Das Gleichgewicht der Welt

Auch wenn das Buch von Rohinton Mistry, einem kanadischen Autor indischer Herkunft, irgendwann zwischen 1966 und 1984 angesiedelt ist, hat seine Szenerie mit Sicherheit bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Es handelt von Zeiten, in denen Indira Gandhi (die nicht mit Mahatma Gandhi verwandt war) in Indien zwei längere Perioden als Premierministerin amtierte. Zeiten, in denen diese versuchte, dem fortwährenden politischen und humanitären Chaos des Subkontinents Herr/Frau zu werden.

In dieser Kulisse erschafft Mistry vier Protagonisten, deren teilweise schockierende Einzelschicksale sie für eine kurze, aber glückliche Zeit zusammenführen, bevor ökonomische, politische und menschliche Zwänge dazu führen, dass sich ihre Wege zum Teil wieder trennen.

Das Buch ist kein Werk für Liebhaber von Happy Ends, von rosaroten Brillen oder des „Eigentlich ist doch alles gar nicht so schlimm“-Slogans. Will man das alltägliche Leben in Indien beschreiben, ist dafür auch kein Platz. Die Realität ist Existenzkampf pur, der tägliche Kampf ums nackte Überleben. Ab Geburt das permanente Bestreben, nicht in die gnadenlose Maschinerie der politischen Willkür oder der Kasten-Fehden zu geraten. Jeder für sich unter 1,4 Milliarden anderen Indern.

Seine vier exemplarischen Lebensläufe baut Mistry gut auf und aus. Das gesellschaftliche Stimmungsbild ist hervorragend koloriert. Allerdings leidet der Gesamteindruck sehr stark unter seiner Liebe zu schier nicht enden wollenden Dialog-Passagen. Das ermüdet und lässt das Panoptikum an emotionalen Bildern gelegentlich verblassen.

Eine Frage begleitet den Leser durch das monumentale Werk. Bei all dem Elend, bei all den Schicksalsschlägen, bei all den menschlichen Katastrophen – wo ist denn nun das Gleichgewicht bei seinen Figuren oder gar auf dieser Welt?

Dazu muss man wissen, dass Rohinton Mistry der ethnischen Gruppe der Parsen angehört, die Anhänger der Lehre des Zoroastrismus sind. Der religiöse Glaube des Zoroastrismus bewertet die Schöpfung des Gottes Ahura Mazda prinzipiell erst einmal als gut. In dieser Welt ringt das Gutsein aber beständig zwischen den guten und den bösen Mächten, versucht also zwischen beidem ein Gleichgewicht zu erreichen. Beides und auch der permanente, alltägliche Kampf sind Inhalt des Lebens, das ob seines göttlichen Ursprungs genau so zu akzeptieren ist.

Neben der ein oder anderen Anspielung auf den Buchtitel im Text, legt Rohinton Mistry nur an einer Stelle einem Protagonisten eine schon eher erklärende Analogie in den Mund:“ … es sei alles Teil des Lebens, dass das Geheimnis des Überlebens darin bestehe, ein Gleichgewicht zwischen Hoffnung und Verzweiflung zu finden, sich auf Veränderungen einzulassen.“

Ein monumentales Werk, dass einen ein Stück weit in einer Stimmung der Erschütterung, der Hilflosigkeit und der Ausweglosigkeit zurücklässt. Oder kann die eine oder andere Figur im Roman Mistry’s mit ihrer existentialistischen Reduktion auf das Lebensminimum im Vergleich zu einer westlichen Gesellschaft mit ihrer permanenten Sinn- und Singularitätssuche auch Vorbildfunktion haben oder zumindest als relativierender Weckruf verstanden werden?


Genre: Belletristik, Erzählung, Kulturgeschichte, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Zebra im Krieg

Der Pisser

Mit dem Zusatz «Nach einer wahren Begebenheit» hat der österreichische Schriftsteller Vladimir Vertlib für seinen neuen Roman «Zebra im Krieg» auf einen realen Bezug hingewiesen. Durch die offizielle Bagatellisierung der aggressiven Kämpfe im Roman als «erweiterte Polizeiaktion gegen Terroristen» wird überdeutlich auch auf den Ukrainekonflikt verwiesen. Es geht in diesem Roman um politischen Totalitarismus, dem heute mit seiner digitalen Variante im Internet eine nicht minder gefährliche, mediale Spielart als weiteres Lügenbabel zur Seite steht.

In einem quasi rechtsfreien Raum toben sich Hassprediger aller Couleur aus, so auch der arbeitslose Flugzeug-Ingenieur Paul Sarianidis. Der weiß mit seiner vielen Freizeit nichts Besseres anzufangen, als sich in einschlägigen Internet-Foren herumzutreiben und als Blogger seine Meinung in die Welt hinaus zu posten. In seiner nicht benannten balkanischen Hafenstadt tobt ein Bürgerkrieg, die multiethnische Einwohnerschaft sitzt in der Falle, man kann die umzingelte Stadt nicht mehr verlassen, die Rebellen haben sie vorübergehend in ihre Gewalt gebracht. Und ausgerechnet gegen den charismatischen Führer dieser Aufständischen hat Paul einen Hass-Kommentar geschrieben, in dem er ihn auf das Übelste beschimpft. Prompt stehen plötzlich Milizionäre vor der Tür des Mitte-Dreißigjährigen, die ihn zum Verhör mitnehmen. Dort trifft er auf sein verbales Opfer, den Rebellenführer Boris Lupowitsch, der ihn nun seinerseits beschimpft und derart bedroht, dass Paul sich vor Angst in die Hosen macht. All das wird mit zwei Kameras akribisch gefilmt und anschließend ins Netz gestellt. Paul erntet Hohn, Spott und eine traurige Berühmtheit als «Der Pisser». Dieses Begebnis ist nach Aussage des Autors übrigens authentisch. Der mit einer Ärztin verheiratete, mit Tochter und der eigenen Mutter zusammenlebende Paul wird nun auch zu Hause gescholten. Er hat die ganze Familie blamiert, was ihm besonders seine über alles geliebte, zwölfjährige Tochter Lena sehr übel nimmt.

Dieser dystopische Roman ist als Persiflage auf die Vorgänge in der Ost-Ukraine angelegt. Das Augenmerk des Autors liegt allerdings nicht auf dem politischen Machtpoker, sondern auf den dämonischen Kräften in den Köpfen der Bevölkerung, die sich im Internet eine Bühne suchen, um dort ihre vorgefassten Meinungen weiter anzuheizen, statt an einem Konsens mitzuwirken, um die Gegensätze zum Wohle aller zu überwinden. Als stadtbekannte Figur wird «Der Pisser» bei einem seiner ruhelosen Streifzüge durch die zerschossenen Straßen von einem grölenden Mob, zusammen mit der Intendantin des Theaters, symbolisch in einer vor Deck starrenden Bio-Mülltonne ‹entsorgt›. Pauls Versuche, sich mit Hilfe zweier PR-Spezialsten von seinem peinlichen Image zu befreien, scheitern kläglich, er wird nur finanziell ausgenommen von ihnen. «Ich will einmal im Leben das Richtige tun», beschießt der Antiheld und kümmert sich fortan um die alten jüdischen Hausnachbarn, die abgeholt worden sind. Es gelingt ihm tatsächlich, das Paar frei zu bekommen. Sie vertrauen ihm daraufhin ihren bescheidenen Schatz an, neben persönlichen Erinnerungsstücken vor allem 3000 Dollar, die er nach ihrem Tod der in den USA lebenden Tochter zukommen lassen soll, ehe sie der korrupte Staat kassiert.

Pauls multikulturelle Heimatstadt, ein Schmelztiegel aus griechischen, ukrainischen und koptischen Vorfahren sowie Russen, Armeniern, Türken, Juden und anderen Ethnien mehr, hat seinen Status als kosmopolitischer Sehnsuchtsort längst verloren. Nachdem in den Kämpfen auch der Zoo zerstört wurde, laufen plötzlich exotische Tiere durch die Stadt, so das titelgebende Zebra als Symbol für Friedfertigkeit. Die vom Autor als geharnischte Kritik an der Enthemmung in den sozialen Medien samt ihren Folgen angelegte Geschichte bleibt in der Form leider fragwürdig. Sie ist weder als Satire noch als Gesellschaftskritik wirklich überzeugend und wirkt in ihrer Slapstickartigkeit oft einfach nur albern.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Residenz Verlag

Der Silberfuchs meiner Mutter

Wahrheit gibt es ja sowieso nicht

In seinem neuen Roman «Der Silberfuchs meiner Mutter» erzählt der österreichische Schriftsteller Alois Hotschnig eine berührende Geschichte. «Dieses Buch gäbe es nicht ohne die Begegnung mit dem Schauspieler Heinz Fitz, der es mir erlaubt hat, entlang seiner Lebensgeschichte diesen Roman frei zu entwickeln», erklärt er in seiner Danksagung. Ich-Erzähler des Romans ist, wenig originell, Heinz Fritz, ebenfalls Schauspieler, der erst als Sechzigjähriger seinen richtigen Vater kennengelernt hat und zeitlebens auf den äußerst dürftigen Spuren seiner Herkunft das Schicksal seiner Mutter Gerda aufzuklären sucht.

