Gruselige Täter-Opfer-Umkehr
Als Neuauflage ist nach 56 Jahren der Sammelband «Die blutige Kammer» der britischen Autorin Angela Carter jetzt wieder in einer neuen Übersetzung auf Deutsch erschienen. Das Buch gehört zum Genre der Horrorliteratur, wobei das Besondere darin besteht, dass hier klassische Märchen in radikaler Weise in feministische Schauerliteratur umgewandelt wurden. «Es ging mir nicht darum», hat sie erklärt, «‹Versionen› oder … ‹Erwachsenen-Märchen› zu schreiben, sondern den latenten Inhalt der traditionellen Geschichten zu extrahieren und ihn als Ausgangspunkt für neue Geschichten zu verwenden›». Märchen sieht sie nicht als zeitlos an, sondern als in ihrer jeweiligen Zeit verankert. Als kämpferische Feministin empfindet Angela Carter die Rolle der Frauen im Märchen als generell prekär und dreht in ihren Geschichten den Spieß deshalb radikal um, lässt also gequälte junge Mädchen in die Rolle derjenigen schlüpfen, die das Böse verkörpern und nun ihrerseits gequält werden. Vielleicht trägt diese Neuerscheinung ja dazu bei, dass diese Schriftstellerin nun in Deutschland wiederentdeckt wird.
Beginnend mit der titelgebenden und mit Abstand längsten der zehn Geschichten, eine Anverwandlung des «Blaubart»-Themas, ist deren Ich-Erzählerin ein blutjunges Mädchen, dessen Vater beim Spielen sein gesamtes Vermögen verliert und als letzten Einsatz seine Tochter anbietet. Prompt verliert er wieder! Daraufhin muss sie nun den deutlich älteren Gewinner des Spiels heiraten und kommt dann schicksalsergeben in sein Schloss. Dort ist sie als Hausherrin von immensem Reichtum umgeben, der Furcht einflößende Mann aber kostet nun genüsslich ihre Unerfahrenheit. Als er schon am nächsten Tag verreisen muss und seiner frischgebackenen Ehefrau alle Schlüssel anvertraut, entdeckt sie die für sie strengstens verbotene, titelgebende Folterkammer. Dort findet sie die einbalsamierten Leichen ihrer Vorgängerinnen und ruft entsetzt ihre Mutter an. Die kommt in letzter Sekunde angeritten und erschießt beherzt den vorzeitig zurückgekehrten, bösen Schwiegersohn, der ihre Tochter bedroht. Kein Wunder übrigens, schließlich hatte die Mutter ja auch schon mal einen Löwen erschossen, der ihr gefährlich geworden ist. Die beiden Frauen obsiegen also, nicht der mörderische Blaubart!
Weitere Erzählungen adaptieren Märchen vom «Gestiefelten Kater», «Rotkäppchen», «Schneewittchen» und «Die Schöne und das Biest» bis hin zu Goethes «Erlkönig», variieren in drei Erzählungen aber auch genüsslich das Gruselthema «Werwölfe». Wobei letztere natürlich das längst widerlegte Klischee vom blutrünstigen Wolf bedienen und ihm eifrig weitere Facetten hinzufügen. Unbekümmert verwandeln sich in diesem ambitionierten Band Menschen zu Tieren und umgekehrt, so wie dabei auch oft das Gute und das Böse die Rollen tauschen. Und die geschundenen weiblichen Figuren, egal ob Heldinnen oder Antiheldinnen, sinnen hier stets auf Rache, gerade weil sie andererseits, oft vergeblich, alle auch auf Liebe hoffen. Typisch für die Orte der Handlungen sind verfallene, unwirtlich kalte Schlösser mit gruseligen Schlossherren als Bewohner, oder aber armselige, schmutzstarrende Hütten im dunklen Wald.
Was das Thema Sexualität anbelangt, hat die britische Autorin in ihre phantasievollen Geschichten beherzt erotische Szenen eingefügt, die ihre jugendfreien historischen Vorbilder in eine zwar auch schaurige, aber weniger märchenhaft naive Gegenwart transferieren. Damit verschafft sie ihren unverkennbar ironischen Schilderungen einen gewissen Drive, der durchaus passend wirkt und all dem Horror auf wohltuende Weise sogar etwas von seinem Schrecken nimmt. Stilistisch sind diese burlesken Erzählungen allerdings deutlich überfrachtet mit Metaphern, was andererseits für Märchen ja nicht ganz untypisch ist. Die von Maren Kames in ein adäquates, leicht lesbares Deutsch übersetzten Geschichten sind eine angenehme Lektüre, – allerdings nur, sofern man, angesichts des täglichen Horrors in den Nachrichten, dieser literarischen Genre-Nische denn überhaupt etwas Positives abgewinnen kann!
Fazit: mäßig
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