Gentzen oder: Betrunken aufräumen

Thematisch überfrachtet

Der vielseitige, produktive Schriftsteller Dietmar Dath lässt auch in seinem neuen Roman «Gentzen oder betrunken aufräumen» keine formalen Schranken für das Denken gelten. Die inhaltliche Themenpalette des linken Querdenkers, der die Abschaffung des Kapitalismus als Ziel formuliert hat, reicht über Wissenschafts-Theorie, Politik und Ökonomie bis zu Science-Fiction und Fantasy. Mit der Bezeichnung «Kalkülroman» weist er auf den titelgebenden Mathematiker hin, dessen Gentzentypkalküle ein formales System darstellen, bei dem sich in der Logik aus vorgegebenen Aussagen weitere Aussagen ergeben. Das logische Denken also steht im Mittelpunkt dieses ungewöhnlichen, anspruchsvollen Romans, der an einer Textstelle dann auch erklärt: «Denken heißt: Betrunken aufräumen». Seine Nominierung für den Deutschen Buchpreis hat denn auch einiges Erstaunen ausgelöst.

Unter dem Titel «Schmerz und Programm» beginnt das erste der 140 kurzen Kapitel in einem Gefängnis, wo Gerhard Gentzen im August 1945 in Prag verhungert. Die dabei ablaufenden medizinischen Prozesse werden minutiös geschildert und weisen schon gleich am Anfang auf eine schwierige Lektüre hin. Die Idee zu dem Buch kam dem Autor, der als nebulöse Erzählinstanz im Roman auch als Figur fungiert, bei einer Gedenk-Veranstaltung für den Mathematiker Kurt Gödel im ZKM Karlsruhe. Beide, Gentzen und Gödel, hätten wichtige Vorarbeiten für die darauf basierenden Maschinen geleistet, denen wir in einem «sehr grundsätzlichen Sinn eigentlich nicht vertrauen» dürften, auch weil sie «Meinungen machen und sie verbreiten», lässt Dath seine Leser wissen. «An einer davon schreibe ich, was du jetzt liest». Er schreibe Texte, «die nicht davon handeln, wie es ist, sondern davon, wie es sein sollte, wie es hoffentlich nicht sein wird oder wie es ganz neutral sein könnte. Und das sind nun mal spekulative oder phantastische Texte».

Dieser zeitlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einschließende Gesellschaftsroman widmet sich besonders dem Computer mit seinen komplizierten Algorithmen. Dessen scheinbar ewig wachsende Rechenleistung stelle quasi die Grundlage unseres modernen Lebens dar. Aber es seien eben nicht nur sinnvolle und nützliche Beiträge, die er leiste. In den sozialen Netzwerken zum Beispiel generiere er eine «Zerstörung der Vernunft», die sich dort ungehindert in Kaufrausch, Genderstreit oder Rassismus artikuliere und wahre Probleme wie Klimakatastrophe oder Datensammelwut negiere. In verschiedenen Handlungs-Strängen agiert ein bunt gemischtes Figuren-Ensemble, zu dem eine Aktivisten-Gruppe gehört, die dem vergessenen Logiker nachforscht. Sie besteht aus Dietmar, der an einem Roman über ihn schreibt, sowie Laura und Jan. In einer vorangestellten, mit «Wer hier lebt» betitelten Aufstellung finden sich Figuren mit seltsamen Zuschreibungen wie «Sohn verarschter Eltern» oder «Verdächtige Nichtpräsenz» und auch bekannte wie Jeff Bezos, Geldheini oder Frank Schirrmacher, Mitherausgeber einer Zeitung oder auch Clemens J. Setz, Souffleur. Letzterer steht wie der Autor selbst für den Mut zu literarischer Eigenwilligkeit, die aus einer Nerd-Attitüde heraus den Leser auf diversen Meta-Ebenen vor den Kopf stößt mit einer Sturzflut abstruser Ideen und verklausulierter Verweise.

Man stößt auch auf allerlei amüsante Szenen, so wenn beispielsweise die Titelfigur mit Lady Gaga in einem Café zusammentrifft und über Primzahlen diskutiert. Andererseits öffnet der theorieversessene Autor einen Gedankenraum, zu dem er schreibt: «Es gibt Wahrheiten, die sind so eisig, dass der Verstand an ihnen zerreißt wie biologisches Gewebe, das einen allzu kühlen Stoff berührt: eine extrem schnelle Nekrose». Leider ist dieser dickleibige Roman thematisch total überfrachtet, er verwirrt zudem durch seine übergangslose Verschmelzung des Emotionalen mit dem Wissenschaftlichen. Ihn zu lesen setzt beim Leser die unbedingte Bereitschaft voraus, sich mit hochkomplizierten Theorien auseinander zu setzen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Matthes & Seitz

Batman – The World

Gleich zwei Batman-Sammelbände mit vielen unterschiedlichen Autoren und Zeichnern sind bei Panini erschienen. „Im Zeichen der Fledermaus“ und „The World“ ermöglichen einen Überblick und Kurzeinstieg zur Einführung, wie vielseitig die Batman-Interpretationen schon geworden sind. Wer dann noch mehr will, der folge dann seinen neuen Lieblings-Autoren oder -Zeichnern.

Batman – The World

In „Batman – The World” werden auf 188 Seiten immerhin 14 Stories des Fledermaushelden veröffentlicht. Aber dieses Mal unter einem ganz besonderen Stern: mehr als 20 Künstler aus 14 verschiedenen Ländern haben sich zusammengetan, um ein Projekt zu verwirklichen, das es so noch nie gab. Die Autoren Benjamin von Eckartsberg, Brian Azzarello, Paco Roca, u.a. und Zeichner Lee Bermejo, Paco Roca, Thomas von Kummant, u.a. Die ganze Welt feiert Batman! Die Anthologie präsentiert eigenständige Kurzgeschichten, die den Dunklen Ritter in einem Abenteuer in ihrem jeweiligen Heimatland zeigen. Mit dabei sind Beiträge aus USA, Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, Tschechien, Japan, Polen, Türkei, Mexiko, China, Russland, Brasilien und Korea. Der vorliegende Sammelband erschien als Erstveröffentlichung zum Batman-Tag am 18. September 2021. Passend zum weltweiten Klima-Hype spielt der deutsche Beitrag übrigens in den Bayrischen Alpen, wo der Joker eine Gruppe fanatischer Klimaaktivisten um sich schart. Ein Duell im Tiefschnee rückt die Dinge wieder in die richtige Perspektive.

Im Zeichen der Fledermaus

Der zweite, „Im Zeichen der Fledermaus“, von den Zeichnern Denys Cowan, Kyle Hotz, Scot Eaton, Tom Mandrake und Autoren John Arcudi, John Layman, Mark Russell, Tom Taylor beinhaltet ganze 15 eigenständige Stories auf 172 Seiten, das meiste davon deutsche Erstveröffentlichungen. Mit dabei sind neben Killer Croc, dem Joker, Pinguin und Scarecrow auch der ehemalige Rechtsanwalt Two-Face, von dem leider länger schon keine langen eigenständigen Stories mehr erschienen sind, obwohl er in der Christopher Nolan Trilogie doch ganz gut angekommen ist. In der hier vorliegenden Episode sitzt Two-Face in Arkham Asylum ein und schmeißt den „wichtigsten Wurf seines Lebens“ – mit seiner Münze. Es geht immerhin um „das einzige Gute was mir je im Leben passiert ist“, seine Gefängniswärterin Anna. Kenner wissen, das seine alles entscheidende Münze, anders als Two-Face’s Gesicht – keine „andere Seite der Medaille“ kennt. Vielleicht darf man demnächst auf neue Veröffentlichungen von Two-Face Abenteuern hoffen? Im englischen Sprachraum erschien zuletzt immerhin „Two Face: A Celebration of 75 Years“ (2017). Der vorliegende Batman-Sammelband entführt die Leser in einen Zoo, zeigt Red Hood und Nightwing beim Handshake und einer Kooperation in Action, alle Robins und einen falschen, Commissioner Gordon beim Whiskey-Trinken mit Two-Face in einer Bar oder Jimmy Olsen auf der Flucht. Auch ein Wiedersehen mit Supergirl sowie eine weitere unkonventionelle Liebesepisode zwischen Cat und Bat.

