Warum du mich verlassen hast

Weniger wäre mehr gewesen

Der Debütroman von Paul Ingendaay greift mit seinem Titel «Warum du mich verlassen hast» auf die Worte von Jesus am Kreuz zurück. Ein deutlicher Hinweis auf das Milieu, in dem dieser Internats-Roman angesiedelt ist, ein katholisches Internat nämlich. Der Autor beschreibt darin eigene Erfahrungen, wie er im Nachwort erklärt. Er habe ganze siebzehn Jahre gebraucht, bis er nach der Erstfassung und nach langen Schreibpausen dann seine auf einer wahren Begebenheit beruhende Geschichte ‹in einem Rutsch› neu geschrieben habe.

In einem niederrheinischen Knaben-Internat fühlt sich der fünfzehnjährige Bücherwurm Marko sehr alleingelassen. Zwangsläufig beschäftigte er sich viel mit Gott, in der Adoleszenz gewinnt natürlich auch die «Mädchenfrage» eine immer größere Bedeutung, seine wahre Leidenschaft aber sind die Bücher, die ihm dann auch über seine gelegentlichen Nihilismus-Anfälle hinweghelfen. Leitmotivisch zieht sich Robinson Crusoe durch die Erzählung, der ja, ebenfalls alleingelassen, ähnlich gefordert war wie Marko auf seiner einsamen Internats-Insel. Dort herrscht eine strenge Ordnung, die Zöglinge werden geschlagen und gedemütigt, die rigorose religiöse Erziehung ähnelt in ihren drastischen Methoden eher einer Gehirnwäsche als der einfühlsamen Vermittlung moralischer Werte. Neben den Büchern helfen ihm nicht nur seine Kumpels über all den Frust hinweg, vor allem auch sein Religionslehrer, Bruder Gregor, ist ihm ein Mentor und unermüdlicher, literarisch kompetenter Gesprächspartner, der so gar nicht in diese Knaben-Zuchtanstalt hineinpasst. Auch bei dem unkonventionellen Hausmeister ist Marko oft zu einem Plausch, und der lässt ihn das geheimnisvolle «Buch der Ordnungen» lesen, eine Art Internats-Almanach. Als Marko erfährt, dass seine in Köln lebenden Eltern sich getrennt haben, bricht eine Welt für ihn zusammen, auch den sicheren Hafen der Familie gibt es nun nicht mehr für ihn. Bis schließlich etwas Schreckliches passiert und Marko sich moralisch verpflichtet fühlt, die arglistig vertuschte, bittere Wahrheit ans Licht zu bringen.

Paul Ingendaay hat für seinen in den 1970er Jahren angesiedelten Roman, der ja an die Internats-Geschichten von Hesse oder Musil erinnert, eine eigene Sprache gefunden, in der er seinen rebellischen Ich-Erzähler und Protagonisten reden lässt, ein konsequent durchgehaltener Jugend-Slang, wie er ähnlich auch bei Salinger zu finden ist. Vor allem aber die oft absurd komischen Gedankengänge des Helden unterscheiden den Roman von seinen großen Vorbildern und machen ihn zu einer unterhaltsamen Lektüre. Dem stehen gleichwertig allerdings ebenso viele kontemplative Abschnitte zu philosophischen Fragen gegenüber. Die werden neben vielen Bibelzitaten auch mit Zitaten von Kierkegaard bis Seneca untermauert und in funkelnden Dialogen erörtert. Der aufgeweckte und belesene Marko erweist sich dabei nicht nur als rhetorisch gewandt, er spricht gelegentlich auch den Leser direkt an und benutzt dabei oft spöttisch einen predigtartigen Ton. Er und viele der originellen Romanfiguren wirken sympathisch, und sogar der eine oder andere bigotte Erzieher zeigt manchmal, dass er eine versteckte menschliche Seite hat. Aber das bleibt die Ausnahme! «Gewalt gehört zur katholischen Kirche wie Hostie und Weihrauch» heißt es im Roman, und das ist letztendlich auch hier die bittere Erkenntnis.

Neben einem wenig dramatischen, aber stimmig bis zum Ende anhaltenden Spannungs-Bogen überzeugt dieser Roman vor allem mit seiner anschaulich beschriebenen Internats-Atmosphäre. Zu der gehören auch die Zumutungen der «Schädelstätte», wie die Zöglinge die grottenschlechte Internatsküche in ihrem Jargon verächtlich bezeichnen. Es ist letztendlich dieser juvenile Jargon, der diesen astreinen Internats-Roman zu einer ebenso amüsanten wie bereichernden Lektüre mit einigem gedanklichen Tiefgang macht. Ein deutlicher Wehrmutstropfen ist dabei allerdings seine schiere Länge, zweihundert Seiten weniger wäre mehr gewesen!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Die romantischen Jahre

Ingendaay“Und ist ihm sonst auch nichts gelungen, dann macht er in Versicherungen”. Hätte Marko Theunissen eine mit ähnlich klugen Lebensweisheiten gesegnete Omma gehabt wie ich, wäre ihm sicher das ein oder andere erspart geblieben. Ganz recht. Marko Theunissen. Der Held aus “Warum Du mich verlassen hast” begegnet uns in seinen romantischen Jahren wieder. Noch lange nicht erwachsen geworden, aber ins Erwachsenenleben integriert. Der Literaturstudent mit reichlich Flausen im Kopf ist nun Versicherungsvertreter. Oder auch Agent. Weil sich das besser anhört, befindet Joe, seine kleine Freundin aus der Nachbarschaft.

Paul Ingendaay erzählt in seinem zweiten Roman die Lebensgeschichte eines Mannes weiter, der nicht so genau weiß, was sein Lebenstraum ist und sich vielleicht genau deswegen nachgerade trotzig dazu entschließt, die Lebensträume und Risiken anderer zu versichern. Denn wie um alles in der Welt kann man Romantiker sein und doch Versicherungsvertreter an der gönne Kant des tiefsten Niederrheins werden? Wie kann es sein, dass einer zehn Jahre lang Literaturwissenschaften studiert, Bildungsreisen inclusive und sich plötzlich in der Ellenbogenwelt des vertriebsorientierten Kundensprechs, der Bonifikationen, der “Ich-hab-da-zwei-Leben-in-der- Anbahnung” – Abschlussgeilheit wieder findet? Während Theunissen in einer Branche, welche “hinreichend Platz für alle Gemeinheiten der Menschennatur bietet” , die Balance zwischen Überleben und Fairneß zu halten sucht, kämpft er gleichzeitig an den ältesten Fronten der Menschheit: Den Verflechtungen der Liebe und denen mit der eigenen Familie. Gewonnene Einsichten sowohl aus dem “Haifischbecken” der Versicherungsbranche als auch aus dem nicht minder bissigen Umfeld des Literaturbetriebs helfen ihm dabei..”Menschen neigen dazu, sich selbst als Einzelfall zu sehen und deshalb vom Schicksal eine Einzelfallsbehandlung zu erwarten.”

Ingendaay erzählt fabulierfreudig, mit der Sprache spielend, eine ganz normale Geschichte. Eine Geschichte, wie sie heutzutage wohl eher die Regel denn die Ausnahme ist. Eine Geschichte von Unentschlossenheit, von zerplatzten Lebensentwürfen, von verratenen Idealen und Selbstbetrug. Er erzählt sie liebevoll, von viel Verständnis für die sich so schnell in Schubladen stecken lassenden Menschen getragen. Er weiß, dass “je mehr Entscheidungen wir dann aber treffen, umso kleiner werden die Chancen auf einen ganz anderen Lebensentwurf”. Mit einem guten Gespür für Würde und Würdelosigkeit mischt der Erzähler sich mit feiner Ironie ein und lenkt die Dinge in eine zwar von Kompromissen getragene, aber durchaus befriedigende Richtung. Denn “das Schicksal schlägt auch nicht zu. Es hat ja keine Arme. Das Schicksal ist, was wir sind. Unser Schicksal ist die Summe unserer wechselnden Zustände in einem gegebenen zeitlichen Rahmen.”

Der Autor selbst nennt sein Buch “den Roman der verpassten Möglichkeiten”. Kennen wir das nicht alle? Der Klappentext verspricht “den Sieg der Möglicheit über die graue Realität”. Wünschen wir uns das nicht alle? Und tatsächlich schafft es unser Held, sein Leben nicht zum emotionalen Schadensfall werden zu lasen und es gelingt ihm mit etwas Glück und viel Chuzpe einem äußerst widerwärtigen Exemplar von Kollegen (kennen wir den nicht auch alle?) das Handwerk mit Hilfe von “Rosinenschnecken” zu legen. Sehr gelungenes Ende!

Marko Theunissen ist die meiste Zeit “glücklich immer nur gewesen ” und rettet sein Motto “Ich bin liebenswürdig, sinnenfroh, grausam und einsam” in eine Zukunft, von der hoffentlich weiter zu lesen sein wird. Ich für meinen Teil werde einige der ebenso klugen wie verqueren Einsichten des Herrn Versicherungsagenten behalten und ganz besonders das schöne spanische Sprichwort “Dar tiempo al tiempo” (Der Zeit muss man Zeit geben) zu beherzigen suchen.

Der Autor: Paul Ingendaay lebt seit 1998 mit seiner Familie in Madrid als Kulturkorrespondent der FAZ. Einem breiteren Publikum ist er nicht nur als Herausgeber der Gesamtausgabe von Patricia Highsmith bekannt, sondern auch als Autor der beliebten “Gebrauchsanweisung für Spanien”. Mit dem Alfred-Kern-Preis ausgezeichnet, hat er sich auch als Literaturkritiker einen Namen gemacht. Insofern freut es ganz besonders, dass Ingendaay mit den romantischen Jahren schon den zweiten exzeptionell guten Roman vorgelegt hat.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Piper München, Zürich