Nur noch kurz die Welt sehen

Heinz Stücke – 51 Jahre nonstop mit dem Fahrrad unterwegs, 648.000 Kilometer, 196 Länder. – Es kann kaum jemanden geben, der bei diesem Titel und vor allem dem Untertitel nicht kurz innehält. Falsch gelesen? Kann das sein?

Und ja, das gibt es in der Tat. Heinz Stücke aus Hövelhof in Ostwestfalen heißt der die Welt umrundende Radfahrer in dieser unglaublichen, aber doch wahren Geschichte. Er ist der unstrittige und alleinige Held des Buches. Oder ist er vielleicht eher der Anti-Held? Wie sagt ein Fahrradhändler aus Hongkong über ihn: „Heinz ist kein außergewöhnlicher Mensch, aber er hat Außergewöhnliches geleistet“. Er ist offensichtlich ein eher einfacher Mensch und ist das auch bis ins hohe Alter geblieben, vielleicht ein Held wider Willen. Natürlich muss er sich unterwegs vermarkten, muss in allen Herren Ländern Dia-Vorträge halten, um zu überleben und natürlich liebt er es mit Menschen bei einem Bier (oder mehreren) Smalltalk zu halten. Aber dann ist er im „Dazwischen“, zwischen Aufregungen, Highlights und Abenteuern, wieder sehr oft und sehr gerne alleine („aber nie einsam“).

Die lebensphilosophischen Kernsätze des Heinz Stücke aus Westfalen sind an einer Hand abzuzählen.

„Man muss ohne Komfort leben können und auch ohne Familie. Man muss früh anfangen, bevor man Verantwortung hat und bevor man ein Sklave seiner Umgebung geworden ist.“

Er hat den rechtzeitigen Absprung geschafft. Mit 23 Jahren ist er Ende 1962 gestartet (mit 300 US-Dollar Startkapital in der Tasche), mit 74 Jahren ist er 2014 wieder in die alte Heimat zurückgekehrt.

Wie kann man sich über diese lange Zeit motivieren? „Links, rechts, links. Treten, treten, treten“. Aber da ist auch eine stete Sehnsucht nach weiteren Reisen, nach dem Neuen, noch mehr oder besser sogar alles zu sehen. Und eine Abneigung ins heimische Umfeld als Werkzeugmacher zurückzukehren. Die Aversion ist so groß, dass er eine Art von Familientreffen in den Niederlanden stattfinden lässt, nur 200 Kilometer vom Heimatort entfernt. Die Fremde ist zur Heimat geworden.

Wie er sich über all die Jahre finanziert hat? „Möglichst wenig ausgeben!“ Logischerweise reicht dies nicht aus, auch wenn man 51 Jahre ohne festen Wohnsitz überwiegend im Zelt lebt, aber zum Glück gibt es unterwegs immer wieder Einladungen zum Essen und Übernachten, Spenden und Sponsoren und Einnahmen aus Vorträgen und dem Verkauf seiner Fotografien. Heinz Stücke scheint nicht der Mann der tiefschürfenden Worte zu sein. Dafür hat er seine Kamera, mit der er die Welt wahrnimmt und seine Eindrücke mit beeindruckendem Geschick und bewegenden Blickwinkeln und Arrangements für die Ewigkeit festhält. Diese Fotografien sind die absoluten Höhepunkte im Buch.

Festgehalten werden muss, dass es nicht das Buch, nicht die Autobiografie des Abenteurers Heinz Stücke ist, sondern das Buch der Journalistin Carina Wolfram über Heinz Stücke. Carina Wolfram schreibt überwiegend für ein Radmagazin übers Radfahren.

Zu Beginn betont sie, dass die Arbeit an einem Buch über Heinz Stücke genauso wenig gradlinig verlaufen kann, wie die 51-jährige Radreise des Protagonisten. Ohne Zweifel richtig. Sie konnte der Fülle an Material leider bis zum Schluss nicht wirklich Herr/Frau werden. Phasenweise blitze etwas von einer Chronologie auf, dann wechselte sie in Schwerpunktthemen, die aber mehr als willkürlich aneinandergereiht wurden und den Logik-Test „Was passt nicht in die Reihe?“ fast alle nicht bestehen würden.

Gewünscht hätte man sich als Leser, dass es zumindest am Anfang einen kurzen zeitlichen Abriss in Stichworten oder als Grafik gegeben hätte, um sich im weiteren Verlauf des Buches an dieser Chronologie zu orientieren, einzelne Episoden besser einordnen zu können. Da liest man überrascht, dass der Welt-Radler etliche Male in London und Hongkong war, dass er mit dem Round-the-World-Ticket um die Welt geflogen ist und denkt hoppla, wie integriere ich denn nun diesen „Stilbruch“ in mein 51-Jahre-Nonstop-Radeln-Bild?

Schaue ich als Globetrotter und Nomade auf dieses Leben, so bin ich davon überzeugt, dass im Weltbürger Heinz Stücke eine solch unglaubliche Eindrucksfülle bestehen muss, dass es ihm die Brust zerreißen und den Kopf zum Bersten bringen könnte. Vielleicht ist Heinz Stücke aber gar nicht in der Lage, all die spannenden Aspekte und Dimensionen zu artikulieren. Dann ist es um so betrüblicher, dass es der Autorin trotz allem Respekt für die Herkulesaufgabe nicht gelang, all das herauszulocken und es zu verbalisieren. Gewünscht hätte man sich mehr Makro-Szenen, mehr Tiefgang, mehr Emotionen, mehr Einblicke in die Psyche dieses ungewöhnlichen Exemplars aus der Gattung Mensch. Nur seine gelegentliche „Wut“ war einer Erwähnung wert. Gab es auch die sensible, nachdenkliche Seite des Radfahrers jenseits des stumpfsinnigen Tretens? Das Zitat „Sich-Verlieben ist eine Dummheit“ und der kurze Verweis auf eine Beziehung zu einer Frau in Belarus sind leider recht blutleere Andeutungen. Da wäre mehr spannend gewesen. Dafür hätte man gerne auf ein relativ sinnloses und die Oberflächlichkeit akzentuierendes Interview mit einem jüngeren Weltumradler verzichten können.

Am Ende des Buches bleibt das, was alleine schon durch Titel und Untertitel im Leser ausgelöst wurde – Faszination für diesen horizontsüchtigen Mann, sein Eintauchen in fremde Länder und Kulturen und sein Leben abseits der Norm. Ein Individuum, ein Unikum, ein Gegenpol zu Tradition, Konvention, Bausparvertrag, Reihenhaus und Unfallversicherung. Nichts für jeden, aber tief drinnen schlummert es öfter als man denkt.


Genre: Biographie, Biographien, Briefe, Kurzgeschichten und Erzählungen, Memoiren, Reisen
Illustrated by Delius Klasing

Atlas eines ängstlichen Mannes

Schicken Sie Ihre Phantasie auf Reisen oder testen Sie einfach nur Ihre Geografiekenntnisse, indem Sie Nadeln in eine imaginäre Weltkarte stecken. Osterinsel, China, Brasilien, Kalifornien, Marokko, Andalusien, Island, Griechenland, Wien, Neuseeland, Neu Delhi, Nepal, Bolivien, Mexiko, Juan Fernandez Archipel, Irland, Laos, Nordpol, Ontario, Kambodscha, Yokohama, Valparaiso, Pitcairn, Jemen, Sydney, Irland. Stopp! Das sind nur etwa die Hälfte der Orte und Ziele, die Christoph Ransmayr in seinem Atlas eines ängstlichen Mannes wie auf einer geografischen Perlenkette auffädelt.

In siebzig Episoden erzählt der österreichische Autor Kurzgeschichten für Menschen, die gerne reisen und in denen die Ferne immer eine unstillbare Sehnsucht auslöst. Aber seine Zielgruppe sind ohne Zweifel auch all jene Menschen, die nicht gerne reisen, weil er es versteht, Kopfkino vom Feinsten zu entfachen. Man muss schier gar nicht in Burma oder Thailand gewesen sein, denn Ransmayr schafft es, jeden mitzunehmen. Andererseits fragt man sich als Viel- und Dauerreisender, ob man die großartigen Bilder wirklich sehen kann, wenn man niemals an griechischen, arabischen oder asiatischen Orten war?

Nach kurzem Zögern denke ich: Ja, nur eben andere, nicht weniger schöne, nicht weniger bewegende. Denn der Stil, in dem Ransmayr schreibt, ist farbenprächtiger als jeder Film und jede Reisedokumentation. Man kann gar nicht anders, als einzutauchen, wenn er am verschneiten Ufer eines Bergsees im westlichen Himalaya entlang wandert oder wenn er einer Elefantenherde im Urwald von Sri Lanka ausweicht. Seine literarischen Fähigkeiten lassen jede Leserin, jeden Leser erblassen, ziehen einen in den Bann. Vor allem, wenn man selbst gerne schreibt, lässt einen der Autor mit untherapierbaren Minderwertigkeitskomplexen zurück. Seine lyrische Ader ist Garant für 3-D-Bilder im Kopf, für seufzende Emotionen, für ein so häufiges, neidisches Kopfschütteln wie bei kaum einem anderen Autor zuvor. So etwas kann man wahrscheinlich nicht lernen. Das haben auch schon andere erkannt – Ransmayr erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Bert Brecht benannten Literaturpreise, den Kleist-Preis und einige mehr. Literaturkenner halten den Nobelpreis schon lange für angemessen.

Bleibt noch die Frage – warum dieser Titel? Atlas, ja, das drängt sich auf. Aber ängstlich?

Ängstlich – weil er sich ohne den Input von außen, vor allem seiner langjährigen Lebensgefährtin, vielleicht nie und nicht so häufig auf den Weg gemacht hätte. Aber vielleicht auch ängstlich, weil große Teile dieses Buches entstanden, als Ransmayr mit einer lebensbedrohlichen Diagnose konfrontiert wurde und dieses Buch vielleicht sogar schon so etwas wie sein Vermächtnis zu werden drohte, ein Rückblick auf ein beispiellos volles und erfülltes Leben.