Der einzige konkrete Beleg ist ein Dokument der Lebensborn-Organisation der SS, die in ihrem Arierwahn seine norwegische Mutter mit ihrem Sohn über Oslo, Kopenhagen, Berlin, München nach Hohenems in Vorarlberg geschickt hat, zur Familie seines Vaters. Der war Anfang 1942 als Obergefreiter verwundet nach Kirkenes im Norden Norwegens gekommen, sie war Krankenschwester dort und hatte sich mit dem Feind eingelassen. Das äußere Symbol ihrer Verbundenheit war der Silberfuchs, den Anton ihr dort geschenkt hat. Als sie dann schwanger wurde, hat ein Teil ihrer Familie sie als «Nazi-Hure» brüsk verstoßen. Aber auch in Hohenems ging es ihr nicht besser, die schöne Frau wurde von der österreichischen Familie ihres Geliebten als «Norweger-Hure» zunehmend abgelehnt, teils spielten allerdings auch religiöse Gründe eine Rolle dabei. Und sogar der leibliche Vater distanzierte sich plötzlich von ihr. Das Kind sei nicht von ihm, behauptete er, sondern von einem Russen, der ertrunken sei. Sie musste sich also allein durchschlagen, ein Zurück nach Norwegen gab es für sie als Kollaborateurin nun nicht mehr. Ende 1942 kam dann Heinz zu Welt, aus gesundheitlichen Gründen brachte sie ihn bei einem Bauern unter und sah ihn erst 4 Jahre später wieder. Als seine Mutter wieder heiratet, leidet Heinz sehr unter dem übergriffigen, sadistischen Stiefvater. Seinen leiblichen Vater aber hat er nur zweimal im Leben kurz gesehen, er hat jeden Kontakt abgelehnt.

Dieser Roman ist der breit angelegt Versuch des Ich-Erzählers, aus den offensichtlichen Lügen, ungeheuren Begebenheiten und aus den allerkleinsten Erinnerungs-Fetzen seine eigene Biografie zu rekonstruieren. Nicht nur seine Mutter, auch er selbst kommt in seelische Abgründe, begeht sogar unbeholfene Suizid-Versuche. Gleichwohl verbinden sie die Bücher, die Mutter liest ihm aus «Peer Gynt» vor, später auch aus «Andorra», und weckt damit sein Interesse an Literatur. Begeistert spielen sie einzelne Szenen nach, womit der berufliche Lebensweg von Heinz bereits vorgezeichnet ist. Er strebt eine Laufbahn als Schauspieler an und bereitet sich mit Hilfe seiner diversen Brot- und Butter-Jobs auf die Schauspiel-Schule vor.

«Bis ich mit sechzig Jahren, erst mit sechzig meinen richtigen Vater kennengelernt habe, diesen Anton Halbsleben in Hohenems, durch einen Theaterportier, der auch aus Hohenems war.» Unbekümmert um Grammatik verwendet Alois Hotschnig schon im ersten Satz eine holperige, häufig stockende, monologische Sprache. Die ist dazu angetan, dem Denken seines wurzellosen Helden einen Möglichkeits-Raum zu schaffen, um moralische und ethische Grenzen zu überwinden. «Wen lässt der Autor sprechen und wie» ist für Hotschnig die entscheidende stilistische Frage. In diesem düsteren und beklemmenden Psychogram geht es um die verzweifelte Suche eines zutiefst zerrissenen Menschen nach Liebe. Das Einzige übrigens, was zählt, denn Wahrheit gibt es ja sowieso nicht. Prompt wird das dann bestätigt, wenn ganz am Ende mit dem plötzlichen Auftauchen von Briefen der Mutter einige der bisherigen Gewissheiten ins Wanken kommen. Neben dem sperrigen Stil stören auch die seltsam blutleer bleibenden Figuren bei der Lektüre, was übrigens auch für beide Protagonisten gilt, vor allem aber ist ein nur rudimentäres Handlungsgerüst das größte Manko für den enttäuschten Leser.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Heimatlos

Die Deutschen als Opfer

Wie schon der Titel «Heimatlos» andeutet, handelt es sich bei dem neuen Roman der ungarischen Schriftstellerin Judit Kovats um eine Geschichte vom Verlust der Heimat. Als ihr erster ins Deutsche übersetzter Roman beschreibt er die mit dem Rückzug der deutschen Besatzer beginnende Vertreibung der Karpaten-Deutschen aus der Stadt Kesmark, die zur traditionellen Landschaft Zips in der nordöstlichen Slowakei gehört. Die Geschichte ist aus der Perspektive der zu Beginn 17jährigen Schülerin Lili erzählt.

Nach dem Partisanen-Aufstand 1944 marschiert die deutsche Wehrmacht in die Slowakei ein, alle deutschen Kinder werden im Rahmen der Kinderland-Verschickung von den Nazis zwangsweise nach Österreich geschickt. Später werden sie dann weiter nach Bad Reichenhall verlegt, Lilis Vater aber holt sie schon bald dort wieder ab, weil er befürchtet, sie in den zunehmenden Kriegswirren aus den Augen zu verlieren. Er bringt sie zu Verwandten im mährischen Olmütz, wo sie sicherer aufgehoben sei. Seit die neue Regierung jedoch per Dekret die Kollektivschuld aller Deutschen an den Untaten der Nazis festgestellt und sogar das Tragen einer Armbinde mit aufgenähtem «N» verbindlich vorgeschrieben hat, werden sie auch dort verfolgt. Denn den so geschaffenen rechtsfreien Raum nutzen vor allem die Partisanen, die voller aufgestauter Wut nur noch auf Rache sinnen und morden und brandschatzen. Lilli und ihre Familie müssen sich verstecken, werden sogar von ihren früheren Mitbürgern drangsaliert, obwohl doch dort im friedlichen multikulturellen Miteinander nicht selten «ein Satz auf Deutsch begonnen, auf Slowakisch fortgesetzt und auf Ungarisch beendet» wurde. Schließlich wird die Familie enteignet, in einem Sammel-Lager interniert und von dort zwangsweise nach Deutschland deportiert.

Dieser erste Teil des Romans berichtet von unsäglichen Massakern, beschreibt die odyssee-artige Vertreibung über viele Stationen hinweg Richtung Deutschland. Erzählt wird von geradezu viehischen Bedingungen, unter denen die Vertriebenen zu leiden haben und an denen viele von ihnen, unterernährt, von Ungeziefer befallen, unter hygienisch desaströsen Verhältnissen und ohne jede ärztliche Hilfe, elendig sterben. Diese leitmotivisch allzu häufig wiederkehrenden Schilderungen dominieren inhaltlich die erste Hälfte des Buches, sie erweisen sich aber mit der Zeit als langweilig und irgendwann sogar störend. Der Krieg schlägt gewaltige Breschen in die Gemeinschaft der Zipser Deutschen, Lilis Vater sitzt in einem Internierungslager und stirbt nach seiner Entlassung früh an den Folgen der Arbeit in einem Uranbergwerk, ihr Schwager gilt lange als im Krieg verschollen. Im zweiten Teil nimmt die Geschichte Fahrt auf, die Familie ist zu guter Letzt in Dachau gelandet, sie bewohnen als Flüchtlinge das ehemalige KZ. Auch hier warten zunächst Hunger und Entbehrung auf sie, aber auch wohlmeinende Amerikaner, die helfen. Mit der Zeit rappelt man sich auf, findet Arbeit, Lili verlobt sich mit einem angehenden Arzt, nimmt Klavierunterricht, die Mutter eröffnet eine Nähstube, man bekommt eine bescheidene Wohnung und kann das primitive Lagerleben hinter sich lassen.

Das Besondere an diesem Roman ist die selten anzutreffende, sudetendeutsche Perspektive, aus der er erzählt wird, wie einst die Juden sind jetzt die Deutschen Opfer. Mit Lili spricht eine naive junge Frau aus dem Volke, deren Augenmerk auf die eher profanen Dinge des Alltags gerichtet ist, die großen historischen Umwälzungen werden nicht thematisiert. Was aber nicht bedeutet, dass ihr die Schrecken der Vergangenheit nicht ‹in den Knochen› stecken. Selbst Jahre nach Kriegsende hat sie nämlich ständig den gepackten Rucksack bereit stehen, den sie seinerzeit schon bei ihrer Flucht benutzt hat. Er enthält Kleidung, Hygieneartikel und Konserven, und einmal im Jahr öffnet sie ihn am Karfreitag in einem feierlichen Ritual, wechselt die Kleidung gegen frische aus und ersetzt abgelaufene Konserven durch neue.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Nischen Verlag

Die Geschichte von der 1002. Nacht

Ein verhängnisvoller Besuch

Mit seinem 1939 posthum erschienenen Roman «Die Geschichte von der 1002. Nacht» hat Joseph Roth der morgenländischen Sammlung von Erzählungen eine ironische Ergänzung hinzugefügt. Das Buch wurde von Peter Beauvais 1969 für das Fernsehen verfilmt und gehört heute zu den zahlreichen Klassikern aus der Feder des österreichischen Autors, der für seinen vom Journalismus geprägten Erzählstil bekannt ist.

Mit großem Gefolge reist der Schah von Persien nach Wien, besucht also ein aus seiner Sicht exotisches Land. Auf einem zu seinen Ehren veranstalteten Ball entdeckt er unter den illustren Gästen eine wunderschöne blonde Frau. Der über einen Harem von 365 Frauen verfügende Potentat gibt seinem Großwesir den Auftrag, ihm diese Schönheit noch heute Nacht zuzuführen. Gräfin W. ist eine verheiratete Dame, die von allen Männern verehrt wird. Undenkbar für den entsetzten Polizeipräsidenten, an den sich der Großwesir gewandt hat, der Dame ernsthaft einen solchen Wunsch vortragen zu lassen. Stattdessen wendet er sich ratsuchend an Baron Taittinger, ein zur besonderen Verwendung bei Hofe abgestellter Rittmeister. Dem gelingt es zunächst, Graf und Gräfin W. zum sofortigen Verlassen des Balls zu bewegen. Eine ehemalige Geliebte von ihm hat eine frappante Ähnlichkeit mit der Gräfin, sie könnte deren Zwillings-Schwester sein. Die einfältige Mizzi arbeitet im Kurzwarengeschäft ihres Vaters und gelegentlich auch noch in einem anrüchigen Etablissement, also die Idealbesetzung für das von Taittinger vorgeschlagene Täuschungs-Manöver. Der Polizeipräsident ist begeistert, kümmert sich um alles weitere, und der Schah ist nach der ersehnten Liebesnacht so zufrieden, dass er seiner blonden Bettgefährtin eine sündhaft teure Perlenkette als Geschenk zukommen lässt, sie ist über Nacht eine reiche Frau.

Damit nimmt das Unglück seinen Lauf. In einer gekonnt angelegten, turbulenten Handlung beschreibt Joseph Roth das Unheil, welches sowohl bei Mizzi als später auch bei Taittinger, von dem sie ein missratenes Kind hat, und bei vielen weiteren Figuren durch dieses monströse Geschenk ausgelöst wurde. Ein mieser Schreiberling der Zeitung versucht aus der peinlichen Geschichte Profit herauszuschlagen, ein Betrüger schmeichelt sich bei Mizzi ein und wird nicht nur ihr Liebhaber, sondern auch ihr Geschäftspartner. Er verkauft in ihrem Laden gefälschte Brüsseler Spitzen, überredet auch Mizzis geldgierige Bordellmutter, sich finanziell zu beteiligen und plündert die kleine Firma planmäßig aus. Als schließlich alles auffliegt, landet auch Mizzi im Gefängnis. Und sogar auf Taittiger fallen die Schatten der Affäre zurück, er muss den Dienst quittieren. Leichtsinnig wie er ist, hat er zudem sein Gut sträflich vernachlässigt, ist überschuldet und findet sich auch im Privatleben nicht mehr zurecht. Als er sich Jahre später für eine Rückkehr in den Dienst bewirbt, wird bekannt, dass der Schah einen weiteren Besuch in Österreich plant, die deshalb hervorgeholten, alten Akten werden ihm nun erneut zum Verhängnis.

Die Ende des 19ten Jahrhunderts angesiedelte Geschichte ist eine ironische Gesellschafts-Studie der k. u. k-Monarchie mit ihrer Doppelmoral. Geld allein macht nicht glücklich, ist die Devise von Joseph Roths letztem Roman. Als großer Moralist seziert er die Verstrickungen der damaligen Gesellschaft und ihre typischen Verhaltensmuster, wobei seine Ironie nicht ins Amüsante abgleitet, sondern eher melancholisch die bedauernswerten Zustände beleuchtet. Die berechtigte Frage manch männlichen Lesers, was den Schah so an den Frauen seiner Gastgeber gereizt habe, wird im Roman sehr einleuchtend beantwortet: «Jede einzelne war lockender als ein ganzer Harem, angefüllt mit 365 rätsellosen, geheimnislosen, gleichgültigen Leibern. […] Welch vertrackte Raffiniertheit, die Gesichter der Frauen nicht zu verhüllen! […] Jede einzelne ein behüteter Edelstein». Dieses Buch mit dem originellen Titel ist auch heute noch eine lohnende Lektüre!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Anaconda

Der Feuerturm

Der Turm schützt uns

Um den neuesten Roman des rumänisch-stämmigen Schriftstellers Catalina Dorian Florescu mit dem Titel «Der Feuerturm» ist es merkwürdig still. Das deutsche Feuilleton hat sich vornehm zurück gehalten, während andere Bücher oft ja eilfertig schon unmittelbar nach ihrem Erscheinen besprochen werden. Erzählt wird hier die Geschichte einer rumänischen Familie über fünf Generationen hinweg, in der die Männer traditionell bei der Feuerwehr sind. Es ist auch ein Gesellschafts-Roman, und ein typischer Stadt-Roman obendrein, eine Hommage an Bukarest.

Der Roman wird eingeleitet mit der Legende von Iane, einem Unglücksboten, der aus dem Wald gelaufen kam und die Stadt vor einem nahenden Unheil warnen wollte. Auch der titelgebende Feuerturm hat eine solche Alarmfunktion, er wurde 1892 fertig gestellt und bietet mit 42 Meter Höhe eine weite Aussicht über Bukarest. Der dort oben diensthabende Feuerwehrmann alarmiert im Brandfall seine Kollegen und gibt ihnen Hinweise auf den genauen Ort des Brandes. «Dieser Turm ist eine Metapher für die Widerstandskraft der Menschen» hat der Autor erklärt. Im Roman fungiert er als Leitmotiv, um ihn rankt sich ein dichtes Geflecht von zeitlich vor und zurück springenden Geschichten und Episoden.

Ich-Erzähler ist der 1932 geborenen Victor Stoica, der froh ist, dass sein älterer Bruder Alex, der unumstößlichen Tradition folgend, Feuerwehrmann wird, er selbst hatte wenig Lust dazu. Lieber studiert er Geschichte. Im Laufe der Zeit wechseln sich, begleitet von heftigen Unruhen, die verschiedenen Regime ab. Als die Kommunisten zunehmend angefeindet werden, finden die Freiheitlichen auch auf der Uni Anhänger, zu denen auch Victor gehört. Prompt wird er als Klassenfeind denunziert, – er ahnt, wer dahinter steckt. Man holt ihn zu Verhör, er durchleidet eine unmenschliche Untersuchungshaft. Beim Prozess stellt sich sein stärkster Belastungs-Zeuge als jemand aus seinem unmittelbaren Umfeld heraus. Homo homini lupus! Denunziant und Zeuge stehen beide natürlich ebenfalls unter dem Druck der Securitate. Als er acht Jahre später entlassen wird, gibt er seine düsteren Rachepläne auf, er sucht nur noch ein ruhiges Plätzchen. Das findet sich bei einem jüdischen Schneider, der ihn einstellt, obwohl er gar nicht schneidern kann, er sucht eigentlich nur einen Gesprächspartner. Erst als der alte Schneider sein Ende nahen spürt, bringt er Victor, im Crashkurs sozusagen, das Schneidern bei, Victor soll das kleine Geschäft fortführen. Dort lernt er dann auch seine spätere Frau kennen, mit der er schließlich ein Kind hat und in einen Plattenbau zieht.

