Paradise Garden

Mix aus Coming-of-Age und Roadnovel

Mit ihrem Debütroman «Paradise Garden» ist Elena Fischer eine flotte Coming-of-Age-Geschichte gelungen. Der Buchtitel weist auf den wohl glücklichsten Tag im Leben der 14jährigen Protagonistin und Ich-Erzählerin Billie hin, als ihre Mutter ihr nämlich in der örtlichen Eisdiele den größten Eisbecher mit dem Namen «Paradise Garden» spendiert. Damit wird eine tragische Zäsur angedeutet, von der die alleinerziehende, in prekären Verhältnissen lebende Mutter und ihre pubertierende Tochter noch nichts ahnen können. Etwa die Hälfte der Geschichte handelt von dem äußerst bescheidenen Leben der Beiden in der kleinen Wohnung einer städtischen Hochhaus-Siedlung. Der erste, nach literarischem Dogma oft schon die ganze Story enthaltende Satz des Romans lautet: «Meine Mutter starb diesen Sommer». Damit wird hier schon gleich auf das verhängnisvolle Ereignis hingewiesen, dem sich dann in der zweiten Buchhälfte ein geradezu klassischer Roadtrip anschließt. Schon früh weist die Autorin listig, en passant nämlich, in einer Szene darauf hin, als die Mutter ihre Tochter auffordert, doch ihr Buch zu Ende zu lesen. Es handelt sich um «Unterwegs», original «On the Road» von Jack Kerouac, dem stilprägenden Kultroman für dieses Genre, Vorlage für den berühmten Spielfilm «Easy Rider».

Billie, in Ungarn geboren und nach dem Willen der dominanten Großmutter mit erstem Vornamen Erzsébet getauft, weiß nicht, wer ihr Vater ist, sie kennt nicht mal dessen Namen. Alle Fragen dazu bleiben unbeantwortet, dieses Thema ist ein absolutes Tabu für ihre Mutter. Die war früher mal Ballett-Tänzerin, Billie findet auf dem Dachboden ein Tutu, das davon zeugt. Und es gibt ein Foto von der Mutter vor einem Gartenhaus, auf dem auch der Arm eines Mannes erkennbar ist, der Rest wurde weggeschnitten. Obwohl die Mutter zwei Jobs hat, reicht das Geld hinten und vorne nicht, oft gibt es dann am Monatsende tagelang immer nur Nudeln mit Ketchup. Trotzdem ist ihr Zusammenleben sehr harmonisch, mit ihrer unbeirrbaren Resilienz meistern die Beiden immer wieder alle Fährnisse des Lebens. Die Mutter versteht es, Billie mit viel Fantasie eine bunte Kindheit zu bieten, in der sie sich prächtig amüsieren auch ohne viel Geld. Dieses Jahr aber wollen sie in den großen Ferien ans Meer fahren, Billie träumt immer wieder davon. Sie hat etwas Geld gewonnen, und auch wenn es für Florida nicht reicht, werden sie wenigstens ans Meer fahren mit dem fast schrottreifen Nissan der Mutter, dessen TÜV seit einem dreiviertel Jahr abgelaufen ist, – aber er fährt noch!

Die Reise-Euphorie endet abrupt, als die Großmutter aus Ungarn unangekündigt vor der Tür steht und damit alle Urlaubspläne zunichte macht. Billies Mutter hatte nie ein gutes Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter, es gab häufig Streit, und das ist auch jetzt nicht anders. Nach dem tragischen Unfalltod der Mutter fährt die 14jährige Billie beherzt alleine los mit dem Nissan, die Roadnovel beginnt. Sie hatte privaten Fahrunterricht bei ihrer Mutter, übte heimlich auf dem Supermarkt-Parkplatz, sie traut sich die Fahrt ohne Weiteres zu. Und sie hofft, mit den wenigen Informationen, die sie hat, ihren Vater zu finden. Auch die Großmutter hatte ihr nicht weitergeholfen mit Hinweisen auf den Vater, angeblich wüsste sie auch nichts über ihn. Billie, die schon immer gerne geschrieben hat, beginnt mit Aufzeichnungen, sie notiert sich eifrig äußere Erlebnisse und innere Erkenntnisse auf ihrer abenteuerlichen Reise. Dabei trifft sie meist auf freundliche Menschen, die ihr weiterhelfen bei ihrer unbeirrten Suche.

Sehr überzeugend hat die Autorin in ihrem Plot Roadnovel und Coming-of-Age als Genres miteinander verbunden, wobei sie stilistisch eine dem Alter ihrer Protagonistin angepasste, schlichte Jugendsprache mit kurzen Sätzen verwendet. Dieser Roman ist eine leicht lesbare, unterhaltsame Lektüre, die beim vorhersehbaren Ende so etwas wie Hoffnung aufscheinen lässt und manchmal leider dicht am Kitsch vorbeischrammt.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Die Inkommensurablen

Intellektueller Höhenflug

«Die Inkommensurablen», der dritte Roman von Raphaela Edelbauer, die in Wien Sprachkunst und Philosophie studiert hat, weist wie die zwei vorherigen Romane einen erstaunlich kreativ angelegten Plot auf. Ihre Erzählung beginnt am 30. Juli 1914 um 6:32 Uhr und endet am nächsten Tag mit dem Ablauf des Ultimatums und der umgehend erfolgenden Kriegserklärung an Serbien, gemeinhin als der Beginn des Ersten Weltkriegs angesehen. Die Stadt liegt im Taumel, die jungen Männer melden sich scharenweise freiwillig, sie können es kaum erwarten, sich für das tödliche Attentat auf den österreichischen Kronprinzen an den Serben zu rächen. Es wimmelt von Menschen auf den Straßen Wiens. Mitten in dieses Gewimmel hinein gerät, gerade erst mit dem Nachtzug am Wiener Hauptbahnhof angekommen, der siebzehnjährige Pferdeknecht Hans aus Tirol. Auch er will sich freiwillig melden, nicht zuletzt um der unerträglichen Fron seiner harten Arbeit auf dem armseligen, heimischen Bauernhof zu entkommen.

Vorher aber will er sich noch bei der bekannten Wiener Psychoanalytikerin Helen Cheresch vorstellen, er hat für den gleichen Tag einen Termin in ihrer Praxis vereinbart. In acht Kapiteln erzählt die Autorin chronologisch von den Erlebnissen ihres Protagonisten Hans in diesen turbulenten eineinhalb Tagen. Er hat sich schon als kleiner Junge, der nicht in die Schule gehen durfte und als Arbeitsknecht gnadenlos ausgebeutet wurde, heimlich das Lesen und Schreiben beigebracht und bildungshungrig jede Möglichkeit ergriffen, um seinen geistigen Horizont zu erweitern. Vor der Praxis trifft er auf Klara, die mit der berühmten Psycho-Analytikerin befreundet ist und sich als eine hochintelligente Mathematik-Studentin erweist. Sie ist denn auch eine der ersten Frauen in Österreich, die in ihrem Fach promovieren will, – am folgenden Tag schon ist der Termin für ihr Rigorosum. Und während Hans und Klara sich sofort in einem für beide fruchtbaren, ersten Gespräch anfreunden, stößt auch noch Adam, ein musisch begabter, aristokratischer Sohn aus reichem Hause, zu ihnen und erweitert das diskussions-freudige Duo zum Trio.

Dieser wortwörtlich am Vorabend des Ersten Weltkriegs angesiedelte Roman wird von Beginn an in einer wohltuend klaren, sachlichen Sprache erzählt. Er spiegelt damit die Geschichte des zu Höherem strebenden Pferdeknechts Hans vor dem Panorama eines gerade endgültig aus den Fugen geratenden, spät-habsburgischen Österreichs. Das genialische Hochbegabten-Trio versinkt in endlosen Diskussionen, denen zu folgen zusehends schwerer wird. Da wird zum Beispiel versucht, das Wesen der «Inkommensurablen» anhand eines Vergleichs mit den irrationalen Zahlen zu erklären. Aber als ebenso inkommensurabel, als unvergleichbar mithin, erweist sich dieses intellektuelle Trio selbst. Und dass in den mit der Musik beschäftigen Diskursen Arnold Schönberg als Komponist im Mittelpunkt steht, verwundert dann kaum noch. Allmählich aber entwickelt sich die Erzählung von den drei ebenso hyper-begabten wie inkommensurablen Figuren zu einer Art Traumnovelle, die zusehends ins Irreale steuert mit von Drogen befeuerten Trugbildern. Intellektueller Höhepunkt ist am Ende des Romans ein längerer Vortrag Klaras mit ihrer schriftlich verfassten Einleitung zum Rigorosum, dem allenfalls studierte Mathematiker wirklich folgen können.

