Die geheimste Erinnerung der Menschen

 

L’art pour l’art

Als Ritterschlag in der französischen und frankophonen Literatur gilt der Prix Goncourt, der 2021 an den senegalesischen Schriftsteller Mohamed MBougar Sarr für seinen Debütroman «Die geheimste Erinnerung des Menschen» verliehen wurde. Im Mittelpunkt dieses autobiografisch inspirierten Bildungsromans steht der ebenfalls afrikanische Autor T.C. Elimane, der 1938 mit seinem schon bald als Kultbuch angesehenem «Labyrinth des Unmenschlichen» vom Feuilleton als ‹Schwarzer Rimbaud› überschwänglich gefeiert wurde. Der allerdings rassistisch angefeindete Autor war dann nach einem Plagiatsskandal untergetaucht und blieb, wie bald auch sein Buch, spurlos verschwunden. Genau dieses Buch fällt Diégane, dem jungen Ich-Erzähler des vorliegenden Romans, 2018 durch Zufall in die Hände. Und es fasziniert ihn so, dass er sich spontan auf die Suche macht und rastlos den wenigen Spuren des verschollenen T.C. Elimane folgt, während er seinerseits ein Buch schreibt. Der komplizierte Plot mit seinen elf trickreich ineinander verschachtelten Kapiteln hat folglich eine klassische Buch-im-Buch-Struktur.

Die Literatur als Kunstform spielt die Hauptrolle in diesem Roman, der mit unterschiedlichsten Erzählformen aus unterschiedlichsten Perspektiven um das Leben des verschollenen Autors und um das sagenhafte Buch kreist. Es ist nicht gerade leicht, den diversen Erzählebenen mit ihrer Thematik von Kolonialgeschichte, afrikanischer Identitätssuche und den vielschichtigen Problemen des Erinnerns zu folgen. Stilistisch unverkennbar ist dabei der Einfluss der postmodernen Erzähltheorie. Roland Barthes, aber auch Jean-Paul Sartre stehen Pate, und es wird immer wieder auch sehr ausführlich zitiert. Auskunft darüber gibt am Ende des Buchs eine Liste mit Nachweisen von Zitaten und längeren «Anleihen». Genannt sind dort die deutschen Übersetzungen von Roberto Bolaño, Aimé Césaire, Franz Fanon, Victor Hugo, Milan Kundera, Stephane Mallarmé und Thomas Sankara. Einige der Namen dürften prosaorientierten Romanlesern kaum geläufig sein, – aber da hilft ja das Internet weiter!

Ohne Zweifel spricht aus dem Erzählstoff des unkonventionellen Romans eine beachtliche Belesenheit des Autors, der in seinem Text dann auch immer wieder darauf hinweist, dass Lesen, und zwar viel lesen, die unabdingbare Voraussetzung für das Schreiben ist. Es werden aktuelle Diskurse zum Thema Identität – und zwar afrikanische – in den Erzählstoff einbezogen. In dem vielstimmigen Chor der Ich-Erzähler sind in Form von Notizen, Interviews, datierten Tagebuch-Einträgen und inneren Monologen zudem unzählige literarische Verweise enthalten. Der eigenwillige Autor lässt allerdings Vieles auch im Ungewissen, im Mysteriösen, sogar bei seinem komplexen Spiel mit Identitäten und Erinnerungen. Er regt so, immer wieder neu, die Phantasie seiner Leser an!

Jedem Romanleser, der einigermaßen belesen ist, dürfte klar sein, dass es den ‹Roman der Romane›, den einmaligen, alle Erwartungen weit übertreffenden Idealroman nicht gibt, man denke nur an die Vielstimmigkeit des Feuilletons! Aber gerade diese Schimäre ist das Thema von Mohamed MBougar Sarr, dessen Protagonist bei seiner abenteuerlichen Suche an den verschiedensten Schauplätzen unbeirrt einem Phantom nachjagt. Abgesehen von solch irrealer und damit zunehmend langweiligerer Thematik führt die fragmentarische Erzählweise in ein literarisches Labyrinth ohne Ausgang, in dem man ziemlich hilflos umherirrt. Es fehlt ganz einfach der Rote Faden in dieser Geschichte voller Verästelungen, deren Humor ebenso fragwürdig ist wie das Frauenbild, das hier machohaft gezeichnet wird. Fragwürdig sind auch die philosophischen Erkenntnisse und ‹Weisheiten›, die hier in vielen völlig sinnfreien Sätzen artikuliert werden und über die nachzudenken ebenfalls eine Sackgasse ist. Man hat den Eindruck, dass der senegalesische Autor, der in Frankreich Literatur und Philosophie studiert hat, stolz all sein akademisches Wissen in diesem Roman unterbringen wollte, wobei aber leider keine sinnstiftende Struktur erkennbar ist, – als Literatur mithin nur l’art pour l’art!

Fazit: mäßig

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Die Erweiterung

 

Googeln sinnlos

Mit «Die Erweiterung» hat der österreichische Schriftsteller Robert Menasse nach fünf Jahren den zweiten Band seiner als Trilogie geplanten, großen EU-Erzählung vorgelegt. Der Roman stellt keine Fortsetzung des 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Erfolgsromans «Die Hauptstadt» dar. Er befasst sich vielmehr, worauf schon der Buchtitel hinweist, mit EU-Beitrittswünschen von Ländern des Westbalkans, hier speziell von Albanien. Insbesondere Polen lehnt aber die Aufnahme eines muslimischen Landes in die Europäische Union vehement ab. Nach Brüssel, Zentrale dieses aberwitzigen Bürokratie-Molochs, liegt jetzt also der Fokus des europäisch engagierten Autors auf den Außenrändern der Gemeinschaft. Für die anstehenden Erweiterungen hat die EU eine eigene Behörde geschaffen, der Moloch wächst also munter weiter.

Der umtriebige albanische Ministerpräsident verfolgt für die Verhandlungen mit Brüssel eine nationalistische Strategie. Er will ein ‹Groß-Albanien› schaffen mit den mehrheitlich albanischen Regionen im Kosovo, West-Mazedonien und anderen Randgebieten, quasi eine albanische Gemeinschaft von Regionen innerhalb der Europäischen Union. Symbol für ‹Groß-Albanien› soll der Helm des albanischen Volkshelden Skanderbeg werden, der aber leider im Besitz eines Museums in Wien ist und dort ausgestellt wird. Restitutions-Ansprüche wurden geltend gemacht, blieben aber erfolglos. Um Druck in Brüssel zu machen weist der albanische Ministerpräsident ferner darauf hin, dass China großes Interesse an den wertvollen, seltenen Bodenschätzen Albaniens zeigt und auch den wichtigsten Handelshafen bei Durrës kaufen will, – als Teil seines Seidenstraße-Projekts. Da müssten doch bei der EU die Alarmglocken klingeln und der albanische Beitritt nur noch eine reine Formsache sein, glauben der Ministerpräsident und seine engsten Berater!