In diesem Mann sind Erfahrungen, Abenteuer, Wahrnehmungen und Gefühle gespeichert, die jeden Quantencomputer überfordern würden. So viele Bilder, Eindrücke, an denen ein Kopf zu platzen, ein Geist zu explodieren droht. Mit großer Sicherheit muss er auch genau deshalb schreiben, sein Ventil, um all das ein Stück weit zu verarbeiten, beherrschbar zu machen.

Zum Glück, denn so können wir an seinem Leben ein wenig teilhaben, den Weg einige Abschnitte weit mitgehen. Und unseren Vorteil daraus ziehen, uns – in sehr positiver und nicht merkantiler Absicht – bereichern. Der deutsche Philosoph Odo Marquard äußerte sich einmal in diesem Sinne dazu: Wer den Erzählungen und Geschichten anderer Menschen folgt, lebt deren Leben ein Stück weit mit. Und weil das einzelne menschliche Leben eigentlich viel zu kurz ist, muss man das sogar unter allen Umständen tun, muss lesen, zuhören, mitleben. Kaum jemand kann einem so viele Leben schenken wie Christoph Ransmayr.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Memoiren, Reisen
Illustrated by Fischer Verlag

Crossroads

Jonathan Franzen hat es wieder getan.

Mit „Crossroads“ geht Franzen konsequent den Weg weiter, den er in „Die Korrekturen“ bereits äußerst erfolgreich beschritten hat. Er greift einmal mehr tief hinein in diesen Schmelztiegel an Schicksalen, den man schlichtweg Leben nennt. Sein Spezialgebiet: Familienleben. In Crossroads nimmt uns der Autor mit in das Leben der US-amerikanischen Familie Hildebrandt Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts.

Pikant, wie Franzen bereits mit dem Titel spielt und Ahnungen generiert. Crossroads bedeutet im Englischen sowohl Wegkreuzung als auch Scheideweg. Nichts anderes passiert in dieser, nein doch eigentlich in jeder Familie. Zuerst treffen sich stets und überall Vater und Mutter, die aber auch beide ihre ganz individuelle Vergangenheit haben, ihre guten Seiten, aber auch ihre Marotten und Schattenseiten. Bei Franzen sind es Vater Russ, Pastor in einer Vorstadtgemeinde und Möchtegern-Gigolo, und Mutter Marion, die über die monotone Erfüllung mütterlicher und familiärer Pflichten äußerlich zur Matrone degeneriert ist. Und dann kommen natürlich wie immer früher oder später die Kinder dazu, die die Lebenswege der Eltern und ihrer Geschwister kreuzen. Mal für eine kürzere, mal für eine längere Zeit. Mal in Harmonie, oft aber wegen der divergierenden Persönlichkeitsentwicklung auch im Dissens, der bis zum Hass gehen kann. Wiedererkennungseffekte? Aber natürlich, alles andere wären erfolgreiche Verdrängungsmechanismen, um nicht von der rosa Wolke zu fallen. Clem, Becky, Perry und Judson heißen die vier beispielhaften Kinder-Charaktere bei Franzen.

Dass Crossroads nebenbei auch der Name einer kirchlichen Jugendgruppe im Buch ist, gerät in Anbetracht der Metaphorik des Gesamtromans fast zur Nebensächlichkeit.

Das Grundkonstrukt dieses Familien-Epos bietet Raum für alles, was Familien landläufig ausmacht. Da gibt es Ehebruch, Drogensucht, psychische Erkrankungen, Lebenssinnkrisen, Ablöungsprozesse, ungewollte Schwangerschaft, Geschwisterkonflikte, Trennungsabsichten, um nur die essentiellsten zu nennen. Einen erwähnenswerten zusätzlichen Fokus richtet der Autor in „Crossroads“ auf das Thema Glauben. Das Panoptikum religiöser Überzeugungen reicht von Religion als Job über eine völlig kritikunfähige Verblendung sowie die Rückkehr zum Glauben durch eine plötzliche, imaginäre Erleuchtung bis hin zum überzeugten Atheismus. Dabei nimmt Franzen scheinbar die Funktion des aussenstehenden Erzählers ein. Er scheint vordergründig nicht zu werten. Nicht immer kann man ihm diese Rolle abnehmen und fragt sich dann als Leser an der ein oder anderen Stelle, ob man sich nicht doch einer geschickt gewobenen Persiflage religiöser Geisteshaltungen gegenüber sieht. Wo ist der Roman einfach nur Storytelling oder wo sind die Messages versteckt? Ein guter Autor wie Franzen lässt das offen.

All diese facettenreichen Komponenten einer Familiendynamik mixt Franzen mit einem Schuss Dramatik zu einem qualitativ hochwertigen Potpourri. Zusammen mit seinem schon in „Die Korrekturen“ bestechenden Gefühl für den richtigen Flow und das richtige Schreibtempo reiht sich Franzen mühelos ein in die lange Liste anderer großer US-amerikanischer Geschichtenerzähler wie John Steinbeck, T. C. Boyle, Ernest Hemingway und viele andere. Aber das wussten Franzen-Leser ja schon.

In Summe beste Unterhaltung, viel Buch fürs Geld und ganz nebenbei eine ganze Menge philosophischer und sprachlicher Highlights. Drei verführerische Kostproben aus dem Schatzkästchen eines literarischen Ausnahmekönners: „Sein Schmerz und sein Hass waren von einer horizontlosen Totalität“, „Die Abwesenheit von Negativa ergab nicht zwingend ein Positivum“ und „Hoffnung war die Zuflucht der Dämlichen“.

Und die Quelle Franzen scheint unerschöpflich. Sicherlich zur Freude des Verlags. Teil zwei und Teil drei der Generationen übergreifenden Saga sind angekündigt.


Genre: Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Rowohlt

Paradais

Wenn es eine Autorin mit zwei ihrer vier Romane auf die Short List des Internationalen Booker Price schafft, lässt das aufhorchen. Vielleicht geschah diese Huldigung auch ein Stück weit deshalb, weil Fernanda Melchor Mut hat. Obwohl sie an manchen Schauplätzen ihrer Romanhandlungen aus Angst um ihr Leben nicht recherchieren konnte, schreibt sie dennoch über all die brutalen Drogenkriege, die allgegenwärtigen Misshandlungen von Frauen und die deprimierende Ohnmacht gegenüber den endlosen Missständen in ihrer Heimat Mexiko. So tut sie es auch in „Paradais“. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Gesellschaftsroman, Kriminalliteratur, Roman
Illustrated by Wagenbach

Stimmen im Wald

Nach welchem ausgeklügelten Prinzip wählt man als literaturbegeisterter Vielleser sein nächstes Buch aus? Man sitzt in einer Bäckerei in Kapstadt, entdeckt im Buchregal ein Taschenbuch mit deutschem Titel, nimmt es aus Langeweile einfach mal in die Hand, entdeckt auf der ersten Innenseite eine handschriftliche Widmung des Autors für Hannelore und Hartmut, et voilà – der neue Lesestoff ist gefunden. Weiterlesen


Genre: Kriminalromane, Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Turbulenzen

Mutter Kanadierin, Vater Ungar, geboren in Montreal, aufgewachsen in London, Literaturstudium in Oxford, viele Jahre wohnhaft in Budapest – das sind die passenden kosmopolitischen Voraussetzungen, die der 49jährige Schriftsteller David Szalay mitbringt, um einen global vernetzten Roman wie „Turbulenzen“ zu schreiben.

Das Grundprinzip unterschiedlichster Schauplätze rund um die Welt hat Szalay bereits in seinem Werk „Was ein Mann ist“ sehr erfolgreich umgesetzt, was ihm für jenes Buch 2016 zurecht eine Nominierung auf der Shortlist des „Man Booker Prize“ einbrachte.

In „Turbulenzen“ nimmt Szalay diesen Modus noch konsequenter wieder auf. Man erwirbt mit dem Buch sozusagen ein Round-the-world-Ticket. Die einzelnen Kapitel bestehen aus ineinandergreifenden Flugstrecken, die zugehörigen Titel bestehen einzig und allein aus den internationalen IATA-Codes der Airports, eine Herausforderung für alle Vielreisenden. Oder hätten Sie spontan gewusst, von wo nach wo es bei GRU – YYZ geht?

Doch das sind nur die formalen Rahmenbedingungen. Eigentlich stellt jedes Kapitel eine eigene Kurzgeschichte dar, allerdings hat Szalay diese genial ineinander verwoben, indem sich immer neue menschliche Schicksale entlang dieser Flugetappen rund um die Welt aus der vorhergehenden Geschichte ergeben. Eine Randfigur in dem einen Kapitel wird plötzlich zur Hauptprotagonistin im nächsten.

Mit präziser, adäquater Sprache, eindrucksvollen, aber nie schwülstigen Bildern gewährt der Autor Einblicke in unterschiedlichste Leben und Kulturen rund um den Globus. Durch den kontinuierlichen Wechsel der Hauptfiguren vollzieht sich immer wieder ein für den Leser erstaunlicher Perspektivenwechsel. Eine literarische Technik, durch die es Szalay gelingt, die Ambivalenz einer Figur messerscharf und lebensecht herauszuarbeiten. Da ist der indische Ehemann gerade noch der gewalttätige Tyrann seiner Familie, erscheint dann aber im Folgekapitel plötzlich in einem ganz neuen Licht, wenn man plötzlich erfährt, dass auch er Opfer gesellschaftlicher Konventionen ist.

Obwohl sein Schreibstil sehr eingängig und leicht ist, macht es der Autor seinen Lesern inhaltlich nicht einfach. Er stellt Themen unserer Zeit in den Fokus und fasst dabei zuverlässig in offene Zeitgeist-Wunden. Wie reagiert die Familie auf ein behindertes Neugeborenes? Wie geht man offen mit einer neuentdeckten Liebe um, die die Ehe im höheren Alter gefährdet? Was ist, wenn man bei der Heimkehr spürt, dass in der heilen Familienwelt etwas Furchtbares passiert sein muss, aber die Gewissheit sich erst ganz langsam ins Bewusstsein schleicht? Da wirkt eine leichte Episode wie das Tinder-Date eines Piloten zwischen zwei Flügen trotz der durchaus psychoanalytisch interessanten zwischenmenschlichen Interaktion fast schon lapidar.