Alles in allem mehr als 300 Seiten Batman-Abenteur, die neue Perspektiven eröffnen und auch andere Kreative zu noch weit mehr inspirieren wird.

Benjamin von Eckartsberg, Brian Azzarello, Paco Roca, u.a.

Batman – The World

20,00 € *

2021, Softcover, 188 Seiten

ISBN: 9783741624636

Panini

John Arcudi, John Layman, Mark Russell, Tom Taylor

Batman – Im Zeichen der Fledermaus

(Original Storys:         Batman: Gotham Nights 9-17)

2021, Softcover, 172 Seiten

ISBN: 9783741624698

19,00 €

Panini


Genre: Batman, Comics, Sammelband
Illustrated by Panini Comics

DC Celebration – Der Joker

DC Celebration – Der Joker. Schon in der ersten Batman-Ausgabe von 1939 debütierte auch sein Konterpart, der Clownprinz des Verbrechens, besser bekannt als der Joker. Der wohl größte Widersacher von Gotham Citys Mitternachtsdetektiv, Erzfeind und Nemesis unseres Helden und dunklen Ritters hat aber etwas gemein mit allen Superhelden: er trägt eine Maske, hinter der er seine wahre Identität verbirgt.

DC Celebration – Der Joker

Wir wachsen damit auf, dass ihr uns ins Ohr flüstert, dass wir alles sein können, was wir nur wollen. Die Nachteile dessen sind euch aber allerdings nicht bewusst. (…) Diese ganze schöne Welt, die ihr uns hinterlasst, bricht zusammen (…) .“ Auch Batman trägt so eine Maske. Mehr als 80 Jahre Rivalität feiert DC mit dieser Ausgabe, einer Anthologie, die erstmals auf Deutsch erscheint. Erstmals lernen wir auch Joker’s neues Poopsie kennen. Nachdem sich Harley Quinn endgültig zu den Guten verabschiedet hat (ein ähnlicher Verrat wie Catwoman, die auch die Seiten gewechselt hat) lernen wir hier erstmals Joker’s neue Gefährtin kennen, die sich Punchline nennt. Eingeweihte wissen, dass Punchline nichts anderes als Pointe bedeutet, also wohl eine – die einzige – die über des Jokers Witze lachen kann. Auch des Jokers Anklage an die Welt umreißt die Gedanken einer jungen Generation: „(…) zu meinen, Leben sei was anderes als Grausamkeit und Chaos und Furcht… DAS ist der große Witz“. Und zwischen all den verschiedenen Abenteuern der verschiedensten Autoren und Zeichner befinden sich in diesem Band zur Aufmunterung die besten Batman/Joker Covers der 80-jährigen Geschichte des Duos wider Willen.

Dialog mit dem Joker

In einem Dialog mit einem Kind, eine weitere Story in diesem Band, offenbart sich auch die Seele des Clownprinzen des Verbrechens. „Nur wenn sie aus der Kiste wollen. Wenn man sie tötet, kann man nicht mehr mit ihnen spielen“, antwortet der Junge auf Jokers Frage, warum er den Krabblern die Füße ausreißt. Ganz schön düster ist auch die folgende Geschichte über Ronald Fergunson, der von einer Bande Clowns überfallen und festgehalten wird. Der Joker gibt ihm eine zweite Chance, weil er den Zufall liebt und sich gerne als Allmächtiger aufspielt. Als könne er das Schicksal beeinflussen. Dabei ist er selber ein Opfer desselben. Wenn auch ein sehr prominentes. Eine Vielzahl von Zeichenstilen und Interpretationen finden sich in dieser vielfältigen Auswahl an Joker-Geschichten, die mit einigen weiteren Buchcovers im Anhang abgerundet werden und die ganze Schaffenskraft und Inspiration zeigt, die der Joker du Batman seit 80 Jahren ausgelöst haben. Die Storys stammen von Dennis O’Neil (Detective Comics), Paul Dini (Harley Quinn_ Mad Love), Scott Snyder (Batman Metal), Brian Azzarello (Batman : Kaputte Stadt), James Tynion IV (Batman ), Eduardo Risso (Dark Night: Eine wahre Batman-Geschichte), Lee Bermejo (Batman: Damned), Gary Whitta (Rogue One: A Star Wars Story). Der Band enthält auch die letzte Arbeit von Comic-Legende Dennis O’Neil (1939-2020) und die Herkunftsgeschichte von Jokers neuer Gehilfin Punchline.

Autor: Dennis O’Neil, James Tynion IV, Paul Dini, Scott Snyder

Zeichner: Dan Mora, Eduardo Risso, Jock, Lee Bermejo, Rafael Albuquerque

DC Celebration – Der Joker

Originalstorys:   The Joker 80th Anniversary 100-Page Super Spectacular

2020, Hardcover, 124 Seiten, Format: 19 x 28,5 cm.

ISBN: 9783741622564

Panini

24,00 €


Genre: Batman, Comics, Joker, Sammelband
Illustrated by Panini Comics

Lesen als Medizin

Lesen als Medizin. Die wundersame Wirkung der Literatur

„Wenn du liest, spricht Gott mit dir“, meinte schon Augustinus und wenn man einen modernen, pantheistischen Gottesdefinition meint, trifft dies auch heute noch dazu. Denn Gott ist oft die Stimme im Kopf, die man hört, wenn man liest, da Lesen auch mit Hören von Sprache zu tun hat. Ein ganzes Buch als Hommage an die Literatur hat die in Berlin lebende Autorin und Radiomoderatorin hier verfasst, das wahrlich wieder Lust aufs Lesen macht und die therapeutische Wirkung von Büchern hervorhebt.

Lesen als Medizin

Bis ins späte Mittelalter wurde noch sotto voce gelesen, denn die Akzentuierung der Worte mit den Lippen, trug wesentlich dazu bei, von der Sprache emporgetragen zu werden. Weswegen auch heute von führenden Therapeuten das gegenseitige Vorlesen auch bei Ehekrisen empfohlen wird. Das Tröstliche der Literatur ist aber vor allem auch ein Segen, der einem alleine zuteil wird, denn kaum einer wagt es, einen Menschen zu stören, der zwei Buchdeckel zwischen sich und die Welt schiebt. Dass Literatur etwas ganz Frühes („im besten Sinn Primitives“) anspreche, meinte auch schon Fritz Senn, da das Lesen ähnlich wie Wiegenlieder etwas aus einer vorsprachlichen Zeit in uns berühre. Von einer Schutzfunktion der Literatur werden jene sprechen, die das Abtauchen in eine fiktive Welt als wohltuender empfinden, als das Schnarchen, Jammern oder Schimpfen unerwünschter Gesprächspartner. Schon Michel de Montaigne (1533-1592), der von Gerk als Internetvorläufer genannt wird, interpretierte Texte und ließ andere in seinen Aphorismen daran teilhaben. Im Schloss seiner Familie hatte er sich seinen berühmten Turm eingerichtet, in dem er um seinen Schreibtisch alles seine Bücher anordnete und so mit den Autoren, Dichtern und Denkern, ständig in Zwiesprache treten konnte. Vor allem also natürlich mit sich selbst.

Der Don Quijote Effektv

Und genau das ist auch die eigentliche Macht der Literatur. Sie eröffnet intime Räume anderer und erschließt sie für sich selbst. Der praktische Nutzen ist augenscheinlich: die Fehler anderer braucht man dann nicht mehr zu wiederholen. Andrea Gerk hat in der Geschichte der Literatur der letzten Tausend Jahre nach wahren Fundstücken gegraben und diese auch gefunden. Dass Literatur nicht nur in Klöstern, sondern auch in Gefängnissen für die Resozialisierung und Rehabilitation verwendet wurde, unterstreicht sie ebenso, wie den therapeutischen Nutzen für das lesende Individuum selbst. Darüber hinaus widmet sie sich auch der Psychoanalyse, die, selbst ein Kind der Literatur, sich den unendlichen Reichtum und der Schätze der Literatur bediente, wie etwa Freud, der seine antiken Mythen einfach auf die Seele des Menschen anwandte. Nicht zuletzt bedeuteten Bücher aber vor allem auch sozialen Aufstieg und Freiheit. Von den engen Familienbanden oder den Zumutungen des Ehepartners. „Mit einem Buch war man jedenfalls endlich allein. Lesen bedeutete für sich sein zu dürfen.“ Ob diese unendliche Freiheit im Zeitalter des Internet noch weiter Bestand haben wird ist fraglich. Wer sich freiwillig in den ständigen Stand-by Modus versetzen lässt und ständig auf Abruf ist, im Glauben man könnte etwas versäumen, das für das eigene Leben von essentieller Bedeutung sei, wird niemals das kostbare Glück, das sich zwischen zwei Buchdeckeln befindet kosten. Vielleicht ist es genau das, was die Götter einst Ambrosia nannten.