Der ‹dicke› Gesellschaftsroman überrascht mit einem spannenden Plot, der den Leser von Anfang an regelrecht hineinsaugt in das aberwitzige Geschehen, das bei aller Übertreibung doch auch einen Einblick in die realen Usancen eines gigantischen Verwaltungs-Apparates bietet. Robert Menasses sorgfältig durchdachte Geschichte wird rasant in diversen Handlungs-Strängen erzählt, seine Figuren agieren glaubwürdig in den häufig wechselnden Szenen. Sogar eine transnationale Liebesgeschichte fehlt nicht. Die albanische Dame erzählt ihrem deutschen Verehrer, wie sie zu ihrem seltsamen Vornamen gekommen ist: Ihr Vater hat eine zeitlang in Deutschland gearbeitet, in München, und war seither ein glühender Fan des FC Bayern München. «Er wollte, dass ich so heiße wie sein geliebter Fußballclub … Der Standesbeamte schrieb den Namen so, wie er ihn hörte, in mein Geburtsdokument: Baia Muniq.» Es gibt immer wieder Gelegenheit zum Schmunzeln, aber der oft ironisch, teils sogar sarkastisch erzählte Roman vermittelt auch ein sorgsam recherchiertes Bild von den Vorgängen im aufgeblähten Brüsseler Apparat mit all seinen politischen Ränkespielen und nationalen Animositäten. Die Robert Menasse nicht müde wird anzuprangern, nicht nur in seinen Romanen, sondern auch in Essays, Vorträgen und Interviews, – er ist nun mal ein glühender Europäer.

«Die Erweiterung» enthält in ihrem eng an die Realität angelehnten und in der Gegenwart angesiedelten, politischen Erzählstoff auch Kriminalistisches oder Historisches. Die Fülle von fremdsprachigen Einschüben, geschichtlichen Anspielungen oder europäischen Verstrickungen erfordert beim Lesen sehr häufig eine Internet-Recherche. Man hört aber schon bald auf zu googeln und liest ohne Verständnis-Probleme einfach über diese Stellen hinweg. Sehr ärgerlich hingegen ist allerdings der chaotische Schluss, bei dem der Autor wohl keine Lust mehr hatte und seine Geschichte einfach sinnfrei, regelrecht klamaukartig ausklingen lässt. Das Lesevergnügen wird jedenfalls brutal abwürgt. Es fehlt diesem Roman also ein der übrigen Textmasse adäquates, gut durchdachtes Finale. Was für ein ärgerliches Manko für einen ansonsten erfreulichen Roman!

Fazit: lesenswert


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Geschichte eines Kindes

 

Grandios daneben gelungen

Der neue Roman von Anna Kim beruht auf einem wahren Fall. Ihre «Geschichte eines Kindes» erinnert in seinem zweisträngigen Aufbau an Ursula Krechels «Landgericht». Ging es bei Krechel um Judenverfolgung, geht es bei der in Südkorea geborenen und dann in Deutschland und Österreich aufgewachsenen Autorin um Rassen-Diskriminierung. Die ihr selbst biografisch nachempfundene Ich-Erzählerin Franziska folgt im Januar 2013 einer Einladung und geht als ‹Writer in Residence› in den Mittleren Westen der USA, nach Green Bay im Bundesstaat Wisconsin. Sie flieht schon bald aus dem kalten Zimmer, das ihr das College zugewiesen hat, und landet als Untermieterin bei der Ehefrau des im Krankenhaus liegenden Daniel. Anna Kim wie auch Ursula Krechel klagen die Ausgrenzung ethnischer Minderheiten an, hier erzählerisch dargestellt durch wahrhaft aberwitzige Protokolle über die Recherchen von Sozialdienst, Diözese und Polizei, – erzählt wird von «Rassismus und Segregation», wie es im Klappentext heißt. Der soziologische Fachbegriff steht für Entmischung, deren Ziel es ist, bei der gesetzlich vorgeschriebenen, rigorosen Rassentrennung keinerlei rassische Vermischung zuzulassen im «weißen» Distrikt, immer streng nach dem Motto «wehret den Anfängen»!

Im Jahr 1953 wird in der amerikanischen Kleinstadt Green Bay ein uneheliches Kind geboren, erhält von seiner Mutter den Namen Daniel und wird von ihr sofort zur Adoption freigegeben, – sie will das Kind, auch später niemals sehen. Anzumerken ist, dass die Rassentrennung in den USA erst 1964 mit dem «Civil Rights Act» aufgehoben wurde. Der Sozialdienst der Erzdiözese beginnt sogleich mit der Klärung aller in derartigen Fällen erforderlichen Details. Es scheint den Betreuerinnen, dass der zunächst im Geburtskrankenhaus und anschließend in einem Pflegeheim untergebrachte kleine Daniel negroide Gesichtszüge aufweist. Carol, seine zwanzigjährige Mutter, verweigert aber hartnäckig jede verifizierbare Auskunft über den Vater. Deshalb wird eine Sozialarbeiterin speziell damit beauftragt, den Kindsvater zu ermitteln, außerdem wird auch ein Arzt zur Bestimmung der Rasse des Babys herangezogen.

Gleich zu Beginn des Romans wird auf fünfzig Seiten protokollartig, mit Datum versehen und mit  Schreibmaschinen-Schrift in Flattersatz grafisch deutlich abgehoben, über die aberwitzigen Versuche zur Bestimmung der Rasse von Klein-Daniel berichtet. Es sei kaum möglich, für ihn Adoptiveltern zu finden, wenn er nicht eindeutig und nachweisbar der weißen Rasse angehöre, heißt es. Selbst wenn den weißen Pflegeeltern die Rasse egal wäre, bestehe in dem ausnahmslos weißen Distrikt die Pflicht zur Segregation, denn die Entmischung der Rassen sei hier nun mal soziologisch geboten. Daniel sollte also auch nicht von weißen Pflegeeltern adoptiert werden, denen die Rasse egal ist, Eltern und Adoptivkind seien sonst lebenslang von schmerzlichen gesellschaftlichen Ausgrenzungen bedroht.