Durch sein literarisch innovatives Konzept nimmt David Szalay einen mit auf eine Reise um die Welt, die in London beginnt und dort auch wieder endet. Szalay schreibt sehr fliessend, ist angenehm zu lesen, baut aber nach kurzer Zeit diese verheissungsvolle Spannung auf, weil er in seinen Stories unberechenbar ist. So wie das echte Leben auch. Eben voller Turbulenzen.


Genre: Gesellschaftsroman, Kurzgeschichten und Erzählungen, Reisen, Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Fünf Viertelstunden bis zum Meer

Kurzes Buch, kurze Rezension. Wer sich eine Kurz-Version von „Liebe in Zeiten der Cholera“ für ganz Eilige vorstellt, liegt richtig und hat den Inhalt der etwa 95 Seiten schon weitgehend erfasst. Ein über achtzigjähriger Italiener kehrt zu seiner gleichaltrigen Geliebten aus Jugendzeiten nach Apulien zurück. Er hat ein stoisch langweiliges Leben als Apfelpflücker und Melker in Südtirol verbracht. Sie vergnügte sich lange Zeit mit anderen Bekanntschaften, bis sie nach sechs Jahrzehnten merkt, dass sie ihn wohl irgendwie vermisst. Schliesslich erreicht ihn ein Brief von ihr, er kehrt zu ihr zurück. Am Bahnhof von Lecce steht man sich nach mehr als 60 Jahren wieder gegenüber.

Titel und Inhaltsangabe des Mare-Verlages verheißen ein kurzweiliges Urlaubsbuch. Leider ist jedoch ein romatisch-sentimentaler Roman herausgekommen, teilweise mit depressiven Tendenzen. Wenn man sein Bild im Abspann des Buches sieht, kann man sich beim Lesen sehr gut vorstellen, wie der indisch-niederländische Autor van der Kwast mit großen, tränennassen Basset-Augen vor seiner Tastatur sitzt und schluchzend mit seinen eigenen Protagonisten dahin schmachtet. Dabei kann man ihm ein gewisses Maß an Wortgewandtheit gar nicht absprechen, allerdings driften kurze literarische Highlights zu oft wieder ab in eine schwülstige Schwere. Pluspunkte sammelt van der Kwast ein wenig dadurch, dass er doch nicht in alle Klischee-Fallen tappt und Giovanna, die weibliche Hauptdarstellerin, ein für die frühen fünfziger Jahre fast schon emanzipiertes und feministisches Leben führen lässt. Man muss sich ansonsten beim Lesen stetig zügeln, um nicht die Logik und Sinnhaftigkeit der Handlung und des Verhaltens zu hinterfragen. Aber gut, es mag Menschen geben, die sechzig Jahre ihres Leben ungenutzt verstreichen lassen, einfach verschenken. Stellt man sich das in der Realität vor, wird ungläubiges Kopfschütteln über das Buch möglicherweise in einen Frust über das menschliche Dasein umgelenkt.

In Summe hat sich van der Kwast bemüht, hat sicher auch ein gewisses Talent für tragisch-blumige Literatur, aber letztendlich reichte es nur zu einem Liebesroman auf leicht höherem Niveau. In etwa fünf Viertelstunden ist man durch.


Genre: Graphic Novel, Kurzgeschichten und Erzählungen, Roman
Illustrated by marebuch-verlag Hamburg

Die spürst Du nicht

Der leidige Fluch des Erfolges. Der österreichische Autor Daniel Glattauer landete 2006 einen Megahit. Mit seinem Roman „Gut gegen Nordwind“ stürmte er die Bestsellerlisten und wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. Theateraufführung und Verfilmung waren unausweichlich. Das prägnante Merkmal dieses Überflieger-Romans war, dass die beiden Protagonisten die Story dadurch entwickelten, dass die Konversation einzig und allein über E-Mails erfolgte. Eine grandiose Idee. Literarisch perfekt umgesetzt.

In „Die spürst Du nicht“ spüren zwar die Romanfiguren manches nicht, die Leser dieses Buches spüren jedoch ganz deutlich, dass Glattauer wieder experimentiert. Vielleicht steckt in dem Österreicher ein bisserl was von seinem Landsmann Wolf Haas, der neben seiner erfolgreichen Brenner-Krimi-Reihe gerne einmal innovative Wege geht, indem er beispielsweise dem Leser in seinem Buch „Verteidigung der Missionarsstellung“ die Chance zum Querlesen gibt, indem er Zeilen wirklich quer über das Papier laufen lässt. Aber nein, das sonstige Schaffensrepertoire von Glattauer spricht gegen diese Annahme. Also drängt sich der Verdacht auf, dass mit „Die spürst Du nicht“ der schon etwas verzweifelte Versuch eines Autors vorliegt, mit neuen, aber irgendwie doch wiederum vergleichbaren Stilmitteln einen Follow-up-Roman zu konstruieren.

Herausgekommen ist eine stilistische Mixtur aus Fließtexten, Dialogen, Interviews, Presseveröffentlichungen, Social Media-Postings inklusive Kommentaren der Internetgemeinde und Fotografie-Shots, wobei Glattauer bzw. seinem Lektorat ein kleiner technischer Fehler unterläuft, indem die Foto-Beschreibungen keine Standbilder, sondern bewegte Szenen beinhalten. Unbedeutendes Detail am Rande.

Was den Inhalt anbelangt ist es wie mit den Stilmitteln – fleißig bemüht, aber zu viel gewollt.

Zwei wohlhabende österreichische Familien nehmen gegen den anfänglichen Widerstand der afrikanischen Eltern die Tochter einer somalischen Migrantenfamilie mit in den Toskana-Urlaub. Das unscheinbare und ruhige Mädchen ertrinkt im Pool. In einem  – wegen der politischen Prominenz einer der beiden Mütter sehr öffentlichkeitswirksamen Prozess werden Schuldfrage und Trauerschmerzensgeld wegen Schockschaden verhandelt.

In diesen Rahmen presst der Autor Themen wie Politikethos, Ehekrisen, Fremdgehen, das unmerkliche Abgleiten einer Tochter in die Drogensucht durch eine Internet-Bekanntschaft und natürlich dem Zeitgeist folgend die Darstellung eines erschütternden Migrantenschicksals. Glattauer springt auf alle Trends der Zeit auf, gibt aber keinem Thema den Raum und die Tiefe, die jedes einzelne verdient hätte, indem er fortlaufend Komplexitätsreduktion betreibt. Dadurch sind viele Handlungsstränge eher naive Malerei, welche unserer diffizilen Realität nicht gerecht wird. Daran ändern auch die Stil-Collage nichts. Hinzu kommt, dass man überall seinen erhobenen Zeigefinger zu spüren scheint. Aber leider bleibt es bei der oberflächlich-moralisierenden Geste im Sinne eines Virtue Signalling, womit Glattauer wiederum voll im Trend liegt.

Daniel Glattauer ist ein Profi, an dessen handwerklich fundiertem Können nichts auszusetzen ist. Er kann Menschen abholen, allerdings geschieht dies in „Die spürst Du nicht“ inhaltlich und stilistisch recht effekthascherisch. Man wünscht sich, dass er zurückkehrt zu einer Schaffenskraft, die zum Beispiel „Ewig Dein“ hervorgebracht hat. Davon bitte mehr.


Genre: Belletristik, Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Zsolnay Wien

Unendlicher Spass

Dieses Werk ist der Ironman der Literatur. Wer dieses Buch wirklich bis zur letzten Zeile durchgehalten hat, sollte vom Rowohlt-Verlag ein Finisher-T-Shirt zugeschickt bekommen. Mit 1551 Seiten oder 3.486 KB setzt David Foster Wallace alles daran, in Marcel Proust’s Fussstapfen zu treten. Die ganz persönliche Lesezeit betrug ein Jahr. War es eine verlorene Zeit? Machen wir uns auf die Suche. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Rowohlt Taschenbuchverlag Reinbek bei Hamburg

Eurotrash

Christian Kracht ist Schweizer mit deutschen Wurzeln. Er sieht sich selbst als Kosmopolit. Nach eigener Aussage begreift er seine Romane eher „humoristisch“, löst mit seinem Werk und Leben allerdings häufig heftige Kontroversen aus. Ein Mensch und Autor, der nicht einzuordnen ist, und der in Eurotrash offensichtlich immer noch nach seinem eigenen Platz und Stellenwert in einem Leben sucht, dessen materielle Rahmenbedingungen andere bei einem flüchtigen Blick neidvoll als beste Voraussetzungen für unbeschwertes Glück ansehen würden. Weiterlesen


Genre: Autobiografie, Erinnerungen, Gesellschaftsroman, Politik und Gesellschaft, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Federball

Es geht einem irgendwie sehr schwer von der Hand/Feder/Tastatur, dieses Buch in die Rubrik “Agenten- oder Spionage-Thriller” einzustellen. Aber die Literaturbranche verlangt mal wieder nach Kategorien und Schubladen.

John Le Carrè geht mit einem riesigen Bonus ins Rennen. Der Altmeister des subtilen Spionage-Romans will es mit 88 Jahren noch einmal wissen und die Presse überschlägt sich vor Lob und Begeisterung. Also geht man voller Vorfreude ans Lesen des neuerlichen Meisterwerks.

Ein schon etwas älterer Spion kehrt ins gute alte England zurück und wird mangels besserer Aufgaben in eine unbedeutende Filiale in London abgeschoben. Er trifft sich mit aktuellen und früheren russischen Informanten. In seiner Freizeit spielt er mit Begeisterung Badminton, wobei sich sein neuer Federball-Gegner später zum eher halbherzigen Spion für die Russen entwickelt.

Das ist die Story.

Über 90 Prozent des Buches quält sich eine zähe Handlung durch endlose Dialoge ohne Spannung und Esprit. In einem deutschen Finanzamt geht es mit Sicherheit spannender zu als in den Spionage-Abteilungen, die le Carré zeichnet. Lange fragt man sich, welche wertvollen Informationen wohl so wertvoll sind? Die Busfahrpläne Londons? Nein, es ist die mögliche Aussicht darauf, dass Großbritannien nach dem Brexit in enge Gespräche mit den USA eintreten wird … Überraschung …Gähn.

Viele Kritiker feiern das Buch als Anti-Brexit-Manifest. Weit gefehlt, allenfalls ein Nebenkriegsschauplatz, wenn le Carré dem jungen Ed ein paar hitzköpfige Statements in den Mund legt.

Die längste Zeit fragt man sich, ob le Carré vielleicht die bewusste Persiflage eines Spionage-Thrillers schreiben und all die James Bonds als langweilige Beamte entlarven wollte. Aber auch diese Hoffnung stirbt im Verlauf des Buchs.

Zur Ehrenrettung von le Carré muss man erwähnen, dass das Buch auf den letzten 20 Seiten sogar so etwas wie einen Hauch Spannung entwickelt. Aber auch das bleibt letztendlich ein Strohfeuer mit einem unlogischen Ende.


Genre: Belletristik, Kriminalliteratur, Thriller
Illustrated by Ullstein

Nachmittage

Ein neuer von Schirach. Ab dem Erscheinungstag auf Platz 1 der Spiegelbestsellerliste. Ferdinand von Schirach ist derzeit der erfolgreichste und berühmteste Schriftsteller Deutschlands. Aber nicht nur das, seine Geschichten und Romane werden in über 40 Sprachen übersetzt und ganz viele für Leinwand und Fernseh-Serien verfilmt.

Nun sind es sechsundzwanzig Kurzgeschichten, die der Autor an unterschiedlichste Schauplätze lokalisiert (Taipeh, Tokio, Marrakesch, Zürich, Wien, New York, Oxford, Pamplona, Oslo, Paris) und die manchmal auch nur Gedanken über wenige Zeilen sind. Im Gegensatz zu „Schuld“, „Verbrechen“ und „Strafe“ handelt es sich im Wesentlichen nicht (bzw. nur in einer Story) um Kriminalfälle aus seinen Zeiten als Strafverteidiger. In Anlehnung an „Kaffee und Zigaretten“ beinhaltet sein neuestes Buch wieder eine Sammlung von Begegnungen, Beobachtungen, Momenten, Notizen.

Man kann von Schirach lieben.

Für sein unglaubliches Repertoire an Erlebnissen.

Für seinen reduzierten Schreibstil mit dem Herunterbrechen der Sprache auf Hauptsätze (laut der WELT deshalb als der deutsche Raymond Carver bezeichnet). Eine Sprache, die es einem leicht macht, in einem angenehmen Flow zu lesen, zu folgen, zu verstehen, auszumalen und in die Geschichten eigene Farben und Bilder einzubringen.

Für Geschichten, die auf den Punkt kommen und die nach einem gezielten, aber doch unmerklichen Stimmungsaufbau schleichend auf Pointen im genau richtigen Augenblick zusteuern, oft als Finale furioso mit einem Schlüsselsatz oder einem Ein-Wort-Tusch am Ende der Erzählung.

Für Gedanken, die als fast musikalisch-harmonisches Fade-out ausklingen und einen sinnierend zurücklassen.

Für die Offenheit, dass ihm „seine eigenen Bücher fremd werden, wenn er über sie sprechen muss“ oder dass er sich bei Einladungen nicht als der „Ehrengast, sondern als der Hofnarr“ fühlt.

Man kann mit von Schirach leiden.

Wenn er von seiner Jugend in einer vom Nationalsozialismus gezeichneten Familie berichtet (sein Großvater Baldur von Schirach stand als Kriegsverbrecher vor dem Nürnberger Tribunal): „Ich war nicht der Sohn aus gutem Haus, weil es kein gutes Haus mehr war.“

Wenn er – völlig untypisch für von Schirach, der sein Privatleben immer schon zum absoluten Tabu-Thema macht – , die Scheidung seiner Eltern und den Tod des Vaters im Alkoholismus erwähnt.

Wenn er  – in Analogie zum Zitat des Don Fabricio aus einem seiner Lieblingsbücher „Der Leopard“ von Giuseppe di Lampedusa – zugibt, dass es auch bei ihm im Laufe seines Lebens nur „zwei bis drei Jahre“ waren, „in denen alles stimmte“.

Wenn schemenhaft eine verflossene Liebe auftaucht, die er einmal in New York kennenlernte, die er aber irgendwann verloren hat und offenbar schmerzlich vermisst. Ganz viel Melancholie beim feinsinnigen Juristen, der als Strafverteidiger mit mehr als einem schrecklichen Verbrechen konfrontiert war, von dem man aber auch weiß, dass er in der Vergangenheit unter depressiven Episoden zu leiden hatte. Da ist Thomas Manns Zitat aus dem Zauberberg „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“ schon fast eine Affirmation.

Man kann von Schirach hassen.

Wenn er unablässig darüber klagt, wie er sich nach der Theaterpremiere todmüde ins Hotel schleppt, nach einem langen Flug völlig erschöpft ist, nach wieder einer dieser vielen Lesungen mit ach so vielen anstrengenden Fragen keine Lust mehr auf Unterhaltungen jedweder Art hat.

Wenn er seine Freundin, die erfolgreiche Konzertpianistin, doch ach so sehr beneidet, dass sie es geschafft hat, aus dieser Marketing-Maschinerie auszusteigen, die Kunst und Künstler vergewaltigt.

Was für eine elegische Klage in extrem losgelöster Position und auf extrem hohem Niveau. Was für ein divenhaftes Gezeter eines Mannes im Olymp der Literatur. Jeder Jungautor würde liebend gerne sofort mit ihm tauschen und dieses ach so schreckliche Schicksal an seiner Statt erdulden. Und es gibt einen, der dieses schreckliche Autoren-Leben sofort ändern und aus diesem Hamsterrad der Vermarktung ad hoc aussteigen kann – Ferdinand von Schirach.


Genre: Belletristik, Erinnerungen, Erzählung, Roman
Illustrated by Luchterhand

Euphoria

„Spannend… intensiv, verführerisch, erotisch…“, so überschlagen sich Literaturkritiker diverser renommierter Medien bei ihren Rezensionen zu Euphoria. Kombiniert mit dem Wortklang des Titels und dem nach einem fiktiven Pseudonym klingenden Namen der Autorin verführen spätestens Keywords aus der Inhaltsangabe wie „Dreiecksbeziehung in exotischem Setting“ zu völlig unzutreffender Kategorisierung. Also Vorsicht vor voreiligen Schnellschlüssen, denn das Buch bietet aus diesem Genre relativ wenig, aber dafür viel mehr Höherkarätiges. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Erzählung, Gesellschaftsroman, Historischer Roman, Reisen
Illustrated by C.H. Beck München

Das Gleichgewicht der Welt

Auch wenn das Buch von Rohinton Mistry, einem kanadischen Autor indischer Herkunft, irgendwann zwischen 1966 und 1984 angesiedelt ist, hat seine Szenerie mit Sicherheit bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Es handelt von Zeiten, in denen Indira Gandhi (die nicht mit Mahatma Gandhi verwandt war) in Indien zwei längere Perioden als Premierministerin amtierte. Zeiten, in denen diese versuchte, dem fortwährenden politischen und humanitären Chaos des Subkontinents Herr/Frau zu werden.

In dieser Kulisse erschafft Mistry vier Protagonisten, deren teilweise schockierende Einzelschicksale sie für eine kurze, aber glückliche Zeit zusammenführen, bevor ökonomische, politische und menschliche Zwänge dazu führen, dass sich ihre Wege zum Teil wieder trennen.

Das Buch ist kein Werk für Liebhaber von Happy Ends, von rosaroten Brillen oder des „Eigentlich ist doch alles gar nicht so schlimm“-Slogans. Will man das alltägliche Leben in Indien beschreiben, ist dafür auch kein Platz. Die Realität ist Existenzkampf pur, der tägliche Kampf ums nackte Überleben. Ab Geburt das permanente Bestreben, nicht in die gnadenlose Maschinerie der politischen Willkür oder der Kasten-Fehden zu geraten. Jeder für sich unter 1,4 Milliarden anderen Indern.

Seine vier exemplarischen Lebensläufe baut Mistry gut auf und aus. Das gesellschaftliche Stimmungsbild ist hervorragend koloriert. Allerdings leidet der Gesamteindruck sehr stark unter seiner Liebe zu schier nicht enden wollenden Dialog-Passagen. Das ermüdet und lässt das Panoptikum an emotionalen Bildern gelegentlich verblassen.

Eine Frage begleitet den Leser durch das monumentale Werk. Bei all dem Elend, bei all den Schicksalsschlägen, bei all den menschlichen Katastrophen – wo ist denn nun das Gleichgewicht bei seinen Figuren oder gar auf dieser Welt?

Dazu muss man wissen, dass Rohinton Mistry der ethnischen Gruppe der Parsen angehört, die Anhänger der Lehre des Zoroastrismus sind. Der religiöse Glaube des Zoroastrismus bewertet die Schöpfung des Gottes Ahura Mazda prinzipiell erst einmal als gut. In dieser Welt ringt das Gutsein aber beständig zwischen den guten und den bösen Mächten, versucht also zwischen beidem ein Gleichgewicht zu erreichen. Beides und auch der permanente, alltägliche Kampf sind Inhalt des Lebens, das ob seines göttlichen Ursprungs genau so zu akzeptieren ist.

Neben der ein oder anderen Anspielung auf den Buchtitel im Text, legt Rohinton Mistry nur an einer Stelle einem Protagonisten eine schon eher erklärende Analogie in den Mund:“ … es sei alles Teil des Lebens, dass das Geheimnis des Überlebens darin bestehe, ein Gleichgewicht zwischen Hoffnung und Verzweiflung zu finden, sich auf Veränderungen einzulassen.“

Ein monumentales Werk, dass einen ein Stück weit in einer Stimmung der Erschütterung, der Hilflosigkeit und der Ausweglosigkeit zurücklässt. Oder kann die eine oder andere Figur im Roman Mistry’s mit ihrer existentialistischen Reduktion auf das Lebensminimum im Vergleich zu einer westlichen Gesellschaft mit ihrer permanenten Sinn- und Singularitätssuche auch Vorbildfunktion haben oder zumindest als relativierender Weckruf verstanden werden?


Genre: Belletristik, Erzählung, Kulturgeschichte, Roman
Illustrated by Fischer Verlag