Ein wirklich inspirierendes Buch voll genialer Zitate, Ideen und Einfälle wie man Literatur auch in den Alltag integrieren kann. Und wer weiß, vielleicht auch aus Ihnen einen Don Quijote macht. Dieser war nämlich selbst ein Bücherwurm bevor er auszog, gegen Windmühlen zu kämpfen. Est quod legit.

Andrea Gerk

Lesen als Medizin. Die wundersame Wirkung der Literatur

2021, Hardcover, 352 Seiten

ISBN: 978-3-0369-5856-9

Kein & Aber Verlag

25,70 EUR


Genre: Gefängnis, Klausur, Kloster, Lesen, Literatur, Therapie, Über Literatur
Illustrated by Kein & Aber Zürich

The Gender of Mona Lisa 1

Genderless und Rollenklischees

Hinase lebt in einer Welt, in der die Kinder bis zum 12 Lebensjahr ohne Geschlecht aufwachsen. Erst dann entscheiden sie sich, ob sie Frau oder Mann werden möchten. Hinase ist mittlerweile 17 Jahre alt und hat sich immer noch nicht entschieden. Eigentlich ist sier mit der Geschlechtslosigkeit zufrieden und möchte nichts ändern. Aber dann gestehen Hinase sowohl Shiori als auch Ritsu ihre Liebe und die Karten werden neu gemischt.

Der erste Band spricht ein aktuelles Thema an: Braucht es eigentlich ein Geschlecht, um in einer Gesellschaft zufrieden zu sein? Aufgrund der extrem einengenden und strikten Rollenklischees auf der einen Seite und Geschlechtsidentitäten, die über Transgender, Transfluid, Hermaphrodit usw. reichen, auf der anderen Seite ist der Manga spannend zu lesen, zumal sowohl Ritsu als auch Shiori wollen, dass Hinase für sie entweder zum Mann oder zur Frau wird. Sobald sich die Kinder entschieden haben, stecken sie also in den Rollenklischees fest und leben diese ganz traditionell fort. Hinase dagegen will sich nicht in etwas reinzwängen lassen und ist mit den Freiheiten als geschlechtslose Person zufrieden. Angelehnt wird das Ganze an die berühmte Mona Lisa, der im Manga als Theorie Zweigeschlechtlichkeit zugesprochen wird. Die Geschlechtlichkeit und Geschlechtslosigkeit wird im Manga durch türkisfarbene Elemente indirekt betont. Hinases Augen z.B. sind türkis, während Shioris Krawatte und Ritsus Schleife ebenfalls türkis sind. Diese beiden Kleidungselemente weisen auf die Geschlechterrollen hin, während bei Hinase die Augen als Sitz der Seele auf das eigentlich Wichtige deuten: Wie jemand von seinem Innersten her ist und nicht, wie sie oder er aussieht. Um die Geschlechtsneutralität weiter hervorzuheben, werden eigene Pronomen wie “sier” gebraucht, um Hinases Status zu beschreiben. Hinase benimmt sich in manchen Szenen nicht nur neutral, sondern auch je nach Situation männlich oder weiblich. Die Geschlechtsneutralität sieht man auch an den Zeichnungen der Kinder: Man kann sie weder von der Kleidung und von den Haaren noch vom Verhalten her als weiblich oder männlich zuordnen. Manche scheinen aber Präferenzen zu haben – die die Umwelt im Sinne der Rollenklischees promt fehlinterpretiert.

Die Manga-Reihe macht also deutlich, dass sowohl Geschlechtsneutralität oder beide Geschlechter in einem normal sein kann (und auch sollte) als auch die sofort greifenden Rollenlischees, wenn sich ein Kind für ein Geschlecht entschieden hat. In diesem Spannungsbogen bewegt sich die Geschichte. Sehr schön ist der Ansatz, dass man selbst entscheiden darf, welches Geschlecht man haben will – was aber wieder hinterfragt wird durch die strikte Vorgabe, dass man sich ein Geschlecht aussuchen muss, weil ansonsten diverse Konsequenzen drohen, wenn man es nicht tut.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

Glitterschnitter

 

Die Geschichte von Herrn Lehmann war weitestgehend auserzählt, er war ja auch nicht wirklich ein Typ, um den man sich hätte Sorgen machen müssen. Doch Sven Regener nutzt ihn auch in seinem mittlerweile sechsten Buch als heimlichen Hauptdarsteller und präsentiert die Hilfskraft als Barmann eines kleinen Westberliner Cafés, das sich dem Kreuzberger Trend der 80-er Jahre, Milchkaffee in französischen Schalen überteuert zu servieren, anschließen will. Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by Galiani Berlin bei Ki-Wi

Kairos

Entscheidende Momente in Liebe und Politik

Der jüngst erschienene Roman von Jenny Erpenbeck mit dem deskriptiven Titel «Kairos» bestätigt eindrucksvoll eine Kritik in der gestrigen Rede von Angela Merkel zum Tag der Deutschen Einheit, in der sich die Bundeskanzlerin dagegen verwahrt hat, Lebenserfahrungen in der DDR als Ballast zu bezeichnen. Vor dem Hintergrund der untergehenden DDR erzählt die in Ostdeutschland sozialisierte Schriftstellerin von der Liebe eines ungleichen Paares, die in ihrer Intensität an die Worte von Heinrich Heine erinnert: «Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu; und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei».

Genau das passiert den beiden Protagonisten dieses Romans, der 53jährige Schriftsteller Hans und die 19jährige Katharina verlieben sich in einem Linienbus auf den ersten Blick unsterblich ineinander, ihr Kairos also, jener in der griechischen Mythologie für eine schicksalhafte Entscheidung als günstig geltende Augenblick! Leitmotivisch häufig wiederkehrend begehen sie diesen entscheidenden Moment ihres Lebens wie einen persönlichen Feiertag, indem sie an die Bushaltestelle zurückkehren und das damalige Geschehen wie bei einer Prozession wiederholen. Der nachfolgende Liebestaumel entwickelt sich mit der Zeit allerdings zur Amour fou, aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Ort des Geschehens ist Ost-Berlin, wo Hans in den achtziger Jahren neben seiner Schriftstellerei als «fester Freier» beim Rundfunk arbeitet und Katharina nach dem Abitur eine Lehre als Setzerin im Staatsverlag absolviert. Hans ist zwar verheiratet, mit seiner Frau hat er sich aber dahingehend arrangiert, dem jeweils anderen seine Freiheiten zu lassen. Im Bett findet zwischen ihnen seit zehn Jahren nichts mehr statt, aber eine Trennung wollen sie beide nicht. Hans und Katharina hingegen verbindet neben rauschhaftem Sex ihr kulturelles Interesse, sie leben in einer privilegierten Boheme, interessieren sich für Kunst, lieben gutes Essen in den angesagten Restaurants Ost-Berlins.