Man hilft sich gegenseitig in diesem Unterschichten-Milieu, da werden auch schon mal verhungernde Kinder von der Straße in die Familie aufgenommen. Das geschilderte Elend ist unsäglich und wird über die Zeiten hinweg im Kommunismus vom geradezu absurden Mangel als neuer Drangsal abgelöst. Bei alldem wirkt die Feuerwehr-Dynastie der Stoicas wie ein Fels in der Brandung, mit dem Turm als Symbol. Wobei die Frauen die dominante Rolle einnehmen, immer gestützt auf eine bedingungslos gläubige Religiosität, man läuft oft mehrmals am Tag in die Kirche und spricht für jeden Wunsch direkt den dafür zuständigen Schutzpatron an. Florescu bildet sehr überzeugend das Leiden unter der ständigen Fremdherrschaft Rumäniens ab, schildert detailreich das bunte Leben in den Gassen, das Gewusel auf den Märkten der Stadt. Was dann aber, durch allzu häufige Wiederholungen überstrapaziert, irgendwann langweilig wird. Neben den wilden Zeitsprüngen erschwert auch eine Überfülle von oft schwer einzuordnenden Figuren das Lesen. Die rumänischen Begriffe und Sätze tun ein Übriges, das schmalbrüstige Glossar hilft da meistens nicht. Was die Spannung anbelangt, nimmt der Roman erst im letzten Drittel etwas an Fahrt auf und lässt einen roten Faden erkennen. «Der Turm schützt uns» heißt es ganz am Ende, als Victor nach seiner aufmüpfigen Tochter sucht in den Wirren des Umbruchs von 1989.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München

Die weiße Garde

Hochaktuell

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine kommt dem Romandebüt «Die weiße Garde» von Michail Bulgakow plötzlich erhöhte Aufmerksamkeit zu, werden darin doch einige der Hintergründe für das aktuelle kriegerische Geschehen beleuchtet. Das 1924 erschienene Buch diente als Vorlage für das Theaterstück «Die Tage der Turbins», womit auch gleich die Protagonisten des autobiografisch inspirierten Romans genannt sind, die drei Geschwister Turbin. Thematisch wird in dieser Geschichte das politische Chaos behandelt, welches die Oktober-Revolution und der Zerfall des Russischen Reiches auf dem Gebiet der Ukraine ausgelöst haben. Es wurde schließlich mit dem Sieg der Roten Armee beendet.

Im Winter des Jahres 1918 herrscht in der Großen Stadt, wie Kiew im Roman immer nur genannt wird, ein Bürgerkrieg mit mehreren Fronten. Dem Marionetten-Regime des von Deutschland gestützten, konservativen russischen Staatsoberhauptes stehen unversöhnlich die revolutionären Bolschewiki gegenüber, eine dritte Kriegspartei bilden die links orientierten, ukrainischen Nationalisten unter Petljura. Nach dem Rückzug der Deutschen flieht der Staatschef und überlässt seine Soldaten einem aussichtslosen Kampf. Der 28jährige Militärarzt Alexej und sein elf Jahre jüngerer Bruder, aufopfernd unterstützt von ihrer Schwester Jelena, geraten in einen wilden Strudel völlig unübersichtlicher Kämpfe mit verschiedenen Fronten. Während manche der russischen Kommandeure sich dem aussichtslosen Kampf stellen, lösen andere resigniert ihre Einheiten auf und schicken die Soldaten nach Hause. Der auf der Flucht schwer verletzte Alexej wird von einer unbekannten Frau gerettet. Während dessen nehmen die siegreichen ukrainischen Nationalisten unter Petljura Kiew ein und richten unter den als russische Offiziere enttarnten Zivilisten, und vor allem auch an den Juden, ein beispielloses Massaker an. Der inzwischen geheilte Alexej schließt sich, als Zivilist unerkannt, den ukrainischen Nationalisten an und wird als Militärarzt eingesetzt. Einer seiner Patienten ist schließlich ein für seine Brutalität besonders berüchtigter Oberst, aus Rache erschießt er ihn und muss erneut flüchten. Zu Hause stellt er fest, dass sein Bruder und auch Schwester Jelena mit ihrem Mann die gemeinsame Wohnung verlassen haben. Die wenigen Überlebenden unter seinen Freunden haben sich der «Weißen Garde» im Donbass angeschlossen. Als Alexej schließlich seine Retterin wiederfindet, marschiert schon die Rote Armee in Kiew ein.

Bei der Lektüre wird deutlich, welch unterschiedliche Vorstellungen in der Bevölkerung herrschten während dieser turbulenten Umbruchzeit. Die Konservativen trauerten dem Zarenreich nach und hätten am liebsten alles so gelassen wie es war, die Bolschewiken wollten stattdessen den Sozialismus verwirklichen. Unversöhnlich standen sich auch die Separatisten mit ihrem Traum vom eigenen Staat und die sich einem russischen Staat zugehörig fühlenden Ukrainer gegenüber. Der Roman wird aus der Perspektive der strikten Gegner all dieser revolutionären Umwälzungen geschildert, er verdeutlicht zudem die Unwägbarkeiten, die den Menschen derart schicksalhafte Entscheidungen schwer machen. Bulgakow lässt die kontroversen Meinungen in Dialogform aufeinander treffen, wobei vieles im Konjunktiv gesagt wird, denn die Nachrichtenlage ist äußerst unzuverlässig, was einen bisher festen Standpunkt schnell erschüttern kann.

Wie der Übersetzer Alexander Nitzberg erklärt hat, erzählt dieser Roman keine Geschichte, «vielmehr entwirft er Räume und Bildsphären». Obwohl er in seinem üppigen Anhang auf 94 Seiten mit hilfreichen Anmerkungen das Verständnis für den Leser erleichtert, bleibt letztendlich doch so manche subtile Anspielung oder sprachliche Besonderheit unentdeckt. Mit einer Syntax voller narrativer Extravaganzen, zu denen die absurde Erzählperspektive gehört, hat Bulgakow sich mit seinem Debüt als Meister des phantastischen Realismus etabliert. Es setzt jedoch geduldige Leser voraus.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Galiani

Effingers

Literatur-Skandal

Das Opus magnum «Effingers», der zweite Roman von Gabriele Tergit, wurde seit der Erstausgabe 1951 mehrfach neu aufgelegt, zuletzt 2019. Der Publikums-Erfolg jedoch blieb trotz euphorischer Besprechungen im Feuilleton weitgehend aus. Hatte Thea Dorn Recht, als sie erklärte: «Dass dieses Buch nicht längst fester Bestandteil des deutschen literarischen Kanons ist, halte ich für einen Skandal». 50 Jahre davor erschien mit «Die Buddenbrooks» der erste «Gesellschaftsroman in deutscher Sprache von Weltgeltung». Ohne Zweifel ist «Effingers» in diesem Genre inzwischen ebenfalls ein Klassiker, nach Heinz Schlaffers Definition also «gleichermaßen vergangen, erinnert und gegenwärtig», diese Neuauflage beweist es!

Über vier Generationen hinweg, von 1878 bis 1948, wird in diesem opulenten Roman eine breit aufgefächerte Familien-Chronik aus der großbürgerlichen, jüdischen Berliner Gesellschaft erzählt. Als Klammer um das Geschehen dient anfangs und zum Schluss je ein Brief eines der markantesten Protagonisten, des Sohnes Paul aus der Uhrmacher-Familie Effinger im Städtchen Kragsheim. Anfangs ist er als 17Jähriger noch ein Lehrling voller Tatendrang, am Ende wartet er als 81jähriger, einst erfolgreicher Industrieller auf seine Deportation ins Vernichtungslager. Er habe «an das Gute im Menschen geglaubt», schreibt er resigniert, «Das war der tiefste Irrtum meines verfehlten Lebens». Der im Buch abgedruckte Stammbaum führt als zweiten Zweig den Bankier Markus Goldschmidt aus Berlin als Stammvater der Familie auf. Anders als bei Thomas Mann geht hier aber eine ganze Welt unter als Folge des politischen Wahnsinns eines verbrecherischen Diktators, nicht nur eine zunehmend degenerierte Kaufmanns-Familie.