Intellektuell also auf sehr hohem Niveau angesiedelt, ist der detail-versessene Erzählstoff nicht immer ganz frei von Anachronismen, trotzdem aber liest man die mathematischen, musik-wissenschaftlichen und psycho-analytischen Exkurse der österreichischen Autorin mit Gewinn. Sachlich beruhigend sind dabei die im Anhang aufgelisteten Quellen für ihre hochgestochenen Diskurse, die manchen Kommentatoren als zu gestelzt, aber auch als zu konstruiert erscheinen. Dabei wird übersehen, dass doch etliche, gerade in den intellektuellen Höhenflügen zweifellos vorhandene, satirische Elemente all das hochgestochen Erscheinende wohltuend relativieren.

Fazit:  erfreulich


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Der große Wunsch

Innere Befreiung im islamistischen Getto

In «Der große Wunsch» des in Ostberlin geborenen Schriftstellers Sherko Fatah bestimmen die irakisch-kurdischen Wurzeln seines Vaters, durch die er selbst auch einen besonderen Zugang zu dieser nahöstlichen Krisenregion hat, die spezielle Thematik seines neuen Romans. Protagonist der Geschichte ist der in Berlin lebende Murat, dessen Name «Der große Wunsch» bedeutet, – damit auch das schon mal geklärt ist! Seine volljährige Tochter Naima ist spurlos verschwunden, sie hat auch seiner geschiedenen Frau keinerlei Nachricht hinterlassen. Seine Nachforschungen ergeben, dass sie wohl mit einem Gotteskrieger französischer Herkunft, den sie im Internet kennen gelernt hat, nach Syrien aufgebrochen ist, um dort zu heiraten. Murat macht sich Vorwürfe, ihr viel zu wenig von seinem krisen-geschüttelten Herkunftsgebiet erzählt zu haben, in dem verschiedene politische Kräfte und diverse Terrorgruppen in völlig undurchschaubare Kämpfe verwickelt sind und Grenzen nur auf dem Papier existieren.

Als Murat die Ungewissheit nicht mehr aushält, borgt er sich von verschiedenen Freunden Geld, hebt als Teilhaber einer kleinen Firma auch noch alle Bankguthaben ab und reist über die Türkei in das vom Islamischen Staat beherrschte Gebiet, in dem er seine Tochter vermutet. Er will sie nach Hause holen, eine gefährliche Reise, wie er schon bald merkt. Denn die Schleuser, zu denen er über das Internet Kontakt aufgenommen hat, erweisen sich als unzuverlässig und geldgierig, sie vertrösten ihn immer wieder, liefern aber nichts Konkretes, das Schicksal seiner Tochter bleibt ungewiss. Nur in kleinsten Häppchen bekommt er von seinem einheimischen Fahrer und anderen dubiosen Mittelsmännern dann nach und nach Informationen über Naima. Man habe sie in einer Kolonie von IS-Kämpfern mit Frauen aus westlichen Ländern ausfindig gemacht, die im Neubaugebiet der Stadt Rakka zusammen wohnen. Murat bekommt immer wieder mal Fotos, auf denen er aber nichts erkennen kann, weil die junge Frau, die da fotografiert wurde, voll verschleiert ist, man sieht nur ihre Augen. Später liefern die Schleuser ihm dann auch Kassetten mit Aufnahmen aus einem Audio-Tagebuch, auf denen eine Frauenstimme zu hören ist, die Murat jedoch ebenso wenig als die seiner Tochter Naima identifizieren kann. Sie könnte es sein, aber es gibt keine eindeutigen Hinweise, zum Beispiel typische Redewendungen oder irgendwelche Bemerkungen, die auf ihre Vita hindeuten.

Im Wesentlichen aber handelt der Roman vom Warten, denn Murat kann selbständig nichts tun, und die Schleuser lassen ihn zappeln, liefern nichts Konkretes, versichern aber mit wachsender Zuversicht, dass die Frau, die sie im Visier haben, die gesuchte Tochter ist. Diese zeitliche Leere, die der phlegmatische Murat in einer wüstenähnlichen Landschaft verbringt, verleitet ihn zu endlosen Reflexionen, insbesondere über die konkreten Flucht-Ursachen seiner Tochter. Vor allem aber sinniert er über sein Versäumnis, Naima nicht abhalten zu können von ihrem radikalen Schritt, der wohl als innere Befreiung gedacht war. Der dann aber tatsächlich in einem frauen-feindlichen, islamistischen Getto endet, was sich auch Naima so sicherlich nicht hatte vorstellen können.

Obwohl also so gut wie nichts passiert in diesem Roman, ist er doch prall gefüllt mit Gedanken, Beobachtungen, Spekulationen, Mutmaßungen, zudem mit schier endlosen Beschreibungen der unwirtlichen, kargen Landschaft. Gefüllt mit literarischen Arabesken also, die sehr schnell langweilig werden, weil sie rein gar nichts zum eigentlichen Thema beisteuern. Gerade weil nichts passiert, wird man als Leser regelrecht auf die Folter gespannt, erwartet man jeden Moment eine erlösende Wendung der verzwickten Situation in diesem ‹lethargischen› Plot, auch und gerade dann, wenn man irgendwann nur noch zehn, nur noch fünf, nur noch zwei Seiten zu lesen hat. Uff! Und buchstäblich alles, was hier thematisch angerissen wurde, bleibt offen. Antworten auf die aufgeworfenen Fragen gibt es also nicht, die muss der Leser selber finden!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Birobidschan

Literatur als Widerstand gegen die Zeit

Das Roman-Debüt des israelischen Schriftstellers Tomer Dotan-Dreyfus weist schon im Titel «Birobidschan» auf den Ort der Handlung hin, die Hauptstadt der von Stalin in den 1930er Jahren gegründeten jüdisch-autonomen Oblast gleichen Namens, ein Verwaltungsgebiet in Sibirien, wo der Amur die Grenze zu China bildet. Über einen Zeitraum von etwa siebzig Jahren hinweg erzählt der Autor Geschichten aus diesem typischen Schtetl, beginnend schon vor dessen Gründung mit dem mutmaßlichen Einschlag des Tunguska-Asteroiden ganz in der Nähe, um den sich viele Mythen ranken. Über die stilistisch dem Magischen Realismus verpflichtete Geschichte heißt es im Vorwort des Autors: « der Text ist mein Labor, und ich bin der Versuchsleiter.» In seinem Epilog berichtet er dann auch von der Entstehung seiner Geschichte, sie sei ihm «außer Kontrolle geraten».

Die Zeit scheint still zu stehen in dem Schtetl an der Sibirischen Eisenbahn, die täglich einmal dort hält, die einzige Verbindung zur großen weiten Welt. Der Zeitungsmann bringt dem arbeitslosen Sascha Rosenzweig dann jedes Mal die Moskauer Zeitung, und so kann er täglich lesen, «was zwei Wochen zuvor passiert war.» In verschiedenen Handlungs-Strängen wird von Boris dem Fischer erzählt, einem der ältesten Birobidschaner, ferner von der seit Kindertagen andauernden Liebe zwischen Alex und Rachel. Berichtet wird auch von Dmitrij und seinen Wahn-Vorstellungen, seiner unbegründeten Angst vor Wölfen. Und schließlich von einem Roadtrip von Gregory und Sascha, die mit dem Auto Richtung Tunguska fahren. Der philosophisch bewanderte Sascha erhofft sich von der abenteuerliche Fahrt und den langen Gesprächen, die sie dabei führen würden, den alten Freund von seinen Depressionen befreien zu können.

Fernab des Weltgeschehens verläuft das Leben im Schtetl gemächlich und überschaubar, jeder kennt jeden und alles soll möglichst immer so bleiben, wie es ist. Die genügsamen Bewohner haben aus Prinzip alle gleich viel Geld, es geht also allen gleich gut und keiner strebt nach mehr, man lebt ein utopisches, sozialistisches Ideal. Als ein junger Mann von Durchreisenden als Dank 500 Rubel geschenkt bekommt, hat er große Mühe, dieses überschüssige Geld loszuwerden, denn wenn er es im Rathaus abgeben würde, hätte er nur misstrauische Fragen zu beantworten. Kurz entschlossen befestigt er es an einem Stein und wirft ihn in den See. Und wie es so ist, ausgerechnet Boris, der alte Fischer, findet den Stein in seinem Netz, und nun hat er das Problem mit dem Geld! Sehr poetisch werden die hormon-getriebenen Jungen und Mädchen des Ortes beschrieben, «die ihre ersten Schritte in die Welt der inneren Sonnenuntergänge wagten», – was für eine schöne Umschreibung!

