschend sind diese Geschichten, die dem Sensenmann erneut eine reiche Ernte versprechen.

Horror-Comics von Chris Scheuer

Deftige Twists und Pointen à la den US-Reihen „The Vault of Horror“, „Tales from the Crypt“ und „The Haunt of Fear“ erwarten Horror und Terreur-Fans in dieser einzigartigen Comic-Reihe des Panini Verlages „Reiche Ernte I-III“, das den schon 1984 ausgezeichneten Comic-Zeichner Christian Scheuer ein veritable Comeback in seinem Genre einbrachte und so auch eine neue, junge Generation von Comicfans begeistern konnte.

Matthias Bauer

Reiche Ernte 1-3

Gezeichnet von Christian Scheuer

2019, Hardcover, 72 Seiten

ISBN: 9783741614453

17,00 €

Panini Verlag

 


Genre: Comic, Graphic Novel, Horror, Kurzgeschichten
Illustrated by Panini Comics

Pola Woman Helmut Newton

100 Jahre Helmut Newton

Pola Woman Helmut Newton. Zum 100. Geburtstag des deutschen Photographen Helmut Newton werden einige Bücher von ihm wieder aufgelegt. Der vorliegende Band, Pola Woman, aus dem Jahre 1992 zeigt eine Auswahl von Helmut Newtons Polaroid Portraits in einer deutsch/englischen Ausgabe.

Pola Woman Polaroids

Der zu Halloween 1920 in Berlin geborene Fotograf ist nicht nur ein Jahrgänger von Charles Bukowski, sondern auch von seinen Sujets her ein Kollege des amerikanischen Frauenliebhabers. Helmut Newton, der am 23. Januar 2004 in Hollywood verstarb, ist Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes wurde mit dem französischen Grand Prix national de la photographie und dem Word Image Award ausgezeichnet. Schon mit 18 Jahren war er nach Australien emigriert, hatte sich später in Paris niedergelassen und lebte ab den Achtzigern in Monte Carlo und Los Angeles. Wie kein anderer sonst, schaffte er es, über seine Photographie an die Reichen und Schönen der Welt so nahe ranzukommen, dass sie sich sogar vor ihm auszogen. Körperlich und geistig. So entstanden einige der besten und oft auch ironischsten Portraits einer Gesellschaftselite, die ihren Zenit längst überschritten hatte. Helmut Newton wurde zum Portraitisten der Haute Bourgeoisie der Welt, skurrile Situationen, selbstbewusste Frauen und weibliche Freude an der Sexualität zeichneten seine – oft überdimensionalen – Photographien aus.

Polaroid Women als Imaginations-Skizzen

„Das Polaroid ist ein phantastisches Skizzenblatt“, soll Helmut Newton über das damals neue Medium geschwärmt haben. Als er 1992 mit Pola Woman eine Auswahl seiner Polaroids der Öffentlichkeit präsentierte, habe sich der Meister der erotischen Photographie auch zum ersten Mal in die Karten und über die Schulter schauen lassen.

Denn was die Skizze für den Maler, war in analogen Zeiten das Polaroid für den Photographen. Eine erste Formulierung einer Bildidee, das Rohmaterial der Imagination sozusagen. Pola Woman zeigt den oft magischen, stets intensiven Prozess, wie aus erotischen Phantasien Bilderfindungen werden, also die Vorstufen eines perfekt gestylten Newton-Photos. In seiner Einführung zu Pola Woman gewährt Helmut Newton einen Einblick in seine Arbeitsweise. Mit seinen Fotos einen Weg durch den Dschungel seiner Phantasien.

Pola Woman

Mit einer Einführung von Helmut Newton

Deutsch/Englische Neuauflage

152 Seiten, 175 Abb, in Farbe und Duotone

ISBN 978-3-8296-0887-9

€ 29,80, €(Ö) 30,70, CHF 34,30

Schirmer/Mosel Verlag


Genre: Fotografie, Kunst
Illustrated by schirmer/mosel

Drei Tage, drei Nächte

Literarische Nischenrolle

Aus dem umfangreichen Œuvre der hierzulande unbekannten, kanadischen Schriftstellerin Marie-Claire Blais liegt nun seit kurzem unter dem Titel «Drei Tage, drei Nächte» erstmals ein Roman in deutscher Übersetzung vor. Der in französischer Sprache geschriebene Band trägt im 1995 erschienenen Original den Titel «Soifs», was dem Sinn nach ‹durstig› bedeutet. Der deutsche Titel hingegen spielt auf die Erzähldauer dieses polyfonen Romans an, der das Chaos des Lebens im Verlauf dreier Tage zum Inhalt hat.

Auf einer tropischen Insel lebt ein buntes Völkchen verschiedenster Charaktere zwischen bitterer Armut und obszönem Reichtum. Gleich zu Beginn wird von Jacques erzählt, einem Professor der Literatur, der in palliativer Pflege dem Ende entgegendämmert und sich an verschiedene Ereignisse in seinem Leben erinnert. Dazu gehört vor allem auch seine letzte homosexuelle Affäre mit Tanjou, einem einheimischen jungen Mann, von dem er sich getrennt hat und der nun immer wieder tränenüberströmt an seinem Sterbebett erscheint. Eine weitere, häufig auftauchende Schlüsselfigur des Romans ist Renata, ehemals Frau eines Komponisten, die sich als Rechtsanwältin besonders für straffällige Jugendliche einsetzt. Sie ist mit einem Richter liiert und will sich auf der Insel von einer Operation erholen. Durch ihre schwere Erkrankung hat sich ihre latent vorhandene Lebensgier noch gesteigert, sie fühlt sich jünger als sie ist. Ihre Lebensfreude bezieht sie einzig aus dem Begehren der Männer, obwohl sie sich andererseits auch als kämpferische Feministin definiert. Zur Feier der Geburt des gerade zehn Tage alten Vincent geben dessen Eltern ein großes Fest, bei dem sein kleiner Bruder wie wild durch den geschmückten Garten rennt und der illustren Gästeschar laut schreiend verkündet: «Meine Mutter hat ihr Baby fertig!» Melanie, die glückliche Mutter, strebt scheinbar eine politische Karriere an, ihr Mann Daniel ist mit seinem neuen Roman beschäftigt. Zu Gast ist auch Julio, der bei der Flucht in die USA seine gesamte Familie verloren hat, das junge Paar kümmert sich seither rührend um ihn.

In einem 1995 schon deutlich auf den Jahrtausendwechsel hinzielenden, dystopischen Szenario werden die Risiken einer anhaltend unguten Entwicklung verdeutlicht. Gewalt, Macht, Rassismus, Missbrauch und Sexismus, aber auch unverhüllter Hedonismus, Lust und Begehren bestimmen das Geschehen. Das Figuren-Ensemble wird auch von Verrückten, Künstlern und Philanthropen bevölkert, Verbrecher, Dealer und Kleinkriminelle gehören ebenfalls dazu, jeder versucht sein Glück auf seine Weise. Soziale Ungerechtigkeit, Krankheit und Tod sind weitere Themenschwerpunkte, die Marie-Claire Blais mit ihrer scharfen Beobachtungsgabe anschaulich und in einer treffsicheren Sprache beschreibt.

Wie sie das tut ist zweifellos das Besondere an diesem apokalyptischen Roman, es handelt sich hier um eine absolut eigenständige, experimentelle Literatur. Stilistisch extrem eigensinnig, in einer konsequent durchgehaltenen, formalen Strenge, ist dabei letztendlich ein wahres Textungetüm entstanden. Völlig ungegliedert nämlich, ohne Kapitel oder Absätze vom ersten bis zum letzten Wort durchlaufend, werden über ganze Seiten hinweg reichende Sätze aneinander gereiht. In denen sich auch noch die Perspektiven manchmal kaum nachvollziehbar ändern, alles fließt ineinander. Das erfordert bei der Lektüre einen ebenso geduldigen wie aufmerksamen Leser. Es gibt zudem kaum so etwas wie Handlungsfäden, an denen diese monströsen Satzgebilde sich nachvollziehbar entlang hangeln könnten. Man ist quasi gezwungen, sich aus den sprunghaft vorgetragenen Textfragenten eine eigene Geschichte zusammenzureimen. Eine derart experimentelle Literatur jedoch ist allenfalls für eine elitäre Minderheit von Lesern goutierbar. Mit Fug und Recht lässt sich deshalb bezweifeln, dass dieses Buch an der literarischen Nischenrolle dieser kanadischen Schriftstellerin in Deutschland etwas wird ändern können.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin