Alle Tage

Exzentrischer Migrations-Roman

Der Debütroman von Theresia Mora mit dem Titel «Alle Tage» hat mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2005 auf Anhieb viel Anerkennung gefunden. Auch in den Feuilletons wurde das Buch überwiegend positiv besprochen, während die Laienkritiken erkennen ließen, dass viele der Leser ziemlich verständnislos auf diesen ungewöhnlichen Roman reagiert haben. Die aus Ungarn stammende Autorin hat sich nämlich stilistisch über alle Konventionen hinweg gesetzt, was die Lektüre deutlich erschwert und volle Konzentration erfordert, will man der teils wirren Handlung folgen und all die versteckten Hinweise und Gedankensprünge des Plots verstehen.

Abel Nema, der Protagonist des Romans, flieht, alles zurück lassend, vor der Einberufung, als in seinem Land auf dem Balkan ein Krieg ausbricht. Was ihm umso leichter fällt, weil sein Freund Ilia ihn nach der Abiturfeier empört abgewiesen hat, als er ihm seine Liebe gestanden hatte. In dem nicht genannten westlichen Land, das ihn aufnimmt, bleibt er ein Fremder. Er hat aber Glück im Unglück, weil er nach einem Gasunfall ungeahnte Sprachfähigkeiten entwickelt. In einem Sprachlabor lernt er, zehn Sprachen fließend und akzentfrei zu sprechen, er kann nun als Übersetzer arbeiten, gibt Sprachunterricht und findet Aufnahme in akademische Kreise. Ohne aber ganz persönlich davon profitieren zu können, denn kontaktarm, wie er ist, gehört er einfach nicht dazu in seinem Gastland. Mercedes, eine Mitarbeiterin des Sprachlabors, geht eine Scheinehe mit Abel ein, um ihn vor der drohenden Ausweisung zu bewahren. Als sie aber seine homoerotische und pädophile Neigung erkennt und besorgt ist wegen ihrem Sohn, lässt sie sich, vier Jahre später, wieder von ihm scheiden, nachdem sein Aufenthaltsrecht gesichert ist.

Immer wieder zieht es Abel zu den gesellschaftlichen Randgruppen hin, zu den Gestrandeten der Wohlstandsgesellschaft. Er lebt in verschiedenen WGs chaotisch mit Studenten und Künstlern zusammen, geht gern in obskure Nachtclubs und verkehrt im Drogenmilieu. Abel ergeht sich in Halluzinationen, verliert sich in endlosen Selbst-Reflektionen, sinniert häufig gedankenverloren vor sich hin. All diese Erinnerungsfetzen, Gedankensplitter und Phantasien vermischen sich zu einem mentalen Chaos, das ihn oft seelisch völlig aus der Bahn wirft. Er hat permanent Probleme, Reales und Metaphysisches klar von einander zu trennen. Als er schließlich einen Strichjungen bei sich aufnimmt, wird er von dem dann auch prompt bestohlen. Eine Gruppe Jugendlicher, die sein Zusammenleben mit dem Strichjungen wütend macht, dringen in seine Wohnung ein und verwüsten sie, verprügeln ihn und hängen ihn kopfüber an einem Klettergerüst auf. Durch die Verletzungen, die er dabei erleidet, verliert er schlagartig sein phänomenales Sprachvermögen. Am Ende des Romans findet sich ein Epilog unter dem Titel «Letzte Wendung», in dem der wortkarge Protagonist plötzlich in Ich-Form einen Ausblick gibt. «Es ist so einiges zusammen gekommen, und wenigsten einen Bruchteil davon muss ich erzählen», heißt es da überraschender Weise. Das passt so gar nicht zu der Sprachlosigkeit, die im gesamten Buch bisher kennzeichnend gewesen ist für diese ebenso wortkarge wie mysteriöse Romanfigur.

Über ihr stilistisches Konzept für den Roman hat die Autorin im Interview erklärt, dass sie hier grundsätzlich vom Ende her erzähle. Außerdem versuche sie, in Sprache und Plot ein Äquivalent für die Kompliziertheit des Lebens zu finden. Ihre individuellen Geschichten spiegelten immer einen Teil des größeren Zusammenhangs. Und was die Leerstellen im Narrativ anbelangt, verweist sie auf Faust, wir müssten sehen, «dass wir nichts wissen können». Ihre sprachliche Form spiegle im Übrigen die Komplexität der Welt wider, und Wirklichkeit sei letztendlich nur in der Sprache zu finden. Ohne Zweifel literarisch hochstehend, dürfte sich dieser exzentrische Migrations-Roman wohl kaum größeren, Konventionelles erwartenden Leserkreisen erschließen.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
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