Ein kleines Manko des ansonsten erstklassigen Romans ist die kaum überschaubare Figurenfülle, wobei erschwerend hinzu kommt, dass der auf 81 Kapitel verteilte Erzählstoff auch noch in oft wilden Zeitsprüngen aneinander gereiht ist. Nur mit einem Spickzettel behält man da den Überblick! Als Verbeugung vor dem jiddischen Schriftsteller heißt eine der Straßen in Birobidschan «Scholem-Alejchem-Alle». Man stößt beim Lesen auch immer wieder auf jiddische Begriffe, und im Alltagsleben richtet man sich hier noch streng nach den religiösen Gesetzen, der Rabbi ist die von allen anerkannte Respektsperson. Wohldosiert streut der Autor auch einiges an typischen Redewendungen in seine Erzählung ein, ergänzt durch ganz unakademische Alltags-Philosophie, und er garniert das Ganze mit einem gehörigen Maß an jiddisch geprägtem Humor. In seinem Epilog resümiert der Autor tiefsinnig: «Kunst ist vor allem ein Widerstand gegen die Zeit.» Und er ergänzt: «Wenn man ein großartiges Buch verschlingt, wird man nicht satt, sondern im Gegenteil hungrig.» Genau diese Lese-Erfahrung macht man denn auch mit diesem außergewöhnlichen Roman!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Voland & Quist

Muna

Gefahren toxischer Männlichkeit

Als erster Band einer geplanten Trilogie zum Thema ‹Frauen› ist der Roman «Muna» der Schriftstellerin Terésia Mora auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 gewählt worden. Die deutsch-ungarische Büchner-Preisträgerin thematisiert in ihrem neuen Roman eine latente Frauenfeindlichkeit, die sich hier in der psychischen und physischen Gewalt gegen die Ich-Erzählerin Muna Abbelius artikuliert. Mit dem Untertitel «Die Hälfte des Lebens» wird auch auf den zeitlichen Rahmen der Handlung hingewiesen. Die Geschichte beginnt kurz vor dem Abitur der Protagonistin in der DDR, wenige Jahre vor der Wende, und endet, als sie Anfang vierzig ist. Damit wird etwa die Hälfte ihres Lebens als Erwachsene überspannt, die entscheidende Zeit der beruflichen Weichenstellung und dem weiteren Verlauf ihrer Karriere. Beherrscht aber wird die Erzählung von der unverbrüchlichen Liebe der jungen Mona zu dem gutaussehenden, etwas älteren Magnus, ein Intellektueller, der sich auch ernsthaft als Fotograf betätigt, ohne dabei aber beruflichen Ehrgeiz zu entwickeln.

Monas alleinerziehende, alkoholkranke Mutter ist Schauspielerin in einem fiktiven, kleinen Städtchen Ostdeutschlands, das Mona, mit einem glänzenden Abitur in der Tasche, gleich zu Beginn des Romans verlässt, um zu studieren. Die attraktive, junge Frau strebt eine literarische Karriere an und übt zur Finanzierung ihres Studiums diverse Jobs aus, die zu ihrem Interessengebiet passen und ihren Horizont erweitern, notfalls auch ohne Bezahlung. Magnus ist ihre erste Liebe, sie verbringt eine Nacht mit ihm und ist überzeugt, dass er der Mann ihres Lebens ist. Er jedoch verschwindet spurlos und taucht dann erst in der zweiten Hälfte des Romans wieder auf, ganze sieben Jahre später, nach den Turbulenzen des Mauerfalls. Obwohl er sie so herzlos ohne ein Wort verlassen hatte, finden die Beiden wieder zueinander, haben rauschhaften, beglückenden Sex und werden ein Paar, nicht zuletzt auch, weil sie als Akademiker intellektuell bestens zusammenpassen. Magnus arbeitet als Französischlehrer, strebt aber eine wissenschaftliche Karriere an, publiziert und hält Vorträge. Sie haben zudem kulturell gleiche Interessen, denen sie gemeinsam nachgehen, Theater, Kunst-Ausstellungen, Musik, über die sie sich ergiebig austauschen.

Als Magnus karrierebedingt in verschiedene Positionen an anderen Universitäten wechselt, begleitet ihn Mona notgedrungen, ohne Rücksicht auf die eigene Zukunft, sie möchte ihn keinesfalls verlassen. Deutlich wird in dem unberechenbaren Verhalten von Magnus seine seelische Kälte, die sich mit der Zeit zunehmend auch in physischer Gewalt äußert, der Mona hilflos ausgesetzt ist. Und er verschwindet auch wieder öfter mal, ohne ein Wort zu sagen, übt also auch psychischen Terror auf sie aus, unter dem sie genauso leidet. In ihrem Liebeswahn aber erträgt sie ungerührt alle diese Demütigungen, findet immer eine Entschuldigung für sein doch so deutlich abweisendes Verhalten.

Terésia Mora verwendet auch in diesem stimmig erzählten Roman wieder verschiedene typografische Besonderheiten wie durchgestrichenen Text oder Schwärzungen, was einen kreativen Schreibprozess simulieren soll, in dem eben auch Fehler vorkommen. Hier werden sie sichtbar gemacht, die Illusion eines Manuskripts erzeugend! Durch eine mitreißende, geradezu intime Schilderung der Charaktere ist man als Leser so nahe an den Figuren, dass man Mona am liebsten in den Arm nehmen möchte und sie kräftig durchschütteln. Damit sie aufwacht und die Realität ihrer seelischen Abwärtsspirale erkennt, die Gefahren toxischer Männlichkeit. Damit sie aus dem Teufelskreis ausbricht, der ihr Leben zu ruinieren droht. Sie schafft am Ende gerade noch ihre Promotion mit «Cum laude». Deutlich erkennbar ist dieser Roman auch eine Satire auf den akademischen Betrieb, es tummeln sich Koryphäen aller Couleur darin, manche als wahre Lachnummern. Erfreulicher Weise wird all das, ganz ohne didaktische Absichten, mit leichter Hand erzählt, es wird hier also konsequent auf eine wohlfeile Botschaft verzichtet!

Fazit:   erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Die Möglichkeit von Glück

Die Mär von den Ossis

Als großer DDR-Roman gelobt und auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gewählt, hat das Debüt von Anne Rabe mit dem Titel «Die Möglichkeit von Glück» im vergangenen Jahr einen wichtigen Beitrag zum aktuellen literarischen Diskurs geleistet. Auf starken Widerspruch stieß dabei vor allem die in diesem Roman vertretene These, dass erzieherische Gewalt und emotionale Kälte in den unter der Knute der sozialistischen Diktatur stehenden Familien in letzter Konsequenz zu den bekannten Gewaltexzessen und zum Erstarken der Rechtsextremen geführt hätten. Die auf dem Gebiet der DDR lebende Gesellschaft, die 56 Jahre lang, von 1933 bis 1989, also über Generationen hinweg, nur Diktatur erlebt hat, ist in Teilen mit der Demokratie offensichtlich überfordert und trauert dem «ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden» nach. Ein politisches Phänomen übrigens, das man ja überall auf der Welt wiederfindet und das von gewissen Protestierenden derzeit in der ­ allen Ernstes ­ vorgetragenen Forderung nach einem Kalifat gipfelt. Man braucht den starken Mann, man will «geführt» werden! Aber das sind Abschweifungen.

Eine der Autorin ähnelnde, drei Jahre vor dem Mauerfall geborene Ich-Erzählerin namens Stine beschreibt im vorliegenden Roman schonungslos ihre Kindheit im Kreise der Familie. Dabei konzentriert sie sich meist auf das Private, beschreibt detailreich die Verhältnisse während der Nach-Wende-Zeit in ihrer kleinen Stadt an der Ostsee, in der sie aufwächst. Ihre Eltern sind gar nicht erfreut über die Wiedervereinigung, zu tief waren sie verwurzelt in das sozialistische Unrechtssystem, dessen markantestes Kennzeichen die alles beherrschende, absurde Stasi war. Sie sind trotzdem überzeugt, das «richtige Leben» gelebt zu haben, sie halten weiterhin den Sozialismus für die bessere, gerechtere Staatsform, halten hartnäckig an ihrer Lebenslüge fest.

Die dominante Rolle in der Kindererziehung hat Stines Mutter, der Vater hält sich da weitgehend raus. Er ist ein liebevoller Vater, den bohrenden Fragen der älter werdenden Tochter nach der Vergangenheit aber weicht er hartnäckig aus. Innig verbunden ist Stine mit ihrem jüngeren Bruder, der wie sie unter der lieblosen Mutter leidet, die ihre Kinder, völlig emotionslos, mit harter Hand und viel Prügel erzieht. Dabei wendet sie ungerührt sogar sadistische Methoden an, denen ihre Kinder völlig schutzlos ausgeliefert sind. Der Vater greift in der Regel nicht ein, lässt die Mutter gewähren mit ihren grausamen Strafen. Diese schlimmen Erfahrungen und die heftigen Streitereien mit der Mutter, auch nachdem Stine schon selber ein Kind hat, führen zum Bruch mit den Eltern. Die Mutter traut ihrer Tochter die richtige Erziehung der Enkel nicht zu, sie geht sogar so weit und will ihr das Kind entziehen lassen. Weil doch die Stine einen total unkonventionellen Lebenswandel hat, und die falschen politischen Überzeugungen sowieso!

Formal changiert diese DDR- Geschichte zwischen Erzählung und akribisch recherchierter Dokumentation, wobei viele interessante Details zum Vorschein kommen und demonstrieren, was die politischen Umbrüche doch für deutliche Spuren in der Familien-Historie hinterlassen haben. Als eine besonders fragwürdige Figur stellt sich letztendlich der von Stine innig geliebte Opa heraus, der Stines Fragen immer ausgewichen ist. Aber genau dessen politische Verstrickungen sind es schließlich, die Stine am Ende des Romans, nach hartnäckigen Recherchen, doch noch offenlegen kann, ­ geahnt hat sie es ja schon immer! Im ständigen Wechsel zwischen Ich-Erzählung und dem kursiv gesetzten inneren Monolog entwickelt die Autorin ihre Geschichte in einer angenehm lesbaren Sprache. Indem sie sich meist an das Private hält, benutzt sie in ihren episodischen Rückblicken auch mundartliche Einschübe, kurze Gedichte oder Kinderreime, landestypische Redewendungen. Es findet sich zudem aber auch die ironisch präsentierte Amtssprache der «besseren» Deutschen, die sich ihre DDR-Landsleute zu sein dünkten in den seligen Zeiten des sozialistischen Musterstaates.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Drifter

Das Geschirr neu sortiert

Auf raffinierte Weise steuert «Drifter» von einem rasanten Gegenwartsroman zu einer ziemlich durchgeknallten Erzählung hin, steigert also das Irreale dieser amüsanten Gegenwarts-Geschichte von Ulrike Sterblich genüsslich bis zu einem Feuerwerk der Absurditäten. Der Ich-Erzähler Wenzel und sein Freund Marco Killmann, von allen nur Killer genannt, sind seit frühster Jugend ein unverbrüchliches Freundespaar. Sie leben am Rand einer Großstadt in einem dafür typischen Hochhaus-Viertel. Gegensätze ziehen sich an, glaubt man einer alten Volksweisheit, vielleicht ergänzen sich die unterschiedlichen jungen Männer ja gerade deshalb so gut. Vom ersten Moment an jedenfalls sind einem die beiden Figuren überaus sympathisch, ihre Geschichte bildet stimmig die Jetztzeit ab, mit dem dazugehörigen Wording der Yougsters.

Es ist vordergründig die Geschichte einer Freundschaft, die da erzählt wird. Wenzel arbeitet nach abgebrochenem Publizistik-Studium im Community-Team eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders, dessen Social-Media-Kanäle er betreut. Ein wahrlich frustrierender Job angesichts der oft banalen, zuweilen aber auch wütenden bis bösartigen Äußerungen der Zuschauer. Der belesene Wenzel verkörpert den melancholischen Verlierer-Typ, er hat resigniert und seine hehren Träume vom Journalismus aufgegeben. Bei den Frauen ist er gleichermaßen erfolglos, ein kurzes Techtelmechtel mit seiner Kollegin endet abrupt, als die sich in den glamourösen Sieger des Hahnenkamm-Skirennens verliebt. Sein Freund Killer, ein eloquenter und sympathischer Draufgänger, ist hingegen ein äußerst geselliger Typ. Er ist PR-Chef eines großen Lebensmittel-Konzerns, ein lukrativer Job. Nur hadert er, insgeheim natürlich, mit der seiner Ansicht nach fragwürdigen Compliance seines Arbeitgebers, die er ja nach außen hin überzeugend vertreten muss.

Der eigentliche Plot des Romans ist eine mysteriöse Geschichte, die damit anfängt, dass Wenzel in der S-Bahn eine Frau im goldenen Kleid sieht, die ein Buch des Schriftstellers «Drifter» in Händen hält. Als glühender Anhänger kennt Wenzel alle Bücher dieses Autors, nicht jedoch «Elektrokröte», wie der Titel des ihm unbekannten Buches der Frau heißt. Sein Buchhändler kennt das Buch auch nicht, will es bestellen, findet es aber nicht in den Computer-Listen. Durch Zufall trifft er die mysteriöse Frau wieder, die sich als die erfolgreiche Social-Media-Entertainerin Ludovica Malabene entpuppt, kurz Vica genannt. Sie kann zaubern, gibt Geldanlage-Tipps, will in die Buchbranche investieren. Was folgt ist ein turbulenter, sich zunehmend ins Absurde hinein steigernder Plot. Wenzel schreibt eine immer länger werdende Liste der Fragen, die er an Vica hat, die er ihr aber noch nicht stellen konnte mangels Gelegenheit. Killer wird beim Besuch der Pferde-Rennbahn von einem in unmittelbarer Nähe einschlagenden Blitz getroffen. Er trägt nur äußerliche Blessuren davon, hat sich aber mental verändert, hört plötzlich «A-cappella-Gesang aus Pustgeräuschen», wo nichts zu hören ist, riecht überall Orangen, ‑ und fängt dann auch noch an zu philosophieren. Er ist nicht mehr der alte ‹Killer›, schmeißt schließlich sogar seinen Job hin. «Es ist nicht so», heißt es im Roman, «als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber er hat das Geschirr neu sortiert.»

Dem magischen Realismus verpflichtet, streut Ulrike Sterblich ideenreich und lässig neben vielen skurrilen Figuren auch tanzende Hunde ein in ihre Geschichte, psychoaktive Pilze und wundersam variable Gebäude jenseits aller Statik, immer nach dem Motto: ‹Nichts ist unmöglich›! Damit verbunden ist auch eine deutliche Gesellschaftskritik, die ironisch und fein dosiert daherkommt, realisiert oft durch angesagte Nerd-Diskurse ihrer Figuren, beispielweise über die Frage, ob es eigentlich auch Horror-Opern gibt. Was dann natürlich zu der erwartbaren Antwort führt: «Du, alle Opern sind Horror!» Mit der Zeit nehmen die immer verwegeneren Winkelzüge und bewussten Irritationen allerdings überhand, verwirren als Albernheiten zunehmend den Leser, mäandern ziellos ins Sinnfreie. Seinen Spaß hat man trotzdem!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Schnell leben

Live fast, die young

Das Buch mit dem Titel «Schnell leben» der französischen Schriftstellerin Brigitte Giraud wurde 2022 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Im französischen Sprachraum ein literarischer Ritterschlag mit entsprechend hohen Auflagen, blieb das Buch in Deutschland relativ unbekannt. Obwohl es in vielen Besprechungen meist als Roman apostrophiert wird, handelt es sich tatsächlich um ein Memoir, also ein erzählendes Sachbuch. Der deutsche Verlag meidet denn auch konsequent die sicherlich verkaufsträchtigere Bezeichnung Roman. Das neue, fast ausschließlich von weiblichen Autoren verwendete, literarische Genre Memoir erfreut sich wachsender Beliebtheit! Soviel vorab, wer eine fiktionale Prosa-Erzählung erwartet, liegt somit falsch!

In «Schnell leben» thematisiert die Ich-Erzählerin minutiös die Umstände, die zum Tod ihres Mannes geführt haben. Er starb bei einem Motorradunfall in Lyon. Seine Frau, eine erfolgreiche Schriftstellerin, beginnt nach dem ersten Schrecken, darüber nachzudenken, welche Umstände zu diesem schrecklichen Unglück geführt haben, drei Tage vor dem Einzug in ihr gerade erst gekauftes Haus. «Was wäre wenn» ist die Kardinalfrage, und so hangelt sich ihre gedankliche Aufarbeitung des tragischen Geschehens von Detail zu Detail, von Zufall zu Zufall. Die «Litanei des Wenn» hat sie jahrelang gequält, hat aus ihrem «Leben eine Existenz im Konjunktiv gemacht», das sie nun, zwanzig Jahre später, schreibend zu überwinden hofft.