Über weite Strecken liest sich dieser Roman als detaillierte deutsche Gesellschafts-Studie über mehrere politische Epochen hinweg, deren markanteste die wilhelminische Ära mit Erstem Weltkrieg, Weimarer Republik und Inflationszeit, Machtübernahme der Nazis und Zweiter Weltkrieg sind. Diese politischen und gesellschaftlichen Umbrüche spiegeln sich im Leben der Effingers wieder, wobei die ökonomische Bandbreite vom einfachen Uhrmacher oder Krämerladenbesitzer bis zum Bankier und Großindustriellen reicht. Die Religion betreffend geht die Spanne vom strenggläubigen bis zum nicht praktizierenden Juden, wobei allerdings anzumerken ist, dass die Religion, ganz anders als vielfach behauptet, nur eine völlig nebensächliche Rolle spielt in dieser Familiensaga. Nur an wenigen Stellen, zunehmend natürlich gegen Ende, hat sie überhaupt mal Einfluss auf das Geschehen. Stattdessen sind es die üblichen Fährnisse des Lebens, die im Blickpunkt stehen, allem voran die Ehe als sinnstiftend für die Frauen früherer Zeiten. Überhaupt erstarkt die weibliche Emanzipation im chronologischen Ablauf von geradezu unglaublicher Spießigkeit, mit Anstandsdame beim Spaziergang des künftigen Paares, bis hin zur selbstbewussten Entscheidung, was den Ehepartner und vor allem Studium oder Berufswahl anbetrifft. Nicht verheiratet zu sein oder Liebhaber zu haben ist dann irgendwann kein Makel mehr für die selbstbewusst gewordene Frau.

Man merkt sprachlich den journalistischen Hintergrund der Autorin, der dialogreiche Roman wird präzise und ohne Ausschmückungen in kurzen Kapiteln, aber mit scharfem Blick für Details erzählt. Neben dem abgedruckten Stammbaum sei ergänzend das äußerst hilfreiche ‹Literaturlexikon› empfohlen, auf dessen diesem Werk gewidmeter Internet-Seite nicht weniger als 131 Roman-Figuren detailliert beschrieben werden. Als lebensnahe Informations-Quelle über die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse ist «Effingers» durchaus mit entsprechenden Werken Fontanes vergleichbar, und erfreulicher Weise auch ähnlich genüsslich und den Horizont erweiternd zu lesen. Dazu tragen besonders die klugen philosophischen und kulturellen Erörterungen bei, die viele Lebensbereiche und Geisteshaltungen abdecken. Thea Dorn hat völlig Recht, ein Skandal!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Schöffling & Co Frankfurt am Main

Mandalay Moon

Schauplätze einerseits in Thailand, vor allem in seiner Hauptstadt Bangkok, andererseits in Myanmar, dem früheren Burma, da läuft jedem Reise- und Asien-affinen Leser schon vor der ersten Seite das Wasser im Mund zusammen. Dann hat der Autor nicht nur diesen Roman, sondern ganz nebenbei auch noch als Reisebücher „Gebrauchsanweisung für Thailand“ und „Gebrauchsanweisung für Burma/Myanmar“ publiziert. Das schraubt die Erwartungen an die Kulisse schon ganz schön nach oben.

So viel sei verraten – Martin Schacht wird ihnen gerecht. Zumindest was das Atmosphärische, das Lokalkolorit, die Stimmungsbilder, die Detailbeschreibungen und die gelungenen Bilder über Land und Leute anbelangt. Schacht lebt und arbeitet heute als Journalist immer noch teilweise in Bangkok. Neben Südostasien sind Mode, Kunst und Design seine Leidenschaften.

Und auch das ist an unzähligen Stellen im Buch spürbar und sehr wohltuend. Wenn er „Klebreis im gefalteten Bananenblatt mit einer süß-scharfen Chili-Kokos-Mischung“ oder einen „Blumenstand mit Opferketten aus aufgezogenen Jasmin- und Tagetes-Blüten“ beschreibt, dann ist der Kopf sofort in Asien, mitten in der Szene. Film ab.

Wenn man das in einem Roman sucht, bekommt man mehr als genug davon.

Aber Martin Schacht kann auch der nachdenkliche, der philosophische Autor sein. „Hobbys sind etwas für Rentner oder pickelige Nerds, aber ich bin so lange dabei, dass ich gar nicht anders kann, als damit weiterzumachen. Aufhören wäre das Eingeständnis, einen guten Teil meiner Lebenszeit unnütz vergeudet zu haben“ oder „Wenn man einmal mit dem Reisen angefangen hat, hört man nicht wieder damit auf….Alles wird gewöhnlich, sobald man sich daran gewöhnt hat. Und dann muss man eben weiterziehen.“

Ach ja. Dann gibt es da auch noch eine Story. Vom Alltagsleben gefrusteter Journalist erhofft sich in Bangkok eine Inspiration und Neuorientierung (der autobiographische Anteil an der Geschichte ist nicht bekannt) und trifft auf ein vom Leben verwöhntes Paar. Glück, Liebe, gutes Aussehen und finanzielle Unabhängigkeit. Er ist ein eher wenig engagierter Filmemacher, möchte aber einen Dokumentarfilm über das Leben seiner Großmutter im damaligen Burma zu Zeiten des Militärputsches drehen. Anfangs etwas verwirrend, später aber als Parallel-Handlung spannungssteigernd, springt Schacht immer wieder zurück in die Zeiten, als das Opium-Geschäft im Goldenen Dreieck florierte, beherrscht von der Opium-Königin Olive Yang.

Belletristisch sehr unterhaltsam gleitet die Handlung beider Erzählungen dahin und muss natürlich fast zwangsläufig irgendwann fusionieren, da Olive Yang auch zum Zeitpunkt der gegenwärtigen Handlungsstranges noch zu leben scheint. Eher überraschend wird erst sehr spät aus der Erzählung mit ästhetischem, kulturellem und historischen Schwerpunkt plötzlich ein Krimi mit dem für dieses Genre typischen Finale furioso.

Alles in allem ein wirklich gelungener Roman eines feinsinnigen und feingeistigen Autors mit leicht melancholischer Note.


Genre: Kriminalliteratur, Reisen, Roman
Illustrated by Rowohlt

Heimweg

Hintersinnige Heimkehrer-Geschichte

Mit dem Roman «Heimweg» hat der vor allem als streitbarer Journalist und Kolumnist bekannte Schriftsteller Harald Martenstein im zarten Alter von 53 Jahren sein überzeugendes Debüt als Romancier vorgelegt. Es ist ein Schlüsselroman, dessen Protagonisten er der eigenen Familie entliehen hat. Im Interview mit der FAZ hat er erklärt, er sei ein schlechter Geschichten-Erzähler: «Ich schmücke aus und schneide weg, was übersteht». Entstanden ist dabei ein Buch über die Bundesrepublik Deutschland der fünfziger bis siebziger Jahre, die ja, als Zeit des Wirtschafts-Wunders verklärt, nur Gewinner zu haben schien. Es habe ihn gereizt, sie als Verlierer-Geschichte zu erzählen, ihre Lebenslügen zu entlarven.

Joseph, der Großvater des Ich-Erzählers, kommt als Heimkehrer aus russischer Kriegs-Gefangenschaft mit einem Lungendurchschuss und zwei steifen Fingern am Bahnhof an. «Er war geradezu in Topform, verglichen mit einigen anderen armen Teufeln in seinem Eisenbahnwagon». Daheim erwartet ihn ein Blutbad. Ein unbekannter Mann öffnet ihm die Wohnungstür, er findet seine Frau Katharina nackt in einer Blutlache liegend, der Fremde hat ihr in den Hals geschossen. Sie überlebt den Streifschuss. Eine Eifersuchtstat, wie sich herausstellt, der Mann ist einer der vielen Liebhaber seiner im Rotlichtmilieu arbeitenden Ehefrau. Sie tritt in der Rheingoldschänke ihrer Schwester Rosalie als Schleiertänzerin auf. Das Ehepaar versöhnt sich schon bald wieder, er lässt seiner schönen Frau ihre Freiheiten, und bald findet er auch eine einfache Arbeit. Genügsam wie er ist, reichen ihm die bescheidenen Verhältnisse, in denen sie leben. Er liest viel und widmet sich seinen Wellensittichen, nebenbei wirkt er auch als Hausmeister. Rosalie findet einen gutsituierten Mann unter ihrer Kundschaft, den ihre anrüchige Vergangenheit nicht stört, sie verkauft ihr Etablissement und heiratet ihn.

In Rückblicken werden, auch weit zurückreichend, düstere Kapitel der Familiengeschichte aufgerollt. Zu denen gehört der Mord des Urgroßvaters an seinem Sohn, ferner ein Selbstmord und die Exekution eines Kommissars der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Den musste Joseph als Truppführer aufgrund des geheimen Kommissar-Befehls erschießen lassen, wobei er auch noch ohne Not einen Knaben tötete, der sich in der Nähe herumtrieb. Außer seiner Frau hat er Niemandem je davon erzählt. Schließlich beginnt mit der zunehmenden Demenz von Katharina auch die erzählte Geschichte ins Mystische abzugleiten, tauchen Geister der Vergangenheit als Besucher auf, lebende Tote sozusagen. Darunter befindet sich auch der einst in Russland ermordete Knabe, der Ich-Erzähler des Romans, mit dem Joseph jedoch vereinbart hat, er solle sich als sein Enkel ausgeben. Und auch Kuhlenkampf, Freddy Quinn und Rudolf Schock gehören dazu, genüsslich decouvriert der Autor die aus heutiger Sicht auch medial dröge Nachkriegszeit. Ironisch, fast schon zynisch schickt er seine Figuren in eine der damaligen wirtschaftlichen Entwicklung entgegen gesetzte Abwärtsspirale aus Problemen und Pleiten, Krankheit und Tod.

Er habe, hat der Autor dazu erklärt, die Metapher von den Geistern der Vergangenheit «halt wörtlich genommen», zurück reichend bis zum Urgroßvater und zu Heigl, dem bayrischen Robin Hood. Das zeigt sich sprachlich in den Vergleichen mit der Gegenwart, die dann oft mit «Heute würde man …» eingeleitet werden und so den zeitlichen Abstand verdeutlichen. Anfangs wie ein ironisch erzählter, ins Triviale abzugleiten drohender Roman, erweist sich diese Heimkehrer-Geschichte später zunehmend als klug konstruiert und hintersinnig. Das entscheidende Merkmal ist die darin ausgedrückte moralische Unbestimmtheit, die viel Raum lässt für eigene Interpretationen. Bei denen sollte man aber trotz der erst im weiteren Verlauf des Geschehens zum Tragen kommenden, mystischen Elemente die journalistisch geprägte Nüchternheit des Autors nicht ganz unberücksichtig lassen, auch wenn da so ausgesprochen launig erzählt wird.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by btb München

Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist

Und täglich grüßt das Murmeltier

Der soeben unter dem Titel «Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist» veröffentlichte Roman von Gert Loschütz hat eine weit zurückreichende, editorische Vorgeschichte. Das Buch basiert auf dem gleichnamigen Hörspiel aus dem Jahre 1988, das zwei Jahre später unter dem Titel «Flucht» erstmals als Roman veröffentlicht wurde. Wie der Autor in seiner Nachbemerkung schreibt, stand der damalige Titel in deutlichem Zusammenhang mit den Absetz-Bewegungen aus der DDR. Angesichts der heutigen, ganz anders gelagerten Flucht-Problematik «ist der Titel falsch». Er sei für die Neuausgabe deshalb «zu dem Titel zurückgekehrt, den die Geschichte für mich immer hatte», erklärt der 1957 als Elfjähriger mit seinen Eltern aus der DDR ausgereiste Autor.

«Sieh dir alles genau an, weil du es nicht wiedersiehst», sagt die Mutter von Karsten, als sie spätabends noch mal durch die Straßen gehen, es ist der Abend vor ihrer klamm-heimlichen Ausreise in den Westen. Immer wieder wurden vorab schon mal von verschiedenen Postämtern aus Pakete dorthin geschickt, wurde das Geld vom Konto abgehoben und davon ein teurer Fotoapparat gekauft. Der soll ‹Drüben› dann gleich wieder verkauft werden, der Erlös ist als Startkapital gedacht. Am nächsten Morgen machen sie sich dann auf den Weg zum Bahnhof. «Sieh dich nicht um» sagt die Mutter unterwegs immer wieder zu ihrem Sohn. Ihre Reise ist allen gegenüber als Urlaubsreise an die Ostsee deklariert worden, niemand darf wissen, wohin sie tatsächlich fahren. Diese konspirative Ausreise aus seinem Heimatort Plothow hinterlässt bleibende Spuren bei Karsten, um nicht zu sagen Schäden. Zeit seines Lebens ist der Abreisetag für ihn nun ein ganz besonderes Datum, sein persönlicher Feiertag quasi, der eine gravierende Zäsur in seinem Leben markiert. Und auch die traumatische erste Nacht in einem hessischen Hotel wird prägend für sein weiteres Leben. Denn künftig wird jede erste Nacht in einem Hotel den Reisejournalisten an die beklemmende, ungewohnte Situation erinnern, irgendwo ganz neu zu sein, so wie damals, als plötzlich alles ganz anders war als daheim in der DDR.

Eine durchgängige Handlung findet man nicht in diesem Roman, es sind eher narrative Vignetten, die da, zeitlich vor und zurück springend, aufgereiht werden. Den Ich-Erzähler Karsten hat das Fluchterlebnis nicht nur geprägt, es hat ihn total entwurzelt, er ist nirgendwo mehr richtig zu Hause und sucht bei seinen Reisen ruhelos nach Orten und Landschaften, die ihn an seine märkische Heimat erinnern. In Irland und auf Sizilien glaubt er sie gefunden zu haben. Als Reisejournalist schreibt er so manches Notizbuch voll und sitzt am Ende mit drei anderen Teilnehmern in einer Rundfunksendung, in der es ums Reisen geht, Genaueres erfährt man aber nicht. Gert Loschütz erweist sich hier als Großmeister der Andeutungen. Er lässt eine Feindschaft in der Schulzeit seines Helden kurz aufblitzen, führt einen ebenfalls viel reisenden und schreibenden Freund Götz ein, von dem man kaum etwas erfährt, und auch Frauen spielen nur andeutungsweise eine Rolle. Einzige Ausnahme ist Vera, mit der Karsten wohl länger liiert ist, und die dann auch als Adressatin fungiert, wenn beim Erzählen zuweilen in die Du-Form gewechselt wird. Aber auch da wird nur episodenhaft verkürzt erzählt, Vera bleibt eine eher schemenhafte Figur ohne Profil.

Die posttraumatisch bedingte Ruhelosigkeit des Protagonisten wird in einem unablässigen Gedankenstrom artikuliert, der in beeindruckenden Bildern Landschaften ebenso stimmig wiedergibt wie Erlebnisse und Begebenheiten im eng begrenzten Lebensradius des melancholischen Helden. Mit der Methode des unzuverlässigen, und zudem auch noch heftig mäandernden Erzählens wird der Leser allerdings ziemlich gefordert. Man fühlt sich verloren wie Karsten, dessen Gedanken refrainartig immer wieder auf den «Tag, der nicht vorüber ist» zurückweisen, was als fatale Zeitschleife (sorry!) an «Und täglich grüßt das Murmeltier» erinnert.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman

Hochzeit in Jerusalem

Schläfenlocken und Dolce Vita

Der zweite Roman von Lena Gorelik mit dem Titel «Hochzeit in Jerusalem» wurde für den Deutschen Buchpreis 2007 nominiert. Die vor allem als Journalistin tätige, in Leningrad geborene Autorin mit russisch-jüdischen Wurzeln knüpft mit diesem ebenfalls autobiografisch geprägten Werk an ihren erfolgreichen Debütroman an. Denn auch hier geht es wieder um die Frage, was Jüdischsein in Deutschland heute bedeutet. Es gelingt der Autorin, diesem nach wie vor konfliktreichen Thema auf humoristische Weise die Schärfe zu nehmen, ohne jedoch den bitterernsten Hintergrund damit zu verleugnen.

Die Ich-Erzählerin Anja Buchmann, deren Eltern als russische Juden nach Deutschland ausgewandert sind, ist als Kommunikations-Beraterin tätig. Mal wieder auf der Suche nach einem neuen Partner, lernt sie auf einer jüdischen Single-Internetseite Julian kennen, ein ökologisch orientierter, eher unscheinbarer Hippietyp. Er hat gerade erst erfahren, dass sein Vater Jude ist, wenn auch ein nicht praktizierender, und dass seine Großeltern im KZ ermordet wurden. Nun möchte er mehr darüber wissen und beginnt sich für das Judentum zu interessieren. Zunächst kommuniziert er per E-Mail mit Anja darüber, lernt sie, obwohl er ihr zuweilen auf die Nerven geht, schließlich auch persönlich kennen und begleitet sie sogar in eine Synagoge. Nach dem Studium religiöser Schriften überlegt er nämlich, ob er Jude werden will. Er erfährt aber vom Rabbiner, dass Jude nur ist, wer eine jüdische Mutter hat. Eine Konvertierung in diese Religion wäre zwar möglich, sei aber ein langer und dornenreicher Weg. Als Anja und die gesamte Familie überraschend zur Hochzeit einer entfernten Cousine nach Jerusalem eingeladen werden, nutzt Julian die Gelegenheit und fragt zaghaft, ob er sich anschließen dürfe. Anjas Mutter würde die beiden, bisher nur lose als Freunde verbundenen, mit knapp dreißig aber immer noch Ledigen, bei dieser Gelegenheit gerne verkuppeln, sie stimmt also begeistert zu.

