Dirk Bernemann präsentiert in seinem Werk »An und für sich« eine Sammlung von Beobachtungen, strukturiert nach Monaten, die sowohl zeitgeistige Phänomene als auch persönliche Erfahrungen im Kontext des neuen Jahres reflektieren. Der Autor übt scharfe Kritik an der Oberflächlichkeit und den widersprüchlichen Erwartungen der heutigen Gesellschaft. Weiterlesen
Archiv
An und für sich
Jeder Schuss ein Treffer. Fussball-Krimis
Lutz Kreutzer ist bekannt als Herausgeber spannender Kriminalromane und erfolgreicher Reihen wie »Schaurige Orte …«. Eine der wesentlichen Fähigkeiten eines guten Herausgebers ist es, ein sicheres Gespür für Themen zu haben, die sich im Stil einer Anthologie oder eines Lesebuches sammeln lassen, und dazu die passenden Autoren zu gewinnen. Weiterlesen
Windungen. Sechs Erzählungen
Gerhard Richter, bisher als vielseitiger und tiefgründiger Journalist bekannt, legt mit »Windungen« ein beeindruckendes literarisches Debüt vor. In sechs höchst unterschiedlichen Erzählungen demonstriert er sein sprachliches Können. Weiterlesen
Einfach gärtnern! Naturnah und nachhaltig
Das Buch habe ich mit wachsender Freude gelesen: Erst kommt das Buch wie eine Liebeserklärung an seinen Garten daher: so, als wäre er seine Beziehungskiste, wie zu seinem Hund. Dann geht es um nichts weniger als die Liebe zur Natur, zu Pflanzen. Zu „Tiere(n) im Garten–Wie werde ich ein guter Gastgeber?“ heißt ein Kapitel. Und dass er sich als Junge zur Kommunion eine Magnolie gewünscht hatte—so etwas gefällt einer Oma.
Auf den Bühnen der Welt
Ludwig Frank spielt auf allen Opern- und Konzertbühnen der Welt mit, und es gibt kaum einen Spitzenmusiker, der ihn nicht bereits gehört hat. Dabei ist Frank nie persönlich präsent. Es sind seine Oboen, die mit ihrem Wohllaut die Herzen der Zuhörer erfüllen, denn Frank ist ein weltbekannter Instrumentenbauer. Mit seiner Autobiografie »Auf den Bühnen der Welt« legt er seine Erinnerungen vor. Weiterlesen
Die besten Weltuntergänge Was wird aus uns? Zwölf aufregende Zukunftsbilder
Das Cover spricht die Oma in mir an: im oberen Teil ein Wimmelbild in sanften Farben, mit fröhlichen Menschen, die sich, Generationen übergreifend, der sommerlichen Natur erfreuen. Die untere Hälfte dagegen surrealistisch und geheimnisvoll, das macht neugierig. Im Buch, mit Seiten, die größer als Din A 4 sind, nimmt der Text je ein Viertel ein, in den restlichen Flächen sind die wunderschön gemalten Bilder.
Illustrated by Klett Kinderverlag
Nirvana. 100 Seiten.
Nirvana. 100 Seiten. Am 8. April 1994 wurde die Leiche von Kurt Cobain in seinem Haus gefunden. Sein Todesdatum wurde auf 5. April vordatiert. Er hatte sich mit seiner Browning-Auto-5-Selbstladeflinte in den Mund geschossen. Im Abschiedsbrief zitierte er Neil Young: “It’s better to burn out than to fade away.”
Nirvana: Smells like …deodorant
Auch drei Dekaden nach dem Ende von Nirvana werden ihre Songs fleißig zitiert. Zuletzt etwa “Something in the Way” in The Batman (2022), “Rape Me” in der Erfolgsserie Succession (2018-2023) oder “Come as you are” in Captain Marvel (2019) und nochmals “Something in the Way” in der Serie Yellowjackets (2021ff). Der Leadsänger, der Sohn eines Automechanikers und einer Kellnerin, wuchs in Aberdeen, Washington, einem Kaff mit 20.000 Einwohnern auf, das hauptsächlich von der Holzwirtschaft lebte. Die Autorin beschreibt aber nicht nur den Hintergrund des Leadsängers und Texters von Nirvana, sondern auch jenes der anderen Mitglieder, denn wie sie betont, ist ihre Biographie eine der Band und nicht allein die des Sängers. Außerdem gibt es eigene Features zu den vier wichtigsten Alben von Nirvana, Fotos und nicht zuletzt eine Graphik, die zeigt, wie einflußreich Frauen für die Grunge-Band der Neunziger waren.
30 Jahre Todestag: Nirvana. 100 Seiten
Autorin Caldart unterstellt wiederum Kurt Cobain eine gewisse “Geschlechtsdysphorie”, die ihn auch zur Identifikationsfigur der späteren Queer-Bewegung macht.Immerhin trug er auch Frauenkleider, schminkte sich oder lackierte sich die Fingernägel. Das hatten – mit Verlaub – allerdings schon ein Mick Jagger oder David Bowie in den Siebzigern gemacht. In jedem Fall richtete sich Kurt’s Bestreben gegen den klassischen Rockdudemacho, der sich für ihn z.B. in Axl Rose verkörperte, worauf auch der Disput der beiden gründete. Vor allem das Verhalten von Rocktstars gegenüber Frauen störte Cobain. Böse Zungen behaupten zwar, dass er unter dem Pantoffel von Courtney Love, der Sängerin von Hole, stand, andere wiederum das Gegenteil. Verbürgt ist jedenfalls, dass Nirvana’s größter Hit einer Frau zu verdanken ist: Tobi Vail (Bikini Kill), die damals ein Deo namens “Teen Spirit” verwendete.
Grunge: zwischen Punk und Metal
Am 11. Januar 1992 geschah schließlich das Unmögliche. Das Album Nevermind verdrängte Michael Jacksons “Dangerous” von Platz eins er Billboard-Charts. Das war noch keiner Rockband gelungen, schon gar nicht einer, die in zerschlissenen Jeans und Holzfällhemden auftrat und sich um Konventionen wenig schiss. Dass “Smells like Teen Spirit” auf einem Riff von Bostons “More than a Feeling” beruhte, zeigte nur auf welchen Größen auch eine Band wie Nirvana aufbaute. Beim Reading Auftritt 1992 machten sie sich daraus einen Spaß und verarschten sich selbst mit einer gelungenen Persiflage. Auch das ist in Caldarts Biographie nachzulesen, die die Band zwar nie LIVE gesehen hat, dafür aber ein lebendiges Bild der Grunge-Ikonen in ihrer Reclam 100 Seiten Biographie auferstehen lässt. Nirvana waren so viel mehr als nur eine Band, denn sie veränderten nicht nur das Rockbusiness, sondern auch das Leben von Millionen von Jugendlichen. Umso fataler war wohl die Botschaft, die Kurt Cobain am 5. April 1994 aussandte: “It’s better to burn out than to fade away.”
Man sollte sich seine Vorbilder eben mit sehr viel Bedacht aussuchen. Mir gefiel ein Zitat aus seiner eigenen Feder viel besser: “Youth has to challenge things“. Und dafür stand auch Grunge: ein Lebensgefühl zwischen Punk und Metal, between a rock and a hard place…
Caldart, Isabella
Nirvana. 100 Seiten
2024, broschiert. Format 11,4 × 17 cm, 100 S., 13 Abb. und Infografiken
ISBN: 978-3-15-020711-6
Reclam Verlag
12,00 €
Hilda. Meine Großmutter, der Nationalsozialismus und ich
Hilda. Die Erkenntnis, dass die Väter- oder Großelterngeneration in der einen oder anderen Form in den Nationalsozialismus verwickelt war, trifft schmerzlich. Wie wohl man natürlich nicht genau sagen kann, wie man sich selbst in derselben Situation verhalten hätte. Mit einem fröhlichen „wir-Kramers-hatten-damit-eh-nichts zu tun“ beginnt die bekannte Jugend- und Kinderbuchautorin Irmgard Kramer mit ihrer Recherche zu ihrer Oma Hilda und dem Nationasozialismus.
Nationalsozialismus als (im-)materielles Erbe
Die Autorin ist keine Historikern und beschäftigt sich doch mit Geschichtswissenschaft. Denn das Thema Nationalsozialismus spielt eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung zwischen den Generationen, auch wenn die daran beteiligte Generation bald ausgestorben sein wird. Umso wichtiger ist es, jetzt darüber zu sprechen und neue Formen der Aufarbeitung zu verfolgen resp. umzusetzen. Irmgard Kramer hat einen sehr persönlichen Zugang gewählt und sich mit Hilfe ihres Vaters, eines Zeitzeugen, an die Vergangenheitsbewältigung ihrer Familie gemacht, was sicherlich großen Mutes bedarf.
Hilda: Schweres Erbe
Einerseits weil es persönlich betroffen macht, andererseits auch weil es nicht unbedingt begrüßt wird. Die Vergangenheit ist für viele vergangen und wer jetzt noch gräbt, wird gerne als Nestbeschmutzer ausgegrenzt. Aus diesem Grund ist es so wichtig, dass öffentliche Initiativen, die vom Staat oder der Gemeinschaft auch gefördert werden, dieses Anliegen unterstützen und es ebenfalls thematisieren. Die Stadt Dornbirn hat darin mit einer Ausstellung zum Thema “Schweres Erbe” einen wichtigen Anfang gemacht. Bewohner:innen der Stadt brachten Objekt aus der verdrängten Zeit ins Museum und damit ans Tageslicht.
Erinnern: an Anpassung und Widerstand
Ähnlich macht Irmgard Kramar Verborgenes wieder sichtbar und erinnert auch an jene, die keine Opfer des Nationalsozialismus sein wollten, sondern Widerstand leisteten gegen den damaligen Zeitgeist. Aus ihrer Erzählung über ihre Heimatstadt in den Dreißiger Jahren wird eine Geschichte der Täter und Opfer, da sie ihre eigene Geschichte mit Biographien unterschiedlicher Beteiligter immer wieder unterbricht, um dann erneut den Faden wieder aufzunehmen. Im Mittelpunkt des Geschehens steht der Dornbirner Marktplatz, der erst Dollfuß-Platz und dann in Adolf-Hitler-Platz umbenannt wurde, sowie die Sägerbrücke, die zum Exerzierfeld der Nazis wurde.
Familiengeschichte einmal anders
Irmgard Kramer erzählt auch von ihrem Gymnasium und fühlt sich – als spätere Absolventin desselben – in einer Art Re-Enactment in eine Schulklasse der Nazi-Zeit ein. Alle Siebtklässler seien damals zwar in die Wehrmacht eingezogen worden, aber alle verweigerten den – von der Obrigkeit gewünschten – Beitritt zur Waffen-SS. Auch eine Widerstandsgruppe namens AKO gab es im Lande und in Dornbirn. Nach dem Krieg wollte fast niemand mehr mit den Überlebenden sprechen. Die ehemaligen Blockleiter hatten weiterhin wichtige Stellen inne und eine Vergangenheitsbewältigung fand jahrzehntelang nicht statt. Dass der Austrofaschismus den Nationalsozialismus in gewisser Weise vorbereitete wurde lange verschwiegen, um die zweite Republik überhaupt erst zu ermöglichen…
Umso wichtiger sind solche persönlichen Zugänge, wie “Hilda”. Weder sollten die jüdischen Mitbewohner:innen je vergessen werden, die unschuldig getötet wurden, noch die AKO oder die Siebtklässler, die auf ihre Privilegien verzichteten. Auch das war nämlich Widerstand.
Irmgard Kramer
Hilda. Meine Großmutter, der Nationalsozialismus und ich
Erbschaft einer Stadt. Schriften des Stadtmuseums Dornbirn Band 1
2023, Taschenbuch, 128 Seiten
ISBN 9783854397342
Falter Verlag
€ 18,00
Illustrated by Falter
Noras Welten
Bitte keine Bücher aufschlagen …
… das sagt Nora, denn sie versinkt sofort in jeder Geschichte. Und taucht nur wieder auf, wenn jemand das Buch zuschlägt und sie befreit.
Um sich diese Reaktion abzutrainieren, sucht sie einen Psychotherapeuten auf. Doch der will einen Test sehen. Unglücklicherweise reißt Nora ihren Therapeuten mit in das Buch. Und es ist vor Ostern und wird lange dauern, bis jemand die Praxis betritt und das Buch zuschlagen kann.
Also muss Nora mit ihrem Therapeuten die Geschichte durchleben. Die um Intrigen und Kämpfe der Thronfolge gehen. Besser, sie greifen nicht in in die Geschichte ein. Doch dann …
Eine spannende Fantasygeschichte, die mich bis zur letzten Seite gefesselt hat und für die die Autorin den Selfpublisher Preis gewonnen hat. Mittlerweile druckt Piper das Buch. Und da es Ostern spielt, wäre jetzt die Gelegenheit, es zu lesen.
Iris Wolff- Lichtungen
Das Buch beginnt auf frischer Fahrt: mit einer Fähre reisen Lev und Kato. Lev heißt Löwe und ist der Name des jungen Mannes, der mit Kato auf einer großen Reise ist. Der Roman ist aus seiner Sicht geschrieben, wenn auch nicht in Ich-Form. Kato lebt seit Jahren in Westeuropa, verdient gut mit ihrer Straßenmalerei, gemalt hatte sie schon als Kind. Lev hatte mit Waldarbeitern gearbeitet. Nun ist er auch hierhergekommen, weil sie geschrieben hatte: „Wann kommst du?“ Und sie haben sich wiedergefunden, an ihre früheren Gemeinsamkeiten angeknüpft und es genossen.
Heute hat er ihr erklärt, dass er zurückkehren müsse, und sie antwortete, dass sie mitkommen wolle. Das war so unerwartet, dass er seinen Mut zusammennimmt, nachfragt. Und sie antwortet mit einem klaren „Ja.“ Wie es dann mit den beiden weitergeht, wenn sie gemeinsam in Rumänien, genauer in Siebenbürgen, leben würden? Die erhoffte Geschichte der gemeinsamen Rückkehr kommt nicht.
Dafür geht es schrittweise zurück in ihre gemeinsame Vergangenheit. Die einzelnen Stufen werden mit Denksprüchen in verschiedenen Sprachen, rumänisch, siebenbürgisch, einmal gar ungarisch oder mit einem hebräischen Bibelspruch eingeleitet. Deren Sinn blieb mir, trotz Übersetzungen, meist verschlossen.
Beide kamen aus schwierigen Familienverhältnissen. Ihre Verbindung begann, als Levs bettlägerig war, da seine Beine gelähmt waren, und sie, als gute Schülerin, ihn besuchte, um das in der Schule Versäumte zu bearbeiten. Zwei einsame Jugendliche finden sich. Alles wird in einer traumhaft schönen Sprache beschrieben: Beobachtungen der Natur, der Hügellandschaft, der Jahreszeiten. So schön, wie im vorangegangenen Buch „Die Unschärfe der Welt“. Oft wird auch geträumt.
Auch Politisches wird behandelt: Wie lebt es sich in einem Vielvölkerstaat? Was ist Zugehörigkeit? Die Frage wird schon im Alltäglichen vorbereitet, wenn Lev versucht, den Kater zu streicheln, und der sich abwendet. „Immer galt es Zeichen zu suchen, ab ein Tier einen liebt oder ob man sich diese Zugehörigkeit nur einredet.“ Der Großvater weiß, dass es nichts anderes ist als eine Entscheidung. Er hat dann entschieden, zu fliehen, Lev hatte ihn an die Grenze zu einem Schleuser gebracht, und hat ihn nun in Wien besucht, als er auf dem Weg zu war. Alle diese Beschreibungen gesellschaftlicher Verhältnisse sind in ihrer dichten Sprache abgebildet.
Gleichwohl wurde das Lesen durch die vielen Details zunehmend unschlüssig. Ohne Levs Beinlähmung als Auslöser hätte es die Beziehung nicht gegeben. Deren Ursache wird immer wieder angedeutet: Die Mutter meint, der Opa wäre verantwortlich, Lev beruhigt ihn, dass er ihm nichts vorwerfe, aber letztlich erfahren die Leser es nicht. Höchstens, dass es ganz unbestimmte Ursachen sein könnten, vielleicht so etwas Psychosomatisches?
Illustrated by Klett Verlag
SCUM: Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer
“scum” bedeutet eigentlich Abschaum oder Schmutz. Aber Valerie Solanas machte daraus das Akronym S.C.U.M.: Society for Cutting Up Men. Ihr “S.C.U.M. Manifesto” – so der Originaltitel – schrieb Geschichte, nicht zuletzt, weil dessen Autorin ihre Anliegen kurzerhand selbst in die Tat umsetzte. Sie erschoss am 3. Juni 1968 Andy Warhol.
scum: inspirative Lektüre
Andy Warhol, der die New Yorker Künstlerkommune “Factory” gegründet hatte, starb zwar erst runde 20 Jahre später an den Folgen des Attentats, aber dennoch wäre es wohl zu dem Ereignis geworden, wäre nicht wenige Tag später auch Robert Kennedy erschossen worden. Valerie Solanas wurde in eine Anstalt für abnorme Rechtsbrecher eingeliefert und starb nur ein Jahr später, 1988, nach Warhol. Ihr Manifesto wird seither dennoch mit Andy Warhol und seiner Factory verbunden und inspirierte eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren. Sogar Nick Cave findet auf dem Buchrücken der neuen Ausgabe des renommierten MÄRZ Verlages einfühlsame Worte für die Autorin. Der Originaltext in der deutschen Erstausgabe erschien übrigens erstmals bei MÄRZ, 1969. Damals noch mit der Autorin am Cover.
S.C.U.M.: Aufruf zur Satire?
Solanas kam aus einem sog. zerrütteten Elternhaus, wurde sowohl von ihrem Vater als auch Verwandten schon sehr früh missbraucht und landete schließlich wie alle Dropouts* jener Zeit in New York City, wo sie standesgemäß im Künstlerhotel “Chelsea Hotel” Unterkunft fand. Dort verkaufte sie ihr Manifest als Hektographie vorerst selbst auf der Straße, schaffte an und lernte die bekannte Drag Queen Candy Darling aus der Factory kennen, die sie auch mit Warhol bekannt machte. Als ihr Manuskript eines Drehbuchs mit dem vielversprechenden Titel “Up your Ass” aus dessen Büro spurlos verschwindet, macht Solanas Warhol persönlich für den Verlust ihres Textes verantwortlich. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Ein persönlicher Rachefeldzug, der die Veröffentlichung ihres Manifests in Buchform wesentlich beschleunigte und die Verkaufszahlen erhöhte.
Manifest zur Vernichtung der Männer
Das Manifest selbst liest sich wie eine moderne Satire, ist scheinbar auch an Jonathan Swifts “Modest Proposal” angelehnt, in dem die Kinder der Armen zu Wurst verarbeitet und verspeist werden. Solanas geht mit den “Herren der Schöpfung” zwar auch sehr streng ins Gericht, aber nicht ganz so weit wie Swift. Ihre Hasstiraden auf die Männer, die sie allesamt als Versager verflucht (sowohl Hippies als auch Durchschnittsmänner) sind durchwegs nachvollziehbar und lesenswert. Nicht nur aufgrund ihrer persönlichen Biographie. Denn der Text liest sich unterhaltsam und amüsant und gehört zur feministischen Pflichtlektüre, deren Thesen alle durchdiskutiert gehören.
scum-Neuausgabe mit umfangreichen Extras
Das besondere an der Neuausgabe des MÄRZ Verlages sind nicht nur die Faksimiles von Originalbriefen von Solanas an Jörg Schröder vom MÄRZ Verlag, den sie kurzerhand zum “contact man of the mob” erklärt hatte, sondern auch das informative Nachwort desselben, der über einige Eigentümlichkeiten der wilden Zeit, den Sechzigern, Aufschluss gibt. Anmerkungen im Anhang geben auch Auskunft darüber, was unter *Dropouts zu verstehen ist: “eine moderne Form des Klassenkampfes durch Vorenthalten der Ware Arbeitskraft“.
Valerie Solanas
Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer
(Originaltitel: S.C.U.M. Manifesto)
Aus dem amerikanischen Englisch von Nils Lindquist, mit einem Nachwort von Jörg Schröder,
hrsg. von Barbara Kalender.
2024, 132 Seiten, gebunden,
ISBN: 978-3-7550-0005-1
MÄRZ Verlag
18,– €
Löwenherz
Löwenherz. Die Trilogie Bagage-Vati-Löwenherz beschäftigt sich mit ihrer Familie. Der dritte Band ist ganz ihrem Bruder Richard gewidmet, der durch den frühen Tod seiner Mutter mehr aus dem Gleichgewicht rät als seine drei Schwestern. Oder gibt es noch einen anderen Grund?
Putzi: Licht seines Lebens
Eines nimmt die Autorin gleich vorweg: Richard wurde nur drei Jahre älter als Alan Wilson, der Sänger von Canned Heat. Damit gehört er, der Schriftsetzer und Maler eindeutig nicht zum Club 27. Aber sein Leben war ähnlich intensiv und kurz, er beendete es mit nur 30 Jahren. Seine Schwester Monika erzählt seine Geschichte in klaren und einfühlsamen Worten, eine Biografin wie man sie sich nicht anders wünschen könnte. Und doch verheimlicht sie nichts, verschont auch sich selbst nicht, macht sich Gedanken über ihren Anteil an seinem frühen Tod. In herzzerreißenden Episoden erzählt sie, wie sich Richard um “Putzi” aka Rosi kümmerte. Das Kind war ihm von einer wildfremden Frau, Kitti, anvertraut worden und er behandelte sie wie sein eigene Tochter. Eines Winters wird sein Hund, Schamasch, von einem Jäger erschossen und Kitti stürmt mit zwei Henkern seine Wohnung, um ihm Putzi wieder wegzunehmen. Zu dieser Zeit hat Richard zwar eine Freundin, Tanja, die ihn noch fünf Jahre auffangen kann, aber dann geschieht doch das Unvermeidliche. Nach seiner Mutter, Schamasch nun der dritte Verlust. Das kann einen Menschen für immer knicken. Richard entscheidet das “für immer”. Niemand sonst hat schuld.
Löwenherz: Liebe und Angst
Wie soll man mit so einem Verlust umgehen? Mit den Schuldgefühlen, den Versäumnissen, den Vorwürfen? Am schlimmsten wiegt eine ihrer Erinnerungen, als ihr einfällt, dass Richard ihrer Schwester und ihr einmal als Baby vom Wickeltisch gerollt war. Das Geräusch klang noch nach als Richard längst erwachsen war. Aber die Folgen des Sturzes könnten seine autistische Art erklären, denn Richard kann sich nicht mitteilen oder erfindet einfach Geschichten. Ein “Schmähtandler”, Gschichtldrucker. Münchhausen, Luftikus. “Was herrscht für ein Zustand, wenn einer den letzten Knopf zuhat, aber trotzdem keine Krawatte?” frägt sie sich. Vielleicht bringt es dieser Satz auf den Punkt, was Richard ausmachte. Liebe und Angst gehören zusammen, heißt es an einer Stelle, “die eine befördert die andere, die andere verdirbt die eine”. Die Liebe zu Putzi hielt ihn aufrecht, den Richard, aber die Enteignung dieser Lieber war wohl zu viel für sein schwaches Herz. Monika Helfer beschreibt das Leben ihres Bruders, als wäre man selbst dabei gewesen. “Löwenherz” ist ein Buch, das einen in den Sessel drückt und weiterlesen lässt, bis es leider zu Ende ist. Vielleicht ist Bücher schreiben nicht die einzige Möglichkeit ein Trauma aufzuarbeiten, aber wohl die nachhaltigste. Denn so hilft es auch anderen.
Monika Helfer
Löwenherz. Roman
2023, 2. Auflage, 192 Seiten, Format: 11,5 x 19,0 cm
ISBN: 978-3-423-14879-5
dtv
12€
Arbeiter. Zur Archäologie des Industriezeitalters
“Wenn dein starker Arm es will, dann stehen alle Räder still“, hieß es in einem Lied der internationalen Arbeiterbewegung. Heute scheint das Industriezeitalter zwar durch die Digitalisierung ersetzt worden zu sein. Allerdings nur in der sog. Ersten Welt, wie u.a. auch Salgados Arbeit zeigt.
Arbeiter: Kämpferische Fotografie
“Arbeiter“, die hochwertige Publikation des Kölner TASCHEN Verlages, ist eine Hommage an die Welt der Handarbeit – und gleichzeitig ein Abschied.
Das Buch entstand schon 1993 und gilt bereits als Fotobuch-Klassiker. Es würdigt die traditionellen handwerklichen Arbeitsweisen, während
zu Beginn des neuen Jahrtausends überall in der Welt Maschinen und Computer die Arbeit der Menschen übernehmen. Die Fotografien Salgados sind von beeindruckender Schönheit, da aus ihnen auch die Seele jener Männer und Frauen spricht, die sich ihren unbeugsamen Geist und ihre Würde selbst unter den härtesten Arbeitsbedingungen bewahrt haben. Der Fotograf, der seine Arbeit selbst als „kämpferische Fotografie“ bezeichnet, zeigt in seinem Werk die Armen und Entrechteten der Welt und gibt ihnen so etwas von der Menschenwürde zurück, die sie zu verlieren drohen – von den Hungernden in der Sahelzone bis zu den indigenen Völkern Südamerikas.
Arbeiter: Klassiker des Fotobuchzeitalters
In “Arbeiter” eröffnen 350 Duoton-Fotografien eine archäologische Perspektive auf echte Handarbeit, also Tätigkeiten, die von der Steinzeit über die industrielle Revolution bis in unsere Gegenwart als Inbegriff harter Arbeit gelten. Bilder aus dem Inferno einer indonesischen Schwefelmine oder die Dramatik des traditionellen sizilianischen Thunfischfangs sowie der schwindelerregenden Ausdauer brasilianischer Goldgräber zeigen, wer wirklich für den sog. Fortschritt verantwortlich ist und wem wir ihn zu verdanken haben. Für “Arbeiter” schrieb Salgado selbst einen einleitenden Text, der in Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Schriftsteller Eric Nepomuceno entstand. Die teilweise ausführlichen Bildunterschriften stammen ebenfalls von Salgado selbst und erklären den historischen und faktischen Hintergrund.
“Ästhetisiertes Grauen” in XL
Der aus Aimorés, Bundesstaat Minas Gerais, Brasilien stammende Fotograf und Umweltaktivist Sebastião Salgado wurde in unseren breiten auch durch den Dokumentarfilm “Das Salz der Erde“, der gemeinsam mit Juliano Ribeiro Salgado und Wim Wenders 2014 entstand, bekannt. Bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes wurde er in der Sektion Un Certain Regard mit dem Spezialpreis ausgezeichnet. Sebastião Ribeiro Salgado Júnior – so sein voller Name – gehört mit seinem Werk zu den sozial engagierten Fotografen in der Tradition der sozialdokumentarischen Fotografie. 2019 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Diese Auszeichnung wurde zuvor erst einmal an einen Bildkünstler vergeben. Seine damalige Publikation “GOLD” – ebenfalls im TASCHEN Verlag erschienen nannte der SPIEGEL etwa “das ästhetisierte Grauen”. Es machte den Goldrausch der Armen augenscheinlich und (un)fassbar.
Sebastião Salgado
Arbeiter. Zur Archäologie des Industriezeitalters
2024, Hardcover, 24.5 x 33 cm, 2.85 kg, 400 Seiten
ISBN: 978-3-8365-9646-6
TASCHEN Verlag
80 Euro
taschen.com
Iowa Ein Ausflug nach Amerika
Als ich eine Rezension des Buches Iowa las, war Trump dort gerade bei den Präsidentschaftsvorwahlen als glorreicher Sieger hervorgegangen. Zwei Berlinerinnen auf einem „Ausflug“ ins ländliche Amerika: das lockte sehr. Stefanie Sargnagel und Christiane Rösinger sind als Gastdozentinnen an einer privaten Hochschule geladen, sie unterrichtet kreatives Schreiben und Frau Rösinger zum Singen. Ich kannte sie kaum, inzwischen bin ich Fan und höre ihre Lieder gerne. Sie hat „mit korrigierenden Fußnoten“ zu einigen Stellen ihren Senf dazu gegeben.
Besonders stört sie oft „das verinnerlichte ageistische Denken“. Sie könnte Stefanies Mutter sein, ist schon Großmutter. Vom Altwerden, besonders der Frauen, erhofft Stefanie nämlich nicht viel: “Es verlangte auch niemand von ihnen, in Würde zu altern. Man erwartet es von den Frauen und meint damit, dass sie sich ab fünfzig in Luft auflösen sollen.“
Sie werden in einem großen Haus untergebracht und Begrüßung von der sie betreuenden Professorin, wie Stefanie eine Österreicherin, zum Iowa Breakfast eingeladen. Mit kindlicher Neugier wird alles beobachtet: Die übergewichtigen Menschen, der Kaffee („dünne, bittere Suppe“), aber auch das Iowa Nice.
Dazu kommen zwischendurch selbstironische Bekenntnisse, über eigene Schwächen, das Rauchen, die Vorliebe für „Absturzkneipen.“ Als Christiane nach einem hochgelobten Auftritt als Sängerin zurückreist, sucht sie denn auch Trost bei bekennenden Trinkern. Und Tratschen ist „eine meiner größten Leidenschaften“ und Tratschen zu dämonisieren „antifeministisch,“ es ist ja geprägt vom Interesse an anderen Menschen.
Sie erobert die nähere Umgebung, erst mit Christiane und ohne Auto, kaufen bei Walmart Ungesundes ein, staunen über 75 Sorten Erdnussbutter. Nach Christianes Abreise dann mit der Professorin, sie besuchen ein Amish Dorf mit „50 shades of fromm.“ Entsetzt ist sie über den Besuch bei der Outdoor World, wo es T-Shirts und Poster mit Werbung für die National Rifle Association gibt. “American by Birth—NRA Member by choice.“ In der Säuglingsabteilung gibt es Strampler in Camouflage Musterung, für Mädchen mit rosa Tüllröckchen und Schleifchen.
Da sie keinen akademischen Abschluss hat, fremdelt sie etwas, sie spricht von Angst vor Akademikern. Sie nimmt an einer Dozentensitzung teil, wo es um den Umgang mit mehr Rechten der Studierenden geht, die sich über Dozenten beschweren. Also: „Man möchte, dass Menschen, die Marginalisierung erleben, eine Stimme haben, aber man möchte nicht von frechen Fratzen emotional erpresst werden.“
Die Argumente in der Diskussion sind dann vielfältig und werden präzise aufgeführt: Dürfen Dozenten rechts oder links vom liberalen Spektrum stehen? Es sei immer schwieriger, nuanciert zu diskutieren. „Kapitalismus mit wokem Antlitz“ käme dabei ‚raus. Die Abstimmung ergibt dann, dass die Abstimmung verschoben wird.
Dann kommt ihre Mutter sie besuchen, die dritte Reisepartnerin. Sie mieten ein Auto und reisen Out West. Die Mutter ist rüstig und lustig, dazu noch ein Nerd und kann ihr die Benutzung von WhatsApp erklären. Unterwegs nach LA wird ein Zentrum für Transzendentale Meditation besucht. In LA sehen sie Zeltstädte mit Obdachlosen, kranke Menschen liegen auf den Straßen rum. Die Mutter, als Sozialarbeiterin aus Wien, hätte viele Anregungen, wie man mit den Menschen arbeiten müsste…
Illustrated by Rowohlt
Das Totenschiff
Der Diogenes Verlag gibt einige der Bücher des geheimnisumwitterten B. Traven neu heraus. Eines davon ist “Das Totenschiff” mit einem Nachwort des Krimiautors Volker Kutscher. “Darum soll der schöpferische Mensch keine andere Biografie haben als seine Werke”, zitiert Kutscher Traven, der gleichzeitig weltberühmt und dennoch zeitlebens unbekannt war. Denn keiner kannte seine wahre Identität.
B. Traven: Aufregende Biografie
“Das Abenteuer jeglicher Romantik entkleidet”, so beschreibt Kutscher B. Traven’s Roman im Nachwort der vorliegenden Ausgabe. B. Traven (1882–1969), der bis 1915 unter dem Pseudonym Ret Marut als Schauspieler und Regisseur in Norddeutschland tätig war, beteiligte sich an der Münchner Räterepublik von 1919. Nach deren viel zu schnellen Ende wurde er selbst zum Verfolgten, obwohl er laut einigen Hinweisen der uneheliche Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau (und damit der Halbbruder von Walther Rathenau war, der 1922 als deutscher Außenminister ermordet wurde) war. Nach seiner abenteuerlichen Flucht nach Mexiko schrieb er 12 Bücher und zahlreiche Erzählungen, die in Deutschland Bestseller waren und in mehr als 40 Sprachen veröffentlicht und weltweit über 30 Millionen Mal verkauft wurden. Viele davon wurden auch verfilmt, etwa “Der Schatz der Sierra Madre” (das Buch ist ebenfalls bei Diogenes in einer Neuauflage erhältlich) oder das eben “Das Totenschiff”. 1951 wurde er mexikanischer Staatsbürger, heiratete 1957 Rosa Elena Luján, seine Übersetzerin und Agentin, und starb am 26. März 1969 in Mexiko-Stadt.
Totenschiff: Roman ohne Wiederkehr
In “Das Totenschiff” hat B.Traven die Erfahrungen des amerikanische Seemanns Gales niedergeschrieben, die einer Höllenwanderung in Dantes Inferno gleichen. Gales verpasst in den Kneipen Antwerpens sein Schiff, auf dem sich sein einziges Identitätsdokument befindet. Dadurch wird er zum Staatenlosen und seine Odyssee beginnt. Über mehrere europäische Landesgrenzen abgeschoben landet er schließlich in Barcelona und heuert auf dem Schiff “Yorikke” an. Das Schiff hat eine illegale Ladung und Besatzung und zudem höllische Arbeitsbedingungen. Das besondere an diesem Roman B.Travens ist aber nicht nur die Handlung, sondern vor allem die Sprache mit der er sich auf die Seite der Ausgebeuteten und Ausgeplünderten schlägt. Wenn das Schiff, das die Heimat des Seemanns einfach ohne ihn wegfährt, “dann kommt zu dem Gefühl der Heimatlosigkeit das tötende Gefühl des Überflüssigseins”, schreibt er. Aber die eigentliche Tortur ist nicht dieses Gefühl, sondern die Verzweiflung in der er sich der Yorikke unterordnet, wo er als Kohleschlepper malocht. Die Beschreibung dieser Arbeit ist so plastisch, dass man sich selbst im Purgatorium Dantes wähnt. Aber auch der gleichzeitig dabei transportierte Witz und die ehrliche, schnörkellose Sprache erinnern an andere Meister des Genres. Gleichzeitig strahlt aber auch eine alles durchdringende Lebensfreude durch B.Travens Zeilen, die einzigartig ist. Mit viel Sympathie für die Verlorenen dieser Welt und Weisheit to go: “Aus Liebe kann nicht nur Hass werden, sondern, was viel schlimmer ist, aus Liebe kann Sklaverei werden.”
Weitere Werke von B. Trafen im Diogenes Verlag: Der Schatz der Sierra Madre, Die weiße Rose, Die Baumwollpflücker, Die Brücke im Dschungel, Der Marsch ins Reich der Caoba, u.v.a.m.
B. Traven
Das Totenschiff
Mit einem Nachwort von Volker Kutscher
2023, Hardcover Leinen, 416 Seiten
ISBN: 978-3-257-07269-3
Diogenes Verlag
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80