«Wenn die Tage vor dem Unfall sich nicht zu einer Abfolge von Ereignissen zusammen geballt hätten, eines unerwarteter als das andere, und alle unerklärlich.» Es sind die vielen Zufälle, die in einer langen, kettenartigen Reihe zu dem Unglück geführt haben. Gleich zu Beginn des Buches findet sich eine Liste von 26 mit «Wenn» beginnenden Geschehnissen, die alle in das gleiche «Dann» münden, nämlich dann hätte Claude nicht sterben müssen. Hätte die Ich-Erzählerin ihre Reise zum Verlag nach Paris nicht verschoben, hätte sie ihrer Mutter nicht erzählt, dass sie schon die Schlüssel zum neuen Haus haben, hätte ihr Bruder seine Honda 900 CRB Fireblade nicht in ihrer neuen Garage abgestellt, wäre diese Rennmaschine als ‹zu gefährlich› von der EU nicht zugelassen worden wie in Japan, hätte Claude gewusst, dass er seinen Sohn nicht von der Schule abholen muss an jenem schicksalsträchtigen 22. Juni 1999, und und und! In einer labyrinthisch anmutenden Ereigniskette voller Geschehnisse, die jedes für sich dem Schicksal einen andern Lauf hätten geben können, müht sich die Autorin, einen Sinn zu erkennen. Es ist wohl unmöglich, alle Zusammenhänge zu verstehen, jedem noch so kleinen Puzzlestück des persönlichen Dramas den richtigen Platz zuzuweisen.

Es sind letztendlich existentielle Fragen, die in der detailverliebten Seelenschau der Autorin radikal subjektiv behandelt werden, eine mit der Zeit ermüdende Litanei des «Was wäre wenn», die zu keinem Ergebnis führt, weil es eben in dieser Verkettung der Umstände keine rationalen Antworten gibt. Es sind auch keine Erkenntnisse zu gewinnen, weder aus dem dominierenden Thema «Motorrad» noch aus den Details um die Immobilien-Odyssee der jungen Paares in Lyon, in die dann auch jede Menge wohlfeile Gesellschaftskritik eingebaut ist. Auch die Musik-Besessenheit von Claude, der als Leiter der Mediathek von Lyon ein Pop-Musik-Fan war, wird thematisiert. Der Song «Live fast, die young» spiegelt exemplarisch ein damaliges Lebensgefühl junger Leute wieder. Was die Lektüre lesenswert macht ist die Rasanz, mit der da in kurzen Sätzen ganz unsentimental ein Szenarium aufgebaut wird, dass spannend ist wie ein Krimi. Brigitte Giraud versteht es mit ihren Gedankenspielen, trotz der absolut nüchternen Thematik einen Spannungsbogen aufzubauen, der den Leser nicht ruhen lässt, ehe er über die verästelte Ereigniskette bis zum späten Ende Klarheit gewonnen hat. Hinzugelernt haben aber dürfte er nichts dabei, außer dass er seine Hände besser weg lässt von dem Superbike Honda 900 CRB Fireblade, die mit den vielen PS!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Frankfurter Verlagsanstalt

Maman

Ein Sarg aus Worten

Die in Frankreich geborene Sylvie Schenk bedient mit ihrem autofiktionalen Roman «Maman» ein beliebtes Genre der Belletristik, die Suche nach der eigenen Identität. Der schmale Band befasst sich mit dem Leben von nicht weniger als vier Frauen, beginnend bei der Urgroßmutter über die Großmutter, die Mutter und schließlich die Ich-Erzählerin selbst als deren Tochter. Überhaupt stehen Frauen im Fokus, allein aus der eigenen Familie sind es fast ein Dutzend. Dabei stoßen die zweihundert Jahre zurück reichenden Recherchen auf eine extrem spärliche Faktenlage, bedingt unter anderem durch die zwei Weltkriege. Wie der Buchtitel zeigt, geht es um die Mutter der namenlos bleibenden, in Frankreich geborenen Tochter. Das lebenslang distanzierte Verhältnis der verstorbenen Mutter zu ihrer Tochter ist jedenfalls sehr ungewöhnlich und lässt ihr keine Ruhe. Als Schriftstellerin will sie nun ein Buch schreiben, in dem sie das Leben ihrer Mutter rekapituliert, ein aktuell häufig anzutreffendes Roman-im-Roman-Konstrukt, auf das man auch hier bei der Lektüre immer wieder mal stößt.

Wo Fakten fehlen, werden sie in dieser verzweifelten Aufarbeitung der Vergangenheit kurzerhand durch Vermutungen und emotionale Ergänzungen ersetzt. In nicht weniger als 62 kurzen Kapiteln (bei 173 Seiten!) wird hier eine sehr engagierte, persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft geschildert. Durch viele Gespräche mit den Verwandten, Recherchen bei allerlei Behörden, mit nur wenigen Dokumenten und Fotos versucht die Protagonistin verzweifelt, Licht in das fast schon unheimliche Dunkel zu bringen, welches die seltsam gestörte Empathie ihrer Mutter für sie persönlich bedeutet. Was hat dazu geführt, dass die Mutter so anders war als andere Mütter? Und es kommen zuweilen sogar Selbstzweifel auf: Ist sie womöglich selber schuld an dem gestörten Verhältnis? Jene jedoch, die ihr erzählen könnten, was vor vielen Jahren war, was ihrer Mutter widerfahren ist, sind schon lange tot und haben ihr Wissen mit ins Grab genommen. Die Mutter selbst war ja immer wortkarg, hat nie von ihrem Leben erzählt, hat die vermeintlichen Geheimnise auch auf Nachfrage immer bei sich behalten.

In den miteinander verschachtelten Kapiteln werden mutmaßliche Ereignisse und alle – die vielen Lücken ergänzenden – Gedankengänge der Autorin kurz angerissen, eine angesichts der Faktenlage sinnvolle, fraktionelle Erzählweise für diese Thematik. Weil aber all das, auch zeitlich, ziemlich sprunghaft geschieht, ist man sich nie ganz sicher, was hier Dichtung und was Wahrheit ist. Gleich in den ersten Kapiteln erfahren wir von den Nöten einer ungewollten Schwangerschaft in jenen Zeiten, wo es noch selbstverständlich war, dass ungewollte Kinder einfach den Behörden übergeben wurden, wo man sie dann möglichst bald zur Adoption weitergereicht hat. Erschütternd zu lesen, wie man da mit Babys umgegangen ist, welche freudlose Kindheit ihnen bevorstand, wenn sie als Kleinkind an arme Bauern «vermietet» wurden, für die sie nur eine billige Arbeitskraft waren und kein neues Familienmitglied. Genau das ist der Mutter widerfahren, und die Ich-Erzählerin berichtet mangels Fakten sehr emotional davon. Es wird aber auch deutlich gemacht, dass die prekäre Lage der Mütter sich in der weiblichen Ahnenreihe häufig weitervererbt. Die Mutter hat genau dieses, ihr ganzes Leben prägende Schicksal erlitten.

Unklare Herkunft und zweifelhaftes Selbstbild werden hier in einem erschütternden «Sarg aus Worten», beginnend mit dem Tod der Großmutter, glaubhaft als Ursachen verschiedener seelischer Bedrängnisse dargestellt. Die Fülle der angerissenen Themen steht unter der ständigen Frage nach dem «Was wäre wenn?» Für die gewählte erzählerische Kurzform wirkt die Thematik des Romans eindeutig überambitioniert, zumal hier ja ein ernstes seelisches Problem verhandelt wird, das für verschiedene psychische Erkrankungen ursächlich ist. Diese Überforderung schmälert leider ebenso wie das oft unklare Zusammenspiel von Fakten und Fiktionen in einer sprunghaften Erzählweise den Lesegenuss erheblich.

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Vatermal

 

Ich werde eure Töchter vögeln,
bis sie arabisch sprechen

Der als Dramaturg und Essayist bekannte Necati Öziri hat mit seinem Debüt-Roman «Vatermal» auf Anhieb große Beachtung gefunden. Sein Buch stand 2023 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, die Rezeption war auch im Feuilleton und bei der Leserschaft durchweg positiv. Es handelt sich um einen Familienroman mit Migrations-Hintergrund, aber auch um eine im Jetzt angesiedelte Coming-of-Age-Geschichte eines Jungen, der aufgrund schulischer Leistungen und akademischer Ambitionen beste Aussichten hat, dem migrantischen Prekariat seiner Eltern zu entkommen. Der Protagonist dieses Romans, Arda Kaya, liegt mit der Diagnose Organversagen auf der Intensivstation, sein Immunsystem schädigt durch eine fatale Fehlfunktion die eigene Leber. Alle Therapie-Versuche der Ärzte sind bisher erfolglos geblieben. «Trotzdem würde ich jedem von ihnen die Hand küssen, würden sie es doch noch hinkriegen, dass ich dieses Zimmer nicht mit den Füßen voran verlasse.»

Im Sterben liegend wendet sich der Ich-Erzähler Arda in Briefform an den abwesenden Vater, den er nie kennen gelernt hat. Einzige Verbindung zu ihm ist sein «Vatermal», wie er das Muttermal nennt, das er von seinem Vater geerbt hat, was ein altes Foto beweist. Metin Kaya hat in der Türkei einen politisch motivierten Mord begangen und wird dort in bestimmten Kreisen als Held gefeiert. Nach einem verheerenden Erdbeben emigriert er mit seiner Frau nach Deutschland. Sie lassen ihre Tochter Aylin zunächst in der Obhut der Verwandtschaft und holen sie dann drei Jahre später zu sich ins Ruhrgebiet, wo dann auch ihr Sohn Arda geboren wird. Später geht der Vater, obwohl ihm dort Gefängnis droht, zurück in die Türkei und lässt seine Familie in prekären Verhältnissen zurück. Die Mutter schlägt sich mehr schlecht als recht alleine durch, arbeitet in einem Imbiss und meistert im Kampf mit einer zähen Ausländer-Bürokratie schließlich sogar den für die Familie lebenswichtigen Einbürgerungsakt als Deutsche. Er müsse, erfährt Arda, obwohl hier geboren und aufgewachsen, zur Einbürgerung spontan einen mindestens 300 Zeichen langen Pflichttext in Deutsch schreiben. Wütend über diesen bürokratischen Schwachsinn schreibt der inzwischen Zwanzigjährige und an der Uni für das Fach Literatur eingeschriebene Arda unter anderem: «Ich werde eure Töchter vögeln, bis sie arabisch sprechen.» Er bekommt denn auch um Handumdrehen die begehrte Einbürgerungs-Urkunde, die er für seinen deutschen Pass braucht.

Es sind die sozialen und politischen Hürden und Fallstricke, von denen dem abwesenden Vater Metin in diesem Roman berichtet wird. Eine Geschichte vom Scheitern, ausgelöst vom Absturz der Mutter als Alkoholikerin. Die älteste Tochter Aylin, zeitweise Ersatzmutter und engste Vertraute des Ich-Erzählers, verlässt nach endlosen, heftigen Querelen mit der Mutter die gemeinsame Wohnung. Sie spricht fortan kein Wort mehr mit der Mutter und vermeidet jedes Zusammentreffen. Sohn Arda durchlebt die Exzesse der in prekären Verhältnissen aufwachsenden Jugendlichen, die am Bahnhof herumhängen, Joints rauchen und Drogen verticken, sich als Rapper versuchen, ansonsten nur Blödsinn machen oder sich prügeln. Eine kleinkriminelle Szene mithin, zu der auch immer wieder Kontrollen der Polizei gehören, denn junge Männer mit migrantischem Hintergrund sind ja immer verdächtig!

Dieses bedrückende Auseinanderbrechen einer migrantisch türkischen Familie wird in einem gut durchdachten Plot mit einer betont lockeren Sprache in 21 Kapiteln geschildert. Die Briefform des ersten Kapitels wird allerdings nicht durchgehend eingehalten, Vater Metin als Du-Adressat des Erzählten wirkt somit formal nicht gerade überzeugend. Geradezu erfrischend hingegen ist die lockere, durchaus real wirkende Sprache des Romans, die insbesondere in dem krassen Slang der heutigen Underdog-Jugend zum Tragen kommt. Dem unverkennbar lakonischen Erzählton ist stets auch eine ordentliche Prise Humor beigemengt, wobei insbesondere die extrem lässig wirkenden, lockeren Dialoge von einem Zeitgeist zeugen, wie er aktueller kaum sein kann.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Claasen München

Crossroads

Jonathan Franzen hat es wieder getan.

Mit „Crossroads“ geht Franzen konsequent den Weg weiter, den er in „Die Korrekturen“ bereits äußerst erfolgreich beschritten hat. Er greift einmal mehr tief hinein in diesen Schmelztiegel an Schicksalen, den man schlichtweg Leben nennt. Sein Spezialgebiet: Familienleben. In Crossroads nimmt uns der Autor mit in das Leben der US-amerikanischen Familie Hildebrandt Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts.

Pikant, wie Franzen bereits mit dem Titel spielt und Ahnungen generiert. Crossroads bedeutet im Englischen sowohl Wegkreuzung als auch Scheideweg. Nichts anderes passiert in dieser, nein doch eigentlich in jeder Familie. Zuerst treffen sich stets und überall Vater und Mutter, die aber auch beide ihre ganz individuelle Vergangenheit haben, ihre guten Seiten, aber auch ihre Marotten und Schattenseiten. Bei Franzen sind es Vater Russ, Pastor in einer Vorstadtgemeinde und Möchtegern-Gigolo, und Mutter Marion, die über die monotone Erfüllung mütterlicher und familiärer Pflichten äußerlich zur Matrone degeneriert ist. Und dann kommen natürlich wie immer früher oder später die Kinder dazu, die die Lebenswege der Eltern und ihrer Geschwister kreuzen. Mal für eine kürzere, mal für eine längere Zeit. Mal in Harmonie, oft aber wegen der divergierenden Persönlichkeitsentwicklung auch im Dissens, der bis zum Hass gehen kann. Wiedererkennungseffekte? Aber natürlich, alles andere wären erfolgreiche Verdrängungsmechanismen, um nicht von der rosa Wolke zu fallen. Clem, Becky, Perry und Judson heißen die vier beispielhaften Kinder-Charaktere bei Franzen.

Dass Crossroads nebenbei auch der Name einer kirchlichen Jugendgruppe im Buch ist, gerät in Anbetracht der Metaphorik des Gesamtromans fast zur Nebensächlichkeit.

Das Grundkonstrukt dieses Familien-Epos bietet Raum für alles, was Familien landläufig ausmacht. Da gibt es Ehebruch, Drogensucht, psychische Erkrankungen, Lebenssinnkrisen, Ablöungsprozesse, ungewollte Schwangerschaft, Geschwisterkonflikte, Trennungsabsichten, um nur die essentiellsten zu nennen. Einen erwähnenswerten zusätzlichen Fokus richtet der Autor in „Crossroads“ auf das Thema Glauben. Das Panoptikum religiöser Überzeugungen reicht von Religion als Job über eine völlig kritikunfähige Verblendung sowie die Rückkehr zum Glauben durch eine plötzliche, imaginäre Erleuchtung bis hin zum überzeugten Atheismus. Dabei nimmt Franzen scheinbar die Funktion des aussenstehenden Erzählers ein. Er scheint vordergründig nicht zu werten. Nicht immer kann man ihm diese Rolle abnehmen und fragt sich dann als Leser an der ein oder anderen Stelle, ob man sich nicht doch einer geschickt gewobenen Persiflage religiöser Geisteshaltungen gegenüber sieht. Wo ist der Roman einfach nur Storytelling oder wo sind die Messages versteckt? Ein guter Autor wie Franzen lässt das offen.

All diese facettenreichen Komponenten einer Familiendynamik mixt Franzen mit einem Schuss Dramatik zu einem qualitativ hochwertigen Potpourri. Zusammen mit seinem schon in „Die Korrekturen“ bestechenden Gefühl für den richtigen Flow und das richtige Schreibtempo reiht sich Franzen mühelos ein in die lange Liste anderer großer US-amerikanischer Geschichtenerzähler wie John Steinbeck, T. C. Boyle, Ernest Hemingway und viele andere. Aber das wussten Franzen-Leser ja schon.

In Summe beste Unterhaltung, viel Buch fürs Geld und ganz nebenbei eine ganze Menge philosophischer und sprachlicher Highlights. Drei verführerische Kostproben aus dem Schatzkästchen eines literarischen Ausnahmekönners: „Sein Schmerz und sein Hass waren von einer horizontlosen Totalität“, „Die Abwesenheit von Negativa ergab nicht zwingend ein Positivum“ und „Hoffnung war die Zuflucht der Dämlichen“.

Und die Quelle Franzen scheint unerschöpflich. Sicherlich zur Freude des Verlags. Teil zwei und Teil drei der Generationen übergreifenden Saga sind angekündigt.


Genre: Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Rowohlt

Die sieben Monde des Maali Almeida

 

Groteske aus dem Totenreich

«Die sieben Monde des Maali Almeida», der zweite Roman des sri-lankischen Schriftstellers Shehan Karunatilaka, erhielt 2022 den britischen Booker Prize. In ihrer Begründung hebt die Jury «den Anspruch, die Perspektive, das Geschick, den Mut und die Komik der Ausführung» hervor und betont, dass dieses Buch auch «weiterhin gelesen und weiterhin lesenswert sein werde.» Protagonist dieser Anfang der Neunziger Jahre in Colombo, der Hauptstadt des ehemaligen Ceylon, angesiedelten Geschichte ist der schwule Foto-Journalist Maali Almeida, der nach seinem gewaltsamen Tod in einem absurden Zwischenreich erwacht. Er habe, wird ihm vom Personal der ‹himmlischen Einwanderungs-Behörde› erklärt, sieben Tage Zeit, das «Licht» zu erreichen, gemeint ist der endgültige Übergang vom Totenreich ins Jenseits.

In einem von Geistern und Dämonen bevölkerten, grotesken Setting will der tote Kriegsfotograf diese Zeit nutzen, um herausfinden, von wem und warum er getötet wurde. Außerdem möchte er unbedingt noch erreichen, dass seine Sammlung politisch äußerst brisanter Fotos, die er vorsichtshalber immer gut versteckt hat, nun wenigstens posthum doch noch veröffentlicht wird, um damit erstmals auch einem breiten Publikum zugänglich zu werden. Er erhofft sich, auf diese Weise politischen Druck auszulösen, um die desaströsen Verhältnisse in seinem von Korruption und Bürgerkrieg gebeutelten Heimatland zum Besseren zu wenden. Im Verlauf des skurrilen Plots erinnert sich der unverbesserlich Zocker Maali Almeida an wichtige Stationen seines turbulenten Lebens und damit auch an das politische Geschehen in Sri Lanka zu jener Zeit. Tatsächlich gelingt es ihm in einem wahrhaft grotesken, irrealen Geschehen, als Toter auf die Lebenden einzuwirken, so dass seine Fotos dann auch tatsächlich ausgestellt werden. Allerdings wird damit nicht die erwartete politische Wende erreicht, der erhoffte Skandal bleibt aus.

Gleich zu Anfang dieses Totentanzes erlebt der Protagonist, wie seine, und die Leichen anderer, von dafür eigens angeheuerten Arbeitern in einem See versenkt werden sollen. Das gelingt den ziemlich trotteligen Männern aber nicht, so dass schließlich alle Toten notgedrungen ins Kühlhaus zurück transportiert werden müssen. Der Roman ist regelrecht gespickt mit grausamen Szenen. Da werden menschliche Leiber in Stücke zerlegt, es gibt scheußliche Foltermethoden, man begegnet hunderten von Leichen, die Opfer politischer Kämpfe waren, aber oft auch einfach nur willkürlich zum Tode befördert wurden. Die Todes-Schwadronen in Sri Lanka bestehen stets aus Männern, «die keine Soldaten und keine Polizisten» sind, wie es immer wieder heißt im Roman; es herrscht die reine Anarchie. Bei aller cool geschilderten Grausamkeit ist aber stets auch ein Quentchen Humor im Spiel, was der Lektüre ihren ansonsten reichlich vorhandenen Schrecken nimmt.

Man gewöhnt sich als Leser sehr schnell an die irrealen Elemente dieser kreativ gestalteten Groteske aus der Geisterwelt, die Tod und Töten als Normalität behandelt, indem ein Zwischenreich einfügt wird, das den Schauplatz dieses Romans bildet. Er spiegelt damit auf raffinierte Weise seine fiktive, unfassbare Fantasiewelt in den realen, chaotischen Zeiten des Bürgerkriegs. Erzählt wird durchweg in der zweiten Person, also in der Du-Form, und immer auch aus der Perspektive des toten Protagonisten. Dabei werden viele politische Erkenntnisse und diverse philosophische und theologische Themen, meist in Dialogform, eingeblendet, wozu nicht zuletzt die Theodizee gehört. «Jede Zivilisation beginnt mit einem Völkermord», heißt es da zum Beispiel. Ein Figuren-Register und ein Glossar helfen dem Leser bei der Lektüre des umfangreichen Romans, den man sich ein wenig gestraffter wünscht, weil er doch einige Längen aufweist. Mit oft überraschenden zeitlichen und thematischen Sprüngen erfordert er zudem, neben Durchhalte-Vermögen, auch die volle Aufmerksamkeit. «Der Roman sprudelt vor Energie, Einfallsreichtum und Ideen», so die Booker-Prize-Jury von 2022. Dem kann man letztendlich nur zustimmen!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Echtzeitalter

 

Es war die Hölle

Tonio Schachinger hat mit seinem zweiten Roman «Echtzeitalter» 2023 den Frankfurter Buchpreises gewonnen. Der zunächst etwas kryptisch erscheinende Titel wird verständlich, wenn man erfährt, dass Till, der Protagonist dieser Coming-of-Age-Geschichte, ein begeisterter Gamer ist und es schon als Schüler zum anerkannten Champion des Echtzeit-Strategiespiels «Age of Empires 2» gebracht hat. Bei diesem Computerspiel agieren weltweit die Internet-Spieler in Echtzeit, also simultan und zur realen Zeit. Für den anfangs 10jährigen Pennäler eines teuren, exklusiven Wiener Internats, das Till als Externer in Ganztags-Betreuung besucht, ist das Spiel eine Art zweite Wirklichkeit, die ihm hilft, das nervige Schulleben in dieser strengen Eliteschule zu ertragen.

Vielleicht aber ist ja auch sein suchtartiger Spieltrieb Ursache für seine schulischen Probleme und damit für seinen selbstsüchtigen Eskapismus, überlegt man sich als Leser schon nach wenigen Seiten. Tills Eltern leben in Scheidung, die als Spezialistin für jugendliche Suchtprävention von Termin zu Termin eilende und nach dem frühen Tod des Vaters alleinerziehende Mutter ist ganz offensichtlich überfordert. Sie greift nicht ein, wenn ihr anfangs zehnjähriger Sohn, manchmal bis in die Morgenstunden hinein, am Computer in seiner Spielewelt verbringt. Tonio Schachinger stellt diesem ungesunden Lotterleben ein restriktives schulisches Leben gegenüber, das mit deutschen Verhältnissen vertraute Leser nicht für möglich halten dürften. Besonders der Klassenvorstand, Professor Dolinar, ist ein despotischer, schon fast sadistischer Lehrer für Deutsch und Französisch, dessen vorgestrige Lehrmethoden und erzkonservativen Ansichten eine der beiden tragenden Erzähllinie bilden. Er verdammt in großem Bogen die komplette Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, quasi alles, was nach Büchner kam. Zudem lässt er nur Deutschsprachiges gelten und beschränkt sich dabei verlagsseitig auch noch komplett auf die praktischen, gelben Reclamhefte.

Der realen Welt, hier im Extrem von Professor Dolimar verkörpert, steht mit der weltweiten Gamer-Szene, in der sich Till in jeder freien Stunde tummelt, die irreale gegenüber. Dieses Modell der zwei Welten, Schule und Leben, Alltag und Gamer-Paradies wird im Roman perfekt und mit leichter Hand in Erzählstoff umgesetzt. Ein Manko ist dabei allerdings nicht zu übersehen: Plagt man sich als Deutscher schon mit den diversen österreichischen Bezeichnungen herum, die der Autor scheinbar als allseits bekannt voraussetzt, so scheitert man erst recht beim nerdigen Gamer-Slang, mit dem Vorgänge beschrieben werden, die man ebenfalls nicht versteht. So kapituliert denn auch Tills diesbezüglich unbedarfte Mutter in einer Szene am Ende, als er zum ersten Mal versucht, sie eines seiner Computerspiele spielen zu lassen, – sie versteht kein Wort, wie wir Leser ja auch nicht! Beides, Computer- und Österreich-Slang, trübt den Lesegenuss der ansonsten flüssig zu lesenden Pennäler-Geschichte, die mit einem ironischen Unterton erzählt wird, in dem – Kästner lässt grüßen – auch viel Humor steckt.

Tonio Schachinger kennzeichnet seine Figuren vor allem durch ihre intellektuellen Fähigkeiten, die vor allem in stimmigen, wortgewandten Dialogen zum Ausdruck kommen. Neben im Roman beiläufig eingestreuter Kritik an der wohlstands-verwahrlosten Gesellschaft seines Heimatlandes ist insbesondere ein literarischer Wettbewerbs-Beitrag von Feli, der Schulkameradin und ersten Liebe von Till, eine köstliche Abrechnung mit dem Vaterland. Scharfsichtig prangert sie in ihrem Rundumschlag neben der vorgestrigen Pädagogik an ihrer Eliteschule insbesondere die nach wie vor unbewältigte Nazi-Vergangenheit vieler Landsleute an, fruchtbarer Nährboden für die anhaltende Rechtsdrift des politischen Spektrums in Österreich. Till aber, soviel sei verraten, ist nach der Matura der jüngste Topspieler der Welt. Und zu seinem Internat sagt Till am Ende nur eins: «Es war die Hölle.»

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Blutbuch

Nonbinäre Selbstfindung

Die unter dem Pseudonym Kim de l’Horizon schreibende Person nichtbinärer Geschlechts-Identität hat mit dem Debütroman «Blutbuch» den Deutschen Buchpreis 2022 gewonnen. In der Begründung der Jury heißt es: «Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht? […] Jeder Sprachversuch, von der plastischen Szene bis zum essayartigen Memoir, entfaltet eine Dringlichkeit und literarische Innovationskraft, von der sich die Jury provozieren und begeistern ließ.» Nicht so begeistert dürften viele Leser von den analsexuellen Exzessen sein, die diesen sprachlich innovativen, die Postmoderne parodierend hinter sich lassenden Bildungsroman in vielerlei abstoßenden Passagen – bereichern?

Diese einfach nur als eklig empfundenen Szenen suchen ihresgleichen in der gehobenen Literatur, und vergleichbar Verstörendes dürfte auch in den Leselisten «normaler» Romanleser kaum zu finden sein. Mir ist in fünf Jahrzehnten eifrigen und begeisterten Lesens derartig Abstoßendes jedenfalls noch nicht untergekommen! Muss man sich das antun, fragt man sich da? Bei einem mit dem bedeutendsten deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman sollte man sich das schon antun, er markiert ja schließlich einen von Experten ausgeloteten, aktuellen literarischen Höhepunkt. Hoffentlich, so wird Mancher nach der Lektüre denken, markiert «Blutbuch» nicht etwa die Richtung, in die sich die Literatur des 21ten Jahrhunderts entwickeln wird!

Dem derzeitigen Trend zum autofiktionalen Erzählen folgend hat auch dieser Roman einen nonbinären Ich-Erzähler namens Kim, der/die? seinerseits schreibt. Die Großmutter ist an Demenz erkrankt, und Kim beginnt sich zunehmend eifriger mit der familiären Vergangenheit auseinander zu setzen. Besonders die ungeklärte weibliche Blutslinie steht im Mittelpunkt der Recherchen, die durch unzählige Briefe und Notizen, vor allem aber durch Dialoge mit den weiblichen Bezugspersonen von Kim, der Mutter und der Großmutter, vorangetrieben werden. Ziel aller dieser Bemühungen ist die Selbstfindung von Kim, seine/ihre Ich-Werdung im falschen Körper. Dabei dient ihm/ihr die Blutbuche, die einst der Großvater im Garten gepflanzt hat, als botanische Metapher für den familiären Stammbaum. Der Historie dieser Baumart ist ein breiter Raum im Roman gewidmet, der, wenngleich biologisch durchaus interessant und den Horizont erweiternd, nun nicht gerade zum romangemäßen Lesevergnügen beiträgt.

«Es sollte ein queerer Text sein», hat Kim de L’Horizon im Interview erklärt. Folglich ist dieser als radikaler Befreiungsakt anzusehende Debütroman stilistisch nichtlinear angelegt, er oszilliert vielmehr, völlig ohne Plot auskommend, unkonventionell in diversen Erzählformen, sprachlichen Varianten, Neologismen und anderen Stilmitteln. Das geht so weit, dass der 33seitige letzte Teil des fünfteiligen Romans, ein Brief an die «Grandma», in Englisch verfasst ist. In einer Fußnote wird darauf hingewiesen, dass am Ende des Buches eine deutsche Übersetzung zu finden sei. Die dann wiederum, man vermutet einen Fehldruck, auf dem Kopf steht, die Nummerierung der Seiten beweist aber: Alles richtig, es ist so gewollt, – warum auch immer! Muss denn ein Roman, der sich mit der bestimmt nicht einfachen Ich-Werdung einer nichtbinären Person beschäftigt, derart manieriert geschrieben sein? Bis zum Layout hin unkonventionell? Soll das die Andersartigkeit eines Paradiesvogels namens Kim symbolisieren? Jedenfalls gibt dieser experimentelle Roman keine Antworten auf die schwierigen Fragen, mit denen sich Kim herumplagt auf der Suche nach seinem wahren Ich. Insoweit ist «Blutbuch» auch für den Leser nicht hilfreich, jedenfalls nicht für den heterosexuellen! Zweifellos aber, das muss man ihm lassen, ist dieser Roman ein literarischer Beitrag zu dem hochaktuellen Diskurs über diese schwierige Thematik. Aber reicht denn das, um alle literarischen Konventionen so radikal über Bord zu werfen, fragt man sich irritiert als Leser.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by DuMont

Die geheimste Erinnerung der Menschen

 

L’art pour l’art

Als Ritterschlag in der französischen und frankophonen Literatur gilt der Prix Goncourt, der 2021 an den senegalesischen Schriftsteller Mohamed MBougar Sarr für seinen Debütroman «Die geheimste Erinnerung des Menschen» verliehen wurde. Im Mittelpunkt dieses autobiografisch inspirierten Bildungsromans steht der ebenfalls afrikanische Autor T.C. Elimane, der 1938 mit seinem schon bald als Kultbuch angesehenem «Labyrinth des Unmenschlichen» vom Feuilleton als ‹Schwarzer Rimbaud› überschwänglich gefeiert wurde. Der allerdings rassistisch angefeindete Autor war dann nach einem Plagiatsskandal untergetaucht und blieb, wie bald auch sein Buch, spurlos verschwunden. Genau dieses Buch fällt Diégane, dem jungen Ich-Erzähler des vorliegenden Romans, 2018 durch Zufall in die Hände. Und es fasziniert ihn so, dass er sich spontan auf die Suche macht und rastlos den wenigen Spuren des verschollenen T.C. Elimane folgt, während er seinerseits ein Buch schreibt. Der komplizierte Plot mit seinen elf trickreich ineinander verschachtelten Kapiteln hat folglich eine klassische Buch-im-Buch-Struktur.

Die Literatur als Kunstform spielt die Hauptrolle in diesem Roman, der mit unterschiedlichsten Erzählformen aus unterschiedlichsten Perspektiven um das Leben des verschollenen Autors und um das sagenhafte Buch kreist. Es ist nicht gerade leicht, den diversen Erzählebenen mit ihrer Thematik von Kolonialgeschichte, afrikanischer Identitätssuche und den vielschichtigen Problemen des Erinnerns zu folgen. Stilistisch unverkennbar ist dabei der Einfluss der postmodernen Erzähltheorie. Roland Barthes, aber auch Jean-Paul Sartre stehen Pate, und es wird immer wieder auch sehr ausführlich zitiert. Auskunft darüber gibt am Ende des Buchs eine Liste mit Nachweisen von Zitaten und längeren «Anleihen». Genannt sind dort die deutschen Übersetzungen von Roberto Bolaño, Aimé Césaire, Franz Fanon, Victor Hugo, Milan Kundera, Stephane Mallarmé und Thomas Sankara. Einige der Namen dürften prosaorientierten Romanlesern kaum geläufig sein, – aber da hilft ja das Internet weiter!

Ohne Zweifel spricht aus dem Erzählstoff des unkonventionellen Romans eine beachtliche Belesenheit des Autors, der in seinem Text dann auch immer wieder darauf hinweist, dass Lesen, und zwar viel lesen, die unabdingbare Voraussetzung für das Schreiben ist. Es werden aktuelle Diskurse zum Thema Identität – und zwar afrikanische – in den Erzählstoff einbezogen. In dem vielstimmigen Chor der Ich-Erzähler sind in Form von Notizen, Interviews, datierten Tagebuch-Einträgen und inneren Monologen zudem unzählige literarische Verweise enthalten. Der eigenwillige Autor lässt allerdings Vieles auch im Ungewissen, im Mysteriösen, sogar bei seinem komplexen Spiel mit Identitäten und Erinnerungen. Er regt so, immer wieder neu, die Phantasie seiner Leser an!

Jedem Romanleser, der einigermaßen belesen ist, dürfte klar sein, dass es den ‹Roman der Romane›, den einmaligen, alle Erwartungen weit übertreffenden Idealroman nicht gibt, man denke nur an die Vielstimmigkeit des Feuilletons! Aber gerade diese Schimäre ist das Thema von Mohamed MBougar Sarr, dessen Protagonist bei seiner abenteuerlichen Suche an den verschiedensten Schauplätzen unbeirrt einem Phantom nachjagt. Abgesehen von solch irrealer und damit zunehmend langweiligerer Thematik führt die fragmentarische Erzählweise in ein literarisches Labyrinth ohne Ausgang, in dem man ziemlich hilflos umherirrt. Es fehlt ganz einfach der Rote Faden in dieser Geschichte voller Verästelungen, deren Humor ebenso fragwürdig ist wie das Frauenbild, das hier machohaft gezeichnet wird. Fragwürdig sind auch die philosophischen Erkenntnisse und ‹Weisheiten›, die hier in vielen völlig sinnfreien Sätzen artikuliert werden und über die nachzudenken ebenfalls eine Sackgasse ist. Man hat den Eindruck, dass der senegalesische Autor, der in Frankreich Literatur und Philosophie studiert hat, stolz all sein akademisches Wissen in diesem Roman unterbringen wollte, wobei aber leider keine sinnstiftende Struktur erkennbar ist, – als Literatur mithin nur l’art pour l’art!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München