Es gibt wohl kein Klischee russisch-jüdischen Alltagslebens, das in diesem heiteren Roman nicht bedient wird. Sei es die unbekümmerte Art, mit der mehr oder weniger religiös geprägte Juden trickreich allerlei Auswege finden, die strengen Regeln und Gebräuche ihrer Religion zu umgehen. Sei es die weitverbreitete Verachtung aller Palästinenser, die ausgelassene Feierwut und Fresslust jüdischer Familienfeste oder die Streiterei mit der nervtötenden Verwandtschaft im Kontrast zu der ungebremsten Überschwänglichkeit innerhalb der eigenen Sippe. Besonders lustig ist die Episode mit der Anreise zur titelgebenden Hochzeit, bei der Anja mit ihrer beklemmenden Flugangst kämpft, um dann im Bus in Jerusalem auch noch in jedem Araber einen Selbstmord-Attentäter zu vermuten. Unverkennbar ironisch wird auch das touristische Jerusalem geschildert, mit dem Gedrängel vor der Klagemauer und den in der Altstadt herumwuselnden, schwarz gekleideten Ultraorthodoxen mit ihren Schläfenlocken, in absurdem Kontrast stehend zum lockeren Strandleben in Tel Aviv und dem von Konsumgier geprägten Dolce Vita der säkularen Oberschicht.

Mit ihrem dialogreichen, lockeren Erzählstil umschifft die Autorin elegant und selbstironisch so manche Hürde der Banalität, sie schafft es sogar, aus der Freundschaft zwischen Anja und Julian keine kitschige Liebesgeschichte werden zu lassen. Zudem gibt sie auch allerlei, den Zionismus betreffende, politische und gesellschafts-kritische Denkanstöße. Oder sie persifliert beispielsweise genüsslich den Markenwahn auch in der israelischen Konsum-Gesellschaft. Im Epilog sitzt Anja dann wieder im Flugzeug und bekämpft ihre Angst, indem sie mit ihrem MP3-Player die dreitägige Aufzeichnung abhört, in der ihre schon sehr vergessliche Großmutter ihr Leben erzählt: «Geboren wurde ich in einem Schtetl, das weißt du ja. In Weißrussland war das, es war ein Schtetl, wahrscheinlich wie das in Kanada, wohin du fliegst. Warum eigentlich noch mal?» Amüsant also, – mehr aber auch nicht!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Diana Verlag

Eine runde Sache

Absolut keine runde Sache

Als Gewinner ist Tomer Gardi mit seinem Roman «Eine runde Sache» die große Überraschung der diesjährigen Leipziger Buchmesse. Erstmals wurde hier auch ein Buch prämiert, dessen etwas umfangreicherer zweiter Teil auf Hebräisch geschrieben wurde und den man folglich nur in Übersetzung lesen kann. «Mein Grundkonzept hinter diesem Roman war, dass ich wissen wollte, wie unsere Sprachen unsere Fantasie beeinflussen» erklärte der Autor dazu. Die Jury sprach euphorisch von einem «Feuerwerk der Einbildungskraft», das «ebenso dreist wie kunstvoll mit den Lesegewohnheiten spiele». Es fragt sich nur, inwieweit dieses feuerwerkartige Spiel auch diejenigen erfreut, auf deren Kosten es geht, die überraschten Leser nämlich.

«Ein Mann rutscht auf eine Scheibe Salzgürke aus, stürzt nieder auf seiner Arsch», beginnt slapstickartig und in ‹Broken German», dem für den Autor typischen Migranten-Deutsch, der erste, vom Museumswächter Tomer Gardi erzählte Teil des Romans. Er wird auf eine Yacht eingeladen, landet aber überraschend im Wald auf einer Jagd, bei der er selbst der Gejagte ist, der bissige Schäferhund Rex ist hinter ihm her. Es gelingt ihm, Rex zu überrumpeln und ihm die «Portable Vagina» über die Schnauze zu ziehen, die er gestern Abend in einem Pissoir aus dem Automaten gezogen hat. Der Hund protestiert wütend, Tomer aber tut so, als habe er ihn nicht verstanden. «Dü Plüstükfützü! Nüm sü jützt vün münür Schnützü rüntür!» «Das ist keine Plastikfotze, Rex. Das ist dein Maulkorb» antwortet Tomer. «Ürzühl mür kün Schüß!» Wie bei den Bremer Stadtmusikanten schließt sich ihnen bald auch der tote Erlkönig an, der nur in altmodischen Reimen spricht. Im allegorisch benannten Bad Obdach versucht das hungrige Dreigespann durch Singen etwas Geld zu verdienen, wird bald schon von einer freundlichen Oma (oder Hexe?) zum Essen eingeladen und erlebt schließlich auch noch die Sintflut. Es gelingt aber nur Tomer Gardi, sich auf die Arche Noah zu retten, ehe er am Ende wieder auf den Intendanten trifft, der am Anfang auf der «Salzgürke» ausgerutscht ist.

Im zweiten, stilistisch konventionellen Teil des Romans wird die Geschichte des realen indonesischen Malers Rahden Saleh von der Insel Java erzählt, der im 19ten Jahrhundert zur Ausbildung nach Europa reiste, schnell berühmt wurde und in den höchsten Kreisen verkehrte. Als er auf Wunsch des Königs Jahrzehnte später in die niederländische Kolonie zurückkehren musste, war er dort als Einheimischer plötzlich nicht mehr privilegiert und erlebte einen bitteren sozialen und künstlerischen Abstieg. Diese gut recherchierte Lebensgeschichte bietet historisch aufschlussreiche Details aus der Kolonialzeit, wobei die Leser aber mit einer Fülle von Figuren konfrontiert werden, von denen die meisten nie etwas gehört haben dürften. Das trägt nichts zur Sache bei, sondern stört nur den Lesefluss!

Im Grunde sind es zwei Romane, die man da liest. Deren einzige Verbindung kann dahingehend interpretieren werden, dass hier zwei Künstler, durch mehr als ein Jahrhundert getrennt, auf Identitätssuche in ihren unterschiedlichen Kunstgattungen geschildert werden. Einerseits die Romanfigur des ehemaligen Schriftstellers und Museumswächters Tomer Gardi im ersten, als Schelmenroman angelegten Teil, andererseits der von höchstem Ruhm verwöhnte Maler, der am Ende völlig desillusioniert auf Nimmerwiedersehen in den Weiten einer javanischen Kaffeeplantage verschwindet. Dabei werden auch die Mythen vom Ewigen Juden und vom Fliegenden Holländer mit einbezogen. Das wird im märchenhaften ersten Teil durch das wohl auch real vorhandene, hier mutmaßlich aber übertrieben stümperhafte Deutsch des israelischen Autors symbolisiert, im historischen zweiten durch die Zerrissenheit des Malers zwischen den unterschiedlichen Kulturen von Orient und Okzident. Die verhaltene Rezeption der Leserschaft ist mehr als deutlich: Eine runde Sache, zusammenpassend und preisträchtig also, ist dieser seltsame Roman keinesfalls!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Droschl

Zusammenkunft

Fataler Mix aus Rasse, Klasse und Geschlecht

In England gilt der Roman «Zusammenkunft» der studierten Mathematikerin Natasha Brown als erfolgreichstes Debüt des Jahres 2021. Er wurde von Jackie Thomae kongenial ins Deutsche übersetzt und thematisiert den Rassismus aus einer völlig ungewohnten Perspektive. Die namenlose Protagonistin ist entgegen aller Klischees eben keine unterprivilegierte farbige Frau, die sich vergeblich abmüht, sich den Weg nach oben in eine bessere Zukunft zu erkämpfen. Stattdessen hat hier die Heldin «Oxbridge» absolviert, arbeitet in der Londoner Bankenszene in den obersten Etagen der Hierarchie, mit dementsprechend üppigen Bezügen natürlich. Sie hat es eigentlich doch geschafft, müsste froh und glücklich sein, oder?

Den steilen Aufstieg hat die junge Frau in London nur mit harter Arbeit, eisernem Durchhalte-Vermögen und absoluter Hintanstellung aller privaten Wünsche und Ziele geschafft. Nun, da sie dort angekommen ist, wo sie partout hinwollte, beginnen ihre Zweifel. Dient sie ihrer Firma etwa nur als Aushängeschild für ethnische und gender-bezogene Diversität? Waren all die Mühen das denn wirklich wert? Nach ihrer aktuellen Beförderung stellt sie ernüchtert fest, dass ihr hierarchisch gleichgestellter, neuer weißer Kollege gleichwohl von ihr erwartet, dass sie den Kaffee kocht, dass sie den Flug nach New York für ihn bucht, weil er nun mal in seinem Wochenend-Urlaub mit Familie einfach keine Zeit dafür habe. Und plötzlich schwebt auch noch kurzzeitig das Damokles-Schwert einer möglichen Krebserkrankung über der Ich-Erzählerin. Ihr schnöseliger Freund gehört zur britischen Upperclass, eine Familie «mit Geld so alt und dreckig wie das Empire». Er genießt seinen leistungslosen Wohlstand und wird mit all seinen Beziehungen mühelos eine politische Karriere machen, wenn er denn will, was gar nicht so sicher ist. Mit der Einladung seiner Eltern zu einer pompösen Gartenparty mit illustren Gästen wachsen ihre Zweifel. Soll sie sich wirklich den Demütigungen aussetzen, die sie dort sicherlich erwarten werden, wenn nicht gar möglichen Aggressionen? Vor dem Beginn des Festes zieht sie sich auf eine nahe gelegene Bergwiese zurück. «Warum leben?» fragt sie sich grübelnd, «Warum mich weiterhin ihrem reduzierenden Blick aussetzen? Diesem vernichtenden Objektsein. Warum meine eigene Entmenschlichung dulden?»

Trotz ihrer beruflichen Karriere kann die Heldin als farbige Frau also der latenten Ungerechtigkeit nicht entkommen, dem schlimmen Erbe der Kolonial-Geschichte nicht entfliehen. Sie ist als Karrieristin im Sektor der Hochfinanz ein Fremdkörper in einer fast ausnahmslos männlichen Domäne, und sie wirkt als Farbige mit Migrations-Hintergrund in der konservativen gesellschaftliche Oberklasse so exotisch wie einst der Mohr an den Fürstenhöfen der Feudalzeit. Junge Frau, Farbige auch noch und triumphal Erfolgreiche, dass ist zu viel der Zumutungen für die bessere Gesellschaft. Soziale Flexibilität und Durchlässigkeit der Klassen bleiben jedenfalls reine Utopie, da sie nur vordergründig erkennbar und wirksam sind, sich aber als fest verankerte Denkmuster nie wirklich haben etablieren können.

In einem quasi post-postmodernen Stil mit vielen inneren Monologen entwickelt die Autorin ihre unkonventionellen Gedanken zu einem nicht bewältigten Thema, dem leidigen, scheinbar unausrottbaren Rassismus. Vieles reißt sie dabei nur an, buchstabiert ihre Reflexionen nicht durch bis zur letzten Konsequenz, wohl um dem Vorwurf auszuweichen, ihr Thema allzu theoretisch zu entwickeln. Ihre minimalistische Verdichtung des Stoffes, in der sie sich zum Beispiel über das kollektive Gedächtnis der britischen Gesellschaft äußert, wird in der gewählten unkonventionellen, schon fast irrealen Erzählform den beabsichtigten realen Aussagen kaum gerecht. Auch die emotionslosen Figuren bleiben schemenhaft unwirklich in den Erzähl-Vignetten dieses wenig überzeugenden Romans über einen fatalen Mix aus Rasse, Klasse und Geschlecht.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Am Morgen des zwölften Tages

Hochaktuell

Aus zwei nicht nur zeitlich unterschiedlichen Perspektiven berichtet Vladimir Vertlib in seinem Roman «Am Morgen des zwölften Tages» über orientalische Männer. Dabei geht es dem österreichischen Autor russisch-jüdischer Herkunft hauptsächlich um die Islam-Erfahrungen seiner zwei Protagonisten, die als Großvater und Enkelin, also aus der Perspektive verschiedener Generationen, über das religiös gesteuerte Verhalten von Muslimen berichten. Da ihre Geschichten völlig unabhängig voneinander in Ich-Form erzählt werden, sind es eigentlich zwei Romane, die man da in ständigem Wechsel liest.

«Gnädige Frau, wären Sie bereit, mit mir zu schlafen», fragt gleich zu Beginn in einer Bar der 57jährige Adel die 39jährige Astrid, die seit jeher eine Schwäche für orientalische Männer hat. Die alleinerziehende Mutter einer erwachsenen Tochter bricht 1988, gleich nach dem Abitur, aus ihrer süddeutschen Universitätsstadt zu einer Reise nach Marokko auf, kommt aber nur bis Stuttgart. Dort lernt sie am Bahnhof Khaled kennen, der sich im Kaffeehaus an ihren Tisch gesetzt hat. Die mollige junge Frau kann seinem Charme nicht widerstehen, die Beiden erleben eine rauschhafte Nacht miteinander. Sie verschiebt daraufhin die Weiterreise von Tag zu Tag. «Am Morgen des zwölften Tages verschwand er», – und zwar auf Nimmer-Wiedersehen, sie weiß so gut wie nichts von ihm, außer dass er aus einem Dorf im Irak stammt. Neun Monate später kam ihre Tochter zur Welt. Ähnlich desaströs verläuft auch zwanzig Jahre und viele Männer später ihre Affäre mit Adel, denn schon bald schlägt er sie im Streit. Sie sinnt auf Rache und schließt sich einer Selbsthilfe-Gruppe nicht-muslimischer Frauen an.

Ihr verstorbener Großvater war als Orientalist durch sein Buch «Faschistische Perspektive für die Welt des Islam» berühmt geworden. Im Krieg war er für das Propaganda-Ministerium und die deutsche Abwehr tätig und wurde in eine Delegation berufen, die 1941 mit dem Auftrag in den Irak reiste, dort einen Aufstand gegen die britischen Besatzungs-Truppen anzuzetteln und sich als Verbündete zu inszenieren, wobei ja allein schon der Antisemitismus als Bindemittel diente. Die schriftlich festgehaltenen Ereignisse der Nazi-Mission bilden den größten Teil des Romans. Sie erinnern in ihrer Abenteuerlichkeit zwar an Karl May, sind aber offensichtlich gut recherchiert und durchaus bereichernd zu lesen. Zum Lesegenuss trägt insbesondere die deutliche Ironie des Autors bei, der nicht ganz klischeefrei, aber gut nachvollziehbar die Wurzeln im machohaften Weltbild islamischer Männer in ihrer extrem frauenfeindlichen Religion verortet. Dem Autor deshalb allerdings Islamophobie zu unterstellen, «gerade er als Jude dürfe so nicht über den Islam schreiben», geht allerdings völlig an der Sache vorbei, weist er doch deutlich auf dafür gleichermaßen vorhandene europäische Ursprünge hin.

Man macht es sich auch zu einfach, wenn man das bis heute gültige, mittelalterliche Weltbild des Islam nur als eine Frage der Koran-Auslegung interpretiert. Dieses antike Märchenbuch trägt, übrigens genau wie Talmud und Bibel, zum Leid jener Mehrheit von naiven Gläubigen bei, deren Intellekt den Schwachsinn nicht zu durchschauen vermag, der ihnen da von Kindesbeinen an eingetrichtert wird. Angesichts des islamistischen Terrors wird deutlich, wie gefährlich dieser «explosive Religionskitsch» tatsächlich ist. Die köstlichste Stelle im Buch ist die lebhafte Diskussion der Selbsthilfegruppe-Damen über die 72 Jungfrauen, die im Jenseits auf die Märtyrer des Islam warten. Der dem realistischen Erzählen verhaftete Vladimir Vertlib hat seine Thematik gründlich durchleuchtet und auf humorvolle Weise sehr unterhaltsam darüber geschrieben. Sollte, was Allah verhüten möge, Marine Le Pen am Sonntag zur Präsidentin gewählt werden, droht, wie Emmanuel Macron gestern im TV-Duell prophezeit hat, mit dem von ihr geplanten Kopftuchverbot ein Bürgerkrieg in Frankreich. Hochaktuell also, worüber der Autor hier schreibt!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Deuticke Wien