Ineinander verschachtelt werden hier, autobiografisch grundiert, die Probleme der beiden Protagonisten und die Geschichte der untergehenden DDR erzählt. In Hans ist der überzeugte Sozialist verkörpert, der als junger Nazi-Sympatisant bewusst in die DDR gegangen ist. Auch nach der Wende noch ist der charakterlich eher widersprüchliche Literat von der prinzipiellen Überlegenheit dieses staatlichen Systems überzeugt. Katharina ist fasziniert vom Intellekt ihres Geliebten, sie hängt an seinen Lippen, wenn er zu politischen oder kulturellen Themen mit ihr spricht oder ihr aus Büchern vorliest, er beflügelt regelrecht ihr Interesse an der Kunst und beeinflusst damit ihre Berufswahl. In ihrer Beziehung ist er dominant, lebt sogar sado-masochistische Gelüste an ihr aus, bis sie ihm einen einmaligen Fehltritt mit einem jungen Kollegen beichtet. Hans zerbricht daran, für ihn stürzt eine Welt zusammen, er glaubte an die einmalige, ewige Liebe zwischen ihnen. Schließlich begibt er sich sogar in psychiatrische Behandlung, kann sich aber trotz allem nicht von ihr trennen. Jahrelang finden sie immer wieder zueinander, eine Zeit seelischer Quälerei für alle beide.

Als atmosphärisch dichte Milieustudie aus der Ostberliner Kulturszene ermöglicht «Kairos» einen tiefen Einblick in das untergegangene Staatsgebilde, dem heute noch so mancher nachtrauert. Im Prolog und Epilog enthüllt die Autorin klammerartig als Katharsis den verstörenden Charakter des intellektuellen Schriftstellers. Dieser mit vielen heute schon fast vergessenen Details aus der deutschen Vergangenheit aufwartende, beklemmende Roman ist dramaturgisch geschickt aufgebaut und sprachlich adäquat umgesetzt. Im Mittelteil stören einige Längen in der Liebesbeziehung mit ihrem ewigen Aufs und Abs, zudem auch mit häufigen szenischen Wiederholungen, ein wenig den ansonsten aber durchaus gegebenen Lesegenuss. «Kairos» ist als Wenderoman wie als Liebesdrama gleichermaßen überzeugend!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Penguin

My genderless boyfriend 3

Spiel mit dem (sozialen usw.) GeschlechtMy Genderless Boyfriend 3 als Taschenbuch

Meguru und Sasame, die beiden genderless boys von “Unicorn Boys” müssen sich einer neuen Herausforderung stellen: Sie sollen eine CD aufnehmen. Während ihr Mangager mithilfe von dessen Vorbild Bro Sasame von der Singerei überzeugen kann, muss sich Megurus Freundin Wako eingestehen, dass ihr geliebter Lebensgefährte alles kann – nur nicht singen. Allerdings scheint Meguru ein Händchen für japanische Schlager zu haben. Um die CD dennoch gut über die Bühne zu bringen, soll ein Vocal Coach die beiden unterstützen. Aber da braut sich schon das nächste Problem zusammen, denn der Coach ist eine Sie und eifersüchtig auf Sasame, weil ihre extrem männliche Kumpeline plötzlich so oft mit dem beliebten Influencer abhängt.

Als wäre das noch nicht genug, ist sowohl für Meguru als auch für Wako Homeoffice angesagt. Aber wie können sich beide auf die Arbeit konzentrieren, wenn sie wissen, dass der geliebte Mensch gleich nebenan ist? Auch ganz banale Alltagsprobleme können die Protagonist*innen in Atem halten, wenn nicht nur der Kühlschrank seinen Geist aufgibt, sondern auch die Wohnung aufgrund Wakos Sammelwut aus allen Nähten platzt.

Weiblich? Männlich? Oder etwas ganz anderes?

Der dritte Band der Serie spielt wieder auf amüsante Art und Weise mit Rollenklischees und regt dabei gleichzeitig zum Nachdenken an. Das fängt schon mit dem Mädelsabend der Männer an, wenn sich Meguru, Sasame und Kira treffen und sich wie Mädchen über Körperpflege und Gefühle austauschen, während Sasame lieber so sein würde wie männliches Vorbild Bro. Aber selbst Sasame muss sich eingestehen, dass so ein Abend einiges für sich hat. Damit wird indirekt deutlich, dass die verschmähte Gefühlsseite des Mannes zum Vorschein kommen darf und heilsam ist.

Es geht weiter mit einem Umstyling Wakos als Mann, in deren Arme schließlich ihr von diesem Erscheinungsbild völlig begeisterter Freund Meguru liegt – Geschlechtertausch. Ob Mann oder Frau wird bei Vocal Coach Misaki erst nicht deutlich, so androgyn ist deren Erscheinung. Ihre Freundin Sakurako hingegen ist trotz extemer Bemuskelung eindeutlig weiblich und wird von Kira schon als Freundin Sasames protegiert, weil der zartgliedrige Sasame auf Männlichkeit steht. Sasame aber darf diesen Traum aufgrund seines Images als genderless boy nicht leben. Er muss anstatt Poster vom Bro Einhörner und andere süße Dinge in seinem Zimmer deponieren, um seine Fans nicht zu enttäuschen. Da runzelt man als kritische*r Leser*in die Stirn: Ist das nicht die Peitsche in die andere Richtung? Warum muss sich Sasame verstellen – nur um einem in die andere Richtung verbohrtem Publikum zu gefallen? Eigentlich sollte er so leben und sein dürfen, wie er ist, ohne irgendeinem Klischee entsprechen zu müssen.

Die Oberflächlichkeit der Szene wird indirekt mehrfach angesprochen und dass sie auf eine andere Art Druck ausübt. Süß soll es sein, seicht und leicht. Das ist aber mit dem Alltag nicht immer zu vereinbaren. Dass das öffentliche Leben von Influencer*innen auch nach hinten losgehen kann, wird im Livestream der beiden genderless boy deutlich, als Sasame wegen Alkoholgenusses völlig aus dem Ruder läuft. Auch Wako unterliegt Klischees gegenüber ihrem Freund, wenn sie ihm unterstellt, beim Kauf eines neuen Kühlschranks nur auf dessen Äußeres zu achten. Auf der anderen Seite räumt sie ihrem Mangaka eine Geschichte über genderless boy ein, der keine Storyline haben muss, sondern einfach nur luftig sein darf. Die leichte Seite des Lebens hat eben auch ihre Berechtigung – solange das Ganze nicht ins andere Extrem abrutscht und man nur noch nach Äußerlichkeiten geht.

Fazit

Mangareihe über die Frage, was Geschlecht eigentlich ist und ob man das überhaupt definieren sollte. Rollenklischees werden amüsant ausgehebelt, aber andererseits wird indirekt deutlich gemacht, dass nur der äußere Schein eben auch nicht alles im Leben ist.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

Vorsicht, heimliche Entzündungen!

Entzündungen, deren Folgen und wie man ihnen entgegenwirkt

Entzündungen sind mindestens unangenehm und können sogar gefährlich werden – v.a. wenn sie als sogenannte heimliche Entzündungen nicht erkannt werden. Vom Sinn her sind Entzündungen aber ein Abwehrmechanismus des Körpers, wodurch der Körper heilen kann. Wenn Entzündungen aber chronisch und evtl. noch dazu heimlich sind, treten häufig langfristige Schäden auf.

Im Buch werden akute, chronische und heimliche Entzündungen unterschieden. Akute treten kurzfristig auf, wenn der Körper feststellt, dass er sich selbst heilen muss. Sie sind in der Regel spürbar und schmerzhaft und von kurzer Dauer. Chronische Entzündungen bezeichnen einen monate- oder sogar jahrelangen Zustand. Der Körper ist nicht mehr in der Lage, seine Entzündungsreaktionen zu regulieren. Sie sind gefährlich, weil sie gesunde Zellen, Gewebe und Organe schädigen, wodurch wiederum Krankheiten entstehen. Heimliche Entzündungen sind kaum spürbare Entzündungen, die oft lange verborgen bleiben. Es sind chronische Entzündungen im Hintergrund. Sie führen oft zu Antriebslosigkeit, Abgeschlagenheit, Verdauungsproblemen und erhöhen die Anfälligkeit für Infekte. Sie schwächen auf Dauer das Immunsystem und schädigen die Organe. Sie gelten als Mitverursacher von schweren Krankheiten. Die Ursachen sind vielfältig, z.B. gehören Bewegungsmangel, schlechte Ernährung, Alkohol, Rauchen, Stress, zu wenig Schlaf, Gift- und Schadstoffe aus der Umwelt dazu. Weil heimliche Entzündungen v.a. durch einen ungesunden Lebensstil begünstigt werden, kann man diese aber zugunsten eines gesunden Lebensstils günstig beeinflussen.

Das Buch gibt neben grundsätzlichen und gut verständlichen Informationen auch Tipps, wie man Entzündungen günstig beeeinflussen bzw. sogar heilen kann. Mit einer Ernährungsumstellung kann schon viel ereicht werden: keine verarbeiteten Lebensmittel und kein Fast Food, dagegen aber Vollwertnahrung und ein Verzicht auf entzündliche Nahrungsmittel. Entzündliche Nahrungsmittel sind z.B. Zucker, Koffein, raffinierte Kohlenhydrate, fette Milchprodukte, zu viele Eier, zu viel rotes Fleisch und verarbeitete Wurst- und Fleischprodukte, hoher Anteil an gesättigten Fettsäuren und/oder Transfettsäuren, falsche Fette wie Palmfett, Omega-6-Fettsäuren. Dagegen sollen in den Speiseplan mehr Omega-3-Fettsäuren aufgenommen werden, vollwertige Kohlenhydrate, ausreichend Balaststoffe und Vitamine und Mineralstoffe, sowie eine ausreichende Trinkmenge (pro Kilogramm Körpergewicht 30-35 ml Wasser täglich). Außerdem sollte man sich ausreichend bewegen und Übergewicht reduzieren, Stress abbauen und geung schlafen.

Entzündungshemmende Lebensmittel sind z.B. grünes Blattgemüse, Vollkorngetreide, Hülsenfrüchte, Nüsse und Saaten, Kräuter und Gewürze, gesunde Fette, Fisch und Meeresfrüchte, in Maßen auch mageres Fleisch aus Biohaltung. An weiteren Gemüsesorten haben sich Paprika, rote Beete, Sauerkraut, Tomaten, essbare Pilze, Zwiebelgemüse und Avocados bewährt. An Früchten sind folgende Obstsorten entzündungshemmend: Ananas, Kirschen, Weintrauben, Zitronen und Beerenobst.

Das Buch bietet viele Informationen rund um die o.g. Lebensmittel und untergliedert sie weiter.

Rezepte

Dem sehr informativen und gut bebilderten Teil, der die Entzündungen und deren Behandlung durch Eigeninitiative behandelt, schließt sich ein ausführlicher Rezepteteil an. An diesem fällt auf, dass er recht kohlenhydratarm daherkommt: Viele Speisen kommen völlig ohne Kohlenhydrate aus und schmecken nach meiner Erfahrung mit diesen Rezepten trotzdem. Sie machen mich aber nicht so langfristig satt wie die mit Kohlenhydraten.

Die Rezepte unterteilen sich in Suppen, Salate und Dressings, Gemüsegerichte, Fisch & Meeresfrüchte, Brote, Snacks und Dips, Getränke und Desserts. In den Rezepten für Salate wird auch z.T. mageres, helles Fleisch verarbeitet und in den Gemüserezepten z.B. Hackfleisch. Fleisch steht aber aufgrund seiner schlechten Beeinflussung von Entzündungen im Hintergrund. Eigentlich ist für jeden Geschmack etwas dabei, wobei aber natürlich Wert auf Gemüse und andere gesunde Lebensmittel gelegt wird. Die schön bebilderten Rezepte sind meist übersichrlich gehalten und kommen mit vergleichsweise wenigen Zutaten aus, sodass sie recht schnell angerichtet werden können. Meist sind den Rezepten noch hilfreiche Tipps angegliedert, sowie Nährwerte pro Portion. Am Ende des Buches gibt es noch eine Schnellübersicht zur besseren Auffindbarkeit der Rezepte. Die Rezepte selbst stammen von der Ernährungsberaterin Simone Fischer und dem Low-Carb-Koch Wolfgang Link. Beide werden im Buch kurz vorgestellt.

Fazit

Sehr informatives, gut verständliches Sachbuch über die verschiedenen Arten von Entzündungen und wie man ihnen mit einer Umstellung des Lebensstils auf gesunde Ernährung und Bewegung begegnen kann. Die Rezepte sind zumindest für mich schmackhaft und kommen mit recht wenigen Zutaten aus, was Zeit spart.


Genre: Sachbuch Gesundheit und Ernährung
Illustrated by Weltbild

Mein Lieblingstier heißt Winter

Morbide Philosophie-Groteske

Es ist sein erster, dieser Roman, «Mein Lieblingstier heißt Winter». Schreibt sonst Theaterstücke, der Ferdinand Schmalz da, Dramatiker aus Österreich. Hat den Bachmannpreis gewonnen 2017, mit dem Kern seiner Geschichte, in Kleinschrift natürlich. Das bleibt ihm erspart, dem Leser heute, immerhin! Ist ein ziemlich schräger Roman draus geworden inzwischen, nominiert für den Frankfurter Buchpreis. Ob preisverdächtig, kann man schwer nur voraussagen, massentauglich wohl kaum, der Sprache wegen. Obwohl, nicht schwer zu lesen, gewöhnt man dran ziemlich schnell sich. Kann man ja gleich ausprobieren hier!

Ein Triceratops wird am Anfang da, im verlassenen Saurierpark, sauber geschrubbt. Soll wieder eröffnet werden, der Park. Die Firma Schimmelteufel hat den Auftrag, reinigt alles, Saurier und Tatorte. Der Schlicht wiederum, Verkaufsfahrer für Tiefkühlkost, bekommt ein makabres Angebot. Von dem Schauer, krebskranker Stammkunde, immer Rehragout 14tägig. Will sich in die Tiefkühltruhe legen, Suizid begehen drinnen. Er, Schlicht, soll die Leiche in den Wald verbringen dann, die Nachkommen zu schonen, absolut diskret, wird auch gut bezahlt dafür. Ist aber leer, die Truhe dann, nicht wie vereinbart, muss also die Leiche er suchen, der Schlicht. Und trifft dabei auf allerlei komische Leute. Auf den Ingenieur zuerst. Der hat sich, verbarrikadiert hat der sich regelrecht, Selbstschuss-Anlage, die Fenster zugemauert. Trifft auch auf die Tatortreinigerin Schimmelteufel. Und auf den Ministerialrat, hohes Tier, einflussreich, nur dass er Weihnachts-Schmuck sammelt, von den Nazis allerdings. Sehr merkwürdig das, ist doch erpressbar geworden dadurch. Und sie schließt sich an, dem Schlicht, bei der Suche, Schauers Tochter, die Astrid, muss doch Gewissheit haben.

Allesamt eine eng ineinander verstrickte Gesellschaft das, sumpfig, in Schmutz und Blut sich suhlend. Ein kleines Ensemble morbider Figuren, Sinnbild für ein vor sich hingammelndes Österreich, die Todessehnsucht zuhause dort. Also Nestbeschmutzung, literarisch ja typisch dorten, häufig zumindest. Es ist das alles, diese Geschichte vom Tod, ziemlicher Nonsens, aber lustig. Alle stecken unter einer Decke, wie er bald merkt, der mit dem treffenden Namen, der Schlicht, der Eismann also. Und halten zusammen da in ihrem Selbstmordclub, selbstbestimmtes Sterben als Zweck. Macht dann aber doch nicht jeder mit, hält sich einfach nicht dran, kommen nämlich schon mal Frauen dazwischen. Wie die Astrid, als Sadomaso-Gespielin von dem Ministerialrat, mit dem Codewort «Rehragout» für den Not-Ausstieg. Hat sich’s halt anders überlegt deshalb, der Suizid-Kandidat, macht ja doch richtig Spaß, so was. Trifft die Putzteufel auch, der Schlicht, dieses skrupellose Weib, Erpressung war bei der im Spiel sogar. Und der Tiefkühl-Fahrer dann landet im Sarg, zuletzt, lebendig begraben. Nicht ein Nervenkitzel nur, sondern eine verhängnisvolle Verwechslung, beinahe tot schon. Und der Anatom kommt auch noch ins Spiel jetzt, da im Seziersaal drinnen, mit dem scheintoten Schlicht obendrauf auf dem metallenen Arbeitstisch.

Trotz aller Theatralik darin, bei dem Autor kaum verwunderlich, ist dieser aberwitzige Plot vom Leben und Sterben, ist er tatsächlich doch ziemlich dialogarm geraten. Stilistisch wird eine eigentümliche Kunstsprache benutzt dabei, die zunächst abschreckend wirkt auf nichtsahnende Leser dann. Hat man ja so nicht so oft. Erzählt wird äußerst metaphernreich, allerdings auch recht eintönig mit der Zeit, ermüdend, ohne sprachliche Variationen darin. Eine dem Dialekt nahe Kunstsprache ist das, eine verquere Syntax nutzend, invertierte Satzstellungen vor allem. Häufige Wort-Wiederholungen und dem Subjekt vorangestellte Pronomen benutzt der Schmalz hier. Einem dem Mündlichen nahe kommenden Rhythmus folgend, verwendet er seine ureigene Diktion. Und die wirkt doch arg holzschnitt-artig, mit einer morbiden Komik obendrein, als Philosophie-Groteske unterhaltsam, mehr aber nicht.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Die Anomalie

Narrative Spielwiese

Hervé le Tellier, ein in Deutschland weitgehend unbekannter französischer Schriftsteller, hat mit seinem Roman «Die Anomalie» den Prix Goncour 2020 gewonnen, sein bisher größter Erfolg. Der studierte Mathematiker ist Präsident des Autorenkreises ‹Oulipo›, der ‹Werkstatt für Potentielle Literatur›, deren Mitglieder sich zu geistreichen literarischen Spielen bekennen. Dieses zum Genre des psychologischen Romans zählende, raffinierte Werk ist ein virtuoses Gedanken-Experiment, das ein Jahr voraus in eine nahe Zukunft weist, in der die Gewissheiten dieser Welt in einer listigen Versuchs-Anordnung total auf den Kopf gestellt werden.

Im März landet eine Boeing 787 der Air France, Flug 006 Paris/New York, die in ein schlimmes Unwetter geraten ist und leicht beschädigt wurde, mit 243 verschreckten Passagieren an Bord wohlbehalten auf dem JFK-Airport. Im Juni gleichen Jahres wird Flug 006 von Abfangjägern eskortiert auf einen US-Militärflugplatz umgeleitet. Wie sich herausstellt ist es die gleiche Maschine mit den exakt gleichen Beschädigungen und genau den gleichen Personen an Bord wie vor drei Monaten. In der Quarantäne auf dem Luftwaffen-Stützpunkt beginnt eine hektische Untersuchung all dieser seltsamen Details, in die alle relevanten Institutionen des Staates und Koryphäen aus den entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen weltweit einbezogen sind. Eiligst werden auch alle Passagiere des März-Fluges auf den von Geheimdienstlern wimmelnden Stützpunkt gebracht und dort unter psychologischer Betreuung mit ihrem duplizierten Ich konfrontiert. Als alle wissenschaftlichen Erklärungsversuche dieser «Anomalie» kläglich scheitern, ruft der Präsident die Führer sämtlicher Weltreligionen zu einer Konferenz im Weißen Haus zusammen, auch das ohne irgendein Ergebnis.

Hervé le Tellier entwickelt seine Geschichte von der simulierten Wirklichkeit mit Hilfe eines illustren Figuren-Ensembles. Zu dem gehören ein Auftragskiller, ein schwuler afrikanischer Pop-Sänger, ein Architekt samt seiner Geliebten, eine farbige Anwältin, ferner ein Schriftsteller, der an einem Roman mit dem Titel «L’Anomalie» schreibt, und andere mehr. Jeder von ihnen hat so seine Probleme, nun aber ergeben sich aus der Tatsache, dass sie urplötzlich gleich zweimal existieren, ein Fülle von aberwitzigen Komplikationen. Der Auftragskiller löst sein Problem, indem er sein Zweit-Ich kidnappt, kaltblütig umbringt und trickreich entsorgt. Schwieriger wird es mit einem Kind, das nach der ersten Landung zu Welt gekommen ist und im Juni auf einmal zwei identische Mütter hat. Auch den depressiven Schriftsteller plagt das Problem, dass sein März-Ich den Roman L’Anomalie geschrieben und sich danach umgebracht hat, sein Juni-Ich den eigenen Roman also gar nicht kennt.

Es liegt auf der Hand, dass derart abstruse Ideen von einer verrückt gewordenen Welt reichlich Stoff bieten für vielerlei kontemplative Exkursionen, die in einem intellektuellen Feldversuch in rascher Folge auf den Leser einstürmen. Man sollte bei dieser den Lachmuskel strapazierenden Satire deshalb stets auch den experimentellen Ansatz und die kontemplativen Leerstellen dahinter im Auge behalten. Mit viel schwarzem Humor werden hier die kopflosen, unsinnigen Reaktionen der wissenschaftlichen und politischen Akteure angesichts der duplizierten Realität durch den Kakao gezogen. Zur Verdeutlichung der Schwindel erregenden Komplexität dieser narrativen Spielwiese werden ergänzend diverse literarische Bezüge mit herangezogen. Als Moralphilosoph eines neu angebrochenen, digitalen Zeitalters lässt Hervé le Tellier seine Romanfigur bei der Vorstellung des neuen Buches auf die Frage, was sich für uns durch eine simulierte Realität denn ändern würde, erklären: «Nichts». Der Mensch wäre blind allem gegenüber, was beweisen würde, dass er sich täuscht, aber genau das sei nun mal zutiefst menschlich. Ein grandioser Roman, von dessen literarischem Kaliber aktuelle deutsche Preisträger weit entfernt sind!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Matthes & Seitz

Strom und Wärme – Wege zum energieautarken Haus

Strom und Wärme: Wege zum energieautarken HausReichhaltige Möglichkeiten, weitgehend autark und umweltschonend zu wirtschaften

Die Verbraucherzentrale NRW stellt mit diesem Buch einen Ratgeber vor, der anhand von Beispielfamilien verschiedene Wege zu mehr Autarkie in Bezug auf Energie beleuchtet. Grob gesagt geht es zum einen um eine fiktive Familie, die in einem unsanierten Altbau wohnt, zum anderen um eine in einem sanierten Altbau und um eine in einem neugebauten Passivhaus. Der Autor betont in seiner Einleitung, dass dieses Buch nur eine Anregung darstellt und keine Energieberatung ersetzt. Nichtsdestotrotz ist der Ratgeber reich an Informationen, Grafiken, Rechenformeln und -beispielen, die einen guten Eindruck dessen vermitteln, was da auf einen zukommt, wenn man mehr Energie-Autarkie möchte. Unterfüttert werden die Beispiele weiterhin mit den Exkursen “Gut zu wissen”, Tipps, Verweisen, Definitionen, Abbildungen, Diagrammen und Tabellen. Es wird also genau erläutert, was einen bei verschiedenen Varianten erwartet.

Zum Inhalt: Der Autor stellt nicht nur die Gründe für mehr Energieautarkie vor, sondern erläutert auch den Strom- und Wärmebedarf. Diesen kann man auf herkömmliche, aber eben auch mit erneuerbarer Energie decken, was der Umwelt zugutekommt. Demzufolge enthalten die Beispiele auch immer den Grad der Umweltentlastung. Er geht näher auf Photovoltaikanlagen ein, Kleinwindanlagen (meist nicht rentabel außer in Gebieten mit regelmäßig viel Wind), Stromspeicher, Mikro- und Nano-Blockheizkraftwerke, Kollektoranlagen, stellt überdies Überlegungen zur Wirtschaftlichkeit an, wie man Biomasse zum Wärmen nutzt, wie man diverse Techniken koppeln kann, um mehr Autarkie zu erlangen, und stellt schon vorhandene Beispiele für energieautarke Häuser vor. Er sagt, worauf man achten muss und kommt zu dem Ergebnis, dass vollständige Autarkie bisher (Stand 2016) nicht zu erreichen ist, aber v.a. durch Kombination verschiedener Möglichkeiten zumindest eine weitgehende Autarkie erreicht werden kann. Oft braucht ein System mindestens ein weiteres, damit es optimal funktioniert. Das alles kostet natürlich, was der Autor in seinen Rechnungen berücksichtigt. All dies wird wie gesagt ausführlich beleuchtet.

Gleichungen ermöglichen es, das Ganze auf den eigenen Bedarf umzurechnen. Überhaupt gibt es viel zu rechnen, was mich persönlich etwas überfordert hat, weil ich nicht gut in Mathematik bin. Außerdem machten mir an manchen Stellen die Grafiken wegen sehr kleiner Schrift zu schaffen. Irritierend sind trotz Korrektor die Tippfehler; v.a. der Unterschied “Ihr – ihr”, “Sie – sie” scheint wenig bekannt zu sein, weil diese Schreibweisen öfter verwechselt werden.

Ansonsten gibt es immer wieder zur besseren Übersicht Zusammenfassungen und bei den Beispielfamilien je ein Fazit, sodass man sich auch gut informieren kann, wenn man sich nicht alles ausführlich durchlesen und nur sporadisch bzw. nach eigenem Bedarf tiefer in die Materie einsteigen will. Auch Checklisten erleichtern Interessierten das Vorgehen. Das Buch trifft den Nerv in Zeiten des Klimawandels, ist also hochaktuell.

Allerdings ist mein Eindruck nach der Lektüre, dass das alles ziemlich kompliziert und trotz der ebenfalls mitbedachten Förderung teuer ist und genau durchdacht werden muss. Deshalb auch der Rat zur Energieberatung, die übrigens auch die Verbraucherzentrale vornehmen kann. Trotzdem ist der Weg zur Autarkie und der Dezentralisierung bzgl. Energie langfristig wohl der, der zum eigenen Nutzen und dem der Umwelt gegangen werden sollte.

Fazit

Ausführliche Informationen zu den verschiedenen Möglichkeiten, das eigene Haus weitgehend erergieautark zu gestalten. Das Buch ist übersichtlich aufgemacht, gibt einen Überblick über erneuerbare Energien auf dem eigenen Grundstück und im Haus, stellt mögliche Varianten mit Kosten und Effizienz anhand von drei Beispielfamilien vor, enthält Formeln, um alles auf den eigenen Bedarf umzurechnen, und ist in Zeiten des Klimawandels hochaktuell.


Genre: Sachbuch Energie
Illustrated by Verbraucherzentrale

Blaue Frau

MeToo

Acht Jahre lang hat Antje Ravik Strubel an ihrem neuen Roman mit der Titel «Blaue Frau» gearbeitet, wie sie im Nachwort schreibt, und das hat sich offensichtlich gelohnt, denn er wurde jüngst in die Shortlist für den Deutschen Buchpreis aufgenommen. Man darf spekulieren, was dafür ausschlaggebend war, die hochaktuelle Thematik oder das variationsreiche Roman-Konstrukt, welches «aufwühlend in einem großen Spannungsbogen» von einer Gewalterfahrung und ihren fatalen Folgen berichtet, wie die Jury zu ihrer Entscheidung verlauten ließ.

Adina, letzter Teenager in einem zunehmend entvölkerten Dorf im tschechischen Riesengebirge, verlässt 2006 nach dem Schulabschluss ihre Heimat, um in Berlin einen Intensiv-Sprachkurs zu absolvieren und anschließend dort ein Studium der Geowissenschaften aufzunehmen. Sie trifft auf eine Fotografin aus der Boheme, der sie Modell sitzt und der es gelingt, in den Fotos ihr zweites, männliches Ich, «den letzten Mohikaner», ans Licht zu holen. Sie hatte dieses Pseudonym für ‹Rio›, ihren bevorzugten Chatroom im Internet, ausgewählt, ein Symbol für ihr aussterbendes Dorf und ihre bedrückende Verlorenheit in der Fremde. Die lesbische Fotografin ist es dann auch, die ihr eine Praktikanten-Stelle in einem neuen Kulturzentrum auf einem Landgut in der Uckermark vermittelt. Dort wird sie von einem europäischen Kulturpolitiker, der zu Gesprächen über Fördergelder eingeladen ist, brutal vergewaltigt. In Panik flieht sie und landet nach einer abenteuerlichen Odyssee schließlich in Helsinki. Als Illegale arbeitet sie dort in einem Hotel, wo sie Leonides, einen estnischen EU-Abgeordneten und hochangesehenen Professor, kennen lernt, der sich vornehmlich der Menschenrechts-Thematik widmet. Als Adina anderthalb Jahre später auf einem Empfang, zu dem sie Leonides begleitet, ihren Peiniger wiedersieht, flüchtet sie Hals über Kopf und versteckt sich in einer eiligst angemieteten, möblierten Wohnung. Niemand weiß, wo sie abgeblieben ist, bis sie sich einer Aktivistin für Frauenrechte anvertraut, die ihr helfen soll, ihren Peiniger vor Gericht zu bringen.

«Blaue Frau» ist ein ambitionierter Roman nicht nur über Gewalt an Frauen und den dornenreichen Weg aus dem inneren Exil, in das sich seine Heldin geflüchtet hat, er widmet sich auch engagiert den politischen Abgründen Europas, dem unwürdigen Gezerre der Mitgliedsstaaten um Subventionen und kulturelle Fördertöpfe. Wobei die Ost/West-Differenzen ebenso eine Rolle spielen wie die unterschiedliche Stadt/Land-Lebensweise oder die DDR-Vergangenheit, die in der Person des skrupellosen Kulturzentrum-Gründers, einem ehemaligen NVA-Offizier mit nützlichen Seilschaften, exemplarisch zum Ausdruck kommt. Stilistisch ist der Roman durch seine kunstvoll ineinander verflochtenen Handlungs-Stränge geprägt, ferner durch eine immer wieder eingestreute, atmosphärisch stimmige und zum Geschehen passende Beschreibung der Natur, sei es im Riesengebirge, in der Uckermark oder in Finnland. Auch das quirlige Berlin ist mit seinem Flair und dessen Wirkung auf das tschechische ‹Landei› wunderbar treffend beschrieben.

Mit erstaunlichem Einfühlungs-Vermögen wird das Innere der Protagonistin tief ausgelotet, werden minutiös ihre Wahrnehmungen in der fremden Umgebung beschrieben. Andererseits belässt die Autorin das seelisch Verletzte ihrer Heldin in einer diffusen Ungewissheit, indem sie ihr beispielsweise, neben dem Kraft symbolisierenden ‹Mohikaner›, mit Adina, Nina und Sala drei mental nicht immer deckungsgleiche Namen gibt. Dazu trägt aber auch die titelgebende «Blaue Frau» selbst mit bei, eine der Protagonistin in kurzen Auftritten erscheinende, mystische Figur, die mit der Autorin identisch zu sein scheint und im Prozess des Schreibens die poetologische Linie vorgibt. Mit dieser Methode hält sie den Leser salopp gesagt bis zuletzt ‹bei der Stange› und bietet ihm reichlich Raum für eigene Interpretationen. Eine literarisch hochstehende Lektüre wartet hier auf anspruchsvolle Leser!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Identitti

Zeitbezug als USP

Mithu Sanyal hat sich von realen Vorbildern zu ihrem Roman «Identitti» inspirieren lassen, er befasst sich mit dem Thema menschliches Selbstverständnis aus Sicht von Farbigen in einer von Weißen dominierten Gesellschaft. Das im Hier und Jetzt angesiedelte Debüt der einer polnisch/indischen Ehe in Düsseldorf entstammenden Autorin verarbeitet den nicht gerade alltäglichen Stoff einer gefälschten rassistischen Zugehörigkeit. Dominante Figur ihres Plots ist eine eloquente Professorin für postkoloniale Theorie, die sich nach einem Studium in Indien unter dem Namen Saraswati durch Anpassung ihres Aussehens als Inderin ausgegeben hat, um ihre Berufung auf diesen besonderen Lehrstuhl zu erwirken.

Erzählt wird dieser Roman mit dem albernen Titel aus der Sicht der Studentin Nivedita, die als Alter Ego der Autorin ebenfalls polnisch/indische Eltern hat. Sie beschäftigt sich unter dem Pseudonym «Identitti» in ihrem Blog und auf anderen Plattformen kritisch mit Rassismus und Sexismus, was nun auch den komischen Titel erklärt. Der Roman ist nicht nur örtlich, sondern auch sprachlich und intellektuell im universitären Milieu angesiedelt und erzählt dezidiert aus der Nerd-Perspektive. Deren Neusprech erfordert, ebenso wie die Einbeziehung von Social-Media, bei «älteren Semestern» unter den Lesern erhöhte Konzentration, will man all die Anspielungen aus der ‹Internet-Community› denn auch wirklich verstehen. Die Aufdeckung der falschen Identität jener gefeierten, omipräsenten Professorin löst einen Riesenskandal aus. Sie hatte sich als PoC ausgegeben, als Person of Colour, heißt in Wahrheit aber Sarah Vera Thielmann, stammt aus Karlsruhe und hat eindeutig urdeutsche Eltern. Im Netz geht ein Shitstorm über Saraswati los, die sich listig nach der hinduistischen Göttin der Weisheit benannt hatte. Die Alma Mater entlässt sie mit Schimpf und Schande, nur ihre Studentin Nivedita hält tapfer zu ihr.

Mit diesem Roman zum Thema ethnische Zugehörigkeit werden in erfrischender Selbstironie allerlei hochtrabende Erkenntnisse über die vermeintliche Identität des Menschen widerlegt. Gleich bei Niveditas erstem Besuch eines Seminars von Saraswati beginnt die Star-Professorin mit dem Satz: «Okay, erst mal alle Weißen raus.» Und fährt, nachdem die ‹Weißen› den Saal verlassen haben, mit der als Einstieg in die Diskussionen genialen Frage fort: «Warum seid ihr geblieben?» Äußerst engagiert handelt Mithu Sanyal ihr Thema scharfsinnig in allen möglichen Facetten ab, die überwiegend in oft scharfzüngiger Dialogform vorgetragen werden. Ihre Formulierungen sind geschliffen, geistreich und mit einer nicht zu übersehenden, angesichts der Thematik wohltuenden Prise Ironie gewürzt. Sehr klar offengelegt wird dabei die Kluft zwischen gemutmaßter und tatsächlicher Identität, die exemplarisch in der ambivalenten Figur der Professorin verdeutlicht wird. Neben den ‹Trancerace›-Identitäten erhalten in diesem Campus-Roman aber auch die nicht weniger komplizierten ‹Transgender›-Identitäten einen breiten Raum.

Ein Stilmittel der Autorin sind die imaginären Gespräche ihrer Heldin mit Kali, einer furchteinflößenden indischen Göttin, die sie auch in ihrem Blog veröffentlicht. Mit ihren auf die Spitze getriebenen Reflexionen hat sie einen originellen Roman vorgelegt, der durch die permanenten Wiederholungen der immergleichen theorielastigen Gedanken auf Dauer allerdings immer langweiliger wird, weil nichts wirklich Interessantes mehr geschieht. Abgesehen von den Passagen zum eigentlichen Thema ist die begleitende, den eigentlichen Plot bildende Prosa wenig überzeugend, oft sogar holprig oder ganz misslungen. Man darf vermuten, dass die Wahl dieses Romans in die Shortlist des diesjährigen Frankfurter Buchpreises allein die aktuelle Zeitbezogenheit honoriert hat, ökonomisch bewertet also, als schnöde USP! Nicht berücksichtigt ist die literarische Qualität, um die es letztendlich immer gehen muss, soll ein erzählerisches Werk als preiswürdige Kunst gelten!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Shuggie Bain

Deprimierende Milieustudie

Der in Glasgow geborene, seit zwanzig Jahren in New York lebende Modedesigner Douglas Stuart hat mit seinem ersten Roman «Shuggie Bain» im vergangenen Jahr der britischen Booker Prize gewonnen. Das seiner alleinerziehenden Mutter gewidmete, stark autobiografisch geprägte Buch des homosexuellen Autors spielt in seiner Geburtsstadt zur Zeit des Thatcherismus. Auch seine Mutter war verarmt und starb an den Folgen des Alkoholismus, und last not least ist die Titelfigur ebenfalls queer.

Mit viel Einfühlungsvermögen wird in diesem Roman eine tragische Geschichte aus einer Zeit der Massen-Arbeitslosigkeit erzählt. Deren Ursache waren in den achtziger Jahren die radikalen Reformen der Eisernen Lady, die zu sozial nur unzureichend abgesicherten Schließungen von Kohlezechen und Stahlwerken führten und viele Familien in ein bodenloses Elend stürzten. Die geschiedene Agnes, Mutter zweier Kinder, heiratet den Taxifahrer ‹Big Shug› Bain und bekommt mit ihm ein drittes Kind, das alle nur Shuggie nennen. Die schöne Frau, von den Männern bewundert und begehrt, von den Frauen, wen wundert’s, beneidet und angefeindet, bewahrt in all dem Elend ihren Stolz, sie ist immer topp gepflegt, gut gekleidet und sorgt für ihre Kinder. Man wohnt zusammen mit ihren Eltern zu siebt in einer kleinen Arbeiterwohnung. Bis der virile Shug, der gleich mehrere Geliebte hat, für seine Familie eine eigene Wohnung in einer armseligen Vorstadt-Siedlung findet. Er lässt sie dort dann aber allein und kommt nur gelegentlich mal vorbei. Dieser narrativen Exposition folgt die meist aus der Perspektive des anfangs etwa sechsjährigen Shuggie erzählte Geschichte von Agnes. Deren Selbstbewusstsein kippt allmählich in eine quälende Agonie um. Sie wird ein Opfer der bedrückenden äußeren Umstände, verfällt nach und nach immer mehr dem Alkohol, kommt in eine Entziehungs-Anstalt und schafft es dann tatsächlich, auch mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker, ein ganzes Jahr lang ‹trocken› zu bleiben. Ein neuer Verehrer erscheint zunächst als der rettende Engel, der sich rührend um sie bemüht, dann aber den verhängnisvollen Fehler begeht, Agnes bei einem ersten, feierlichen Restaurant-Besuch zu einen ‹ganz kleinen Schlückchen› Wein zu überreden, – aus dem Schluck wird ein ganzes Glas. Der verhängnisvolle Teufelskreis beginnt, wie zu erwarten, aufs Neue. Als emphatischer Leser ist man schockiert, aber «Shuggie Bain» ist halt kein Kuschelroman!

Die stilistisch im sozialen Realismus erzählte Geschichte verzichtet auf Ausschmückungen, in geradezu asketischer Weise werden nüchtern und detailgenau die damaligen Lebensumstände beschrieben. Gleichwohl gelingt es dem Autor, den Leser empathisch für seine in diesem tristen Umfeld agierenden Figuren einzunehmen. Er schildert sie als unrettbar in Ihrem Milieu gefangene, depressive Menschen und eröffnet den Desillusionierten kaum eine Perspektive zu sozialem Aufstieg. Andererseits zeigt er aber auch brutal realistisch die aus der Chancenlosigkeit erwachsende, abschreckende Bösartigkeit, die sich da zuweilen Bahn bricht. Gehässige Intrigen, Vergewaltigungen am laufenden Band, Gewaltexzesse, die Quälereien, denen der weibische Titelheld permanent ausgesetzt ist, geben dem Geschehen im Roman seine bedrückende erzählerische Grundierung.

Das Problem dieses Romans ist der Widerspruch zwischen dem deprimierenden, manchmal ins Groteske abdriftenden Milieu des Plots und den brillanten sprachlichen Bildern, in denen so locker davon berichtet wird. Nicht wenig überzogen ist leider auch die Rolle des kindlichen Helden als selbstloser Retter der immer tiefer im Suff versinkenden Mutter. Zu loben ist die Übersetzung des gelegentlichen Proletarier-Jargons in ein adäquates, leicht lesbares Deutsch. «Ich wollte mit dem Buch erreichen, dass die Leser nicht nur sehen, wie furchtbar Armut ist, sondern auch, mit welcher Würde sich arme Menschen durchs Leben bewegen» hat der Autor erklärt. Und das ist ihm fürwahr gelungen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München