Die Autorin bleibt seltsam distanziert zu ihrer berührenden Geschichte, deren zweisträngiger Aufbau verwirrend ist, weil jede Verbindung zwischen den zeitlich sechzig Jahre auseinander liegenden Erzählsträngen fehlt. Das «Kind» aus der Adoptionsphase und der abwesende Ehemann Daniel, der nach einem Schlaganfall im Pflegeheim liegt, werden in mehreren Abschnitten, im Wechsel und recht unvermittelt, einander gegenüber gestellt, – es scheinen zwei verschiedene Romanfiguren zu sein. Die in den Protokollen durchaus gebotene sprachliche Nüchternheit hat leider auch auf die Story der Ich-Erzählerin abgefärbt, die emotional unterkühlt bleibt. Man fragt sich außerdem auch, inwieweit denn Daniels Leben durch seine nichtweiße ethnische Herkunft tatsächlich beeinträchtigt war. Den Leser erwartet ein schwer zu lesender Text mit einer als Ballast empfundenen Fülle von Details, mit minutiösen Personen-Beschreibungen zum Beispiel, die nichts zum Verständnis beitragen und mit der Zeit zunehmend ermüden. Der Stoff dieses Buches hätte mehr hergegeben, so aber ist dieser Roman nur einfach grandios daneben gelungen, – schade!

Fazi: miserabel


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Unser Deutschland Märchen

 

Unser Deutschland Märchen

Der autofiktionale Debütroman des bisher mit seiner Lyrik bekannt gewordenen Schriftstellers Dinçer Güçyeter trägt den deskriptiven Titel «Unser Deutschland Märchen». Vielstimmig beschreibt der am Niederrhein in Nettetal, also in Almanya geborene Autor in seiner Familiengeschichte, wie die Einwanderer aus Anatolien mit der harten Realität konfrontiert wurden in dem gelobten Land, «wo das Geld an den Bäumen hängt und man es nur zu pflücken braucht». Der mit etlichen Fotos der Familie collageartig angereicherte Roman wurde 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. «Traditionell wie innovativ queer erzählt, reißt einen diese Einwanderer-Geschichte mit ihrer Emotionalität und großen politischen Bedeutung von Anfang an mit» heißt es in der Begründung der Jury.

Dinçer Güçyeter erzählt in 68 kurzen, mit oft amüsanten Überschriften beginnenden Kapiteln chronologisch und in Form von Rückblicken seine Familiengeschichte. Meistens wird aus der Sicht des Autors selbst erzählt, sehr häufig berichtet im Wechsel auch seine Mutter Fatma, die Erzählerstimme wird jeweils benannt. Eher selten treten zudem weitere Figuren als Erzähler auf, und das reicht bis hin zur Urgroßmutter, die das erste Kapitel bestreitet und schon fast lapidar von der Gesellschaft in Anatolien anfangs des vorigen Jahrhunderts berichtet. Fest verwurzelt mit den archaischen Traditionen, Sitten und Gebräuchen geraten die von Deutschland dringend benötigten Einwanderer in Konflikte mit der ihnen fremden Gesellschaft. Sie scheitern an den Herausforderungen der modernen Arbeitswelt, beherrschen die Sprache nicht, werden als billige Gastarbeiter ausgenutzt.

Viele fristen in Almanya als Hilfsarbeiter, Handlanger oder Putzfrauen ein hartes Leben, das ihnen alles abverlangt. Fatma arbeitet in der Fabrik, macht oft zwei Schichten hintereinander, fährt nach Feierabend aufs Land und schuftet noch bis zur Dunkelheit als Erntehelferin. Tragisch ist für sie, dass ihr Mann ein fauler Nichtsnutz ist, der mit seiner gepachteten Kneipe nicht nur nichts verdient, er lässt großzügig anschreiben, verjubelt das Geld oder leiht es großzügig seinen fragwürdigen Kumpels und sieht es dann nie wieder. Und Fatma erträgt das alles geduldig, sie ist ja nur die Ehefrau und steht eine Stufe unter ihm, beugt sich widerspruchslos den archaischen Konventionen. Ihr Sohn aber soll es mal besser haben, dafür schuftet sie und ebnet ihm den Weg, beschafft ihm eine Lehrstelle als Mechaniker in ihrer Fabrik. Dinçer jedoch merkt schon bald, dass er so nicht leben möchte, er fühlt sich zur Literatur hingezogen, liest viel und schreibt Gedichte. Seine Mutter kann die Vorstellung des inzwischen Dreißigjährigen vom erfüllten Leben nicht verstehen. Zu der Tragik mit ihrem nichtsnutzigen Ehemann kommt nun auch noch die Enttäuschung über den Sohn hinzu, der mit seiner künstlerischen Neigung beruflich auf eine brotlose Kunst hinsteuert, also nach ihrer Ansicht scheitern wird. Denn der für ihn erhoffte Aufstieg, der ersehnte Wohlstand sei so nicht zu erreichen, wirft sie ihm entsetzt vor!

Der Zusammenprall westlicher und östlicher Kultur, der deutschen und der anatolischen, wird in diesem Roman in einem äußerst eigenwilligen Stil aus Monologen, Gedichten, Briefen, Theaterdialogen, Träumen und gebetsartigen Einschüben thematisiert, selbst ein «Lied der Huren» ist dabei. Das Buch bekommt durch die Problematik der Migration und die islamistischen Demonstrationen, die in der absurden Forderung nach einem Kalifat in Deutschland gipfeln, gerade jetzt eine ganz unerwartete Aktualität. Es gelingt dem Autor in bewundernswerter Weise, auch mit poetischen Mitteln, eindringlich die Unvereinbarkeit der konträren Moral-Vorstellungen und Gesellschafts-Systeme zu verdeutlichen. Das Lob für diesen eigenwilligen, stilistisch jenseits aller Konventionen stehenden Roman werden allerdings viele Leser, die geläufige Prosa erwarten, partout nicht nachvollziehen können!

Fazit: mäßig


Genre: Roman
Illustrated by mikrotext

Der Freund

Memoir über die Trauer

Die US-amerikanische Autorin Sigrid Nunez wollte schon als Kind Schriftstellerin werden, aber erst in ihrem 44ten Lebensjahr erschien 1994 ihr Debütroman. Nach sechs weiteren Veröffentlichungen gelang ihr 2018 mit «The Friend» schließlich der literarische Durchbruch. In deutscher Übersetzung erschien das Buch unter dem Titel «Der Freund», vom Verlag als Roman bezeichnet, was manche Kritiker beanstandet haben. Denn es handelt sich unverkennbar um ein Memoir, also ein aus der Ich-Perspektive erzähltes Sachbuch. Thematisiert wird darin der Verlust, den der Suizid eines geliebten Menschen bedeutet, wobei hier neben der trauernden Erzählerin auch der plötzlich herrenlos gewordene Hund ihres besten Freundes zutiefst leidet. Sie nimmt die achtzig Kilo schwere Deutsche Dogge notgedrungen bei sich auf, obwohl Hunde laut Mietvertrag nicht erlaubt sind und sie damit rechnen muss, ihr preiswertes kleines Appartement in New York City zu verlieren.

