Mit der Geschwindigkeit des Sommers

Bedrückendes Psychogramm

Es ist ein DDR-Roman der besonderen Art, in dem Julia Schoch unter dem kryptischen Titel «Mit der Geschwindigkeit des Sommers» über die Folgen der politischen Wende auf die Psyche einer Frau berichtet. Die Geschichte schildert aus einer ungewöhnlichen Perspektive die Auswirkungen dieser Zäsur, mit der sich für Viele ein neues, aber nicht immer auch besseres Leben abzeichnete. «Bevor sich meine Schwester in New York das Leben nahm oder, den Ahnungslosen zufolge, zufällig dort starb, hatte ich das immergleiche Bild von ihr im Kopf». So lautet, das Ende vorwegnehmend, der erste Satz, der Roman beschreibt nur den einsamen Weg ins Verhängnis.

Im Rückblick berichtet hier eine namenlose Ich-Erzählerin, die jüngere der beiden Schwestern, von der gemeinsamen Jugend in einer eiligst aus dem Boden gestampften Garnisonsstadt am Stettiner Haff. Der strategisch günstige, aber in einer öden Gegend gelegene Stützpunkt bestimmt das Alltagsleben in dem Städtchen. Einmal, erinnert sich die Erzählerin, sei sie mit ihrer älteren Schwester im Kino gewesen, umringt ausschließlich von Soldaten in ihren grauen Uniformen. Den vielen jungen Männern konnte der trostlose Ort kaum mehr Unterhaltung bieten als den Kinobesuch oder den Versuch, mit hübschen Mädchen anzubandeln. Und so habe ihr die ältere Schwester eines Tages denn auch von einem Schäferstündchen mit einem der Soldaten berichtet. Als nach der Wende die Garnison aber verkleinert und schließlich aufgegeben wurde, hatte ihr Soldat schon bald den Dienst quittiert und sich in den Westen abgesetzt. Die Ich-Erzählerin, deren Profession mit dem Stichwort ‹Drehbuch› nur an einer Stelle indirekt angedeutet wird, hat ihrer Heimat nach der Wende ebenfalls den Rücken gekehrt. Ihre ältere Schwester hingegen ist geblieben, hat geheiratet, zwei Kinder bekommen und führt nun ein langweiliges Leben als Hausfrau und Mutter. Die jüngere Schwester besucht sie ab und zu, und so erzählt die ältere ihr dann auch, dass ihr «Soldat», der inzwischen ebenfalls verheiratet ist, nach vielen Jahren den Kontakt mit ihr wieder aufgenommen habe. Seither besuche er sie häufig, ihre rauschhafte Beziehung sei sexuell für beide unvergleichlich intensiv.

Erzählt wird diese beklemmende Geschichte überwiegend in Form der inneren Rede, die der Ich-Erzählerin allerdings fiktiv ein Wissen unterstellt, dass niemand von den Gedanken eines anderen haben kann. «Hatte nicht der inzwischen verschwundene Staat verhindert, dass man zu irgendwas Großem in der Lage war», sinniert zum Beispiel die depressive ältere Schwester. Geradezu schwärmerisch gibt sie sich der verlockenden Vorstellung hin, «dass in diesem anderen Staat ein anderer Lebenslauf für sie bereitgestanden hätte». Und bei ihrem letzten Telefonat hatte die Ich-Erzählerin sie gefragt, wie sie denn «plötzlich auf die Idee gekommen sei, einfach ihren Liebhaber abzustoßen». Und bekommt zur Antwort: «Das habe sich ‹mit der Geschwindigkeit des Sommers› in ihr festgesetzt». Selbstkritisch merkt die Jüngere an: «Wäre ich aufmerksamer gewesen, hätte ich ihre verhängnisvolle Entscheidung vielleicht rückgängig machen können».

Diese Geschichte eines aus dem Lot geratenen Lebens wird in einem lakonisch knappen Stil erzählt, der intensiv das Psychogramm einer rätselhaft bleibenden Frau und ihrer fatal gescheiterten Befreiung aus bedrückenden staatlichen Zwängen zeichnet. Der Roman ist eine einzige Suche nach dem Motiv für die Verzweiflungstat. Dabei entspricht die nüchterne, unterkühlte Erzählsprache zwar dem trostlos kargen Ambiente des Handlungsortes, nicht aber das zutiefst menschliche Thema, um das es hier geht. Es ist dieser Kontrast zwischen einer knappen, zögerlichen Sprache und der unter die Haut gehenden Tragik eines unwiderruflich gescheiterten Lebensentwurfs, der dieses bedrückende Psychogramm zu einer intensiven, lang nachwirkenden Lektüre macht. Damit wird, das sei noch angemerkt, der gängigen DDR-Thematik eine neue Facette hinzugefügt.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Das Jahr, in dem ich aufhörte …

Unvereinbar konträre Welten

Schon der epische Titel «Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen» des post-kapitalistischen Romans von Thomas von Steinaecker weist auf eine positive Entwicklung hin. Was als realistische Beschreibung des Turbo-Kapitalismus beginnt, endet in einem futuristischen Vergnügungspark in Samara, der seine Besucher zum Träumen einlädt und seine Ich-Erzählerin schließlich dazu bringt, das Buch zu schreiben, das wir in Händen halten.

Die 42jährige Renate, alleinstehend und kinderlos, erfolgreiche Versicherungs-Agentin, wird zur Key-Account-Managerin befördert und von Frankfurt nach München versetzt. Sie befindet sich gerade in einer emotional schwierigen Phase, ihre Mutter ist erst vor kurzem verstorben und ihr verheirateter Chef und Lover hat sie kürzlich eiskalt abserviert. Der Roman beginnt mit ihrem ersten Arbeitstag am 1. Oktober 2008, kurz nach der Pleite von Lehman Brothers. Die emotional vereinsamte Frau stürzt sich mit vollem Elan in die Arbeit, sie gewinnt auch sehr schnell einen neuen Premium-Kunden. Und dann ist auch noch eine interne Revision angesetzt, wobei der Controller Renate als Beisitzende zu den Einzelgesprächen mit der Belegschaft hinzuzieht. Schließlich vermittelt ihr der zufriedene Premium-Neukunde einen Riesenauftrag, ein russischer Großkonzern will in München einen ultramodernen Vergnügungspark errichten und bei ihr versichern. Sie fliegt zu einem ersten Gespräch nach Samara in die Firmenzentrale und besichtigt den dortigen Park. Von ihrem Chef aus München erhält sie am nächsten Tag telefonisch die Nachricht, dass die ganze Abteilung aufgelöst wird und alle Mitarbeiter ab sofort den Arbeitsplatz verlieren.

Mit genauem Blick für Details schildert der Autor die moderne Arbeitswelt in der Assekuranz mit ihrem ständigen Zwang zu Wachstum, mit neidischen Kollegen und oft schwierigen Kunden. Die müssen mit ausgeklügelten psychologischen Tricks nicht nur zum Abschluss überredet, sondern möglichst auch noch dazu gebracht werden, durch unrealistische Risiko-Analysen überhöhte Prämien für die jeweilige Police zu akzeptieren. All das vollzieht sich in einem abstoßend desillusionierenden Fachjargon. In diesem technokratischen Milieu entwickelt die emotional unterentwickelte, aber gut bezahlte Heldin permanent neue Absturzängste, gegen die auch ihre vielen Psychopharmaka kaum noch helfen. Das artikuliert sich in ihrem mehr als peinlichen Zwang zum Pfandflaschen-Sammeln in öffentlichen Abfallkörben. Mit dem Vergnügungspark setzt der Autor dem bedingungslos auf Rationalität getrimmten Versicherungs-Milieu eine märchenhafte Traumwelt entgegen, die in ihrer Nutzlosigkeit den Alternativ-Entwurf darstellt für eine menschlichen Urbedürfnissen gerecht werdende Lebensweise. Dazu gehört dann auch, dass die Heldin in Samara bleibt, sich eine bescheidene Unterkunft sucht und anfängt, ihre Geschichte aufzuschreiben. Sie tut das mit Bleistift, eine nicht nur symbolische Rebellion gegen den nervenden Technologie-Druck.

Thomas von Steinaecker lässt seine extrem rationale Romanheldin resigniert aus ihrer zermürbenden, ausschließlich dem schnöden Mammon gewidmeten Erwerbswelt aussteigen. Animiert durch die Traumwelten des Vergnügungsparks widmet sie sich nunmehr einer kontemplativen, dem eigenen Seelenheil dienenden Beschäftigung, dem Schreiben über das eigene Leben. Ein Akt der Selbstvergewisserung und der psychischen Gesundung, welcher, Authentizität vortäuschend, durch in den Text eingestreute Bilder aus dem Nachlass der Mutter illustriert wird. Zu dieser toughen Heldin gewinnt man allerdings keine emotionale Nähe als Leser, und auch die anderen Figuren wirken seltsam blutleer. Vieles an der anfangs mitreißenden Geschichte ist zudem zweifelhaft oder bleibt offen. Die konträren Welten des Romans stehen ohne jede Verbindung für sich allein, als Abbild der Widersprüche unserer modernen Gesellschaft ist dieser Roman jedenfalls ziemlich misslungen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Venedig. Wintertage in der Serenissima


Venedig. Wintertage in der Serenissima.
Venedig Connaisseur und Liebhaber Wolfgang Salomon lädt wieder zu einer Reise in die Lagune ein, dieses Mal im Winter. Er bietet dem/r geneigten Leser/in einen “Slowtravel” mit Tonspur an, denn zusätzlich zu den zumeist selbst geschossenen anmutenden Bildern und Texten, ergänzt er seine Ausführungen mit Empfehlungen aus seinem ganz persönlichen Venedig Soundtrack.

Venedig für Liebhaber

Salomon beginnt seinen Lagunenreigen mit einem Inselhüpfen und landet als erstes auf der Friedhofsinsel San Michele, die 2019 einmalig mit einer Pontonbrücke mit Venedig verbunden wurde. Das Wahlgeschenk des Bürgermeisters kam aber schlecht an und wurde sogleich wieder abgeschafft. Aber dafür gibt es ja die beiden anderen traditionellen Pontonbrücken im Juli und November an anderen Stellen in Venedig. San Michele jedenfalls steht bei Salomon nicht für Thomas Manns Novelle “Tod in Venedig”, sondern für Baron Corvo auch bekannt als Frederick Rolfe, der offener und skandalöser über Homosexualität schrieb, als der deutsche Schriftsteller es sich je zu träumen gewagt hätte. Das teils autobiographische Werk des Engländers Rolfe “The Desiree and Pursuit of the Whole” (1909) schildert die Liebe zu einem hermaphroditen Gondoliere. Der Autor selbst blieb bis zum bitteren Ende ein Bewohner Venedigs, schlief am Strand von Lido oder auf seiner privaten Gondola. Dafür wurde er aber in Hugo Pratt’s Corto Maltese (Favola di Venezia) als Baron Corvo verewigt und zumindest so unsterblich. Selbst der große Cantautore Paolo Conto verneigt sich in seinem Song “Sirat Al Bunduqiyyah” vor Rolfe und Pratt, was Salomon einen eigenen Tonspur-Tipp wert ist.

Venedig. Wintertage in der Serenissima.

Orte zum Aufwärmen” nennt Salomon seine Hinweise für kalte Wintertage, an denen man zwischen ausgedehnten Spaziergängen auch einmal ein “Bedürfnis” verspürt. Dem kann zum Beispiel im kürzlich neu eröffneten Sisi-Trakt des Museo Correr nachgegangen werden, oder aber in der Area Forte Marghera, das mit dem Pendelzug vom Bahnhof Santa Lucia bis Mestre und dann mit dem Bus 15 vom Bahnhof Mestre aus erreichbar ist. Dort haben schon länger einige kreative Köpfe ihren Platz gefunden, mittlerweile aber auch die Kunstbiennale einige Pavillons bespielt. Erinnerungen an Edgar Allen Poe’s Erzählung “Das Fass Amontillado“, in der der Erzähler seinen Erzfeind zur Zeit des venezianischen Karnevals in einen Keller lockt, werden beim Autor wach, als er sich in die Krypta der Chiesa die Santi Simeone e Giuda verirrt. Die Kirche, die vis a vis vom Bahnhof Santa Lucia steht, kennt jeder Tourist vom Warten auf seinen Zug, aber wenige die wenigsten haben sie wohl je betreten. Wer sich lieber in einem Café oder einer Bar aufwärmt den führt Wolfgang Salomon zu den Klängen von Angelo Badalamenti, dem Soundtrack zur Novelle “The Comfort of Strangers” von Ian McEwans Verfilmung durch Paul Schrader zur besten Pizzeria Venedigs. Pizzeria Aciugheta (Campo Santi Filippo e Giacomo) befindet sich in der Nähe des Ristorante Albiubagiò (Fondamente Nove 5039) in einer weniger touristischen Gegend Venedigs. Wer lieber Süßes mag, dem empfiehlt Salomon etwa die Pasticceria Tonolo, die die einzigartigen Martinsfritelle erfunden hat. Mit Rosinen, Zabaione-Creme oder Chantilly. Aber nur im November, wenn der Hl. Martin Geburtstag hat. So wie es auch die Castradina nur zum zur selben Zeit stattfindenden Salute Fest gibt. Im Grandhotel Palazzo dei Dogi gibt es noch ein Unikum, den letzten Eiskeller Venedigs, die Grottin del Giasso. Für die ganz Mutigen hier ein letzter Tipp: Venice Kayak, auf der gleichnamigen Homepage gibt es Bootstouren im Angebot, es sei denn die Kanäle sind mal wieder zugefroren. Zuletzt passierte das 1929, wovon man sich im Netz unter “Laguna Ghiacciata” überzeugen kann. Aber viele weitere brauchbare Tipps finden sich ohnehin in vorliegendem Reiseführer der besonderen Art.

Auch wenn Venedig seinen dekadenten Höhepunkt im 18. Jahrhundert hatte und damals Feste gefeiert wurden von denen man heute nur mehr träumen kann, spielt die Stadt doch auch bei den Celebrities des 21. Jahrhunderts immer noch eine Rolle, weiß Salomon. So heiratete etwa George Clooney seine Frau im Palazzo Papadopoli oder Cole Porter sorgte mit einem Auftritt von Josephine Baker für einen Skandal. “Wintertage in Venedig” bietet aber auch einen Livebericht vom 12.11.2019 als 90% der Stadt unter Wasser standen: Salomon war vor Ort! Weiters: Einkaufstipps wie Dogen-Schlapfen aus Radgummireifen bei Piedàterre Rialto, Antiche Drogerie Màscari, WEnice, etc.

Wolfgang Salomon
Venedig. Wintertage in der Serenissima.
2021, Broschur, 16,8 x 24 cm; 176 Seiten
ISBN 978-3-222-13664-1
Styria Verlag
€ 28,00

 


Genre: Kulinarik, Lagune, off the beaten track, Reiseführer, Sightseeing, Venedig
Illustrated by Styria Verlag Graz

Wilde Saat

Quellbild anzeigenZucht und Ordnung

Der Unsterbliche Doro züchtet schon seit Jahrtausenden Menschen mit außergewöhnlichen Merkmalen. Deshalb ist er ständig auf der Suche nach vermeintlichen Hexen oder Hexern („wilde Saat“), die frisches Blut in seine Zuchtdörfer bringen. Eines Tages folgt er der Spur einer ganz besonderen Frau: Sie ist wie er unsterblich, besitzt darüber hinaus aber noch die Fähigkeiten einer Gestaltwandlerin und einer außergewöhnlichen Heilerin. Anyanwu ist zunächst von der Aussicht begeistert, endlich nicht mehr von ihren Nachfahren mit dem Tod bedroht zu werden und unter ihresgleichen leben zu können. Deshalb folgt sie Doro in eines seiner Zuchtdörfer. Aber sie muss schnell feststellen, dass auch dieses vermeintliche Paradies seine Schattenseiten hat. Doro herrscht wie ein Gott über seine Nachfahren. Er hat despotische Züge, duldet keine Widerrede und verlangt, dass man klaglos seinen Zucht- und sonstigen Wünschen nachkommt. Das bedeutet auch, dass sich die Menschen von ihm töten lassen müssen, wenn Doro einen neuen Körper braucht. Seine Seele kann nicht ins Jenseits eingehen, sondern wechselt automatisch den Körper, wenn der alte verbraucht ist. Und das passiert spätestens nach zwei bis drei Jahren. Das Töten ist ihm zur Gewohnheit geworden, was Anyanwu als Heilerin entsetzlich findet. Sie selbst ist aus anderem Holz geschnitzt als Doro: Ihre Nachfahren dürfen sich ihre Partner*innen selbst wählen, erhalten Hilfe, Heilung, Schutz und Rat von ihrer Ahnin, und Anyanwu zieht all ihre zahlreichen Kinder eigenhändig und liebevoll auf. Überhaupt herrscht bei ihr Liebe und soziales Verhalten, wenn sie ein Dorf gründet. Nach ihren Möglichkeiten versucht sie Doro zum Positiven hin zu beeinflussen, aber dieser erweist sich als resistent gegen ihre Versuche, seine Praktiken sozialverträglicher zu machen. Da sie selbst vom Tod bedroht ist, wenn sie Doro nicht gehorcht – er würde schlicht und einfach ihren Körper übernehmen, was ihren Tod nach sich ziehen würde – verzweifelt sie allmählich an ihrer Machtlosigkeit Doro gegenüber. Schließlich entzieht sie sich ihm durch Flucht. Aber da Anyanwu für Doro gefährlich werden könnte, nimmt er die Verfolgung auf.

Patriarchat versus Matriarchat

Dieser von einer Frau geschriebene Science-Fiction-Roman ist in mehrerlei Hinsicht ungewöhnlich. Zum einen sind die Hauptpersonen schwarzhäutig, auch wenn Doro immer mal wieder weiße Körper benutzt. Schwarzhäutige Menschen, v.a. als Hautpersonen, kommen leider viel zu wenig in Romanen vor, weshalb schon dieser Umstand eine positive Hervorhebung wert ist. Dementsprechend spielt ein Teil der Geschichte in Afrika, und zwar vor und während der Kolonialzeit und der Versklavung der Schwarzafrikaner*innen. Hier wird die grausame Geschichte der Schwarzafrikaner*innen aufgezeigt, auch wie die Menschen darunter leiden. Und Doro wird als Mittäter dargestellt, da er aufgrund seiner eigenen Sichtweise kaum noch Menschlichkeit an den Tag legt. Er will zwar, dass es seinen Zuchtobjekten gut geht, sortiert aber auch gnadenlos aus, wenn sie ihm nicht mehr von Nutzen erscheinen. Nur Anyanwu macht all dies etwas aus. Sie möchte Menschlichkeit und positives soziales Verhalten um sich herum. Sie stellt damit einen Gegenentwurf zu Doro dar, dem seine Menschlichkeit immer mehr abhanden kommt.

Afrika ist die Wiege der Menschheit, und irgendwie schwingt das in dieser Geschichte mit. Dabei wird aber auch nicht verschwiegen, dass auch Schwarzafrikaner*innen ihren Anteil an der Versklavung hatten, wenn sie andere Stämme unterwarfen und verkauften oder ihresgleichen als Hexen brandmarkten und sogar zu töten versuchten. Das wird zwar eher nebenbei erwähnt, aber es hat Einfluss auf den weiteren Verlauf der Geschichte. Butler wollte wohl möglichst realistisch und nicht in im wahrsten Sinne des Wortes schwarz-weiß denken, sondern eine facettenreiche Story entwerfen, was ihr auch gelungen ist. Ihre Charaktere sind plausibel und nicht eindimensional, egal ob schwarz- oder weißhäutig.

Insgesamt entwirft Butler eine Geschichte des Patriarchats versus des Matriarchats. Sie zeigt das anhand ihrer beiden Hauptpersonen Doro und Anyanwu. Wenn man sich die Story genauer betrachtet, erinnert sie an die Theorie von Marija Gambutas: Vertreter des Patriarchats fallen in Gebiete ein, in denen das deutlich sozialere Matriarchat vertreten ist, und löschen diese Kultur trotz erbitterter Gegenwehr durch Frauen und Männer mit brutaler Gewalt aus. Doro vertritt in seinem gesamten Gehabe das Patriarchat. Seine Position als Familienoberhaupt ist unanfechtbar, sein Wort Gesetz. Wer sich an seine Vorschriften hält, führt ein einigermaßen gutes Leben, gibt dafür aber alle Freiheiten auf. Wer sich nicht daran hält, wird bestraft bis hin zum Tod. Es ist letztlich eine Gewaltherrschaft, die darauf beruht, dass Doro weiß, dass er den anderen überlegen ist. Die Menschen bleiben nicht freiwillig und gern bei ihm, sondern weil sie Angst vor ihm haben.

Anyanwu als Gegenentwurf zu Doro ist auch sehr mächtig, aber sie setzt ihre Macht nicht gegen, sondern für die Menschen ein, auch wenn diese sie als Bedrohung sehen. Sie setzt nicht auf Angriff, sondern auf Verteidigung, wenn es nicht mehr anders geht. Sie bevorzugt weder Gewalt noch Tod, sondern Heilung in allen Facetten. Sie denkt nicht wie Doro destruktiv, sondern konstruktiv. Sie agiert positiv sozial, indem ihr etwas an ihren Mitmenschen liegt, und sie ihnen mit Rat und Tat zur Seite steht. Sie lebt mit ihnen und nicht über ihnen. Sie liebt ihre Nachkommen und alle, die in ihrem Dorf Zuflucht gefunden haben. Sie vernetzt sich mit den Menschen und sie vernetzt die Menschen untereinander. Sie verhält sich wie eine gute Mutter zu ihren Kindern, hegt und pflegt die Gemeinschaft. Sie agiert mit der Natur und nicht gegen die Natur. Sie fügt sich in das Große Ganze ein und lebt nicht als herrschaftlicher, despotischer Parasit wie Doro. Doros Sohn trägt ihr auf, Doro zum Positiven zu beeinflussen, damit er seine Menschlichkeit nicht ganz verliert – was sich zu einer Mammutaufgabe auswächst, die aber aufgrund der Rettung der Welt notwendig ist.

Das erinnert sehr an Mythen und deren Kämpfe, die die realen Kämpfe des Patriarchats gegen das Matriarchat abbilden. Man sehe sich z.B. nur einmal die griechischen Mythen an, von der zunächst von einer weiblichen, großen Urgottheit die Rede ist, bis hin zur Entwicklung zum männerdominierten göttlichen Olymp, auf dem die Göttinnen eine den Göttern untergeordnete Rolle spielen. Doros Übernahme erfolgt zwar vergleichsweise sanft, aber die Drohung ist latent bis deutlich immer vorhanden. Die einst eigenständige Anyanwu wird regelrecht unterjocht, hört aber nie auf sich zu wehren, bis sie von Doro ernst genommen wird. Das wird sie allerdings erst, als sie den Tod nicht mehr fürchtet, denn erst durch diese Entscheidung wird sie wieder unabhängig.

Doro regiert seine Zuchtdörfer mit strenger Hand. Er fordert Unterwerfung. In seinen Dörfern ist es zwar egal, welcher „Rasse“ die Menschen angehören, trotzdem existiert eine Hierarchie. Die Hierarchie beruht auf geeigneten und ungeeigneten Zuchtobjekten. Je mehr „Hexen“-Potential seine Zuchtmenschen haben, desto wertvoller sind sie für ihn. Eine echte Bindung zu seinen Kindern besteht nicht, nur ein Sohn darf ihm wirklich nahekommen. Dem gegenüber steht die Gleichrangigkeit der Menschen bei Anyanwu. Sie behandelt die Menschen mit Menschlichkeit und der einzelne Mensch ist ihr wertvoll. Wenn sie urteilt, dann nach dem Charakter. Ein Mensch, der ihrer Gemeinschaft Schaden zufügt, wird ausgeschlossen. Sie handelt damit nach matriarchalischen und Jäger-Sammler-Mustern.

Science-Fiction ist hier wörtlich zu verstehen: Nach Art der Alternative History wird gezeigt, was genetische Versuche positiv und negativ bewirken, auch und gerade in ethischer Hinsicht.

Fazit

Der Science-Fiction-Roman handelt nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit. Er nimmt die Wissenschaftsfiktion wörtlich, indem er beleuchtet, wie genetische Zuchtversuche am Menschen in körperlicher und ethischer Hinsicht aussehen und ausgehen können. Dabei beleuchtet er zwei Systeme: das des Patriarchats und das des Matriarchats. Der Roman behandelt in Kombination dazu Andersartigkeit und wie damit umgegangen wird. Außerdem stellt er afrikanische und afroamerikanische Menschen in den Vordergrund, was leider immer noch viel zu selten vorkommt. Ein in vielerlei Hinsicht vielschichtiger und wertvoller SF-Roman.


Genre: Science-fiction
Illustrated by Heyne München

Robinson Crusoe. Neu übersetzt und ungekürzt.

Robinson Crusoe, der Roman in Neuübersetzung. “To be born is to be wrecked on an island“, schrieb James Matthew Barrie und meinte damit vielleicht nicht unbedingt Robinson Crusoe alleine, wiewohl er bestimmt schon von ihm gehört hatte. Denn jede/r kennt Robinson Crusoe. Aber die wenigsten kennen ihn im Original oder ungekürzt, was die hier vorliegende Prachtausgabe in Leinen des mare Verlages nun erstmals auch deutschen Leser/innnen ermöglicht.

300 Jahre Robinson Crusoe

Der Roman (Erstveröffentlichung 1719), der vor rund 300 Jahren von Daniel Defoe (1660-1731) geschrieben wurde, wird zumeist der Abenteuer- oder Jugendliteratur zugerechnet. Jedoch wurde sowohl dem Autor als auch dem Werk damit großes Unrecht zugefügt. Schließlich war Defoe schon 59 Jahre alt als er Robinson Crusoe verfasste und hatte durchaus auch ein reales Vorbild in der Person von Alexander Selkirk, den der Journalist in der Bahia Cumberland kennenlernte, gefunden. Zudem war Defoe ja schon zuvor, also vor Robinson Crusoe, als Journalist und Autor in Erscheinung getreten. Dennoch gilt sein Spätwerk als der “erste Abenteuerroman” der europäischen Literaturgeschichte. Dies ist vor allem den zumeist gekürzten und vereinfachten Versionen, die in deutschsprachigen Ländern in Umlauf sind, verschuldet. Wer sich dem “Klassiker der Meeresliteratur” in seiner ganzen epischen Breite widmet, wird feststellen, dass zwischen seinen Buchdeckeln auch sehr viel Weisheit liegt und nicht nur die Sprache, sondern auch das Denken, das darin enthalten ist, sehr modern ist. Natürlich ist eine deutsche Übersetzung immer noch kein Original, aber dem hält Günther Wessel im lesenswerten Nachwort entgegen, dass die englische Sprache sich – in den letzten 300 Jahren – sehr viel weniger verändert habe als die deutsche. Gerade das habe aber eine Neuübersetzung des zuletzt 1973 (!) ins Deutsche übersetzten Textes zwingend erforderlich gemacht. Und so können wir in der Version von Rudolf Mast endlich einen Text in Händen halten, der so nahe wie möglich am Original ist und so vielleicht für weniger Missverständnisse sorgt wie bisher. Denn auch der Defoe angekreidete “Kolonialismus eines Konquistadors” (Crusoe “benennt” Freitag und sich “Herr”) kann dadurch relativiert werden, dass Defoe sich Zeit seines Lebens gegen die damals und heute durchaus übliche Ausländerfeindlichkeit einsetzte in seinem Gedicht “The true-born Englishman” diesen Ausdruck als “a contradiction in terms, in speech an irony, in fact fiction” bezeichnete. Das klingt doch sehr modern für 17. Jahrhundert. Eine klare Absage an Rassismus und Rassenlehre also.

Neuübersetzung nahe am Original

Daniel Defoe hat aber nicht nur eine literarische Gattung begründet, sondern sie zugleich auch lust- und absichtsvoll zerstört, wie ich Günther Wessel beipflichten möchte. Denn nicht nur dass eigentlich sehr wenig Abenteuer im Abenteuerroman schlechthin enthalten ist (genau genommen nämlich nur am Anfang und am Ende), sondern vielmehr noch steckt in Robinson Crusoe, dem Roman, die Sehnsucht nach der Ferne, zugleich aber auch die Weltflucht und Kontemplation, die vielleicht einige Jahrhunderte später genau jene Revolution auslöste, die die Herrschaft der Könige und Kaiser beendete. Denn die 28 Jahre, die Robinson Crusoe, der Mensch, auf der Insel verbrachte hatten ihm vielleicht genau jene Einsicht eingebracht, die vielen von uns auch heute noch fehlt: schau nicht auf das, was dir fehlt, sondern auf das, was du hast. Und so gesehen sind wir alle Glückliche, egal auf welcher Seite des Lebens wir stehen, denn leben selbst ist das größte Geschenk, das uns nur einmal (im Leben) gereicht wird. Wenn wir auch nicht alle das (Un-)Glück haben, auf einer einsamen Insel zu stranden, um uns der wesentlichen Dinge des Lebens bewusst zu werden, ist Robinson Crusoe, der Roman, doch eine gute Gelegenheit eben dorthin zu entfliehen. Zumal die Ausgabe des mare Verlages nicht nur ungekürzt und so nahe am Original wie möglich ist, sondern auch noch in einer wunderbaren bibliophilen Ausgabe gedruckt wurde und im Schmuckschuber auch Reisen schadlos überstehen kann.

Daniel Defoe
Robinson Crusoe
Roman
(Originaltitel: The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe)
Aus dem Englischen von Rudolf Mast
2019, Leineneinband im Schuber, 416 Seiten
ISBN: 978-3-86648-291-3
Mare Verlag
42,00 €

 

 

 

 

 

 


Genre: Abenteuerroman, Jugendliteratur, Neuübersetzung
Illustrated by Marebuchverlag Hamburg

Das verlorene Paradies

Verklärte historische Sicht

Der im Original 1994 erschienene, in der deutschen Übersetzung «Das verlorene Paradies» betitelte Roman hat dem in Sansibar geborenen und in England lebenden Schriftsteller Abdulrazak Gurnah den Durchbruch gebracht. «Für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten» wurde 2021 sein Œuvre mit dem Nobelpreis geehrt. In Deutschland löste die Preisvergabe ziemliche Beschämung aus, war doch hierzulande selbst den Insidern weder der Preisträger noch sein Werk bekannt, vieles davon war auch nie ins Deutsche übersetzt worden. Mit einer eiligst nachgedruckten Neuauflage ist der erfolgreiche Entwicklungs-Roman nun wieder auf Deutsch erhältlich. In seiner Reise-Episode habe dieser Roman deutliche Bezüge zum «Herz der Finsternis» von Joseph Conrad, hat das Nobel-Komitee konstatiert. Er habe zudem, vor dem Hintergrund der Kolonisation in Ostafrika Ende des 19ten Jahrhunderts, Anklänge an die Geschichte von Yusuv aus dem Koran.

In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg muss der zwölfjährige Yusuf, dessen Vater sich bei einem reichen Araber Geld geliehen hat, welches er nicht zurückzahlen kann, sein armseliges Elternhaus verlassen. In der fernen Stadt soll er bei ‹Onkel Aziz› so lange in dessen Krämerladen arbeiten, bis diese Schulden abgetragen sind. Angeleitet von seinem Kollegen Khalil, der für den Laden verantwortlich ist, wird der aufgeweckte Junge wegen seiner Menschen-Freundlichkeit bei allen Kunden schnell sehr beliebt. Insbesondere bei den Frauen, von denen einige schon bald ein Auge auf den schönen Jüngling geworfen haben. Der hinter dem Haus des Händlers gelegene Garten erscheint Yusuf mit seinen exotischen Pflanzen und dem Teich in der Mitte wie ein Paradies. In seinem epikureischen Denken sieht er sich, innerlich frei, als glücklicher Mensch. Wie sich schließlich herausstellt, sind sowohl Khalil als auch der alte Gärtner wie er ebenfalls quasi Eigentum von Aziz. Sie arbeiten als Sklaven für ihn, ohne sich ein anderes Leben auch nur vorstellen zu können.

In größeren Abständen unternimmt Aziz ausgedehnte Handelsreisen ins Landesinnere, er treibt mit den dort lebenden Völkern einen lukrativen Tauschhandel. An einer solchen Handels-Karawane in besonders entfernte, unbekannte Länder muss schließlich auch Yusuf teilnehmen. Er wird dabei mit unsäglichen Strapazen, Krankheit und Tod konfrontiert, aber auch mit unsäglichen Grausamkeiten. Seine naiv unbeschwerte Jugend endet abrupt, seine innere Freiheit geht verloren. Diese letzte Reise wird auch finanziell ein Fiasko, Aziz hat größte Mühe, seine Leute zu bezahlen und die an der erfolglosen Expedition beteiligten Geldgeber zu vertrösten. Der von prophetischen Träumen geplagte Yusuf verliebt sich schließlich in Anima, die einst als Mädchen mit Khalil zusammen ins Haus von Aziz gekommen war und von ihm als blutjunge zweite Frau geheiratet wurde. Wie oft bei Abdulrazak Gurnah gibt es aber auch hier kein versöhnliches Ende. Die Kolonial-Mächte verändern brutal das Leben der unterdrückten Völker, der traditionelle Tauschhandel kommt zum Erliegen. Damit verschwindet auch das bisher friedliche, ausbalancierte Nebeneinander der verschiedenen Ethnien, Religionen und des in munterem Durcheinander gesprochenen Kisuaheli und Arabisch.

Das Besondere des Romans ist die Perspektive der Unterdrückten, aus der heraus, mit elegischer Grundstimmung, illusionslos erzählt wird. Ziemlich ungewohnt für westliche Leser ist ferner auch die religiöse Bezugnahme auf den Koran statt auf die Bibel. In bunten Bildern wird hier einerseits ein Paradies genügsamer Menschen geschildert, die sich allen Zumutungen resigniert unterwerfen, andererseits gibt es aber auch keine Grausamkeit, keinen Gewaltexzess, keinen Ekel, den der Autor seinen Lesern erspart. Seine einseitig verklärte Sicht auf die historische Realität trübt den positiven Eindruck von diesem Roman zudem beträchtlich.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Der Turm

Zweitlektüre zu empfehlen

Im Jahre 2008 erschien unter dem Titel «Der Turm» von Uwe Tellkamp der ‹ultimative Wenderoman›, er wurde mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Vier Jahre später erreichte die ARD mit ihrer Verfilmung des Stoffs mehr als sieben Millionen Zuschauer. In seinem Opus magnum hat der Autor die letzten sieben Jahre der DDR bis zum unblutigen Volksaufstand im ersten Arbeiter- und Bauerparadies auf deutschem Boden thematisiert. Und er hat es aus einer ungewöhnlichen Perspektive geschildert, dem auch im Sozialismus durchaus vorhandenen Bildungs-Bürgertum eines noblen Dresdner Villenviertels.

Als Erzähler aus der Mitte einer oppositionell eingestellten, systemfernen Bourgeoisie fungieren dabei der zu Beginn 17jährige Schüler Christian, der Arzt werden will, ferner sein Vater Richard, Oberarzt in einer chirurgischen Klinik, sowie sein Onkel, der studierte Biologe Meno, der fachfremd als Lektor in einem renommierten Verlag tätig ist. In unzähligen Episoden mit einer Hundertschaft von Figuren werden hier Geschichten aus den verschiedensten Milieus erzählt, die in einem dichten Geflecht von Verbindungen allen möglichen Kreisen der Gesellschaft angehören. Neben dem familiären und nachbarschaftlichen Verbund sind dies das Gesundheits-Wesen, für das der Vater steht, ferner das Bildungs-Wesen und die Nationale Volks-Armee, die der Sohn durchläuft und durchleidet, und schließlich auch das Verlagswesen, in dem sich der Onkel zu behaupten hat. Alle Drei sind dabei den bekannt fiesen Pressionen des diktatorischen Regimes ausgesetzt und kämpfen mit dessen sich überall zeigenden, grotesken Unzulänglichkeiten. Über allem wacht als permanente Bedrohung ein Spitzelsystem, das jederzeit mit einem Schlage eine erfolgreiche Karriere endgültig zerstören oder eine sich abzeichnende von vornherein verhindern kann. Im privaten Leben kommt es neben dem täglichen Kampf mit der Mangelwirtschaft und jederzeit drohenden Denunziationen natürlich auch zu amourösen Verwicklungen, die so weit gehen, dass der Vater dem Sohn die Freundin ausspannt. Onkel Meno liegt in ständigem Kampf mit den literarischen Betonköpfen der Kulturbehörden, den er in einem geradezu poetischen Tagebuch festhält, aus dem im Roman immer wieder mal zitiert wird.

Uwe Tellkamp schildert das bourgeoise Milieu, dem er ja ebenfalls entstammt, mit scharfem Blick für kleinste Details durchaus selbstkritisch. Bei allem Realismus wird dem Geschehen aber auch die eine oder andere eher märchenhafte Szene auflockernd beigemischt. In diesem Kaleidoskop sind die einzelnen Textteile, oft in unterschiedlicher Diktion, locker aneinander gereiht. Neben fachsprachlichen Begriffen finden sich da auch Militär- oder Stasi-Jargon, ein lautgetreu geschriebenes, breites Sächsisch, zuweilen aber auch eine poetische, nur in der gehobenen Literatur anzutreffende Ausdrucksweise. «Der Turm» enthält Elemente des Schlüsselromans, mehr als ein Dutzend Figuren sind da mehr oder weniger deutlich erkennbar, ein Who-is-Who der DDR-Literatur-Schaffenden  bis hin zu einigen aus dem dekadenten Westen.

Als Tausendseiter hat dieser Roman mit seinen familiären Erzählern nicht nur vom Umfang her gewisse Ähnlichkeiten mit den Buddenbrooks. Besonders deutlich wird das im ersten Teil durch dem vergleichbar bildungssatten wie auch beschaulichen Erzählgestus. Diesem bürgerlichen Realismus mit seinen vielen literarischen Anspielungen und Symbolen steht im zweiten Teil unter dem Titel «Die Schwerkraft» ein eher sozialistisch geprägter Realismus gegenüber. Der zielt, deutlich politischer, auf die sich abzeichnende Wende hin, jene am 9. November 1989 bevorstehende Zäsur, in die der Leser an diesem historischen Tag abrupt entlassen wird. Die gigantische Materialfülle ist letztendlich auch erdrückend, sie übersteigt in ihrer Vielfalt deutlich das Aufnahmevermögen. Was man dann erst beim zweiten Lesen merkt, denn nach mehr als zehn Jahren ist davon kaum noch etwas erinnerlich. Es lohnt sich also jede erneute Lektüre, eine erste aber ist geradezu Pflicht!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Grenzenlose Sinne – Intuition, Empathie, Hellsehen

Erweiterte Wahrnehmung

Stefan Brönnle will mit diesem Buch darauf aufmerksam machen, dass unsere Wahrnehmung weiter geht als wir annehmen. Wir filtern vieles, was in der Realität existiert, u.a. aufgrund unserer Erwartungen und Weltbilder aus. Er nennt als Beispiel Darwin, der beobachtete, dass Eingeborene, die noch nie ein großes Schiff gesehen hatten, dieses deshalb nicht wahrnahmen. Die kleinen Landungsboote dagegen konnten sie sehen. Auch die Quantenphysik lässt er in seine Betrachtungsweisen einfließen. Diese besagt, dass jede*r Beobachter*in das zu beobachtende System beeinflusst. Er schließt daraus, dass wir keine unabhängigen Zeugen der äußeren Realität sind, sondern diese beeinflussen und sogar erschaffen. Das Bindeglied zwischen unserem Bewusstsein und der Realität ist also die Wahrnehmung. Und diese möchte Brönnle mit diesem Buch erweitern. Dazu bietet er den Leser*innen zahlreiche Übungen an, u.a. zur Fernwahrnehmung, deren Lösungen am Ende des Buches aufgeschlagen und mit den eigenen Wahrnehmungen verglichen werden können.

Brönnle erläutert systematisch die im Titel genannten Wahrnehmungsarten, untergliedert diese, bietet dazu Übungen an und fasst das Wichtigste eines jeden Kapitels an dessen Ende kurz und prägnant zusammen. Dabei geht er aber auch auf Gefahren ein, z.B. dass man im anderen Extrem von inneren Bildern überschwemmt werden könne und diese dann für historische Realität halte. Brönnle beginnt ganz von vorn, nämlich mit dem Aufbau des Gehirns, welches grundlegend für die Wahrnehmung ist, und erklärt dessen Funktionen. Seine Erläuterungen nicht nur am Hirn unterlegt er mit vielen Bildern, Fotos und Zeichnungen. Er widmet sich den Wirklichkeits- und Wahrnehmungsebenen (Gehirnwellen, physische und geistige Welt) und wie wir Wirklichkeit mithilfe von Wahrnehmungsfiltern erschaffen. Dann geht er auf die fünf Sinne ein und bietet für jeden Wahrnehmungstyp (z.B. die Kinästetiker*innen) Übungen an. Er gibt auch Tipps, wie man mit inneren Bildern umgehen kann und weist auf Fallen hin. Er erläutert den Focusing-Prozess, beschreibt, wie man den Assoziativ-Speicher entleert und sich insgesamt freimacht von störenden Einflüssen, die die Wahrnehmung beeinträchtigen oder davon ablenken. Er beschreibt immer sehr anschaulich, z.B. wie man mit schnellen Techniken die Alpha- und Theta-Hirnwellen aktiviert, die für eine erweiterte Wahrnehmung wichtig sind. Auch die Traumdeutung und wie man insgesamt mit Träumen umgeht und sie evtl. auch lenken kann, findet in seinem Buch Platz. Da sind bei vielen Themen oft schon einigermaßen bekannte Techniken darunter, aber er erklärt auch unbekannte, wie die kinästhetische Primärbewegung, den Rapport oder was das automatische Zeichnen für die Wahrnehmung bringt. Wahrnehmungshaltungen (dominant, rezeptiv, Identifikation) gewähren verschiedene Zugänge zu dem, was wahrgenommen wird.

Bei all dem vergisst er nicht, an Schutzmaßnahmen zu denken, damit wir uns bei unschönen Wahrnehmungen zurückziehen bzw. davor schützen können, z.B. über Übungen, die die eigene Mitte finden lassen, heilende Laute wie das gehauchte „Hhhhiiiii“ oder die Übung zur Verbindung mit Himmel und Erde.

Das Buch schließt ab mit weiterführender Literatur und Adressen, an die man sich bei Interesse wenden kann.

Männliche Brille

Auffällig an diesem Buch: Brönnle verwendet nicht nur das generische Maskulinum, sondern auch Bilder, die v.a. Männer zeigen. Das war lange genug Usus, ist aber zum Glück nicht mehr zeitgemäß. Ich bin eine Frau und ich fühle mich nicht durch das generische Maskulinum angesprochen und mindestens genauso wenig durch Fotos und Bilder mit Männerkörpern. Sie repräsentieren mich nicht, haben es auch nie. Warum wird nicht beides oder ein neutraler Körper angeboten? Es gibt schließlich auch Hermaphroditen, Transsexuelle usw. Bilder wirken direkt. Und Sprache spiegelt Welt nicht nur wider, sondern erschafft sie auch. Das könnte Brönnle eigentlich wissen. Wenn wir schon bei Wahrnehmung und Wahrnehmungsbeschränkung sind: Brönnle sieht durch die männliche Brille. Aber die Welt ist deutlich vielgestaltiger als die bloße männliche Sicht, die den Leser*innen hier ganz konservativ als Neutrum untergejubelt wird.

Fazit

Brönnle gibt in diesem Buch einen prägnanten, systematisch geordneten Überblick über verschiedene Arten von Wahrnehmung, wie man diese erlangt, wie man sich schützt und welche Grundlagen für eine erweiterte Wahrnehmung Voraussetzung sind. Aber seine eigene Wahrnehmung, die er bei anderen zu erweitern versucht, beschränkt sich auf das Männliche. Ich fühle mich z.B. nicht angesprochen, wenn ich mich als Frau ständig mit Männerkörpern identifizieren soll.


Genre: Sachbuch Esoterik
Illustrated by Neue Erde

Imperium

ImperiumChristian Kracht schildert in seinem Roman »Imperium« die Lebensgeschichte des deutschen Auswanderers August Karl Engelhardt (1875 bis 1919). Engelhardt gründete auf einer kleinen Insel im heutigen Papua-Neuguinea eine spirituelle Gemeinschaft, die er »Sonnenorden« nannte. Charakteristikum war die Ernährungsweise, die ausschließlich aus den auf der Insel reichlich wachsenden Kokosnüssen bestand. Weiterlesen


Genre: Abenteuer, Biographien, Romane
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Naturparfum – Balsam für Körper, Geist und Seele

Ademi, J: Naturparfum - Balsam für Körper, Geist und Seele

Gut verständliches, schön gestaltetes Buch mit vielen Hintergrundinfos

Autorin Josephine Ademi gibt einen leicht verständlichen und fundierten Einblick in die Herstellung von Naturparfums, angereichert mit Hintergrundwissen. Sie fängt mit der Grundlage des Riechens an, der Nase. Der Geruchssinn ist ein komplexer Sinn, der uns vor Gefahren schützt. Deshalb – und das ist das Besondere – dringen Düfte fast ungefiltert und schnell ins Gehirn vor. Gerüche erhöhen aber auch die Lebensqualität. Die Riechschleimhaut fällt dadurch auf, dass sich auf einem sehr kleinen Bereich eine sehr große Menge an spezialisierten Zellen tummeln. Auf jeder Riechzelle sitzen 15-20 Riechhärchen und auf jedem dieser Härchen ca. 350 Geruchsrezeptoren. Duftmoleküle kommen als elektrischer Impuls im limbischen System an. Dort sitzt auch das Erinnerungsvermögen. Deshalb ist Erinnertes, auch Vergessenes, durch Gerüche abrufbar.

Ätherische Öle sind quasi flüssiges Gold und werden in der Naturparfümerie und im therapeutischen Bereich genutzt. Die Herstellung von reinen ätherischen Ölen ist mit viel Aufwand verbunden. Deshalb werden einige Öle teurer gehandelt als Gold. Duftstoffe werden von den Pflanzen produziert, um Insekten anzulocken. Sie dienen aber auch der Abwehr von Keinem, Pilzen und Bakterien, als Energielieferant, Informationsträger und Schutzschild vor Fressfeinden. Sie erzeugen ein für die Pflanze perfektes Mikroklima, das sie besser vor Wettereinflüssen und Temperaturschwankungen schützt.

Den Menschen dienen ätherische Öle zur Herstellung des Wohlbefindens oder zur Gesunderhaltung/Gesundung von Körper und Seele. Im körperlichen Bereich wirken sie antibakteriell, antiviral, antimykotisch, sind krampflösend, schmerzlindernd und hustenlösend. Außerdem beeinflussen sie die Verdauung, fördern die Durchblutung, wärmen und kühlen. Im psychischen Bereich können sie beruhigend (u.a. Lavendel), anregend oder stimmungsaufhellend sein. Alle Zitrusöle z.B. haben stimmungsaufhellende Eigenschaften. Baum- und Holzdüfte stärken und fördern die innere Stabilität.

Nach den o.g. Grundlagen widmet Ademi einen Teil des Buches der Darstellung der Gewinnung der Naturöle (Wasserdampfdestillation, Kaltpressung, Enfleurage-Methode, Extraktion mit Lösungsmitteln, Kohlendioxid-Extraktion, Herstellung von Resinoiden) und der Sprache der Parfümerie (angelegt als kleines Lexikon), den Duftfamilien (z.B. blumig, holzig, aromatisch, orientalisch…) und der Duftkonzentration (z.B. Eau de Fraiche, Eau de Cologne, …).

Dann gibt sie Einblicke in die Herstellung von Naturparfüms: Was bedeuten Basisnote, Herznote, Kopfnote? Wie harmonieren diese Noten miteinander in der Parfumherstellung? Welches sind die Basisstoffe für die Herstellung von Naturparfüms? Was braucht man als Zubehör?

Damit sich Leser*innen einen Überblick über die verschiedenen Düfte verschaffen können, hat Ademi 45 Portraits von gängigen ätherischen Ölen alphabetisch geordnet. Wie das ganze Buch ist auch dieser Teil optisch sehr ansprechend gestaltet und klar gegliedert, was sowohl die Übersichtlichkeit als auch das optische Wohlbefinden fördert. Die Fotos der Pflanzen oder Pflanzenbestandteile sind in Form von Öltropfen gestaltet, die zart gehaltene Hintergrundfarbe Lila entspannt. Die wichtigsten Informationen sind als eine Art Steckbrief gestaltet. Ausführlicher behandelt werden die Beschreibungen der Öle und deren psychische Wirkung. Die Symbole am Rand weisen auf die o.g. Noten hin.

Feminin? Maskulin?

Was mir persönlich nicht so gut gefällt, ist die Aufteilung in feminine und maskuline Düfte. Das verstärkt Rollenklischees. Warum soll z.B. nur das Feminine „die Zärtlichkeit und Hingabe zum Ausdruck“ bringen (S. 74)? Ich würde mir keinen Mann wünschen, der das nicht kann! Und die Rose wird automatisch der Frau zugeschrieben: „Als klassischer Vertreter der Herznote findet Rosenöl in Naturparfums vor allem in femininen Mischungen seinen Platz.“ (S. 92) Als „Duft der Liebe“ (S. 93) ist das Öl doch für alle Geschlechter geeignet! Ich persönlich mag den Duft von Sandelholz, lese aber „In Duftkompositionen eignet es sich für holzig-warme Herrendüfte mit klassischer Eleganz.“ (S. 97) Ademis Herrenduft „Fanny Voice“ habe durch die Moschuskörner „etwas Anziehendes und Animalisches“. Sieht man sich frühere Göttinnen wie u.a. Kali oder Sachmet an, gibt es da genug „Anziehendes und Animalisches“ für Frauen! Diese göttlichen Frauen waren nämlich beileibe nicht unterwürfig, zart und anschmiegsam. Kurz gesagt: Düfte an sich sind wie Farben neutral. Deshalb würde ich hier auch in Hinblick auf Transsexualität, Genderfluid, Hermaphroditen usw. eine Unterteilung in Charaktere bevorzugen. Es wird im Alltag noch genug in nur zwei Geschlechter unterteilt und Rollenklischees zementiert, obwohl die Welt seit jeher deutlich vielgestaltiger ist. Die auch in diesem Buch ausdrücklich in den Ölen propagierte Natur bevorzugt als Überlebensprinzip Diversität – warum machen wir es ihr in unserem Weltbild bis heute nicht nach? Immerhin wird Weiblichkeit nicht nur als zart definiert: „Ihr feuriges Temperament (Tuberose) ist für mutige Duftkreationen geschaffen, die Weiblichkeit und Sinnlichkeit offenbaren.“ Hier wird der ebenfalls seit jeher existierende Mut der Frauen zumindest angesprochen. Die Autorin unterteilt folgerichtig ihre Parfumkreationen zum Nachmischen in „Naturparfums für Sie und Ihn“ (S. 111). Aber immerhin gibt es auch einige Rezepte, die mit „unisex“ betitelt sind.

Als Abschluss des Buches sind 140 ätherische Öle auf einen Blick in Form einer Tabelle dargestellt, was die schnelle Auffindbarkeit erleichtert, wenn man zu diesen wichtige Informationen sucht.

Fazit

Das Buch bietet einen prägnanten Überblick über ätherische Öle und deren Verwendung in Parfums, liefert viele interessante Hintergrundinformationen, ist gut verständlich und übersichtlich geschrieben und gibt Tipps für eigene Duftkreationen. Weniger gut finde ich die Unterteilung der Düfte in „feminin“ und „maskulin“, da sie den tatsächlichen menschlichen Gegebenheiten nicht entspricht und Rollenklischees befördert. Auch wenn diese Bezeichnungen zur Parfumherstellung gehören: Ein Umdenken und Umgestalten des Systems wäre angebracht. Schließlich ist nichts in Stein gemeißelt, sondern alles eine Erfindung des Menschen, die änderbar ist. Die Diversität der Natur macht es uns seit jeher vor!


Genre: Sachbuch ätherische Öle
Illustrated by Joy Verlag

Warum du mich verlassen hast

Weniger wäre mehr gewesen

Der Debütroman von Paul Ingendaay greift mit seinem Titel «Warum du mich verlassen hast» auf die Worte von Jesus am Kreuz zurück. Ein deutlicher Hinweis auf das Milieu, in dem dieser Internats-Roman angesiedelt ist, ein katholisches Internat nämlich. Der Autor beschreibt darin eigene Erfahrungen, wie er im Nachwort erklärt. Er habe ganze siebzehn Jahre gebraucht, bis er nach der Erstfassung und nach langen Schreibpausen dann seine auf einer wahren Begebenheit beruhende Geschichte ‹in einem Rutsch› neu geschrieben habe.

In einem niederrheinischen Knaben-Internat fühlt sich der fünfzehnjährige Bücherwurm Marko sehr alleingelassen. Zwangsläufig beschäftigte er sich viel mit Gott, in der Adoleszenz gewinnt natürlich auch die «Mädchenfrage» eine immer größere Bedeutung, seine wahre Leidenschaft aber sind die Bücher, die ihm dann auch über seine gelegentlichen Nihilismus-Anfälle hinweghelfen. Leitmotivisch zieht sich Robinson Crusoe durch die Erzählung, der ja, ebenfalls alleingelassen, ähnlich gefordert war wie Marko auf seiner einsamen Internats-Insel. Dort herrscht eine strenge Ordnung, die Zöglinge werden geschlagen und gedemütigt, die rigorose religiöse Erziehung ähnelt in ihren drastischen Methoden eher einer Gehirnwäsche als der einfühlsamen Vermittlung moralischer Werte. Neben den Büchern helfen ihm nicht nur seine Kumpels über all den Frust hinweg, vor allem auch sein Religionslehrer, Bruder Gregor, ist ihm ein Mentor und unermüdlicher, literarisch kompetenter Gesprächspartner, der so gar nicht in diese Knaben-Zuchtanstalt hineinpasst. Auch bei dem unkonventionellen Hausmeister ist Marko oft zu einem Plausch, und der lässt ihn das geheimnisvolle «Buch der Ordnungen» lesen, eine Art Internats-Almanach. Als Marko erfährt, dass seine in Köln lebenden Eltern sich getrennt haben, bricht eine Welt für ihn zusammen, auch den sicheren Hafen der Familie gibt es nun nicht mehr für ihn. Bis schließlich etwas Schreckliches passiert und Marko sich moralisch verpflichtet fühlt, die arglistig vertuschte, bittere Wahrheit ans Licht zu bringen.

Paul Ingendaay hat für seinen in den 1970er Jahren angesiedelten Roman, der ja an die Internats-Geschichten von Hesse oder Musil erinnert, eine eigene Sprache gefunden, in der er seinen rebellischen Ich-Erzähler und Protagonisten reden lässt, ein konsequent durchgehaltener Jugend-Slang, wie er ähnlich auch bei Salinger zu finden ist. Vor allem aber die oft absurd komischen Gedankengänge des Helden unterscheiden den Roman von seinen großen Vorbildern und machen ihn zu einer unterhaltsamen Lektüre. Dem stehen gleichwertig allerdings ebenso viele kontemplative Abschnitte zu philosophischen Fragen gegenüber. Die werden neben vielen Bibelzitaten auch mit Zitaten von Kierkegaard bis Seneca untermauert und in funkelnden Dialogen erörtert. Der aufgeweckte und belesene Marko erweist sich dabei nicht nur als rhetorisch gewandt, er spricht gelegentlich auch den Leser direkt an und benutzt dabei oft spöttisch einen predigtartigen Ton. Er und viele der originellen Romanfiguren wirken sympathisch, und sogar der eine oder andere bigotte Erzieher zeigt manchmal, dass er eine versteckte menschliche Seite hat. Aber das bleibt die Ausnahme! «Gewalt gehört zur katholischen Kirche wie Hostie und Weihrauch» heißt es im Roman, und das ist letztendlich auch hier die bittere Erkenntnis.

Neben einem wenig dramatischen, aber stimmig bis zum Ende anhaltenden Spannungs-Bogen überzeugt dieser Roman vor allem mit seiner anschaulich beschriebenen Internats-Atmosphäre. Zu der gehören auch die Zumutungen der «Schädelstätte», wie die Zöglinge die grottenschlechte Internatsküche in ihrem Jargon verächtlich bezeichnen. Es ist letztendlich dieser juvenile Jargon, der diesen astreinen Internats-Roman zu einer ebenso amüsanten wie bereichernden Lektüre mit einigem gedanklichen Tiefgang macht. Ein deutlicher Wehrmutstropfen ist dabei allerdings seine schiere Länge, zweihundert Seiten weniger wäre mehr gewesen!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Das verlorene Paradies

Der kleine Yusuf himmelt den großen Kaufmann an, dem seine Eltern immer ein Festmahl kredenzen, wenn er, der Onkel Aziz, erscheint. Er schenkt ihm zum Abschied auch immer ein Geldstück. An anderen Tagen gibt es nicht immer etwas zu essen, seine Mutter meint, er solle doch den Staub essen, den der Holzbock hinterlässt. Richtig unangenehm wird sie ihm, als sie ihn herzt und küsst wie ein kleines Kind, er ist doch schon zwölf Jahre alt!

Er ahnt nicht, dass dies zum Abschied ist, denn am selben Tag nimmt ihn Onkel Aziz mit und er wird seine Eltern nie wieder sehen. Er lebt dann als Gehilfe von Khahil im Laden des Kaufmanns, auf dessen Grundstück.

Er wird heimisch, neben dem Haus ist ein eingemauerter Garten, (walled garden), den er besucht, dort fühlt er sich wohl und kann träumen. Eigentlich gehört der Garten der Mistress, der Ehefrau des Kaufmanns, die er aber nie zu Gesicht bekommt. Khalil deutet an, dass er dieser gut gefalle, wie überhaupt: alle Männer und Frauen werden immer und überall Yusufs Schönheit betonen.

Es ist die Männerwelt von vor einhundertundfünfzig Jahren in Tanganjika, in der er zum Mann werden wird. Seine Vorbilder werden neben Onkel Aziz und Khalil die anderen Männer der Handelstruppe, mit der der Kaufmann das tansanische Festland bereist, um seine Geschäfte zu machen.

Bei der nächsten Reise wird er mitgenommen. Er teilt mit den Männern Freud und Leid, Tage und Nächte. Er lernt die Rangordnungen respektieren, die in der multikulturellen Truppe herrschen, auch die derben Schimpfwörter, meist mit phallischen Bezügen, mit denen die jeweils anderen tituliert werden. Dabei bleibt er immer der aufmerksame Jüngling, der die Welt noch etwas besser verstehen lernt.

Einige Jahre bleibt er in der Familie eines Kaufmanns, der erschrocken ist, dass er den Koran noch nicht gelesen hat, also besucht er eine Koranschule und lernt dazu. Bei der nächsten großen Reise in das Innere des Landes wird er, nun groß geworden, mitgenommen. Onkel Aziz ist stolz auf ihn und erzählt von der Geschichte des Handels in Ostafrika, von den Omani, den Indern und dass die neuen, die europäischen, die gefährlichsten Konkurrenten sind. Irgendwann sagt einer der Männer: „Die Europäer sind aus dem gleichen Grund hier wie wir.“ So kommt es denn auch: Diese Reise wird ein Fiasko, keines der erhofften Erlöse wird eingebracht. Lug und Betrug und viel Gewalt mit ungleichen Waffen bedrohen das Wohlleben des Kaufmanns.

Zurück im Hain der Sehnsucht, so der Titel des Kapitels, kann Yusuf die Wirklichkeit erkennen: Sein Vater musste ihn dem „Onkel Aziz“ als Pfand für Schulden überlassen, so wie auch Khalil, und dessen Schwester Amina, die die Magd der Mistress ist, Schulden ihrer Väter begleichen mussten.

Sie ist die einzige weibliche Person mit Verstand. Doch auch sie lässt der Autor sagen, dass der Kaufmann weiß, dass Frauen die Hölle sind. Yusuf träumt lieber, er möchte fliehen, gerne mit Amina. Denn in dieser harten Welt der Männerfantasien hat er sich seine Unschuld erhalten. Aber die Geschichte wendet sich: Nichts bleibt, die Deutschen kommen.

Ich habe das Buch auf Englisch gelesen, die Sprache ist so schön, dass selbst Muttersprachler neidisch werden könnten. Yusuf erzählt in herrlichen Bildern von der Natur, den Begegnungen, die sie auf der Reise machte. Es gibt treffende Dialoge, wenn Männer reden. Leider, außer bei Amina, nie, wenn Frauen reden.

Die Übersetzung ist gelungen, bei der vorliegenden Ausgabe gibt es ein Glossar für die vielen Fremdwörter in Kiswahili und Arabisch, auch einiges aus den Religionen wird erläutert. Dazu eine kurze „Editorische Notiz“, die erläutert, wie wichtig es ist, die abfälligen Bemerkungen über die jeweils anderen auch noch heute zu verwenden.

Im Englischen ist der Titel schlicht: Paradise, im Deutschen: Das verlorene Paradies. Glaubte die Übersetzerin wirklich, dass das Leben damals ein Paradies war, das nun verloren ist? Es war der doch eher der Traum von einem Paradies, und das hat der Autor treffend ausgedrückt mit einfach: “Paradise“.


Genre: Gesellschaftsroman
Illustrated by Penguin

Mit Büchern das gefrorene Meer der Zeit löchern – 222 Lesetipps, mit 11 Verrissen

Bild 1 - Ruprecht Frieling / Mit Büchern das gefrorene Meer der Zeit löchernNavigationssystem in Form von Rezis

Verleger, Autor und Journalist Ruprecht Frieling bleibt auch in diesem Buch seinem Lieblingsthema treu: den Ratgebern. Im Buch tummeln sich viele Arten von Büchern, liebevoll verpackt in Frielings angenehm zu lesende Rezensionen. Er gibt den Leser*innen sozusagen ein Rezensionsnavigationssystem an die Hand, das sie sicher durch das weite, unendliche Büchermeer leiten soll. Das hat er bei mir geschafft: Ich weiß jetzt, welche der vorgestellten Bücher ich definitiv nicht lesen will, und das ist ein großer Erfolg. Das spart mir Geld und Zeit bei Büchern, von denen ich sonst erst im Nachhinein herausgefunden hätte, dass sie für mich nichts sind. Andererseits habe ich auch Bücher entdeckt, die mich interessieren könnten. Denn eins ist sicher: Es gibt Bücher für jeden Geschmack.

Des Autors Geschmack scheint mir in Richtung gebrochener und/oder interessant-schrulliger Charaktere zu gehen, die gern einmal den Antihelden geben, sich auflehnen, im Lebenssumpf versacken oder das Leben überraschend anders sehen bzw. leben. Ein großer Teil seiner Rezensionen in den verschiedenen Genres geht in diese Richtung, deswegen unterstelle ich jetzt einmal eine Vorliebe dafür. Ich kann nicht anders, beim Lesen dieser Rezensionen hatte ich automatisch ein Gefühl von Sex, Drugs & Rock’n’Roll. Wer also mit diesen Themen schwingt, der wird bestens und – weil Frieling bei all seinen Rezensionen Wert auf ordentliche Recherche legt – fundiert bedient. Was jetzt nicht heißt, dass er diesen Lebensstil selbst pflegt, sondern nur, dass – egal, welches Sujet er unter die Lupe nimmt – er merkbar Weltwissen und Recherchearbeit an den Tag legt, um gute Rezis zu schreiben. Sein Hintergrundwissen, das er regelmäßig einfließen lässt, ist interessant und hilfreich bei der Einordung des jeweiligen Buches. Sein wie schon erwähnt angenehm zu lesender, flüssiger Schreibstil lässt die Leser*innen sanft in die Rezension gleiten. Man taucht in das Buch und in die jeweilige Kritik ein und ist überrascht, wie schnell selbst mehrseitige Rezensionen gelesen sind.

Ich persönlich kann allerdings mit Themen, die sich um Gewalt und destruktives Verhalten drehen, wenig bis nichts anfangen. Ich habe mich im Gegenteil eher an meine gehasste Schullektüre erinnert gefühlt, die ich nur wegen Notenzwangs gelesen habe. Mein ansonsten angeregtes Dasein als Bücherwurm kam bei solcher Lektüre regelmäßig ins Stocken. Ich konnte auch im Germanistik-Studium u.a. Kafka nicht leiden, weil er mich viel zu sehr an meine Alpträume erinnerte. Kafka als Mensch hingegen fand ich interessant.

Männersicht und Frauensicht

Außerdem betrachte ich diese Art der Lektüre aus der Sicht der kritischen Frau und stelle fest, dass sie v.a. aus männlicher Sicht geschrieben ist (Ausnahme z.B. Uschi Obermayers Biografie, die ebenfalls im Buch rezensiert wird). Mir behagt sowohl die Sexualisierung der Frau, die Liebe unter schlimmsten Umständen als auch der z.T. ausufernde Gewaltaspekt dieser Literatur nicht, v.a. wenn die Frauen darunter zu leiden haben und wieder einmal der Opferaspekt in vielerlei Gestalt mit dem weiblichen Geschlecht verbunden wird. Das schadet einem vielfältigen und starken Frauenbild, denn Frauen in der Realität sind alles andere als schwach, sondern durch die (leider ignorierte und wenig wertgeschätzte tagtägliche Superwoman-Mehrbelastung) Fundament und die tragenden Säulen der Gesellschaft.

Mir kommt dazu eine neulich erst geschaute Doku über Filmemacherin Alice Guy in den Sinn. Diese Frau war Pionierin in der Filmwelt – und hat bis zum Ende ihres Lebens dagegen gekämpft, dass Männer Guys überragenden Anteil an der Filmgeschichte ausradieren wollten. Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Alice_Guy-Blach%C3%A9 In einem ihrer Filme zeigt Guy Auswanderer, deren Verhaltensweisen sie in Amerika beobachtet hatte. Die Männer gehen völlig unbelastet in das neue Land, während ihre Frauen alle Lasten des Haushalts im wahrsten Sinne des Wortes am ganzen Körper schleppen müssen. Ein verärgerter Polizist drückt daraufhin den männlichen Auswanderern die Lasten der Frauen in die Arme. Diese tagtägliche nicht anerkannte Mehrbelastung ist auch heute noch traurige Realität.

Mir gefallen auch die oft und gern ausgelebten destruktiven Verhaltensweisen der vorwiegend männlichen Protagonisten nicht. Als jemand, der selbst einen Alkoholiker in der Familie hat und als Freundin und Bekannte von Frauen, die coabhängig in einem gewalttätigen Alkoholikerhaushalt aufgewachsen sind, hat das Lesen über eine süchtige, männliche Person zumindest ein deutliches Geschmäckle – um einmal vorsichtig auszudrücken, was für Gefühle da hochkommen können. Ich persönlich will auch keine „scharfe“ Braut sein. Die Konsequenzen für eine solche Einschätzung kann ich mir nicht nur lebhaft vorstellen, man sieht und merkt sie ja auch im Alltag. Ich verzichte dankend darauf.

Es ist mir bis heute ein Rätsel, weshalb solche Literatur mit ausführlich dargestellten destruktiven Verhaltensweisen in allen Formen als hochwertiger gelten soll als die oft genug verachtete und im besten Fall milde belächelte sogenannte „Frauenliteratur“, die bei näherer Betrachtung soziale Werte hochhält, ohne die eine Gesellschaft nicht bestehen kann. Auf destruktive Verhaltensweisen dagegen kann sie gut verzichten. Gut wenigstens, dass manche Bücher solchen Destruktivismus zumindest kritisch darstellen. Liebe in all ihren positiven Aspekten ist in „Frauenliteratur“ ein gern genommenes Thema, ebenso Freundschaft und die Kritik an der Stellung der Frau (z.B. in historischen Romanen). Eigentlich kann ich Männern nur raten, „Frauenliteratur“ zu lesen, wenn die Welt sozialer werden soll. Und in der „Frauenliteratur“ steht übrigens auch drin, welchen Typ Mann Frauen bevorzugen. Und das ist definitiv nicht der versiffte, Alkohol trinkende, Drogen konsumierende, sich mit gefühllosem Sex ablenkende Mann, der völlig am Boden und bindungsunfähig ist, und den die Konsequenzen seiner Süchte regelmäßig einholen. Dementsprechend wenig kann ich mit einer „grandiosen Symphonie aus Alkohol- und Drogensucht“ anfangen (S. 391). Interessant finde ich auch, dass der Autor Elsa Riegers Roman explizit als „Frauenroman“ deklariert – all die anderen aus männlicher Sicht und von männlichen Autoren geschriebenen Bücher sind dagegen leider nicht als „Männerroman“ ausgewiesen. Warum nicht? Es wäre nur konsequent. Die männliche Sicht ist also auch hier (ich denke eher unbewusst, weil man(n) in dieser Gesellschaft eher nicht darüber nachdenken muss) die „normale“, die weibliche die außenstehende und „andere“. Als weibliche Leserin befremdet es mich natürlich, nicht das „Normale“ zu sein. Aber Frieling schafft es immerhin, diese „Frauenliteratur“ auch für Männer schmackhaft zu machen, indem er auf die für männliche Leser interessanten Aspekte hinweist.

Demensprechend fehlt mir bzgl. der Rezensionen ein guter Anteil an Literatur, die aus Frauensicht geschrieben ist. Die gibt es zwar auch, aber die aus männlicher Sicht ist in der Überzahl, vielleicht auch, weil der Autor selbst ein Mann ist? Mir fehlen ebenfalls Rezis zu Kinderbüchern, von denen ich weiß, dass der Autor auch diese rezensiert. Die sind ja nicht nur für die Mütter, sondern auch für die Väter interessant. Aber zur Ehrenrettung sei gesagt, dass man ja automatisch zu der Literatur greift, mit der man sich besser identifizieren kann; mir geht es da nicht anders.

Political Correctness

Des Weiteren teile ich die Einstellung des Autors zu Political Correctness nicht, von der dieser anscheinend wenig hält (s. Rezension zu Thaddäus Troll: Sehnsucht nach Nebudistan). Als Weiße haben wir im wahrsten Sinn des Wortes gut lachen. Wir sind in der privilegierten Rolle, v.a. als weißer Mann. Auch wenn bei vielen von uns der Rassismus unbewusst passiert, sollte man sich vielleicht gerade deswegen folgendes vor Augen halten: Wir müssen uns nicht ständig mit oft auch unmittelbar gefährlichem (Alltags-)Rassismus rumschlagen und all dem, was damit historisch und gegenwärtig zusammenhängt. Ich denke, ich brauche nicht aufzuzählen, um was es da alles geht; das ist hinreichend bekannt.

Ein Experiment in diesem Zusammenhang finde ich interessant: Weiße Arbeitnehmer (männlich) sollten sich in eine vorgegebene Rolle versetzen, die sie aus einem Lostopf gezogen haben. Immer dann, wenn sie sich in dieser Rolle eine alltägliche Sache trauten, gingen sie ein Stück vor. Es ging grob um Dinge wie „Du bist ein afghanischer Flüchtling. Traust du dich nachts in einen Bus zu steigen?.“ oder „Du bist eine Deutsche mit afrikanischen Wurzeln. Immer wieder fassen Leute ungefragt in dein krauses Haar. Wie reagierst du?“ oder „Du bist ein hervorragend ausgebildeter Deutscher mit dem Aussehen eines Romas. Welche Chancen rechnest du dir auf einen Posten in der Chefetage eines bekannten Unternehmens aus?“ Die wenigen, die am weitesten Strecke machen konnten, waren in diesem Experiment diejenigen, die die Rolle des weißen, männlichen Deutschen innenhatten.

Anders ausgedrückt: Der weiße Mann hat die meisten Privilegien, über die er oft nicht nachdenkt, sondern einfach nutzt. Die meisten anderen aber (darunter natürlich auch über die Hälfte der Menschheit, sprich: die Frauen) haben diese Privilegien eben nicht. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, bevor man(n) sich über Political Correctness lustig macht. Besonders, da Sprache Welt nicht nur abbildet, sondern herausbildet. (So nebenbei erwähnt sind die indogermanischen Sprachformen voll vom Weltbild des Patriarchats.) Wenn ich mich in Anbetracht all dessen also in die Rolle eines z.B. schwarzhäutigen Menschen, v.a. einer schwarzhäutigen Frau, hineindenke, würde ich definitiv nicht als „Neger“ (gewollte Abwertung) bezeichnet werden wollen und gern „Mohrenküsse“ (automatisches Assoziieren der zahllosen Vergewaltigungen der schwarzhäutigen Sklavinnen) essen. Außerdem habe ich Menschen in meiner Familie, die wie „Zigeuner“ oder „Asiaten“ aussehen. Dumme Sprüche inklusive.

Zu diesem Thema empfehle ich übrigens wärmstens das folgende tolle kurz-prägnante Video: https://wdrmedien-a.akamaihd.net/medp/podcast/weltweit/fsk0/234/2340656/neuneinhalbdeinereporter_2021-01-16_alltagsrassismuswennworteausgrenzen_daserste.mp4

Der Verlag hat es außerdem versäumt, die vielen Tippfehler herauszuholen. Weil ich selbst schreibe, weiß ich, dass man den Wald vor lauter Bäumen bei den eigenen Texten oft nicht sieht. Dankenswerterweise bin ich auch auf dieser Seite darauf hingeweisen worden. Deshalb ist es immer gut, wenn jemand anderes Korrektur liest.

Weitere Themen

Dafür habe ich mich umso mehr über die Rezensionen im Bereich Phantastische Literatur und Science-Fiction gefreut, denn sie bieten für mich als Fan neue Leseanreize. Gern hätte ich noch mehr Rezensionen aus Frielings Feder aus diesem Bereich gelesen; also, lieber Prinz Rupi, ein klarer Leseauftrag an dich! Interessant fand ich auch die Leseanreize aus dem Bereich Sprache und Literatur, da mich die Meta-Ebene als Germanistin naturgemäß interessiert. Überhaupt deckt Frieling ein breites Spektrum an Genres ab. Sein Buch ist unterteilt in „Romane“, „Underground und Szene“, „Satire und Humor“, „Kriminalliteratur“, „Fantastische Literatur“, „New Journalism“, „Sprache und Literatur“, „Liebesromane“, „Science-Fiction“, „Biografisches“, „Erfahrungen“, „Sachbuch“, „Verrisse“.

Nicht nur nebenbei ist mir aufgefallen, dass der Autor anscheinend Schnapszahlen mag: 222 Lesetipps bietet das Buch und 11 Verrisse. Mit Humor geht alles besser, und der 11.11. ist wegen Fasching sowieso allen ein Begriff. Dementsprechend gibt es neben den Dramen in allerlei Gestalt auch Rezensionen zu (tragi)komischen Büchern.

Fazit

Der Autor präsentiert mit seinen 222 Lesetipps ein breites Spektrum an Rezensionen, die kurzweilig zu lesen sind und durch viele Hintergrundinfos abrundendes Wissen zu den vorgestellten Büchern vermitteln. Sie funktionieren sehr gut als Navigationssystem durch das endlose Büchermeer. Allerdings hätte ich mir mehr Bücher aus Frauensicht und aus der Feder von Autorinnen gewünscht, sowie ein Nachdenken über (sich in die betroffenen Personen hineinversetzende Sichtweise zum Thema) Political Correctness.


Genre: Rezensionen
Illustrated by Antheum Kultur

Der andere Ort

So what?

In Form eines Briefromans hat die kanadisch-britische Schriftstellerin Rachel Cusk mit «Der andere Ort» die Seelenpein einer alternden Frau beschrieben, die in einer Art Torschluss-Panik versucht, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben. Als Vorlage für ihre Geschichte, erfährt man in der Nachschrift, diente der unerquickliche Besuch von H. D. Laurence in der von Mabel Dodge Luhan gegründeten Künstlerkolonie in Taos, New Mexico, sie habe nur den Poeten durch einen Maler ersetzt.

Prompt heißt dieser Maler im Roman L, die Erzählerin heißt M, und der Bericht, den sie als eine Art Lebensbeichte schreibt, ist an einen gewissen Jeffers gerichtet, für den der Dichter Robinson Jeffers, ein Freund der M. D. Luhan, Pate stand. «Ich habe dir einmal erzählt, Jeffers, wie ich in einem Zug ab Paris den Teufel getroffen habe», lautet der erste Satz. Die fünfzigjährige M lebt mit ihrem zweiten Mann Tony auf einem Ufergrundstück in einer abgelegenen Küstenregion Englands. Bei einer Ausstellung in Paris hatte sie ein Gemälde von L gesehen und war fasziniert von dessen Wirkung, sie fühlte sich sehr direkt angesprochen. Erst nach mehreren Absagen folgt der berühmte Maler schließlich ihrer Einladung zu einem längeren Arbeits-Aufenthalt, die landschaftlich reizvolle Küste bietet ja reichlich Motive. Überraschend bringt L seine attraktive, junge Geliebte mit. Die Beiden werden im separaten Gästehaus untergebracht, wo L, der sich in einer Schaffenskrise befindet, ideale Bedingungen zum Malen vorfindet. Auffallend distanziert vermeidet er jedoch den Kontakt mit M, bleibt ihr gegenüber äußerst wortkarg. Auch Tony, der ausgeglichene, in sich ruhende Mann von M, ein pragmatischer Vernunftmensch, wird nicht richtig warm mit ihm. Geradezu provokant wirkt die lebenslustige Geliebte auf M, deren blühende Jugend ihr, verglichen mit ihrem eigenen, von unübersehbarem Verfall gezeichneten Alter, erschreckend bewusst wird. Das psychologisch komplexe Figuren-Ensemble wird schließlich noch mit der Ankunft der Tochter von M und deren schnöseligem Freund erweitert und stürzt die Ich-Erzählerin in zusätzliche Zweifel.

Rachel Cusk deutet die demütigende Abneigung des Malers seiner Gastgeberin gegenüber als völligen Mangel an «Moral und Pflichtgefühl», ihm fehle schlicht der Sinn dafür. «Mit dem Konzept der Verpflichtung konnte er einfach nichts anfangen. Vor allem das war es, was mich zu ihm hinzog, auch wenn mir klar war, dass er keinerlei Anziehung verspürte und das Ganze nur in einer Katastrophe enden konnte». Die Zweifel an ihrer Ehe und letztendlich auch an ihrem Leben kommen zum Ausdruck, wenn M sinniert: «Ach Tony, sagte ich in meinem Herzen, verrate mir, was wahr ist. Ist es falsch, zu wollen, was du mir nicht geben kannst? Mache ich mir etwas vor, wenn ich glaube, dass es richtig ist, mit dir zusammen zu sein, nur weil es so einfach und so schön ist?»

Das Leben sei «mehr Ringen als Tanzen» wird am Ende – fälschlich – Nietzsche mit einem Ausspruch von Marc Aurel zitiert. Und genau das wird hier auf eindrucksvolle Weise literarisch verdeutlicht durch den Kampf gegen die in M geweckten, inneren Dämonen. Mit denen ist die Protagonistin plötzlich konfrontiert, sie haben den Glauben an ihre erotische Anziehungskraft  nachhaltig zerstört und sogar existentielle Zweifel bei ihr ausgelöst. Der psychologisch dichte Roman hat im Wesentlichen diesen verzweifelten inneren Kampf seiner Heldin zum Gegenstand, und so dreht sich denn der weitgehend ereignislose Plot nur um ihre aus den Fugen geratene, feminine Selbstgewissheit. Ist der egozentrische Malerfürst, der sie grausamer Weise auch nicht malen will, also der Satan in Person? Als das «erbarmungslos intelligente Porträt des Älterwerdens» hat die Autorin selbst ihren Briefroman bezeichnet. All die toxischen Fragen, die er in vielen Varianten unentwegt aufwirft, werden mit oft ins Profane abgleitendem Gefasel wenig überzeugend beantwortet. So what? fragt man sich ziemlich frustriert als Leser!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
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