Reichskanzlerplatz

Geschichte zweier Opportunisten

Eine schillernde Figur, Magda Goebbels, steht im Mittelpunkt des neuen Romans von Nora Bossong, Protagonist und Ich-Erzähler jedoch ist Hans Kesselbach, ein Homosexueller, mit dem sie in jungen Jahren kurzzeitig eine Affäre hat. Entlang der deutschen Geschichte von 1919 bis 1945 schreibt die Autorin über die «Vorzeigemutter» des Dritten Reichs, von der außer ihrem Abschiedsbrief an den ältesten Sohn aus erster Ehe nichts Schriftliches erhalten ist, Ganz im Gegensatz zu ihrem Mann, dem verbrecherischen Propaganda-Minister, der als einer der eifrigsten Tagebuch-Schreiber gilt, von seinen jedenfalls sind hunderte erhaltenen geblieben. Und ob sich hinter der Romanfigur des schwulen Liebhabers der Student Fritz Gerber verbirgt, das ist ebenfalls unsicher, reichlich Raum also für Fiktives in diesem Roman.

Eine Friedhofs-Inschrift, die dem Buch eine bedrohliche Grundstimmung unterlegt, ist als Motto vorangestellt: «Was Ihr seid – das waren wir; was wir sind – das werdet Ihr». Die junge Magda hat den aufstrebenden Industriellen Günther Quandt geheiratet, der mit Textilien für die Wehrmacht den Grundstein für sein industrielles Imperium gelegt hat. Helmut, der jüngste ihrer beiden Stiefsöhne, freundet sich mit seinem Klassenkameraden Hans an und lädt ihn über Jahre hinweg immer wieder in die pompöse Villa seines reichen Vaters ein. Seine junge Stiefmutter Magda, die er spöttisch nur Madame Quandt nennt, findet ebenfalls Gefallen an Hans. Als aber Hans sich seinem Freund eines Tages unsittlich zu nähern versucht, bricht Helmut den Kontakt für längere Zeit komplett ab. Später lebt ihre Freundschaft wieder auf, und Magda, die in ihrer Ehe sehr unglücklich ist, hat eine Liebesbeziehung mit Hans, der inzwischen studiert. Während sie Trost sucht, schützt ihn die Liaison vor Anfeindungen, denn Homosexualität ist nach §175 ein Straftatbestand zu jener Zeit.

Magda lässt sich scheiden und bezieht eine repräsentative Wohnung am titelgebenden «Reichkanzlerplatz», in deren Salon sich bald schon die Prominenz von Berlin zum geselligen Beisammensein trifft. Dort verkehrt auch der Österreicher, und als Hans eines Abends am Flügel sitzt und spielt, tritt jener näher und blickt ihm auf die Finger. «‹Schubert›, sage ich. ‹Es geht zu Herzen›, antwortet Hitler». Das war’s auch schon, dieser Name kommt im gesamten Roman nur dieses eine Mal vor, ein gekonnter literarischer Winkelzug der Autorin. Hans geht nach dem Jurastudium in den diplomatischen Dienst und arbeitet im Konsulat in Mailand, weit genug entfernt von den politischen Umtrieben und allem Militärischen, dem er nichts abgewinnen kann, obwohl ihn sein im Ersten Weltkrieg hochdekorierter Vater dafür vorgesehen hatte.

Könnte es sein, fragt man sich nach der Lektüre, dass entgegen der literarischen Absicht der Handlungsstrang mit Magda Goebbels in Umfang und Bedeutung hinter den mit Hans Kesselbach zurückfällt. Während Magda ziemlich farblos bleibt und entgegen ihres historischen Ranges im Roman keinerlei Anteil hat an den Verstrickungen des verbrecherischen Regimes, ist Hans in seiner diplomatischen Mission sehr vertraut damit, was die Nazis da gerade anrichten. Obwohl das damalige Geschehen äußerst komplex war, erscheint es im Buch leichtverständlich und leider auch leichtverdaulich. Man wird auch nicht durch das Wort KZ als Synonym für das Unfassbare belästigt, denn weder Magda noch Hans sind damit konfrontiert, was mit Juden und anderen Systemopfern tatsächlich passiert. Nicht nur die beiden Hauptfiguren bleiben blass, auch die Nebenfiguren sind ziemlich konturlos. Aber warum eigentlich muss Hans im Roman denn unbedingt schwul sein? Ist das etwa der Grund: ‹Wenn Hans ein richtiger, ein gestandener Mann gewesen wäre, der Magda hätte befriedigen können in ihren unerfüllten Sehnsüchten, dann wäre sie auch nicht Frau Goebbels geworden.› So einfach gestrickt ist diese Geschichte zweier Opportunisten!

Fazit:  miserabel

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Hasenprosa

Polarisierendes Experiment

Mit dem Titel «Hasenprosa» spielt die Schriftstellerin Maren Kames in ihrem neuen Roman auf das weiße Kaninchen in dem berühmten Kinderbuch «Alice im Wunderland» an, ein Langohr fungiert nämlich auch hier als literarischer Sidekick. Womit eines schon mal geklärt ist, eine realistische Erzählung wartet da nicht auf den Leser. Dieses experimentelle Buch ist ein virtuoser Parforceritt durch die Genres Memoir, Coming-of-Age und Familiengeschichte, erzählt in einer irritierend flatterhaften Kunstsprache, die häufig zu verblüffenden Assoziationen führt. Es wurde für die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024 ausgewählt und von den Feuilletons einhellig gefeiert, die Resonanz in Leserkreisen hingegen zeugt ebenso einhellig von hilflosem Unverständnis und strikter Ablehnung. Derart polarisierende Literatur findet man selten!

«Das mit dem Hasen ist rückwirkend betrachtet doch der Sommer der Anbahnung, der Maserung gewesen. Subkutan mauserte sich alles, äste sich unterholz vorwärts durchs Gras zu einer wie insgeheim vorgesehenen Stelle, suchte sich je eine behutsam ausgebuchtete Mulde und narbte dort friedwärts verabredet ganz langsam zu.» Mit diesem ersten Satz beschreibt die Autorin ihre Intentionen für den kreativen Prozess, der zu dem Buch in unseren Händen geführt hat. Ein wiederkehrendes Merkmal ihres Romans besteht darin, dem Leser Einblick in ihren Schreibprozess zu gewähren. Zu dem gehört auch eine Einbeziehung literarischer Vorbilder, deren wichtigstes die für ihren antirealistischen Stil bekannte österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker ist, die immer wieder zitiert wird. Kein Wunder auch, dass hier, wie nicht selten in der «modernen» belletristischen Prosa, so etwas wie ein Plot nicht vorhanden ist. Der Roman beginnt mit einer fantasierten Reise der Ich-Erzählerin Maren durch Zeit und Raum, mit dem Hasen als ständigem Begleiter und Gesprächspartner, die erst im letzten Drittel von der weitgehend konventionell erzählten Geschichte ihrer beiden Großeltern-Paare abgelöst wird.

«Dann begaben wir uns zum Rand der Steppe und machten, was wir uns fürs Ende vorgenommen hatten. Der Hase zog seine Fliegerkappe auf. ‹Ope, there goes gravity,› sagte er leise. Ich nahm ihn fest um den Bauch und warf ihn mit aller Kraft meiner kleinen Arme vom Steppenrand Richtung Alpha Leporis. Das hatte er sich gewünscht. Ade, rief er im Abflug, ade! Mit meinem Fernrohr sah ich ihn auf einer elliptischen Kurve durchs All segeln, im Anstieg kleiner werdend, punktförmig, bis fast zum Verschwinden, dann am Scheitelpunkt wenden und sich im Absinken wieder materialisieren, bis er schließlich im Lichthof des Hasensterns landete (versank). Ich justierte das Objektiv. Der Stern nickte und blinkte. Der Hase winkte. Vom Himmel fiel fliederner Regen.»

Mit dieser ausufernd lyrischen Prosa überfordert Maren Kames bewusst ihre Leser. Sie spielt unbeirrt auf ihrer stilistischen Klaviatur mit Klangmalereien, Neologismen, mit stakkatoartigen Wortvariationen und sinnfreien Reihungen oder mit fremdsprachigen Einschüben. Nicht selten unterläuft ihr dabei so mancher linguistischen Lapsus, handfeste Kalauer sogar. Neben literarischen Bezügen reichert sie ihren Text auch mit musikalischen Verweisen an, die dazu aufzufordern scheinen, begleitend zum Lesen auch noch die Lieblingsmusik der Autorin zu hören, die Worte quasi musikalisch zu unterlegen. Zu allem Überfluss sind auch noch Bilder eingefügt, die allein schon 18 Seiten der 182 Buchseiten füllen. Die Krone der Ironie aber ist ein achtseitiges Quellenverzeichnis im Anhang, das jedem Fachbuch alle Ehre machen würde, beginnend mit drei Seiten ‹Manifester Soundtrack›, ‹Subkutaner Soundtrack›, ‹Zitierte Texte›, ‹Bilder›, ‹Theater-Referenzen› und ‹Begleitender Soundtrack›, gefolgt von fünf Seiten Quellen- und Bildnachweisen. Ob der Versuch gelungen ist, ein Gesamt-Kunstwerk á la Richard Wagner zu schaffen, hier also verschiedenartige Texte, Musik und Bilder literarisch überzeugend in einem Buch zu vereinen, das muss und kann letzten Endes jeder Leser nur für sich entscheiden!

Fazit:   miserabel

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Nostalgia

Hier also bin ich

Der stark autografisch inspirierte Roman «Nostalgia» des Schriftstellers André Kubiczek, dessen Mutter aus Laos stammte, beginnt wie eine Coming-of-Age-Geschichte, um dann aus laotischer Perspektive ein Frauenschicksal zu schildern, wie es beklemmender kaum vorstellbar ist. Ohne aber, trotz des Titels, nostalgisch verklärt zu sein. Die ersten zwei Teile der vierteiligen Erzählung schildern aus der Sicht Andrés dessen Schulalltag in der Spätphase der DDR. Mit seinem asiatischen Aussehen ist er in Potsdam Hänseleien der Mitschüler ausgesetzt, aber auch Schikanen einer böswilligen Lehrerin. Der jüngere Bruder des Dreizehnjährigen ist geistig behindert. Nur nicht auffallen ist die Devise von André angesichts des Alltagsrassismus, dem er ausgesetzt ist, und deshalb achtet er strikt darauf, dass ja niemand etwas von der Behinderung seines Bruders erfährt, auch seine Freundin nicht. Es ist eine Geschichte, die einem unter die Haut geht, deren Tragik aber von einem wohltuend lockeren Erzählton angenehm kontrastiert wird.

Der in der DDR geborene André ist sehr zufrieden mit seinem Leben, er kommt in der Schule gut voran, hat viele Freunde, ist gerne auch bei den Großeltern zu Besuch und erlebt all jene für einen Heranwachsenden prägenden Ereignisse. Der Autor versteht es, diese Jugend derart authentisch zu schildern, dass man häufig auch an eigenes Erleben erinnert wird. Das klingt dann auch sprachlich nicht nur so unglaublich real, dass man die Gedankengänge des Jugendlichen, seine Wünsche und Träume, aber auch seine Ängste geradezu mitzuspüren glaubt, alles scheint außerdem auch dokumentarisch echt zu sein. Für die Wessis unter den Lesern wird die sozialistische Idylle mit ihren subtilen Gängelungen und dem gehirnwäsche-artigen, politischen Weltbild äußerst stimmig beschrieben. Insoweit ist dieses Buch nicht nur ein Entwicklungs-Roman, sondern auch ein DDR-Roman.

Das kommt dann auch im dritten Teil der Geschichte zum Tragen, wenn im Rückblick Teo, die laotischen Mutter, in den Fokus rückt. Sie stammt aus einer prominenten Familie, ihr Vater war bis zum kommunistischen Putsch 1975 Außenminister von Laos und wurde dann von der eigenen Leibgarde ermordet. Während ihres Studiums in Moskau hatte Teo ihren aus der DDR stammenden Mann kennen gelernt und ist ihm in seine Heimat gefolgt, wo sie geheiratet haben und wo schon bald auch ihre zwei Söhne geboren wurden. Andrés Vater strebt eine wissenschaftliche Karriere an und schreibt an seiner Doktorarbeit, die Mutter arbeitet, deutlich unterqualifiziert, als Dolmetscherin, bis ihr Vorgesetzter auch ihr den Weg zur Promotion öffnet. Sie erkrankt aber unheilbar an Krebs, und eines Tages erhält André, der inzwischen selbst studiert, ein Telegramm mit der Todesnachricht. Über seinen Kommilitonen, der ihm kondoliert, heiß es im Buch: «Jens weiß, wie es ist, keine Mutter zu haben. Er hat seine eigene vor Jahren an einen Mann verloren, der nicht sein Vater ist».

Derartig stimmige, lockere Formulierungen finden sich viele in diesem Roman, der die Chronologie virtuos negiert und dann am Schluss eben damit endet, dass die junge Teo mit ihrem Samsonite-Koffer, «der T34 unter den Koffern der Welt», wie ihr Mann meint, am Bahnhof ankommt. Sie war nach Moskau geflogen und mit dem Nachtzug nach Berlin weiter gefahren, wo sie der Vater ihres Mannes abholt. Sie tritt auf den Bahnhofs-Vorplatz und denkt: «Hier also bin ich». Mit ihrem ersten Schritt ins Unbekannte, in ein neues Leben für die junge Loatin, endet diese Geschichte schließlich, so paradox es scheint. Alle Figuren werden so lebensecht geschildert und sind durchweg so sympathisch, dass man sich nur schwer von ihnen trennen kann. Der Roman wurde für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert, man kann dem in Anbetracht seiner literarischen Qualitäten nur zustimmen!

Fazit:   lesenswert

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Dear Friend and Gardener

Schon die Vorwörter dieses Briefwechsels sind lesenswert: Gekauft hatte ich es als Taschenbuch, 2021 in England erschienen, mit einem Vorwort von Fergus Garrett, dem Nachfolger Lloyds in Great Dixter, und natürlich auch mit denen der beiden Autoren von 1998.

Die deutsche Übersetzung erschien 2013 zu Beths Neunzigstem mit einem weiteren Vorwort von ihr, in dem sie die vielen Praktikant:innen aus Deutschland lobt und die Übersetzung von Maria Gurlitt-Sartori hervorhebt, (zu Recht, wie ich finde) deren Schwester bei ihr gearbeitet hatte. Sie betrachtet sie alle als ihre Kinder, teilte gerne die selbst gezogenen Gemüse mit ihnen. Die fast Neunzigjährige schreibt:

Weiterlesen


Genre: Biographien, Briefe, Literatur, Memoiren
Illustrated by DVA München

Mein drittes Leben

Trauer ohne Larmoyanz

Der vierte Roman der Schriftstellerin Daniela Krien mit dem Titel «Mein drittes Leben» behandelt nicht weniger als die Vergänglichkeit des Menschen und seine oft vergebliche Suche nach Glück. Er gehört zu dem heiklen Genre der Trauer-Romane, ohne aber ganz in Pathos zu versinken, wie das bei dieser Thematik allzu häufig der Fall ist. Seit der Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2024 gilt dem Roman erhöhte Aufmerksamkeit, die Besprechungen in den Feuilletons und die Bewertungen in der Leserschaft sind durchweg positiv. Und tatsächlich: Die Lektüre lohnt sich in jeder Hinsicht

«Heute Morgen kam ein Bussard vom Himmel geschossen und stürzte sich auf eine meiner jungen Hennen», lautet der erste Satz. Die Protagonistin und Ich-Erzählerin Linda hat sich einen komplett eingerichteten Dreiseit-Bauernhof samt Tieren gemietet. Ein bewusst gewählter Rückzugsort in einem gottverlassenen, sächsischen Straßendorf, wo sie ihre grenzenlose, zerstörerische Trauer über den Tod ihrer siebzehnjährigen Tochter zu bewältigen sucht. Sie war als gutbezahlte Kuratorin für eine große Kunststiftung tätig, ihr Mann ist einer jener Kategorie Kunstmaler, denen der ganz große Erfolg versagt geblieben ist. Sie lebten beide glücklich und zufrieden mit ihrer 17jährigen Tochter in einer luxuriösen Eigentumswohnung in Leipzig. Bis Sonja bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Für Linda eine Zäsur, sie kündigt ihre Stellung und ergreift die sich zufällig ergebende Möglichkeit, den bescheidenen Bauerhof in einer ländlichen Einöde für sich zu mieten. Ihr Mann ist entsetzt, er glaubt an eine vorübergehende Laune und fragt sie immer wieder, wann sie zurückkommt nach Leipzig.

Aber Linda kann die mit ihrer Trauer verbundene Hoffnungslosigkeit nicht überwinden. Sie hat schon mal eine Krebserkrankung überstanden, hat glücklicher Weise aber damals wieder ins normale Leben zurückgefunden. Der Tod ihres einzigen Kindes hat sie nun in tiefste Depressionen gestürzt, zu denen auch Suizidgedanken gehören. Durch die ungewohnte, harte Arbeit auf dem Hof lenkt sie sich von diesen düsteren Gedanken ab, lebt selbstvergessen ein einsames, ländliches Leben. Ihre junge Henne übrigens hat sie gerettet, hat sie dem Bussard beherzt entrissen, ein kleiner Triumph für sie! Nach und nach lernt sie dann auch Leute kennen. Ihr Nachbar besorgt ihr das Brennholz für den Winter, sie freundet sich mit der Mutter einer autistischen Tochter an, geht sogar mal zum Dorffest mit, sie beginnt also ihr «drittes Leben». Und da passt ihre beste Freundin, die sich einen reichen Mann geangelt hat, absolut nicht mehr hinein, weil sie in einer Welt lebt, die Linda regelrecht abstößt mit ihrer unersättlichen Konsumgier. Lindas Mann hat sich inzwischen eine Freundin gesucht, meldet sich trotzdem aber immer wieder mal bei ihr mit der Frage, «wann kommst du zurück», aber er erhält nie eine Antwort.

Erfreulich bei einer so unerfreulichen Thematik ist es, dass die Autorin mit psychologischem Sachverstand so ganz ohne Larmoyanz auskommt, also nicht auf die Tränendrüsen drückt, und dass ganz selten nur auch ein wenig Pathos mitschwingt. Die in vielen Rückblenden erzählte Geschichte ist stilistisch geradezu brillant in eine wortmächtige Sprache umgesetzt, die das Lesen zum puren Vergnügen werden lässt. Der straff gegliederte Plot des zweiteiligen Romans steuert zielstrebig auf ein überraschendes Ende zu, das dem Genre gerecht werdend kein Happy End ist, auch wenn zumindest doch ein klein wenig Hoffnung aufkeimt. Die ausführlichen, sich fatal ähnelnden Szenen der verzweifelten, schier endlosen Trauerarbeit erweisen sich als ein geringfügiges Manko, welches aber durch gelegentlich ganz versteckt auftretenden Humor (sic!) im Sprachlichen mehr als ausgeglichen wird.

Fazit:  erfreulich

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Das Wohlbefinden

Nachhilfe beim Okkulten

Ulla Lenze hat ihren für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman mit «Das Wohlbefinden» betitelt, eine für bestimmte Therapien ebenso bedeutsame wie utopische medizinische Grundbedingung. Ihre eigentliche Thematik aber ist der Okkultismus, der im zu Ende gehenden Kaiserreich nicht nur in den höheren Kreisen Deutschlands eine Hochblüte erlebt hat. Vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis hin zur Coronakrise reichend ist die Geschichte des Romans in die drei Zeitebenen 1907, 1967 und 2020 gegliedert. Im Mittelpunkt steht die Schriftstellerin Johanna Schellmann. Die lernt bei Recherchen für ihr neues Buch in den Heilstätten von Beelitz die Patientin Anna Brenner kennen, eine Fabrikarbeiterin, der übersinnliche Fähigkeiten nachgesagt werden. «Ein Jahrhundertroman über die Kraft der Heilung» glaubt man dem Buchumschlag, in den Feuilletons sind die Kritiken hingegen überwiegend negativ, – zu Recht?

Die jüngste Erzählebene des Romans beginnt in der Gegenwart. Vanessa, die Enkelin von Johanna, besichtigt eine luxussanierte Mietwohnung in den ehemaligen Arbeiter-Lungenheilstätten Beelitz, weil sie sich die Mieten in Berlin einfach nicht mehr leisten kann. Und wie es der Zufall will, besitzt der Makler ein Manuskript von Vanessas einst berühmter Großmutter, welches in hohem Alter geschrieben, aber nie veröffentlicht wurde. In dieser mittleren Erzählebene betreut Klaus, der Vater des Maklers, als Student ab 1967 im Auftrag der Tochter von Johanna die greise Dichterin bis zu ihrem Tod. Die dritte, chronologisch aber älteste Erzählebene beschäftigt sich mit der folgenreichen Begegnung von Johanna und Anna in Beelitz, die 1907 bei der Schriftstellerin eine bislang versteckte Spiritualität freisetzt. Sie erhofft sich von dieser Begegnung einen Auftrieb für ihr neues literarisches Projekt und nimmt an einigen Séancen teil, die der okkultismus-skeptische, aber die damit einher gehende Publicity schätzende Anstaltsleiter mit Anna als Medium veranstaltet. Während einige der Patientinnen vor Anna ehrfurchtsvoll auf die Knie sinken, sich von ihr Heilung erhoffen oder einen Blick in die Zukunft, sehen andere ihre spiritistischen Aktivitäten als Humbug an.

Johannas Hoffnungen auf die positiven Wirkungen ihrer Bekanntschaft mit Anna erfüllen sich nicht, denn sie lässt sich als Medium nicht vereinnahmen und beharrt auf ihrem Mantra, nicht sie bewirke ihre hellseherischen Vorhersagen und die mysteriösen Geschehnisse, sondern Gott allein, sie folge ihm nur. Sie könne nicht beeinflussen, was sie vorhersieht, ja sogar nicht mal entscheiden, was davon sie offenbaren soll, denn auch die direkten Folgen ihrer Mitteilungen entzögen sich ihrem Einfluss. Gleichwohl schlägt ihr Johanna vor, künftig in ihrer luxuriösen Berliner Villa zu wohnen und sie beim Schreiben spiritistisch zu begleiten. Ihre Kinder und auch die englische Kinderfrau freuen sich über die neue Mitbewohnerin, ihr Mann aber ist entsetzt. Er zieht sich für seine medizinischen Studien in das Gartenhaus zurück, wo ihn später sein Schicksal ereilt. Selbst im hohen Alter noch leidet Johanna an ihren Verstrickungen in das damalige Geschehen. Am Ende des Romans beginnt Vanessa, die Geschichte ihrer berühmten Großmutter über Social Media zu posten und wird mit zustimmenden, aber auch mit internet-typisch aggressiven Kommentaren überzogen.

Der thematisch überladene, chronologisch ungeschickt verschachtelte Roman mit seinen wenig sympathischen Figuren weist so einige Ungereimtheiten auf. Zu denen gehört nicht zuletzt auch eine absurde Menge von Zufällen, selbst Günter Grass taucht da ganz unvermittelt auf. Stilistisch bedauerlich sind auch etliche triviale Ausrutscher, irritierend aber ist vor Allem der Umgang mit dem Okkulten, das irgendwann ganz verschämt als Manipulation desavouiert wird, vom Beelitz- Direktor als «Nachhilfe» bezeichnet, obwohl das doch eigentlich hier das Spannendste wäre!

Fazit:  miserabel

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

ChatGPT – Was uns eine KI über Ratten in der Stadt erzählen kann

Peter-Paul Manzel liefert mit seinem »Steam-Essay« einen Dialog zwischen Mensch und Künstlicher Intelligenz, der sich auf das scheinbar unscheinbare, aber omnipräsente Thema der Stadtratten konzentriert. Was zunächst als eine spielerische Auseinandersetzung mit einer KI erscheint, entwickelt sich zu einer tiefgründigen Reflexion über die Natur des urbanen Lebens, das Verhältnis zwischen Mensch und Tier, sowie die zunehmende Rolle der Künstlichen Intelligenz in unserer Gesellschaft. Weiterlesen


Illustrated by Amazon Publishing

Newman: Bilder aus Amerika

Marvin E. Newman blickt auf das Amerika 1951-2023

Newman. Der vor einem Jahr verstorbene “Sports and Street Photographer”, wie ihn die New York Times in ihrem Nachruf vom September 21, 2023
nannte, huldigt in vorliegendem XL Bildband vor allem der Metropole New York, wo er 1927 auch geboren wurde. Newman wurde 95 Jahre alt.

Originelle Tableaus und neue Perspektiven

Als Straßenfotograf bezeichnet man einen Fotografen, der fähig ist auf die Impulse eines Moments adäquat zu reagieren und einen bestimmten Augenblick mit seiner Linse zu erhaschen. Rund 170 Fotos zeigen in vorliegendem Prachtband, dass Newman eine unbestechlich makellose Technik und einen Blick für Menschen in New Yorker Stadtansichten, Sportaufnahmen und Impressionen aus anderen Teilen der USA hatte. Die erste große Retrospektive der Karriere dieses bemerkenswerten Straßenfotografen, der außerhalb eines namhaften Sammler- und Galeriekreises weitgehend unentdeckt blieb. Lyle Rexer ist ein in New York ansässiger Schriftsteller, Kurator und Kunstkritker, der das Vorwort geschrieben hat. Herausgeber Reuel Golden, ehemaliger Chefredakteur des British Journal of Photography, ist Editor für Fotografie bei TASCHEN. Für TASCHEN hat er unter anderem den spektakulären Titel Mick Rock: The Rise of David Bowie herausgegeben.

Amerika 1951-2024: R.I.P.

Die beiden zeigen Marvin E. Newman, der bei Institutionen wie dem Eastman House, dem MoMA und dem International Photography Center einen exzellenten Ruf genoss, als Porträtisten der „Greatest City in the World“, New York City, vom Times Square bis zur Wall Street. Auch wenn der Fotograf am Chicagoer Institute of Design (Ex New Bauhaus Chicago) sein Studium (“Master of Science in Fotografie”) absolvierte, kehrte er doch gerne wieder in die Weltstadt zurück, um ihre Entwicklung zum Inbegriff des Weltkulturerbes und Kosmopolitismus fotografisch zu begleiten. Im Unterschied zu seinen Vorgängern wählte Newman erstmals die Farbfotografie als bevorzugtes Medium. Damit wollte Newman die lebendige Atmosphäre des grünen Apfels noch besser eingefangen, als dies zuvor schon gelungen war.

Newman: Bilder für Herz&Hirn

New ways of perceiving and representing reality“, sei die Aufgabe von Fotografie, wie es der Emigré László Moholy-Nagy, ein Lehrer Newmans ausdrückte. Ein Bild mit “Chicago South Side 1950” betitelt zeigt drei Kinder, ein schwarzes, ein weißes und in der Mitte eines mit Maske. Ein anderes die ganz in Schwarz gehüllte Jackie Kennedy neben ihrem Schwager Robert vor dem Sarg ihres Mannes. Die ersten Fotos zeigen seinen Studienort Chicago, dann Fotos aus seinen Sommern in New York, wo er etwa das San Gennaro Festival in Little Italy porträtierte. Der Strand von Coney Island 1953, wo Leute noch in Liegestühlen lagen, um sich zu bräunen, was heute nicht mehr möglich ist, war damals en vogue.

Newman’s Land: von New York nach Kalifornien

Die Lichtspiele des Broadways in Reflexion, darauf ein Spieltisch aus Las Vegas und ein Übergang zum Zirkus als Sujet. Sogar in Alaska hat Newman seine Kamera ausgepackt und die ersten Inuits fotografiert, was damals noch nicht oft passierte. Vom Heartland an die Wall Street zum Sport, wo auch einige Bilder des jungen Muhamed Ali gezeigt werden. Schließlich noch nach Kalifornien, das 1966 bereits als gelobtes Land gefeiert wurde. Wenn du zu Fuß gegangen wärst, hätten sie dich aufgehalten, schmunzelt Newman über die Motorisierung der damaligen Jugend. Aber auch die Schattenseiten lichtete Newman ab.

Newman: “it’s a crazy word to use…romantic”

Ein Besuch der Mustang Ranch für seinen Auftraggeber Look zeigt Prostituierte von ihrer romantischen Seite. Newman fiel auf, wie sie ihre Zimmer “it’s a crazy word to use…romantic” gestalteten oder vor einer Jukebox ohne Schuhe tanzten. Fotos des Times Square, der 42nd Street, schließt den Band ab: Jeder war nur dort, um zu sehen, was am Times Square so passiert. Originelle Tableaus und neue Perspektiven auf vertraute New Yorker Wahrzeichen aber auch Impressionen aus anderen Regionen der USA.

Impressionen Amerika 1951-2023

unter anderem aus Chicago und Kansas, von einem alten Zirkus aus den Fünfzigerjahren, aus einem Bordell in Reno Nevada, aus Las Vegas, Alaska und dem Kalifornien des 20. Jahrhunderts, sowie Aufnahmen aus seinem Sportfotografie-Portfolio mit Ikonen wie Cassius Clay und Pele werden in vorliegendem Band gezeigt. Ein Essay des Kritikers und Wissenschaftlers Lyle Rexer würdigt die erste chronologische Retrospektive eines herausragenden Talents und liefert denkwürdige Bilder für das Auge und viel Nahrung für das Gehirn . Bei TASCHEN ist auch “New York: Portrait of a City” von Newman erschienen.

Marvin E. Newman, Lyle Rexer, Reuel Golden
Marvin E. Newman
2024, Hardcover, XL (25 x 36 cm), 2.66 kg, 240 Seiten
ISBN 978-3-8365-9912-2
Ausgabe: Englisch
TASCHEN Verlag
€ 60


Genre: Amerika, Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Die Wurzeln des Lebens

Staunend am Mammutbaum

In seinem Epos «Die Wurzeln des Lebens» verknüpft der US-amerikanische Schriftsteller Richard Powers seine Figuren mit den Bäumen, deren kommunizierendes Wurzelgeflecht im Boden einen Wald bildet. Seine Protagonisten sind auf ganz unterschiedliche Weise individuell und positiv mit Bäumen verknüpft, schätzen sie als äußerst wichtig ein für das Wohlergehen der Menschheit. Die aber steht ihnen im besten Fall ziemlich gleichgültig gegenüber, im schlimmsten jedoch geradezu feindlich. Mit kapitalistischer Gier werden dem Staat Wälder abgekauft, die dann in kürzester Zeit abgeholzt werden, weil sie Profit bringen. Nicht nur dass Holz als Rohstoff vermarktet wird, die Kahlschlag-Flächen werden anschließend renditeträchtig in landwirtschaftliche Flächen umgewandelt. In mehreren parallelen Handlungs-Strängen agieren die im Westen der USA angesiedelten, recht unterschiedlichen Roman-Figuren in ihrem privaten und beruflichen Umfeld, wobei sie alle auf besondere Weise mit Bäumen und Wald verbunden sind.

Da ist zum Beispiel der Sohn eines norwegischen Einwanderers, der sechs Kastanienbäume gepflanzt hat, die alle, bis auf einen, den aus Asien eingeschleppten Parasiten zum Opfer fallen. Der Vater und nach ihm Sohn und Enkelsohn fotografieren seither einmal im Jahr diesen überlebenden Baum aus der immergleichen Perspektive, ein familiäres Ritual. Eine Ingenieurin, deren chinesischer Vater einen Maulbeerbaum pflanzt, Symbol für die Zukunft, muss erleben, dass der Vater, als der Baum von Bakterien befallen wird und die Familie sich auflöst, sein Leben durch einen Pistolenschuss beendet. Die schwierige Beziehung eines Juristen mit seiner Frau erfährt eine Wende, als sie nach einem Unfall mit dem Auto beschießen, zum Dank für den glimpflichen Ausgang jedes Jahr zu ihrem Hochzeitstag einen Baum zu pflanzen.

Im Vietnamkrieg wird ein Soldat mit dem Flugzeug abgeschossen und landet in einem Feigenbaum, dessen Zweige seinen Absturz abbremsen. Als Veteran findet er schließlich seine Erfüllung als Waldarbeiter, auf einer gerodeten Fläche pflanzt er Tausende von Douglasien an. Ein Digital-Nativ macht eine kometenhafte Karriere als Programmierer von Computer-Spielen, die immer leistungsfähiger werden und ihn zum Millionär machen. Er bekommt Zweifel, wo das noch hinführen soll mit den lebensecht auf Zuwachs und Gewinn ausgerichteten Spielen. Auf dem Campus der Stanford Universität entdeckt er schließlich, wie inspirierend Bäume sein können, und er beschließt spontan, die Natur zum Gegenstand seiner Spiele zu machen. Eine Forscherin entdeckt, dass Bäume bewusst über ein biochemisches Netzwerk miteinander kommunizieren, und erregt damit in der Wissenschaft einiges Aufsehen. Sie wird aber schon bald heftig von Kollegen kritisiert, bis sie im Wald auf eine Gruppe Gleichgesinnter stößt und wissenschaftlich rehabilitiert wird. Eine Studentin der Mathematik mit wildem Vorleben bekommt kurz vor ihrer Abschlussprüfung einen Stromschlag, der zum Herzstillstand führt. Sie überlebt und bildet mit anderen Protagonisten eine Gruppe von Umweltaktivisten, die durch Baumbesetzungen und zuletzt auch Brandanschläge auf das schreiende Unrecht hinweisen, das dem Wald angetan wird.

Der Autor vermittelt einen umfassenden Einblick in die Zusammenhänge der Natur und prangert deren Gefährdung durch den Menschen an, ohne jedoch indoktrinierend zu sein. Leider wirkt das Ganze doch arg konstruiert, zuweilen auch pathetisch und ins Visionäre abgleitend. Ohne Zweifel aber ist der Roman auch deutlich überdimensioniert, einerseits was die schiere Textmasse anbelangt, andererseits durch gefühlt Tausende von verschiedenen Bäumen, denen man als Nicht-Biologe hilflos gegenüber steht. Die Begeisterung der Protagonisten, von denen jeder seine Baum-Geschichte hat, ist durchaus mitreißend für Naturfreunde. Staunend am Mammutbaum zu stehen wird dann vielleicht manchem Leser ein vertrautes Gefühl geworden sein

Fazit:  erfreulich

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Die Erstgeborenen: Wie sie ihre Kindheit den Geschwistern opfern

Die Erstgeborenen. Wer (ältere) Geschwister hat, wird das weitverbreitete Klischee kennen, dass diese es schwerer gehabt hätten. Wegen der Zeit, der Gesellschaft, der Eltern. Sie hätten vorgekämpft, wovon die jüngeren nun profitieren würden. Aber oft ist genau das Gegenteil der Fall: die Jüngeren müssen das Kreuz der Älteren tragen.

Auf dem Thron: der Erstgeborene

Der deutsche Psychologe, Psychoanalytiker und Schriftsteller Wolfgang Schmidbauer, Jahrgang 1941, ist ein Zweitgeborener. Als sein Bruder, der Erstgeborene, diese Welt verließ, begann sich der Autor mit dem Thema zu beschäftigen, das ihn offensichtlich auch mit 83 noch zu interessieren scheint. Wie so oft in seinen Büchern wird auch der vorliegende Text durch Fälle aus der Praxis des Therapeuten mit eigenen Erfahrungen angereichert. So entsteht ein komplexeres Bild einer ohnehin vielseitigen Situation, die sicherlich nicht immer gleich verläuft. “Der Eindruck, den das Geschehene auf mich gemacht hatte, mischte sich mit der aktuellen Trauer über Ernsts Tod. Jedenfalls traf mich der tragische Aspekt der Geschichte des Erstgeborenen wie ein Schlag. Ich war unschuldig und doch Täter. Ich hatte ihm etwas kaputt gemacht.” Da der Vater der beiden Söhne im Krieg gefallen war, wuchsen sie bei ihrer Mutter auf. In so einer Situation werden Erstgeborene oft in “die Rolle des Vorbilds gedrängt und geben sich dann auch Mühe, diese auszufüllen”, so Schmidbauer. Die Jüngeren würden dann oft als “ansprüchlich und undankbar” von den Älteren empfunden.

Böser Ackerbauer vs guter Hirte

Der eine teilt, der andere wählt. So hätten sie es als Kinder oft gehandhabt, wenn es etwa um das Teilen einer Schokolade ging: ersterer bemüht sich dann natürlich möglichst gleich und gerecht zu teilen, weil zweiterer sonst ja das größere Stück bekommt. Aber was, wenn der eine Ackerbauer ist, dem die Schafe des Hirten alles wegfressen? So geschehen BC als der Erstgeborene Kain genau deswegen seinen jüngeren Bruder Abel kurzerhand erschlug. Trotz der gemeinsamen Haltungen (“Sparsamkeit, Liebe zur Natur, Abneigung gegen Pathos und Geschwätz“) hätten die beiden Schmidbauer-Brüder als Erwachsene aber nie mehr richtig zusammen gefunden. Den Grund dafür zu finden mag auch eine Motivation gewesen sein, dieses Buch zu schreiben. Im dritten Kapitel, “animalische und narzisstische Dimension” betitelt, definiert der Autor den Begriff Wahrnehmung auf eine interessante Weise. “Wahrnehmung ist generell kein passiver Prozess, sondern ein aktives, schöpferisches Geschehen in dem wir Reize entlang unserer Erwartungen und Wünsche interpretieren“, in der Psychologie auch als Attribution bezeichnet. So bezeichnet sich der jüngere Sohn des britischen Königs als “spare“, Ersatzteil, der ältere als “heir“, Erbe. Aber diese Vorstellung stammt aus einer Zeit, als das Leben noch kurz und kriegerisch war. Heutzutage stehen wir vor ein gänzlich anderen Situation.

Aggression, Progression, Regression

Anhand des berühmten Briefes Kafkas an seinen Vater, Tolkiens Hobbit oder der Konflikte zwischen Sigmund Freud (ein Erstgeborener) und seinen Jüngern sowie Ludwig van Beethoven und Greta Thunberg exemplifiziert Schmidbauer, dass die familiäre Rolle auch große Auswirkungen auf das gesellschaftliche und soziale Auftreten einer Person haben. Wer aber immer voller Sanftmut alles richtig mache, keine eigene Bosheit kenne und sich vor seinen Mitmenschen fürchte, werde nicht glücklich, sondern depressive, schreibt Schmidbauer über die Aggression. Progression wiederum ist bei ihm die “Freude an der aktiven Bewältigung des Lebens” und Regression der kindliche Genuss der Abhängigkeit. Oft wird das eine erreicht, aber das andere ersehnt. Und was das Verhältnis der beiden Brüder betrifft, bleibt Schmidbauer bis zum Ende des Buches offenherzig und nachdenklich. Sicherlich eines der persönlichsten Bücher des großen Psychologen, der sich nicht länger den Kopf drüber zerbrechen möchte, warum etwas “nicht” passiert ist. Manchmal liegt zwischen einem Gedanken und seiner Ausführung eben ein ganzes Leben. Die Dynamiken zwischen Geschwistern sind oft sehr unterschiedlich und nur unter Umständen vergleichbar. Modelle wie “Der Erstgeborene” spielen dabei eine Rolle, aber sicher nicht die einzige. Die Lektüre von Schmidbauer ist wie immer eine äußerst inspirierende und bietet Raum zur Interpretation. Was übrigens, wenn die Erstgeborenen ihre Rolle gar nicht übernehmen wollen? Wie man an Kain sieht, sind das gar nicht so tolle Gesellen, diese Erstgeborenen…

Wolfgang Schmidbauer
Die Erstgeborenen: Wie sie ihre Kindheit den Geschwistern opfern
2024, Hardcover, 176 Seiten
ISBN-10 3987900555
Bonifatius Verlag
€ 18,5.-


Genre: Psychologie, Ratgeber
Illustrated by Bonifatius

Junge aus West-Berlin

Junge aus West-Berlin. Der Mauerfall ist auch schon wieder 35 Jahre her. Die Politik feierte sich selbst, aber wie war das damals eigentlich für die Menschen? Maxim Leo hat eine Liebesgeschichte geschrieben, die vor dem Systemwechsel beginnt und mit demselben endet. Marc und Nele erzählen abwechselnd
Was sie damals erlebten und die Illustratorin gibt ihren Gedanken Gestalt in inspirierenden Bildern.

Romeo/Julia zwischen West/ Ost

Das zudem Besondere an diesem 18. Band der Lieblingsbuch-reihe von Kat Menschik sind nicht nur die vierfarbigen Illustrationen, die Hoch- und Tiefprägung, der Farbschnitt und das Lesebändchen, sondern auch der alte, imprägnierte DDR-Stempel am Pappcover. Da werden Erinnerungen sogar haptisch wach, ein unglaubliches Erlebnis. Marc, der Junge aus West-Berlin, fährt an den Wochenenden gerne in den Osten. Dort ist er jemand, er fällt auf, weil er Geschenke wie Bücher, Platten, Musikzeitungen mitbringt und Dinge weiß, von denen keiner je etwas gehört hat. So lernt er auch Nele kennen mit der er Sartre liest, Weinbergschnecken isst und von Paris träumt. Eines versichert ihm Nele, dass “wir nie von München oder Hamburg geträumt haben. Dafür umso mehr von Montmartre, Picasso, der Provence und Alain Delon“. Auch wenn die Westdeutschen später etwas anderes behaupten würden. Nele zeigt Marc wie man in Ostberlin ganze Straßenzüge von Dach zu Dach springen konnte, über Flachdächer, auf denen man geradezu flanieren konnte, wie sie französisch betont. Über die Liebe zu Nele sagt Marc, dass er sehr schnell begann Vertrauen zu entwickeln, “In uns. Das mag vielen banal erscheinen, für mich war es revolutionär“. Aber als sich das Ende der Mauer abzeichnet, befürchtet er, dass sie ihn nicht mehr lieben wird, wenn sie herausfindet, dass er eigentlich ein Niemand ist. Denn er ist gar kein erfolgreicher Tourmanager, sondern ein einfacher Roadie. “Ich hatte das Gefühl, ohne meine Legenden, ohne diese Mauer, ein Niemand zu sein.” Also hofft er, dass alles so bleibt wie es ist. Doch dann kommt die Nacht der Nächte. Der Mauerfall. Nele bemerkt, dass sie schwanger ist, aber Marc ist verschwunden. Werden sie sich in den Wirren der politischen Ereignisse wiederfinden?

Junge aus West-Berlin in Not

Die herzzerreißende Liebes-geschichte zwischen Marc aus Westberlin und Nele aus Ostberlin wird voller Liebe und Hingabe erzählt und zeigt, dass es oft nicht die Worte sind, die einen verbinden, sondern das, was man spürt. “Möglicherweise hätten wir dieses tiefe Verständnis, das wir füreinander hatten, sogar aufs Spiel gesetzt, wenn wir versucht hätten, es mit Worten zu ergründen.” Der Sommer 1989 war auch der Sommer der Liebe zwischen Marc und Nele. Rebellion und Aufbruch überall, fröhlich-bunte Anarchie im grauen Schattenland diesseits der Mauer. Autor Maxim Leo und Kat Menschik verarbeiten in ihrem gemeinsamen Buch auch ähnliche Erfahrugen, die sie damals gemacht hatten. Maxim Leo ist 1970 in Ostberlin geboren und dort aufgewachsen. Er ist Journalist und Autor. Er hat zahlreiche Bestseller geschrieben, darunter seine autobiografischen Romane. Kat Menschik hat ihre Jugend wie Maxim Leo in Ostberlin verbracht und den Sommer 1989 in der Ostberliner Künstler- und Punkszene miterlebt. Heute ist sie namhafte Illustratorin. Verblüffend, dass sich die beiden damals gar nicht kennengelernt haben, meint Menschik, denn sie verkehrten in denselben Freundeskreisen und hatten ähnliche Interessen. PS: Das Mauergrau ist Absicht!

Maxim Leo, Kat Menschik
Junge aus West-Berlin. Mit Illustrationen von Kat Menschik
2024, 77 Seiten, vierfarbige Illustrationen, Hoch- und Tiefprägung, Farbschnitt, Lesebändchen
ISBN 978-3-86971-304-5
Galiani Berlin
23 € (D) / 23,70 € (A)


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Galiani

Die Glückseligen

Die Glückseligen. In insgesamt vier in ungleiche Längen unterteilte Kapitel erzählt Gustav Ernst die Geschichte von Ulrich und Rosanna, wobei letztere vielleicht gar nicht so heißt. Eine Satire voll bittersüßer Ironie, die die menschlichen Abgründe wie in Platons Höhlengleichnis hell ausleuchtet.

Surreale Groteske in Wiener Vorstadtvilla

Ulrich bekommt Freitag abends eine Einladung zu einer Geburtstagsfeier eines ehemaligen Schulfreundes. Aber da sie sich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben ist er so unschlüssig, dass er erst im Taxi bemerkt, sein Handy vergessen zu haben. So kann er seine Frau Emma nicht informieren, aber es wird ja auch nicht so lange dauern, denkt er sich noch. Außerdem ist sie ja sowieso auf Kur. Nach Jahrzehnten als Angestellter rechnet er ohnehin mit seiner Kündigung und da kommt es ihm gerade recht, sich einfach mal so treiben zu lassen. Bei strömendem Regen steigt er in einem Wiener Randbezirk aus dem Taxi und betritt das Wohnhaus an der genannten Adresse. Schon beim Eingang verwickelt ihn ein Herr in ein Gespräch, der den Herrn Kohout, den Gastgeber gar nicht zu kennen scheint. Am Buffet sind auch andere Gäste sehr geschwätzig und Ulrich wundert sich über das üppig ausgefallene pompöse Fest, das er seinem alten Mitschüler gar nicht zugetraut hätte. “Denn sie müssen wissen, weinende Männer sind das Letzte” haucht ihm eine Dame zu und bevor es richtig hitzig wird, siedelt der “harte Kern” der Party in ein Hotel um. Oder ist es eine Villa? Ulrich versucht dort seine Rosanna wiederzufinden, die ihm jäh während eines Dialoges entrissen wurde. Vielleicht war da auch die Zunge im Spiel? “80 Millionen Bakterien werden beim Küssen getauscht, stäbchenförmige, kugelförmige, spiralförmige sowie alle möglichen Herpesviren, Myzel- und Hefepilze“, klärte Rosanna ihn zuvor noch auf. Ob er sie jetzt deswegen suchte? Oder wegen seiner Maxime: Nie Terrain aufgeben. (Eigentlich der Tipp eines 92-jährigen in der Villa.)

Eine Party mit den Glückseligen

Und dann gibt es da noch die Dame mit Korallenhalskette, den Herr Knobloch und am Ende den Eric. Alle schweifen sie ziellos auf den Gängen dieser Villa umher, wo sie sich doch eigentlich schon stapeln. Ein Gast vergibt sogar Wartenummern, weil sich vor der Villa eine Warteschlange bildet. Nicht einmal bei Peter Sellars “Partyschreck“-Party ging es so zu. Aber wie sagt Rosanna so schön: “Nur als lebenslanger Künstler kann man wirklich ein Künstler sein.” Auch wenn der Gastgeber sich nicht blicken lässt, wird die Pointe am Ende doch überraschend und mit Understatement serviert. Gustav Ernst hat einen unterhaltsamen Roman voller pointierter Dialoge und Schlüpfrigkeiten geschrieben, der einerseits abstrus verwirrend, andererseits die menschliche Tragikomödie so treffend abbildet, dass es über 250 Seiten beinahe keine Verschnaufpause gibt, wären da nicht die leeren Seiten der Kapitelunterteilungen. Es wird nicht jedem gefallen wie der Autor seine männlichen Protagonisten über die Frauen sprechen lässt oder sexuelle Vorlieben ausplaudern, aber auch die Frauen sind ähnlich vulgär, schließlich bleiben sie sich nichts schuldig. Die dekadente Gesellschaft der “Glückseligen” hat nichts zu verlieren, denn sie haben bereits alles gewonnen. Das Leben ist ein unendlicher Monolog in dem sie ihren Ennui auf Partys zudröhnen, wo keiner dem anderen zuhört. Ulrich mag da eine Ausnahme sein. Denn er hört Rosanna sehr gerne zu. Vielleicht sogar etwas zu gerne, für einen verheirateten Mann.

Unentbehrlich ehrlich

Der Autor spricht von einer “inneren Dystopie“, wen er über seinen rasanten und doch sehr schonungslos erzählten Roman resümiert. Drastik und Realitätstreue sind nicht unbedingt widersprüchliche Stilmittel, wenn sie genau den Zweck erreichen. Die Glückseligen tanzen ihren Tango, ohne Umarmungen. Denn jeder ist nur mit sich selbst beschäftigt. Oder mit seiner Selbstdarstellung. Ulrich wirkt dabei wie der Elefant in der zitierten Blake Edwards Party-Komödie, fehl am Platz, aber unentbehrlich ehrlich.

Gustav Ernst
Die Glückseligen
2024, 240 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-85449-659-5
Sonderzahl Verlag
€25,00


Genre: Humor und Satire, Roman
Illustrated by Sonderzahl

A Vicious Circle – Ein Teufelskreis 1/3

A Vicious Circle: Die neue Serie von Lee Bermejo (Batman Damned) im Album-Format und Autor Mattson Tomlin (“The Batman”) spielt in der Kreidezeit, im Tokio des 22. Jahrhunderts und dem New Orleans der 1950er, also auf verschiedenen Zeitebenen. Denn jedesmal wenn  Shawn Thacker, eine Attentäter aus der Zukunft, jemanden tötet verschlägt es ihn in ein anderes Jahrhundert.

Attentate in Zeitreisen

Shawn Thacker sinnt auf Rache an dem Mann, der ihm näher ist als alle anderen. Beide Männer verwickeln sich in einen Kampf auf Leben und Tod, der sich anschickt, den Lauf der Geschichte zu verändern. Im ersten Albumband wird die Zeit der Bürgerrechtsbewegung thematisiert, als ein Teil der amerikanischen Bevölkerung für ihre bloße Hautfarbe gehasst wurde. Die Zeichnungen sind sehr dokumentarisch und fotografisch, in S/W und erzählen von einer dunklen Zeit als das Leben eines Bürgers nichts wert war. Aber dann passiert etwas Schreckliches, dass den Protagonisten in die Zukunft schleudert, die sich in Farbe abspielt. “Willst du in bessere Zeiten zurück? Die guten alten Tage?“, trägt ihn ein computeranimiertes Schulmädchen-Manga. “Das war vor Jahren, oder liegt Jahre in der Zukunft. Ich hab den Überblick verloren.

A Vicious Circle: Artwork und Stildiversität

A Vicious Circle bewegt sich auf verschiedenen Leseebenen. In einem Interview im Anhang erzählt Lee Bermejo, wie er seinen Autor fand. Mattson hatte in seinen Posts auf insta hervorragende Einzelbilder von Filmen geteilt, die auch Lee liebt. Sein gutes Auge für Momente und Kompositionen sorgte für die Annäherung der beiden schon während der Pandemie. Damals beschlossen sie schon, etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen. Was sich nun in den vorliegenden drei Bänden realisierte ist die Geschichte von Thacker, die sich im Laufe der drei Alben zu Ferris verschiebt. So viel darf – was den Plot angeht – verraten werden. Allerdings ist das Artwork und die Zeichnungen an sich schon so bestechend, dass es gar keines genauen Plot bedarf, um schon nach Band 1 zu wissen, dass sich diese Geschichte noch zu einem echten Highlight der bisherigen Comicgeschichte entwicklen wird. Dazu reicht schon ein Blick auf die Verlagsseite von Panini. Die einzelnen Jahrhunderte oder manchmal Jahrzehnte werden in jeweils unterschiedlichen Stilen präsentiert und sorgen so für maximale Diversität und superdiverse Abenteuerdichte.
Mattson Tomlin/Lee Bermejo
Original Storys: A Vicious Circle 1
2024, Hardcover, 60 Seiten, Album Format mit den Maßen ca. 21 x 32 cm
ISBN:  9783741638206
Panini
16,00 €

Genre: Comic
Illustrated by Panini Comics

Die Nickel Boys

Unbegrenzte Gewalttätigkeit

Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead hat mit «Die Nickelboys» zum zweiten Mal diesen begehrten Literaturpreis verliehen bekommen, was in der mehr als hundertjährigen Geschichte dieses Preises vor ihm erst dreimal geschehen ist. Er gehört damit zu den wichtigsten Schriftstellern der US-amerikanischen Literatur. Das große Vorbild ist für ihn Martin Luther King, den er in seinem Roman häufig zitiert mit seinen Schriften für den gewaltfreien Kampf gegen die Rassentrennung. Inspiriert sei der fiktive Roman mit seinen frei erfundenen Charakteren «durch die Geschichte der Dozier School for Boys in Marianna, Florida», wie er im Nachwort schreibt, er habe davon 2014 zum ersten Mal in der «Tampa Bay Times» gelesen. Es gäbe inzwischen sogar eine «Website der Überlebenden» und viele weitere Publikationen, auf die er bei seinen Recherchen gestoßen sei.

«Sogar als Tote machen die Jungs noch Ärger», lautet der erste Satz im Prolog, der davon berichtet, wie eine Gruppe von Archäologinnen bei Untersuchungen auf dem für einen Bürokomplex vorgesehenen Gelände der längst verschwundenen, ehemaligen Besserungsanstalt etliche Tote finden. Elwood, der fünfzehnjährige, farbige Protagonist des Romans, lebt bei seiner Großmutter, die als Putzfrau arbeitet. Der in sich gekehrte Junge liest gerne Bücher, sein wertvollster Besitz ist eine Langspielplatte mit der Rede Martin Luther Kings auf dem Zion Hill. Elwood wird von seinem Lehrer gefördert und bekommt durch dessen Protektion sogar einen Studienplatz am College. Auf dem Weg zur Einschulung nimmt ihn ein farbiger Mann in einem schicken Auto mit. Sie werden von der Polizei gestoppt, das tolle Auto ist gestohlen, und Elwood wird völlig willkürlich als Mittäter in die Besserungs-Anstalt eingewiesen, – schließlich ist er ja  auch ein Farbiger, ergo muss er ebenfalls ein Autodieb sein! Und damit beginnt für ihn eine lange Leidensgeschichte.

Unermüdlich spürt der Autor den Demütigungen nach, denen die Insassen dieser Hölle namens «Besserungsanstalt» ausgesetzt sind. Die ist geradezu eine Garantie dafür, dass die weißen und farbigen Delinquenten ebenfalls zu Monstern werden, ganz so wie ihre sadistischen Aufseher und Betreuer in dieser vermeintlichen «School for Boys.» Die Teenager werden zu allerlei Arbeiten in der Anstalt herangezogen. Die Sadisten kommen meist aus prekären Verhältnissen und haben oft ihrerseits Schlimmes hinter sich, sie fühlen sich quasi im Besitz eines Freibriefs zur Quälerei. Selbst bei den geringsten Vergehen der Zöglinge werden drakonische Strafen verhängt und auch gnadenlos exekutiert. Dabei geht es so grausam zu, dass manche der Opfer die Torturen nicht überleben. Korrupte Ärzte sorgen dann dafür, dass eine unverdächtige Todesursache angegeben wird, es gibt aber auch Fälle, in denen die Jungs einfach spurlos verschwinden und heimlich irgendwo auf dem weitläufigen Areal verscharrt werden. Die bis hoch zum Direktor durchgängig korrupte Belegschaft dieser Stätte des Grauens verleiht die Jungen für die verschiedensten Arbeiten an Geschäftsleute oder auch Privatpersonen, wobei die Erlöse untereinander aufgeteilt werden und nicht etwa der «School for Boys» zugute kommen. Das Gleiche passiert mit den Lebensmitteln oder mit Kleidung, die in dunkle Kanäle verschwinden. Leidtragenden sind die inhaftierten Teenager, die einen immergleichen, ekligen Fraß vorgesetzt bekommen oder in längst verschlissener Kleidung herumlaufen müssen.

Colson Whitehead erweist sich als unermüdlicher Chronist dieser dunklen Geschichte der USA, die Anfang der sechziger Jahre noch ebenso real war wie die Skandale in Internaten und kirchlichen Einrichtungen in Deutschland, die bis heute ebenfalls nicht gesühnt sind. In einer unprätentiösen Sprache erzählt, ist dieser Roman eine flammende Anklage gegen den auch heute noch vorhandenen Rassismus im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, zu denen traditionell auch unbegrenzte Gewalttätigkeit gehört.

Fazit:   lesenswert

Meine Website: https://ortaia-forum.de

 


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Die Mimik der Haie. Erzählungen

Matthias Risches „Die Mimik der Haie“ ist eine Sammlung von Erzählungen, die sich durch ihre dichte Atmosphäre, psychologische Tiefe und oft beunruhigende Themen auszeichnen. Rische versteht es, in gedrängter Form komplexe emotionale Zustände und gesellschaftliche Themen zu behandeln, die den Leser in eine dunkle und introspektive Welt entführen. Weiterlesen


Illustrated by Periplaneta Berlin