Es kann kaum überraschen, dass die namenlos bleibende, einsame Ich-Erzählerin eine akademisch gebildete Schriftstellerin und Dozentin für «Creative Writing» ist – und dass auch ihr lebensmüder Freund Schriftsteller war. Er hat, was jeden Freitod für Hinterbliebene besonders schmerzlich macht, keine Zeile über die Beweggründe für seine Verzweiflungstat hinterlassen. Es waren wohl bekannt gewordene, sexuelle Eskapaden mit seinen Studentinnen, darf vermutet werden. In einer essayistisch knappen und sachlichen Sprache schildert die Autorin die Annäherung der vom Schicksal aneinander gefesselten Zufallsgemeinschaft, die ihre Trauer auf tierische und menschliche Weise verarbeitet. So bleibt es nicht aus, dass der Leser tief hineingezogen wird in die Nöte des Hundes, der mit seinem Herrchen die Leitfigur verloren hat. Dieses nonverbale Leiden der Kreatur wird an vielerlei Beispielen immer wieder aufs Neue thematisiert, zunehmend ergänzt und ersetzt durch die behutsame Annäherung der tierliebenden Erzählerin an ihren neuen Lebensgefährten.

Auffallend wenig erfährt man über die Beziehung der Schriftstellerin zu ihrem einstigen Freund. Zwar ist von Liebe die Rede, aber der Verlust scheint auf der menschlichen Ebene eher unbedeutend zu sein. Es fehlt zwar der Gesprächspartner und auch der Mentor in literarischer Hinsicht, aber Liebesschmerz oder Sehnsucht wird allenfalls angedeutet. Dafür glänzt dieses Memoir mit einer Fülle von geistreichen Zitaten, Anekdoten und Hinweisen auf die Literatur, eine oft auch humorvolle Kritik an dieser speziellen Branche selbst und an ihren Irrtümern und Schwächen. Leser also, die sich, den literarischen Kern ihrer Passion betreffend, als «belesen» bezeichnen können im wahrsten Sinne des Wortes, kommen hier voll auf ihre Kosten! Es wimmelt nur so von Textauszügen, aber auch von subtilen Andeutungen, die nur versteht, wer viele der Klassiker gelesen hat, die diese US-Amerikanerin in ihren Kanon aufgenommen hat und die sie zu Recht als wichtig ansieht.

Sigrid Nunez wendet sich zumeist im inneren Monolog an den toten Freund, Vieles ist außerdem tagebuchartig oder essayistisch erzählt. Nach dem Motto «Sex sells» ist mit dem ungehemmten Liebesleben des promiskuitiven Freundes überflüssiger Weise auch noch abstoßende Verbalerotik eingestreut in diesen «Roman ohne Plot». Das assoziative Erzählen erschließt dem Leser auf subtile Art die eigentliche Thematik des Buches, Trauer und das Zusammenstehen in seelischer Leere. Stilistisch ist neben dem Assoziativen die episodische Anlage des Textes kennzeichnend, er besteht im Wesentlichen aus aneinander gereihten Reflexionen und Erzählschnipseln. Sie bilden bunt gestreut und zumeist ohne erkennbaren Zusammenhang den Erzählstoff, das Poetische vermischt sich hier manchmal unvermittelt mit dem Poetologischen. Dazu gehören denn auch Passagen, in denen die Autorin über die Entstehung des Textes selbst reflektiert, ihre Schreibarbeit also mit einbezieht in ihr Memoir.

Fazit: lesenswert


Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Zuleyka

Als Fan von Bernhardine Evaristo hatte ich die Erwartung, in diesem Buch etwas zu lesen, was originell und witzig ist, aber auch geprägt von der Lebenserfahrung einer Frau an der Schwelle zum Rentenalter. Vielleicht in Richtung Altersmilde?

Stattdessen lese ich von Zuleika, auf Arabisch: die Verführerin, einer strahlenden Schönheit mit den Gedanken eines meinungsstarken Teenagers. Sie macht sich über alle Erwachsenen lustig, die Eltern, aber vor allem über den reichen Römer, alt und fett, der sie, die Schwarze geheiratet hatte, als sie noch nicht einmal ein Teenager war. Und dann ist Alles noch in Versform geschrieben!

Sie lebt in Londinum, als die Stadt von den Römern besetzt war, ihre Eltern sind Migranten aus dem Sudan; der Vater ist ein inzwischen arrivierter Kaufmann, der stolz ist, seine Tochter so gut verheiratet zu haben.

Felix, der Gatte, ist meist geschäftlich unterwegs, sie langweilt sich in ihrem Palazzo, mit diesen ganzen Dienstboten. Sie lernt Latein, liest die Klassiker, die es 200 Jahre vor Christus gab—und macht gerne lateinische Einschiebsel in ihren Texten. Das Buch ist in Kapiteln geschrieben, die einzelne Gedanken ausführen, manchmal nur in der Länge eines Gedichtes. Den roten Faden muss die Leserin sich erspinnen.

In ihrem Netzwerk ist vor allem die Busenfreundin Alba, verheiratet und Mutter, und immer bereit zu Seitensprüngen, deren Schilderungen von Eroberungen sie gerne zuhört. Die findet:

„Ehrlich, kaum hat so‘n Mädchen bisschen Bildung,

wird gleich, das ganze Leben rasend kompliziert.

Du schürfst dermaßen tief, dabei ist die Lösung

ganz einfach: DU GEHÖRST MAL GUT GEFICKT!“

Das überzeugt Zuleika und sie sucht. Als sie sich in den Kaiser verliebt, der sie im Guildhall Theater lange und begehrend angeguckt hatte, wird darüber im „Dum vivimus, vivamus

(Solang wir leben, lasst uns leben)

ODER: GIRLS TALK

gesprochen, auch mit einer anderen Freundin, mit der älteren Venus, die sich gerne in Kneipen aufhält, in der „die Unterwelt“ verkehrt.

Derweil schickt der Kaiser ihr Blumen, die Tanio, der Diener, diskret überreicht. Sie hat bei Tanio etwas gut, hatte sie ihm doch die Frau vermittelt und ausgesucht, nach einer „Shortlist. meine Kriterien willkürlich angeordnet: Schönheit, Alter, Dispositio.“ Ein weiterer Vorzug von Mucia, der ausgesuchten Frau: „sie war schon so reif,

um die erkennbaren faschistischen Tendenzen

unseres versklavten Kleindiktators einzudämmen.“

Bei der Verliebten wird der Kaiser zum:

„Mein Legionarius: ich will dich auf zwei Weisen, leg den Lorbeerkranz ab, lass die lila Roben zu Boden und komm nackt zu mir als Mann…“

Sie lebt auf, gibt sich der Lust hin, in einem Gedicht gibt sie die Domina, die ihn fesselt und verlangt, dass er sie seine Herrscherin nennt, das bringt sie zum Höhepunkt.

Dabei weiß sie, dass Felix sie nun vergiften wird. Schon nach der Hochzeitsnacht spricht sie von Todessehnsucht. Und so kommt es, Tanio verabreicht ihr Arsen, und als Alba sie noch einmal besucht, ergibt sie sich dem Schicksal, als wäre sie eine griechische Tragödin. Und dann gibt es einen Epilog: Vivat Zuleika.

Obwohl ich nicht zur Zielgruppe zähle, fand ich es immer wieder, wie erwartet, originell und witzig.

Das Lesen in Versform bin ich nicht gewöhnt. Hat die Übersetzerin Tanja Handels es gut gelöst? Zufällig war ich in England und wollte das Buch „Zuleika“ einsehen, im gut sortierten Buchladen war es nicht bekannt.

Der Grund: Es ist 2001 unter dem Titel „The Emperor’s Babe“ erschienen und nicht mehr bekannt. Nun grübele ich über die Frage, was Frau Evaristo mit Vierzig dazu brachte, so einen Backfischroman mit Sehnsucht nach Männern zu schreiben, nachdem sie selbst viele Jahre lang weibliche Sexpartner hatte. Wie ein recycelter Teenager? Aber inzwischen weiß ich: die Übersetzung von Frau Handels ist wieder sehr gut!


Genre: Roman
Illustrated by Tropen Verlag

Paradais

Wenn es eine Autorin mit zwei ihrer vier Romane auf die Short List des Internationalen Booker Price schafft, lässt das aufhorchen. Vielleicht geschah diese Huldigung auch ein Stück weit deshalb, weil Fernanda Melchor Mut hat. Obwohl sie an manchen Schauplätzen ihrer Romanhandlungen aus Angst um ihr Leben nicht recherchieren konnte, schreibt sie dennoch über all die brutalen Drogenkriege, die allgegenwärtigen Misshandlungen von Frauen und die deprimierende Ohnmacht gegenüber den endlosen Missständen in ihrer Heimat Mexiko. So tut sie es auch in „Paradais“. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Gesellschaftsroman, Kriminalliteratur, Roman
Illustrated by Wagenbach

Iris Wolff- Lichtungen

Das Buch beginnt auf frischer Fahrt: mit einer Fähre reisen Lev und Kato. Lev heißt Löwe und ist der Name des jungen Mannes, der mit Kato auf einer großen Reise ist. Der Roman ist aus seiner Sicht geschrieben, wenn auch nicht in Ich-Form. Kato lebt seit Jahren in Westeuropa, verdient gut mit ihrer Straßenmalerei, gemalt hatte sie schon als Kind. Lev hatte mit Waldarbeitern gearbeitet. Nun ist er auch hierhergekommen, weil sie geschrieben hatte: „Wann kommst du?“ Und sie haben sich wiedergefunden, an ihre früheren Gemeinsamkeiten angeknüpft und es genossen.

Heute hat er ihr erklärt, dass er zurückkehren müsse, und sie antwortete, dass sie mitkommen wolle. Das war so unerwartet, dass er seinen Mut zusammennimmt, nachfragt. Und sie antwortet mit einem klaren „Ja.“ Wie es dann mit den beiden weitergeht, wenn sie gemeinsam in Rumänien, genauer in Siebenbürgen, leben würden? Die erhoffte Geschichte der gemeinsamen Rückkehr kommt nicht.

Dafür geht es schrittweise zurück in ihre gemeinsame Vergangenheit. Die einzelnen Stufen werden mit Denksprüchen in verschiedenen Sprachen, rumänisch, siebenbürgisch, einmal gar ungarisch oder mit einem hebräischen Bibelspruch eingeleitet. Deren Sinn blieb mir, trotz Übersetzungen, meist verschlossen.

Beide kamen aus schwierigen Familienverhältnissen. Ihre Verbindung begann, als Levs bettlägerig war, da seine Beine gelähmt waren, und sie, als gute Schülerin, ihn besuchte, um das in der Schule Versäumte zu bearbeiten. Zwei einsame Jugendliche finden sich. Alles wird in einer traumhaft schönen Sprache beschrieben: Beobachtungen der Natur, der Hügellandschaft, der Jahreszeiten. So schön, wie im vorangegangenen Buch „Die Unschärfe der Welt“. Oft wird auch geträumt.

Auch Politisches wird behandelt: Wie lebt es sich in einem Vielvölkerstaat? Was ist Zugehörigkeit? Die Frage wird schon im Alltäglichen vorbereitet, wenn Lev versucht, den Kater zu streicheln, und der sich abwendet. „Immer galt es Zeichen zu suchen, ab ein Tier einen liebt oder ob man sich diese Zugehörigkeit nur einredet.“ Der Großvater weiß, dass es nichts anderes ist als eine Entscheidung. Er hat dann entschieden, zu fliehen, Lev hatte ihn an die Grenze zu einem Schleuser gebracht, und hat ihn nun in Wien besucht, als er auf dem Weg zu war. Alle diese Beschreibungen gesellschaftlicher Verhältnisse sind in ihrer dichten Sprache abgebildet.

Gleichwohl wurde das Lesen durch die vielen Details zunehmend unschlüssig. Ohne Levs Beinlähmung als Auslöser hätte es die Beziehung nicht gegeben. Deren Ursache wird immer wieder angedeutet: Die Mutter meint, der Opa wäre verantwortlich, Lev beruhigt ihn, dass er ihm nichts vorwerfe, aber letztlich erfahren die Leser es nicht. Höchstens, dass es ganz unbestimmte Ursachen sein könnten, vielleicht so etwas Psychosomatisches?


Genre: Aufwachsen in einer Diktatur, Historischer Roman, Langjährige Beziehungen, Roman
Illustrated by Klett Verlag

Löwenherz

Löwenherz. Die Trilogie Bagage-Vati-Löwenherz beschäftigt sich mit ihrer Familie. Der dritte Band ist ganz ihrem Bruder Richard gewidmet, der durch den frühen Tod seiner Mutter mehr aus dem Gleichgewicht rät als seine drei Schwestern. Oder gibt es noch einen anderen Grund?

Putzi: Licht seines Lebens

Eines nimmt die Autorin gleich vorweg: Richard wurde nur drei Jahre älter als Alan Wilson, der Sänger von Canned Heat. Damit gehört er, der Schriftsetzer und Maler eindeutig nicht zum Club 27. Aber sein Leben war ähnlich intensiv und kurz, er beendete es mit nur 30 Jahren. Seine Schwester Monika erzählt seine Geschichte in klaren und einfühlsamen Worten, eine Biografin wie man sie sich nicht anders wünschen könnte. Und doch verheimlicht sie nichts, verschont auch sich selbst nicht, macht sich Gedanken über ihren Anteil an seinem frühen Tod. In herzzerreißenden Episoden erzählt sie, wie sich Richard um “Putzi” aka Rosi kümmerte. Das Kind war ihm von einer wildfremden Frau, Kitti, anvertraut worden und er behandelte sie wie sein eigene Tochter. Eines Winters wird sein Hund, Schamasch, von einem Jäger erschossen und Kitti stürmt mit zwei Henkern seine Wohnung, um ihm Putzi wieder wegzunehmen. Zu dieser Zeit hat Richard zwar eine Freundin, Tanja, die ihn noch fünf Jahre auffangen kann, aber dann geschieht doch das Unvermeidliche. Nach seiner Mutter, Schamasch nun der dritte Verlust. Das kann einen Menschen für immer knicken. Richard entscheidet das “für immer”. Niemand sonst hat schuld.

Löwenherz: Liebe und Angst

Wie soll man mit so einem Verlust umgehen? Mit den Schuldgefühlen, den Versäumnissen, den Vorwürfen? Am schlimmsten wiegt eine ihrer Erinnerungen, als ihr einfällt, dass Richard ihrer Schwester und ihr einmal als Baby vom Wickeltisch gerollt war. Das Geräusch klang noch nach als Richard längst erwachsen war. Aber die Folgen des Sturzes könnten seine autistische Art erklären, denn Richard kann sich nicht mitteilen oder erfindet einfach Geschichten. Ein “Schmähtandler”, Gschichtldrucker. Münchhausen, Luftikus. “Was herrscht für ein Zustand, wenn einer den letzten Knopf zuhat, aber trotzdem keine Krawatte?” frägt sie sich. Vielleicht bringt es dieser Satz auf den Punkt, was Richard ausmachte. Liebe und Angst gehören zusammen, heißt es an einer Stelle, “die eine befördert die andere, die andere verdirbt die eine”. Die Liebe zu Putzi hielt ihn aufrecht, den Richard, aber die Enteignung dieser Lieber war wohl zu viel für sein schwaches Herz. Monika Helfer beschreibt das Leben ihres Bruders, als wäre man selbst dabei gewesen. “Löwenherz” ist ein Buch, das einen in den Sessel drückt und weiterlesen lässt, bis es leider zu Ende ist. Vielleicht ist Bücher schreiben nicht die einzige Möglichkeit ein Trauma aufzuarbeiten, aber wohl die nachhaltigste. Denn so hilft es auch anderen.

Monika Helfer
Löwenherz. Roman
2023, 2. Auflage, 192 Seiten, Format: 11,5 x 19,0 cm
ISBN: 978-3-423-14879-5
dtv
12€


Genre: Biographien, Roman
Illustrated by dtv München

Das Totenschiff

Der Diogenes Verlag gibt einige der Bücher des geheimnisumwitterten B. Traven neu heraus. Eines davon ist “Das Totenschiff” mit einem Nachwort des Krimiautors Volker Kutscher. “Darum soll der schöpferische Mensch keine andere Biografie haben als seine Werke”, zitiert Kutscher Traven, der gleichzeitig weltberühmt und dennoch zeitlebens unbekannt war. Denn keiner kannte seine wahre Identität.

B. Traven: Aufregende Biografie

“Das Abenteuer jeglicher Romantik entkleidet”, so beschreibt Kutscher B. Traven’s Roman im Nachwort der vorliegenden Ausgabe. B. Traven (1882–1969), der bis 1915 unter dem Pseudonym Ret Marut als Schauspieler und Regisseur in Norddeutschland tätig war, beteiligte sich an der Münchner Räterepublik von 1919. Nach deren viel zu schnellen Ende wurde er selbst zum Verfolgten, obwohl er laut einigen Hinweisen der uneheliche Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau (und damit der Halbbruder von Walther Rathenau war, der 1922 als deutscher Außenminister ermordet wurde) war. Nach seiner abenteuerlichen Flucht nach Mexiko schrieb er 12 Bücher und zahlreiche Erzählungen, die in Deutschland Bestseller waren und in mehr als 40 Sprachen veröffentlicht und weltweit über 30 Millionen Mal verkauft wurden. Viele davon wurden auch verfilmt, etwa “Der Schatz der Sierra Madre” (das Buch ist ebenfalls bei Diogenes in einer Neuauflage erhältlich) oder das eben “Das Totenschiff”. 1951 wurde er mexikanischer Staatsbürger, heiratete 1957 Rosa Elena Luján, seine Übersetzerin und Agentin, und starb am 26. März 1969 in Mexiko-Stadt.

Totenschiff: Roman ohne Wiederkehr

In “Das Totenschiff” hat B.Traven die Erfahrungen des amerikanische Seemanns Gales niedergeschrieben, die einer Höllenwanderung in Dantes Inferno gleichen. Gales verpasst in den Kneipen Antwerpens sein Schiff, auf dem sich sein einziges Identitätsdokument befindet. Dadurch wird er zum Staatenlosen und seine Odyssee beginnt. Über mehrere europäische Landesgrenzen abgeschoben landet er schließlich in Barcelona und heuert auf dem Schiff “Yorikke” an. Das Schiff hat eine illegale Ladung und Besatzung und zudem höllische Arbeitsbedingungen. Das besondere an diesem Roman B.Travens ist aber nicht nur die Handlung, sondern vor allem die Sprache mit der er sich auf die Seite der Ausgebeuteten und Ausgeplünderten schlägt. Wenn das Schiff, das die Heimat des Seemanns einfach ohne ihn wegfährt, “dann kommt zu dem Gefühl der Heimatlosigkeit das tötende Gefühl des Überflüssigseins”, schreibt er. Aber die eigentliche Tortur ist nicht dieses Gefühl, sondern die Verzweiflung in der er sich der Yorikke unterordnet, wo er als Kohleschlepper malocht. Die Beschreibung dieser Arbeit ist so plastisch, dass man sich selbst im Purgatorium Dantes wähnt. Aber auch der gleichzeitig dabei transportierte Witz und die ehrliche, schnörkellose Sprache erinnern an andere Meister des Genres. Gleichzeitig strahlt aber auch eine alles durchdringende Lebensfreude durch B.Travens Zeilen, die einzigartig ist. Mit viel Sympathie für die Verlorenen dieser Welt und Weisheit to go: “Aus Liebe kann nicht nur Hass werden, sondern, was viel schlimmer ist, aus Liebe kann Sklaverei werden.

Weitere Werke von B. Trafen im Diogenes Verlag: Der Schatz der Sierra Madre, Die weiße Rose, Die Baumwollpflücker, Die Brücke im Dschungel, Der Marsch ins Reich der Caoba, u.v.a.m.

B. Traven
Das Totenschiff
Mit einem Nachwort von Volker Kutscher
2023, Hardcover Leinen, 416 Seiten
ISBN: 978-3-257-07269-3
Diogenes Verlag
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Stimmen im Wald

Nach welchem ausgeklügelten Prinzip wählt man als literaturbegeisterter Vielleser sein nächstes Buch aus? Man sitzt in einer Bäckerei in Kapstadt, entdeckt im Buchregal ein Taschenbuch mit deutschem Titel, nimmt es aus Langeweile einfach mal in die Hand, entdeckt auf der ersten Innenseite eine handschriftliche Widmung des Autors für Hannelore und Hartmut, et voilà – der neue Lesestoff ist gefunden. Weiterlesen


Genre: Kriminalromane, Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Nachtfrauen

Nachtfrauen. Die beiden Geschwister Mira und Stanko stehen vor einer herausfordernden Aufgabe. Ihre Mutter ist alt und soll auf den Auszug aus ihrem Haus im kärntnerischen Jaundorf vorbereitet werden. Da weder Mira noch Stanko sich um sie kümmern können, wird es für die alte Dame zu gefährlich alleine zu leben.

Nachtfrauen: Verzeihen und Vergeben

Du wirst dich um Mutter kümmern müssen“, sagt ihr Bruder zu ihr. Aber Mira ist längst aus der Enge des Dorfes in die Weite der Großstadt Wien gezogen, wo sie einen Mann und eine Arbeit hat. Sie kann also gar nicht zurückkommen und sie will es auch nicht. Zwischen ihrer Mutter Anni und ihr bestehen immer noch Differenzen, die nun endlich durch einen neuen Besuch beseitigt werden könnten. So packt sie also ihre Koffer und reist zurück ins “Innere ihrer Kindheit“, wie sie sagt: “Sie konnte nicht einmal behaupten, in die Fremde zu reisen, wenn sie nach Hause fuhr, das würde ihr niemand glauben“.

Heimat und Sprache

Wenn sie ihr Dorf besucht, erwarten sie die üblichen Vorwürfe, die jeden “Abtrünnigen” treffen, der sich aufmachte, um ein anderes Leben in der Fremde zu finden. Weggehen kann schließlich jeder, das Schwierige ist doch zu bleiben. Sobald sie sich der Jauntalebene näherte, veränderte sich auch ihre Sprache und ihre Haltung, denn der slowenische Dialekt, den sie in Wien nie benutzt, bestimmt nun auch ihr Denken und Handeln. Die Sprache ihrer Kindheit ist auch die Sprache ihrer Verluste, “über die Mira sich selbst nicht recht im Klaren war“. Eine davon ist ihre Jugendliebe Jurij, dem sie prompt in Jaundorf begegnet.

Schweigen (Klage), Geheimnis (Tat)

Einen interessanten Zugang findet Mira auch zur Wahrheit: “(…) dass es vielleicht besser ist angelogen zu werden, nicht die Wahrheit zu wissen. Wir wollen den anderen immer nackt vor uns sehen, nackt und durchschaubar, das ist doch demütigend, es geht doch darum, miteinander auszukommen oder nicht?”, stellt sie Jurij die Frage der Fragen. Auch er, der bewusst Slowene ist, hat darauf eine Antwort. Denn lange galt die Zweisprachigkeit der Region als Makel, auch darüber schreibt Maja Haderlap im ersten Teil ihres Romans Nachtfrauen, der von drei Generationen Frauen erzählt. Der erste ist ganz Mira gewidmet, der zweite, kürzere Agnes und Anni, also Großmutter und Mutter. Der erste Teil ist eine Erzählung und ein Dilemma, wie es nicht besser formuliert werden könnte. Denn das Zerwürfnis mit ihrer Mutter beruht auf einem Unfall bei dem ihr Vater zu Tode kam.

Bedrängte (Nacht-)Frauen

Dieses Unglück schwelte lange zwischen ihrer Mutter und ihr und vergiftete die Beziehung, dabei war sie damals noch ein Kind und konnte gar nichts dafür, was geschah. Schuldgefühle waren es vielleicht auch, die Mira nach Wien vertrieben, aber immerhin war sie auch die erste Frau, die ihr Dorf verließ. Das tat sie auch für die anderen Frauen, die, die zurückblieben. Denn die alleinstehenden Frauen in Jaundorf litten am meisten unter den zudringlichen Händen der Männer. Aber damals galt die Schweigsamkeit einer Frau noch als noble Eigenschaft und so beschloss auch sie, lieber zu schweigen. Ein Schweigen, das vielleicht mit diesem Roman durchbrochen wird. Stellvertretend für all die Schweigenden.

Ein Roman über Zugehörigkeit, Erinnerungen, Verlust und Entscheidungen, die das Leben beeinflussen. Aber auch ein Roman, der Mut macht, darüber zu sprechen, was unaussprechlich ist.

Maja Haderlap wurde in Bad Eisenkappel / Železna Kapla (Kärnten) geboren. Sie veröffentlichte Lyrik in slowenischer Sprache, ehe sie für einen Auszug aus ihrem Romandebüt Engel des Vergessens 2011 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Weitere renommierte Preise folgten, wie der Max Frisch-Preis 2018 oder der Christine Lavant Preis 2021. Nachtfrauen ist ihr erstes Buch im Suhrkamp Verlag und stand auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis 2023.

Maja Haderlap
Nachtfrauen. Roman
2023, fester Einband mit Schutzumschlag, 294 Seiten
ISBN: 978-3-518-43133-7
Suhrkamp Verlag
24,00 €


Genre: Biographie, Frauen, Frauengeschichte, Roman, Slowenen, Zweiter Weltkrieg
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Content

Content. “Ich schaue aus dem Fenster. Menschen schwimmen auf Schlauchbooten vorbei.” Der sechste Roman des Jungautors, Poetry Slammers und Musikers Elias Hirschl und sein zweiter beim Zsolnay Verlag. Der Vorgänger, “Salonfähig”, machte ihn über Nacht “weltberühmt in Wien“, da er so ca. haargenau das Leben und Milieu eines österreichischen Spitzenpolitikers beschrieb noch bevor dieser wirklich öffentlich bekannt war. Ob Hirschl mit Content eine ebenso prophetische Gabe an den Tag legt, wird wohl die Zukunft weisen, denn bei Content handelt es sich um eine Dystopie: “Kein Gas mehr, kein Strom mehr. Kein Internet mehr. Kein Leben mehr. Das ist niemand mehr. Keine Menschen. Kein Boden. Keine Luft.” Zumindest eine Dystopie für die ChatGPT-Generation…

Content-Farm Smile Smile Inc.

In dieser Zukunft, der Zukunft des Romans, geht nichts weniger als die Welt unter. Aber es ist nicht weiter tragisch, weil die handelnden Personen ohnehin ihr Second Life als Avatare im WWW haben. So auch die namenlose Protagonistin des Romans, die für die Content-Farm Smile Smile Inc. arbeitet und sinn­befreite Listen-Artikel, die Clicks generieren sollen (“Nummer 7 wird Sie zum Weinen bringen!”), schreibt. Vielleicht hat Hirschl sogar schon seine Prophetengabe auch mit diesem Roman bewiesen, denn tatsächlich geht es schon um die Generation ChatGPT noch bevor sich diese wirklich generiert hat oder existiert oder formiert. “Politisch, prophetisch und zumindest so lange lustig, bis einem das Lachen im Hals stecken bleibt“, ist wohl die treffendste Beschreibung eines Verlagstextes zur Bewerbung eines Buches, die ich je las.

Form follows function

Denn die Listicles, YouTube-Videos, ChatGPTs, die Hirschl verfasst, entbehren – natürlich absichtlich – genau jenen Contents, nach dem der Roman benannt ist. Wer allerdings nach einer klassischen Handlung in diesem Roman sucht, sucht vergeblich, denn Hirschl springt in seinen Beschreibungen beinahe so auf dem Bildschirm herum, wie wir user, wenn wir durch das WWW surfen. Insofern kann man hier schon sagen: form follows function. Dass die namenlose Protagonistin den ganzen Text hindurch nur eine Zeile aus Robert Musils “Mann ohne Eigenschaften” zu lesen bekommt, ist vielleicht ein Synonym. Denn ebenso unverständlich wie diese Zeile für sie ist, wäre für Musil wohl ein Text von ChatGPT gewesen. Ihm hätte wohl einfach die Seele gefehlt.

Bot ohne Eigenschaften

Hirschl ist aber so eine Seele, denn er hat einen Roman für seine Generation geschrieben ohne ein Teil dieser Generation sein zu wollen. Das hat auch schon mal ein gewisser Bob Dylan abgelehnt. Aber unweigerlich wird Hirschl zum Sprachrohr seiner Generation, die mit gerade mal dreißig Jahren schon mehr in der Welt rumgekommen ist, als andere in der Pension. Mit dem Finger auf der Landkarte: das World Wide Web ist weit und die Geduld endenwollend. Der Cursor springt weiter, die Maus wird geknautscht (RSI-Syndrom). Das Lokalkolorit für seinen Roman fand der Autor übrigens in der Kohle- und Bergbauregion NRWs, er war dort Dortmund-Stadtschreiber. Bei einem Erdbeben (!) fährt die Protagonistin mit einem Lift so tief in die Grubenschächte, dass man es tatsächlich als Tiefgang bezeichnen kann: den Dingen auf den Grund gehen. Dazwischen zitiert Hirschl natürlich immer wieder die Listen seiner Protagonistin und kommt mit ihr am Ende zu einer buddhistischen Fazit-Liste (Nummer 7 wird Sie zum Weinen bringen!).

Kurzum: Hirschl hat sich einen Spaß gemacht und nimmt uns alle auf den Arm oder ist es vielmehr der Alias seiner Protagonistin im Internet, die sogar heiratet und schließlich stirbt? Ein Gastauftritt Ryan Goslings und die langerwartete Erklärung, was ein(e) IKM- Schreiber(in) so macht, sollte man schließlich ebensowenig verpassen, wie die Einträge seines eigenen Bot auf insta. Aber Achtung: das Captcha-Lösen dürfte ziemlich knifflig werden. “Die Aufgabe, ob sie ein Bot war oder nicht, wurde selbst von einem Bot angefertigt.

Elias Hirschl
Content. Roman
2024, Hardcover, 224 Seiten
ISBN 978-3-552-07386-9
Zsolnay
D: 23,00 € Ö: 23,70 €


Genre: Generation, Roman, Science-fiction, Zukunftsvision
Illustrated by Zsolnay Wien

Die einzige Frau im Raum

Die einzige Frau im Raum. In der Reihe “Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte” sind von derselben Autorin schon Biografien zu Lady Churchill, Mrs Agatha Christie, Frau Einstein u.a. erschienen. In vorliegendem Briefroman erzählt sie die Geschichte der Schauspielerin und Erfinderin Hedwig Eva Maria Kiesler besser bekannt als Hedy Lamarr.

Ikone der Frauenbewegung

“Lady Bluetooth” wurde sie in einer Ausstellung, die ihrem Lebenswerk gewidmet war, genannt. Ihre Zusammenarbeit mit dem Komponisten George Antheil wurde mit dem Ergebnis frequency hopping gesegnet. Dieses frequency hopping stellte die Grundlage für das heutige wifi zur Verfügung. Lamarr wollte es während des Krieges auch der US-Armee zur Verfügung stellen, um Torpedos abzuwehren, allein, die amerikanischen Betonköpfe waren nicht intelligent genug das Potential ihrer Erfindung zu erkennen. Und so ging Hedy Lamarr vorerst als “schönste Frau der Filmgeschichte” in die Annalen ein, bis sich findige Journalist:innen mit ihrem Vermächtnis genauer auseinandersetzten. Ein Ergebnis war auch der Film “Calling Hedy Lamas”, der in Zusammenarbeit mit ihrem Sohn Anthony Lauder entstanden war. Oder später auch “Bombshell”, eine Dokumentation über ihre beiden Karrieren vom ersten Nacktmodell der Filmgeschichte zur Ikone der Frauenbewegung als Erfinderin.

Hedy Lamarr Forever

Marie Benedict widmet sich Hedy Lamarr, die durch ihre Heirat mit einem österreichischen Waffenhändler Zugriff auf die Pläne des Dritten Reichs erlangte. Ein Wissen, das sie später nutzte, um an der Seite der Alliierten zu kämpfen. Im Jahr 1937 verließ sie ihren gewalttätigen Ehemann und floh über Paris und London nach Hollywood. Dort wurde sie zu Hedy Lamarr, dem weltberühmten Filmstar. Was keiner wusste: Sie war Erfinderin. Und sie hatte eine Idee, die dem Land helfen könnte, die Nazis zu bekämpfen und die moderne Kommunikation zu revolutionieren. Wenn ihr nur jemand zugehört hätte. Der Hype um die schönste Frau der Welt mit Köpfchen reißt also auch mit diesem Briefroman nicht ab. Denn nach einem nach ihr benannten Wissenschaftspreis, einem Theaterstück von Peter Turrini, einem Song von Johnny Depp über sie, zwei Dokumentationen, einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof, was kann da noch kommen? Als Ikone der Popkultur gilt sie übrigens auch spätestens nach der Adaptation als Catwoman in der Comicwelt, wie alte Zeichnungen beweisen. Auch Anne Hathaway berief sich auf Lamarr für ihre Interpretation von Catwoman. Oder Disney’s Snow White? Was kann da also noch kommen? Naja, vielleicht das WonderWoman Hedy Lamarr spielt? Sehen Sie hier selbst!

Marie Benedict
Die einzige Frau im Raum. Roman
Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte, Band 4
Übersetzt von: Marieke Heimburger
2023, KiWi-Paperback, 304 Seiten
ISBN: 978-3-462-00492-2
Kiepenheuer & Witsch


Genre: Biographie, Briefe, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln