Als ich das Buch Die Blüten der Stadt Ein Wegweiser durch die urbane Pflanzenwelt vor einem Jahr geschenkt bekam, dachte ich: noch so ein Pflanzenbuch, hab doch schon so viele! Aber schon das Lesen des Inhaltsverzeichnisses und der Einführung: „Was dieses Buch will“ weckten mein Interesse. Weiterlesen
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Die Blüten der Stadt – Ein Wegweiser durch die urbane Pflanzenwelt
Die Hauptstadtgärtner
Der Titel wirkt ganz schön angeberisch bei einem so kleinen Taschenbuch. Ob es sich mit dem Titel besser verkauft? Oder gilt einfach, ganz berlinerisch, “Wer angibt hat mehr vom Leben!”? Denn nicht nur für Berliner ist das Buch lesenswert. Auf seinen knapp 150 Seiten gibt es Tipps, mit vielen Fotos, die auf jedem Balkon, selbst im kleinen Dorf, beim Gärtnern helfen. Denn die Autorin weist gerade auf Dinge hin, die im Verborgenen blühen und fordert auf, sich einzulassen und mitzumachen. Weiterlesen
Wolfsblut
Jack London (1876-1916) hat sich vor allem in der älteren Generation einen Namen gemacht. Aber auch unter jüngeren Lesern ist er bekannt, da sein Werk regelmäßig neu übersetzt oder verfilmt wird. London ist der Abenteuerschriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts, dessen Romane stets eine psychologische wie philosophische Dimension beinhalten (zu denen insbesondere Marx, Darwin und Nietzsche ihn inspirierten). Leider verkannten ihn die deutschen Verlage, da ihn hierzulande ein ähnliches Schicksal ereilte wie beispielsweise Mark Twain, der zum Jugendbuchautor degradiert wurde. Weiterlesen
Allegro Pastell
Literatur als Symptom
Der vierte Roman von Leif Randt erzählt mit autobiografischem Setting unter dem Titel «Allegro Pastell» von der Liebe zweier Kreativer im Hier und Heute. Der Autor hat seine eigenen beruflichen Aktivitäten und doppelten Wohnorte solidarisch auf seine beiden Protagonisten aufgeteilt. Jerome ist als freiberuflicher Webdesigner auf Video Content spezialisiert und wohnt ländlich in Maintal nahe Frankfurt, Tanja ist erfolgreiche Schriftstellerin und lebt in Berlin-Kreuzberg, mit Blick auf die Hasenheide. Die trendige Beziehungskiste zwischen den Beiden ist Thema dieses Romans einer gescheiterten Liebe. Ganz knapp vor der Pandemie erschienen, hätte man dem Buch wenige Wochen später zur Betonung seines ultra-aktuellen Zeitbezugs doch glatt den Titel ‹Die Liebe in den Zeiten des Corona› geben können.
Letzter darin anstehender Termin ist nämlich der März 2020, spätestens dann wird für Jerome endgültig eine Zeitenwende beginnen, und damit auch für Tanja. Sie wird dreißig während der Erzählzeit 2018/19 und erlebt mit dem 33jährigen Jerome einige intensive Monate des Glücks. Ihre Fernbeziehung ist dank der digitalen Kommunikation nicht weniger innig, als würden sie zusammen wohnen und sich täglich sehen. Sie besuchen sich wechselseitig und fahren auch gemeinsam in Urlaub. Als Tanja nach einigen Monaten psychisch eine Auszeit braucht, fängt ihre Beziehung an zu bröckeln, beide haben kurze Affären, finden dann aber doch wieder zusammen. Als Jerome aber mit einer alten Schulfreundin anbandelt, droht der Liebesbeziehung mit Tanja das Aus, obwohl beide von den Affären des jeweils Anderen wissen und sie scheinbar ungerührt tolerieren, Eifersucht ist ihnen völlig fremd.
Dieser banal erscheinende, in drei «Phasen» erzählte Plot bildet nur den äußerer Rahmen für eine im Kern dem Zeitgeist gewidmete Geschichte, deren dem Mittelstand entstammende, finanziell sorgenlose Figuren den Lifestyle der beginnenden Zwanzigerjahre verkörpern. Da ist Spirituelles mit den Realitäten in Einklang zu bringen, der Freigeist mit der Moral, die sexuelle Libertinage mit dem Wunsch nach Geborgenheit. Das Leben ist für sie eine einzige Dauerparty mit Sex und Drogen, in der flippiges Outfit, schräge Musik, angesagte Clubs, Sternrestaurants und Imbissbuden gleichermaßen das Ambiente bilden. Dieses trendige Milieu wird narrativ überlagert von dem pseudo-intellektuellem Dauergeschwafel der jungen, hippen Romanfiguren, die sich ständig selbst beobachten und zu analysieren versuchen. Ihnen scheint die Welt offenzustehen, sie bilden sich ein, immer cool alles unter Kontrolle zu haben bei ihrer permanenten Sucht nach Wohlfühlmomenten, Alkohol und Drogen helfen ihnen dabei. Zupackende Spontaneität wechselt in der spleenig wirkenden Lebensweise der jungen Leute mit Phasen lähmender Lethargie ab, purer Ennui wird lässig als Lifestyle zelebriert.
Als Sittengemälde der Berliner Republik scheint der Roman, wie eine kritische Milieustudie, die gegenwärtigen Lebensverhältnisse einer Generation von Wohlstandskindern abzubilden. Die artikulieren ihre Befindlichkeiten mit Anglizismen wie «cute» oder «nice» und sind emotional ihr eigener Coach. Dem Milieu geschuldet ist auch der Gebrauch von Emojis im Romantext, Tanja ist nicht geil sondern «horny», an anderer Stelle hat jemand 0% Interesse, man wünscht sich ein Wörterbuch des Neusprech als Nichtdreißigjähriger. Aber auch bei den IT-Begriffen muss man oft nachschlagen, und Gipfelpunkt der Technikversessenheit dürfte die Powerpoint-Präsentation sein, in der Jerome seiner schwangeren Freundin akribisch die Vor- und Nachteile auflistet, wenn sie ihr Kind austrägt. Negativ wäre unter anderem die CO2-Blianz durch den neuen Erdenbürger, positiv wäre beispielsweise, dass man künftig immer eine gute Ausrede hätte bei unliebsamen Einladungen. Mir kommt diese keinesfalls satirisch gemeinte Geschichte geschwätziger Selbstreflektionen wie Wirklichkeit gewordene Virtual-Reality vor, Literatur als Symptom des Heute.
Fazit: mäßig
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Rote Kreuze
Rote Kreuze: ein Roman gegen das Vergessen. Der fünfte ins deutsche übersetzte Roman des leidenschaftlichen Fußballfans und Autors aus Minsk könnte autobiographisch sein, so wie jede Geschichte ein kleines bisschen Wahrheit enthält. Die in „Rote Kreuze“ geschilderten Ereignisse könnten allerdings tatsächlich genauso geschehen sein. Denn das 20. Jahrhundert ist voll von solchen absurden und traurigen, aber dennoch sehr unterhaltsamen Geschichten.
„Trauerfanfaren und Tragödienpathos“
Der junge Alexander zieht nach einer Lebenskrise mit seiner Tochter nach Minsk und begegnet in seiner neuen Bleibe der über neunzigjährigen Tatjana Alexejewna, die unter Alzheimer leidet. Bevor sie alles vergisst, will sie aber Alexander noch alles erzählen. Doch dieser weigert sich anfänglich, weil er glaubt, selbst so aus seinem Leben gerissen zu sein, dass seine eigene Tragödie die weitaus schlimmere ist. Aber die alte Dame erzählt ihm die Geschichte ihres Lebens so eindrücklich, dass er bald von selbst bei ihr anklopft, um die Fortsetzung und schließlich das tragische Ende zu erfahren. Schließlich umspannt ihre Geschichte das ganze russische 20. Jahrhundert mit all seinen Schrecken und Tragödien.
„Biographie der Angst“
Ihr Vater gehörte zu einer der wenigen Menschen, der zur Zeit der russischen Revolution nach Russland, „ins Epizentrum der Geschichte“, statt von Russland wegzog. Alexej Alexejewitsch Bely war nicht unbedingt Kommunist, aber er glaubte daran, dass dort der „neue Mensch“ und die „neue Zeit“ beginne. Das war aber erst der Anfang von Tatjana’s Verhängnis. Dann mit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 begann ihre eigentliche Tragödie, die ihren Anfang eigentlich mit einem absichtlichen Tippfehler nahm. Als Angehörige eines politisch Verfolgten muss Tatjana ihr Leben in einem sowjetischen Lager verbringen, jedoch stellt sich am Ende alles als eine absurde Verwechslung heraus. Die Pointe des Romans hat es tatsächlich in sich und man liest ihn voller Spannung in einem Atemzug zu Ende.
Eine düstere Anklage an Gott. Aber auch an die Sowjetmacht und letztendlich eine Gemahnung, dass man sich die Probleme meist selbst einhandelt, wenn man versucht, etwas vermeintlich Gutes zu tun und sich oder die eigenen zu schützen. Sasha Filipenko hat mit „Rote Kreuze“ den Roman des russischen 20. Jahrhunderts geschrieben.
Sasha Filipenko
Rote Kreuze
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
2020, Hardcover, Leinen, Schutzumschlag, 288 Seiten
ISBN: 978-3-257-07124-5
€ (D) 22.00 / sFr 30.00 / € (A) 22.70
Diogenes Verlag
Väter und Söhne
Wo er recht hat, hat er recht
Iwan Turgenjew, wichtigster Vertreter des russischen Realismus, hat sechs Romane geschrieben, «Väter und Söhne» von 1861 ist sein bekanntester. Im gleichen Jahr endete in Russland die mehr als zweihundertjährige Periode der Leibeigenschaft, deren Auswirkungen in diesen Klassiker thematisch bereits ebenso hineinspielen wie die zeitlosen Motive ‹Generationenkonflikt› und ‹Irrungen und Wirrungen der Liebe›. Wie bereits der Buchtitel verdeutlicht, greift der Autor ein ewiges Thema der Menschheit auf, wobei die gesellschaftlichen Konflikte hier zwischen den Vätern als unbeirrt Slawophile und den Söhnen als westlich beeinflusste Nihilisten ausgetragen werden. Von beiden, den hartnäckigen Bewahrern der patriarchalischen Ordnung als auch von den demokratisch orientierten Neuerern wurde Turgenjew damals so heftig kritisiert, dass er sein Vaterland verlassen hat, er ist fast dreißig Jahre später in seinem Haus nahe Paris gestorben.
Arkadi, Sohn des Gutsherrn Kirsanow, und Jewgeni, Sohn des ehemaligen Militärarztes Basarow, besuchen erstmals nach langen Jahren des Studiums in Sankt Petersburg das Gut von Arkadis Vater auf einem abgelegenen Landstrich. Der charismatische, hoch talentierte Jewgeni, der später mal ganz bescheiden Landarzt werden will, wird von Arkadi wegen seiner außergewöhnlichen Intelligenz grenzenlos bewundert. Als radikaler Nihilist und Menschenfeind lehnt Jewgeni sämtliche tradierten Werte, zu denen er Gehorsam, Pflichterfüllung, Moral, Sitte, aber auch die Liebe rechnet, prinzipiell als total unwissenschaftlich ab. Mit seinen revolutionären Ideen stößt der renitente Gast natürlich auf heftigen Widerspruch der konservativen Vätergeneration. «Ein ordentlicher Chemiker ist zwanzigmal wertvoller als der beste Poet» ist eine von seinen provokanten Thesen. Damit ruft er insbesondere auch den Widerspruch von Arkadis Onkel Pawel hervor, ein aristokratischer Bonvivant alter Schule und ehedem erfolgreicher Frauenheld, der ebenfalls auf dem Landgut seines Bruders lebt. Die Streitereien zwischen Gast und Onkel eskalieren letztendlich sogar in einem Duell, für das eine missverstandene Szene mit der Magd Fenetschka ursächlich ist, die von Arkadis verwitwetem Vater ein Baby hat. Der schüchterne Arkadi bandelt schließlich mit Katia an, der jüngeren Schwester von Anna, einer früh verwitweten Gutsbesitzerin aus der Nachbarschaft. Jewgeni wiederum hat sich in eben diese kluge, lebenserfahrene Anna verliebt, ganz gegen seine erklärten Prinzipien, zu denen die Ablehnung jeder Form von Romantik gehört. Sie aber stürzt ihn, weil sie ihn kühl zurückweist, in verheerende innere Konflikte, an denen er seelisch zerbricht.
Dieser dramatische Generationen-Konflikt ist ein faszinierendes Epochengemälde aus der Mitte des 19ten Jahrhunderts, dessen lebensprall gezeichnete Figuren die damalige russische Gesellschaft anschaulich widerspiegeln, sie agieren zudem in absolut logischen Verhaltensmustern. Eine Schlüsselrolle nimmt dabei der überhebliche, oft ausgesprochen unfreundliche, aber eben auch äußerst intelligente Jewgeni Basarow ein, der archetypische Exponent einer neu angebrochenen Zeit. Die Liebe als zweite Ebene der Geschichte wird von den für Turgenjew so charakteristischen schönen und klugen Frauengestalten beherrscht, die mit viel Charme und List manche kühnen Ideen und hehre Gedanken ad absurdum führen und hier auch die angemaßte Überlegenheit der jungen Männer als solche entlarven.
Mit der vorliegenden Neuübersetzung von 2017 ging nicht nur eine überzeugende sprachliche Auffrischung des Textes einher. Dieser dtv-Band ist auch im Layout geradezu mustergültig gestaltet, sein kompetentes Nachwort und der äußerst hilfreiche Anmerkungsapparat tragen zudem entscheidend mit bei zum Verständnis und damit zum ungetrübten Lesegenuss. Nicht von ungefähr gehörte dieser Roman ja zu jenen unverzichtbaren Büchern, die Thomas Mann auf eine einsame Insel mitgenommen hätte, – wo er recht hat, hat er recht!
Fazit: erstklassig
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Batman: Ein Todesfall in der Familie
Batman: Ein Todesfall in der Familie: In überarbeiteter Übersetzung ist dieser Tage das Batman-Abenteuer „Ein Todesfall in der Familie“ erschienen. Im Mittelpunkt steht der zweite von Bruce Wayne als Robin angeheuerte Waisenknabe Jason Todd, den Batman beim Klauen eines Reifens seines Batmobils aufschnappte. In seinem letzte Abenteuer wurden die Leser des Comics durch eine Telefonumfrage direkt involviert.
Robin: Abschied eines Schützlings
„Robin will die because the Joker wants revenge, but you can prevent it with a telephone call“, hieß es damals im dritten Teil der Handlung in einem seitengroßen Inserat. Dabei war Robin eigentlich schon von Anfang an mit dabei. Im April 1940 tauchte er erstmals an der Seite des Dunklen Ritters (seit 1939) auf und wurde nach dem amerikanischen Rotkehlchen benannt. Damals war es noch der Abkömmling einer Zirkusfamilie, Dick Grayson, der nach der Ermordung seiner Eltern unter die Fittiche Bruce Waynes und bald auch Batmans kam. Aber alsbald entwuchs er seiner Rolle als ewig jugendlicher Sidekick Batmans und machte sich als Nightwing selbständig. 1983 stieg Jason Todd erstmals in einem Comic von Gerry Conway und Don Newton in seine Fußstapfen als Robin. 1988 fand dann die oben zitierte Telefonabstimmung statt, mit dem bekannten Ergebnis.
Batman: Wiedervereint im Nahen Osten
Jim Starlin und Jim Aparo lassen Robin in einem Abenteuer gegen den skrupellosen Joker ein letztes Mal glänzen und dies sogar mit Effet. Denn Robin findet heraus, dass seine Mutter eigentlich nur seine Stiefmutter ist und will nun natürlich wissen, wer seine wirkliche Mutter ist. In Frage kommen gleich drei Frauen: Sharon Rosen, eine israelische Geheimagentin, Shiva Woosan, Söldnerin in Beirut und Dr. Sheila Haywood, die für die Hungerhilfe in Äthiopien arbeitet. Nach einem Streit verlässt Robin seinen Ziehvater Batman und macht sich auf die Suche nach seiner Mutter. Wie es der Zufall will, treffen sich die beiden aber wieder im Libanon. Können Batman und Robin den neuen iranischen Außenminister Joker noch aufhalten? Denn der Konferenzraum der UNO ist voll mit Menschen, die der Joker ermorden will…
Zum 80. Geburtstag Batmans wurde dieses Abenteuer aber nicht nur in seiner Übersetzung überarbeitet, sondern auch der bisherige Titel „Ein Tod in der Familie“ in „Ein Todesfall in der Familie“ umgeändert.
Jim Starlin/Jim Aparo
Batman: Ein Todesfall in der Familie
(Storys:Batman 426-429)
2019, Softcover, Paperback, 148 Seiten
ISBN: 978-3-741615429
16,99 €
Unter dem Vulkan
Der Trinker als soziologische Parabel
Fest zum Kanon englischsprachiger Literatur gehört der berühmte Klassiker «Unter dem Vulkan» von Malcom Lowry. Mit dem ‹Ulysses› hat er gemeinsam, dass nur ein einzelner Tag im Leben des Protagonisten geschildert wird, hier ist es Allerseelen im Jahre 1938, Dia de Muertos, einer der wichtigsten Feiertage in Mexiko. Weitere Gemeinsamkeiten sind eine nur rudimentär vorhandene Handlung sowie die Erzählweise als Bewusstseinsstrom, also als eine ungeordnete Folge von Gedankenfetzen und spontanen Wahrnehmungen. Diese oft eruptiv aufscheinenden und damit auf den Titel verweisenden Erinnerungsfetzen sind hier scheinbar willkürlich aneinander gereiht und zusätzlich mit einer Fülle von häufig fremdsprachigen Zitaten angereichert. Zwischen dem Autor und seiner Hauptfigur gibt es biografische Parallelen, beide sind Alkoholiker mit gescheiterten Ehen, und wie der Autor soll auch sein tragischer Held auf Wunsch seiner Frau mit ihr in Kanada in einer einsamen Blockhütte am See leben. Lowry selbst hatte die vierte Fassung seines Romans nach zehn Jahren Schreibarbeit 1947 in einer solchen einfachen Squatterhütte in der Nähe von Vancouver fertig gestellt.
Ort des Roman-Geschehens ist Cuernavaca, die Stadt des ewigen Frühlings, wie Alexander von Humboldt sie des milden Klimas wegen genannt hat, titelgebender und von dort aus ständig sichtbarer Vulkan, ein leitmotivisch häufig verwendetes, drohendes Symbol, ist der 5452 Meter hohe Popocatepetl. In einem vorspielartigen ersten Kapitel unterhalten sich ein Regisseur und ein Arzt über das tragische Schicksal des alkoholkranken britischen Ex-Konsuls Geoffrey Firmin, der im Roman fast ausschließlich ‹der Konsul› genannt wird. Der lebte nach der Scheidung von seiner Frau Yvonne, einer ehemals erfolgreichen Filmschauspielerin, ziel- und tatenlos vor sich hin. Bis vor genau einem Jahr – und damit beginnt der eigentliche Plot – seine Ex-Frau plötzlich aus den USA anreiste. In einem letzten Versuch will sie ihm aus seiner Säuferkarriere heraushelfen und in eine – alkoholfreie – Wildnis Kanadas locken. Am Dia de Muertos kommt auch sein jüngerer Halbbruder Hugh von einer Reise zurück, ein dem Sozialismus zugeneigter Journalist mit einer abenteuerlichen Vergangenheit als Musiker und Seemann, der seinen jetzigen Job zutiefst verachtet.
In einem Vorwort betont Malcom Lowry seine Absicht, damit «den Zugang zu diesem Buch zu erleichtern». Und weiter: «Jedenfalls sind diese Seiten nicht gedacht, Ihre Intelligenz zu kränken. Sie zeigen vielmehr, dass an mancher Stelle der Autor die seine in Frage stellt». Sein Buch sei «auf zahlreichen Ebenen geschrieben», es sei «eine Prophetie, eine politische Warnung, ein Kryptogramm, ein irrer Film, ein Menetekel, eine Wandparole». Was wir lesen in diesem Roman sind unzählige Einzelszenen aus dem Leben des Konsuls, wechselweise erzählt aus den Perspektiven der drei Protagonisten. Wobei Vieles in einer üppigen Symbolik versteckt ist, zu der das Riesenrad auf dem Fest gehört, mit dem man sinnlos immer an der gleichen Stelle vorbeikommt, ebenso die verwilderten Gärten als ewige Verlierer im Kampf mit der grandios geschilderten Natur. Als der Konsul irgendwo gefragt wird, warum er hier eigentlich stehe, erklärt er nonchalant: «Da die Welt sich dreht, warte ich hier so lange, bis mein Haus vorbeikommt».
Die selbstzerstörerische Höllenreise des versoffenen Konsuls steht stellvertretend für das Unvermögen eines aus den Fugen geratenen, ebenso trunkenen Kapitalismus. In dieser großartigen Parabel wird eindringlich ein erschreckendes Bild der neurotischen Aspekte einer modernen Welt vermittelt. Aber die scheint hundert Jahre später, das heutige Mexiko mit ungebremster Korruption, Drogenkartellen und Migrationsthematik zeugt davon, keinen Deut besser zu sein. In der Tat, dieser halluzinatorische Sturzbach von Erinnerungen eines notorischen Trinkers ist nicht leicht zu lesen, – aber es lohnt sich, und zwar in jeder Hinsicht!
Fazit: erstklassig
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Ach, Virginia
Ach, hätte der Autor
Mit dem neuen Roman «Ach, Virginia» hat Michael Kumpfmüller nach seinem literarischen Biopic über Franz Kafka nun auch Virginia Woolf porträtiert, eine der Göttinnen aus dem Olymp britischer Literaten, die, insgesamt gleich viermal vertreten, im BBC-Kanon der hundert besten Romane prominent Platz zwei und drei belegt. Dieses spezielle Genre einer narrativen Melange aus Biografie und Fiktion läuft unübersehbar allerdings Gefahr, der Bedeutung der Porträtierten nicht gerecht zu werden, zumal einer solch berühmten, – wofür dieses Buch ein beredtes Beispiel ist.
Tagebuchartig werden die letzten zehn Tage vor dem Suizid der 59jährigen Virginia Woolf erzählt, die sich am 28. März 1941 nahe ihrem Cottage ‹Monk House› ertränkte. Eingerahmt ist diese Erzählung in einen als «Interkontinentalflug» betitelten, kursiv gesetzten Prolog, in dem der Autor den akuten psychischen Zustand seiner Protagonistin beschreibt und ihn, in Anspielung auf den Titel, als Sinkflug bezeichnet. Vervollständigt wird dieser erzählerische Rahmen durch einen ebensolchen Epilog, welcher, nun aus Sicht von Leonard Woolf, einen Ausblick auf dessen weiteres Leben nach dem Suizid seiner Frau gewährt. Er führte mit ihr eine platonische Ehe, während der dann auch ihre dreijährige Liebesbeziehung zu der Schriftstellerin Vita Sackville-West nicht weiter störte, die dann später in eine lebenslange Freundschaft mündete. Die emanzipatorischen Antriebe von Virginia Woolf, ihr erbitterter Kampf um Eigenständigkeit wirken bis heute nach und tragen nicht wenig zu ihrem Ruhm bei. Besonders tragisch in ihrem bewegten Leben aber war die fehlende Anerkennung ihrer Werke durch ein breiteres Lesepublikum, sie war zu Lebzeiten allenfalls einer kleinen literarischen Elite bekannt. Offensichtlich lag eine genetische Disposition für ihre lebenslang andauernden, manischen Depressionen vor, unter denen auch ihr Vater schon litt, bereits als 13Jährige brach sie beim Tod der Mutter unter ihrem ersten psychischen Kollaps zusammen.
Der Autor arbeitet geradezu sezierend die Tragik ihrer labilen Psyche in seinem Roman heraus, ihre ständigen Selbstzweifel und Schreibblockaden nehmen einen breiten Raum ein in seiner Innensicht einer großartigen Schriftstellerin, die verzweifelt mit ihren nächtlichen Dämonen kämpft. Der deutsche Bombenkrieg, bei dem ihre Londoner Wohnung zerstört wurde, und auch die Angst vor einer baldigen Invasion drücken auf ihr Gemüt, sie fühlt sich hilflos gefangen in der ländlichen Einsamkeit und sieht nur noch den Tod als letzten Ausweg. In weiten Teilen ist dieser Roman als Bewusstseinsstrom geschrieben, ein endloses Sinnieren und Reflektieren seiner tragischen Heldin, das durch Zitate aus Tagebucheinträgen und Briefen ergänzt wird. Die könnten das Fiktive authentisch ergänzen, wäre dabei nicht die offensichtliche Camouflage herauszulesen, mit der sie ihre wahre seelische Befindlichkeit denn wohl doch schamhaft verschleiert.
Es ist ein kühnes Unterfangen, sich in das Innerste eines realen Menschen hinein zu versetzen und von dort aus glaubhaft berichten zu wollen, insbesondere wenn es sich um die Innensicht einer Selbstmörderin kurz vor ihrem Suizid handelt. Und besonders kühn, um nicht zu sagen frech ist es, wenn jemand wie Virginia Woolf dafür herhalten muss. Frech deshalb, weil literarisch Welten liegen zwischen ihr und ihrem fiktionalen Biografen, dessen Roman weder sprachlich noch von der gedanklichen Tiefe her auch nur Mittelmaß erreicht und streckenweise in peinlichster Banalität versinkt. Diese Anmaßung ist grandios gescheitert, weder erfährt man biografisch wirklich Erhellendes über die weltberühmte Literatin noch wird man gut unterhalten. Die ermüdende Erzählung schleppt sich vielmehr langatmig in immer neuen, spekulativen Denkschleifen durch ein seelisches Chaos. «Sie selbst möchte nach ihrem Tod in Büchern ungern zerlegt werden» heißt es an einer Stelle. Ach, hätte der Autor doch wenigstens diesen eigenen Satz beherzigt!
Fazit: miserabel
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Vater unser
Vexierbild als Mileustudie
Mit ihrem Debütroman «Vater unser» hat die österreichische Schriftstellerin Verena Lehner auf Anhieb einen beachtlichen Erfolg gehabt, ihr Buch gelangte 2019 auf die Longlist für den Frankfurter Buchpreis und machte sie damit in deutschsprachigen Leserkreisen bekannt. Auch das Feuilleton äußerte sich lobend, nicht zuletzt deshalb, weil hier geradezu ein Musterbeispiel für die narrative Form des unzuverlässigen Erzählens vorliegt. Was nicht verwundert, hatte die Autorin doch als Komparatistik-Studentin ihre Bachelorarbeit genau diesem Thema gewidmet. Um es gleich vorweg zu nehmen: Unzuverlässiger als die unzuverlässige junge Ich-Erzählerin Eva Gruber, die wegen einer ausgeprägten manischen Störung von der Polizei in eine Psychiatrische Klinik Wiens eingeliefert wird, weil sie, wie es heißt, eine ganze Kindergarten-Gruppe erschossen habe, launischer, inkonsequenter, sprunghafter kann man wirklich nicht erzählen.
Dieser nach dem am weitesten verbreiteten christlichen Gebet benannte, dreiteilige Roman spricht ironisch auch die Dreifaltigkeit an, in den drei mit «Der Vater», «Der Sohn» und «Der Heilige Geist» betitelten Abschnitten drückt sich spöttisch eine deutliche Ablehnung der landesweiten, katholischen Frömmigkeit aus. Gleich im ersten Teil liefert sich die manische Patientin selbstbewusst, schlagfertig und gewitzt köstliche Dispute mit ihrem Therapeuten, dem Anstaltsleiter Dr. Korb, dem sie von ihrer erzkatholischen, ländlichen Herkunft erzählt und vom Irrweg ihrer ganzen Familie. Wie sie beispielsweise vom Lehrer geschlagen wurde, weil sie das «Vater unser» nicht auswendig konnte, wie der Vater ihren jüngeren Bruder und zehn Minuten später dann auch noch sie vergewaltigt hat. Was ‹Korb›, wie sie ihn verächtlich anredet, ebenso flapsig damit kommentiert, dann müsse der Vater ja ziemlich potent sein. Arzt und Patient schenken sich nichts in ihren Therapiegesprächen, die in einem stets verschlossenen Behandlungszimmer stattfinden. Eva ist auffallend besserwisserisch, aggressiv und rotzfrech obendrein, hier ein typisches Beispiel für den permanenten, köstlichen verbalen Schlagabtausch: «‹Auch Frau Gruber›, sagt Korb und seufzt, ‹so klug sind Sie. Was hätte aus Ihnen bloß alles werden können, wenn Sie nicht so verrückt wären›. Ich nicke. ‹Ja›, sag ich, ‹wenn ich einfach nur ein bisschen blöder wär, hätt ich zum Beispiel Psychiater werden können›.» Die Beiden frozzeln sich genüsslich und lächeln noch dabei.
Was sich zunächst wie eine weitere Variante auf das literarische Genre des Psychiatrie-Romans liest, entwickelt sich im weiteren Verlauf zu einer nachdenklich machenden Anklage gegen das, was angeblich normal ist und gesund. Evas Vater hatte in seinem Zimmer einen Altar, neben dem immer ein Rosenkranz hing sowie ein gerahmtes Foto von Jörg Haider, dem Rechtspopulisten. In diversen Vignetten fragmentarisch erzählt, entwickelt sich allmählich ein Gesamtbild, das die alte Frage aufwirft, wer denn nun verrückt sei, die Patienten in der Psychiatrie oder diejenigen, die draußen sind und dort verrückt spielen. Ist das, was wir für Wirklichkeit halten, Realität – oder doch nur ein Platonsches Abbild davon? Angela Lehner zelebriert in ihrer Geschichte die Ambiguität der Geschehnisse als ein Sammelsurium des Uneindeutigen, man könnte es nach einem klugen Kopf in den USA auch alternative Fakten nennen, – als Widerspruch in sich quasi.
Wie ein Vexierbild erscheint diese klug aufgebaute Milieustudie, die in einer angenehm lesbaren Sprache den Leser absichtsvoll aufs Glatteis führt, ihn im Ungewissen lässt, schnöde die Realität negiert. Als Leser nimmt man allzu gern die Perspektive der manischen Eva Gruber ein, die an der Welt erkrankt ist, und erliegt somit dem Lesesog dieser verqueren Persiflage der Psychiatrie, in deren Verlauf sich aus der spöttischen Überlegenheit der narzisstischen Ich-Erzählerin heraus eine tiefe Verletzlichkeit abzeichnet, an deren Ende eine verzweifelte Flucht steht.
Fazit: lesenswert
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Viva
Ein moderner Plutarch
Mit seinem 2017 auf Deutsch erschienen Roman «Viva» hat der französische Schriftsteller Patrick Deville erneut ein Werk vorgelegt, mit dem er auf den Spuren von Plutarch wandelt. Genau wie seinem antiken Vorbild mit den berühmten griechisch-römischen Doppelbiografien geht es dem Autor hier eben nicht um Geschichtsschreibung im wissenschaftlichen Sinne, sondern um Verdeutlichung unterschiedlicher charakterlicher Prägungen und individueller Denkweisen. Der in persona auftretende, vielgereiste Literat berichtet sehr anschaulich von seinen ausgedehnten weltweiten Recherchen auf den Spuren seines Romanpersonals und findet es tröstlich, während seines täglichen «quasi kantischen Spaziergangs» beim Aufenthalt im mexikanischen Cuernavaca beispielsweise «… sich zu überlegen, warum Plutarch für seine Parallel-Biografien gut und gerne Lowry und Trotzki hätte auswählen können. Den, der in der Geschichte handelt, und den, der nicht handelt».
Lev Davidovich Bronstein, der sich ab 1902 Trotzki nannte, einer der großen Drei der kommunistischen Revolution in Russland, Begründer und Oberbefehlshaber der Roten Armee, wurde 1924 nach dem Tod Lenins von Stalin systematisch kaltgestellt und musste fünf Jahre später ins Exil gehen. Stationen seiner Odyssee waren die Türkei, Frankreich, Norwegen und Mexiko. Dort wurde er 1937 in der berühmten ‹Casa Azul› am Rande von Mexiko-Stadt empfangen und vorläufig untergebracht, im Blauen Haus der Malerin Frida Kahlo, Frau des großen Nationalmalers Diego Rivera. Nach einem missglückten Mordanschlag durch den russischen Geheimdienst im Mai 1940 wurde er drei Monate später in seinem festungsartig ausgebauten Haus von einem trickreich eingeschleusten spanischen Agenten im Dienste Russlands durch einen Schlag auf den Kopf mit einem Eispickel ermordet. Diesem politischen Machertypen stellt Patrick Deville mit Malcom Lowry einen britischen Schriftsteller gegenüber, der zu gleicher Zeit ebenfalls in Mexico lebte, ohne dass die Beiden aber je zusammengetroffen wären. Dieses Land war damals eine Art Sehnsuchtsort für Intellektuelle und Künstler verschiedenster Couleur aus aller Welt, unter ihnen André Breton, Antonin Artaud, Jack London, der geheimnisvolle B. Traven, Tina Modotti und Graham Greene. In Cuernavaca schrieb der lange von seinem Vater finanziell abhängig Lowry, der ein vom Alkohol geprägtes, unstetes Leben führte, bis ins Jahr 1937 hinein an der ersten Fassung seines berühmten Romans «Unter dem Vulkan». Der folgten bis Ende 1944 noch drei weitere Fassungen, die letzte während des Zweiten Weltkriegs in seiner abgelegenen kanadischen Blockhütte geschrieben. Er starb 1957 in England an einer Überdosis Schlaftabletten.
Die erzählerisch kunstvoll ineinander verflochtenen Lebenslinien dieser beiden markanten Hauptfiguren, der geschichtlich handelnden und der Geschichten erfindenden, sind durch eine kaum überschaubare Fülle von weiteren Figuren mit zahlreichen Querverbindungen umrahmt. Zuvorderst bestimmen natürlich Ehefrauen und Geliebte ihr Leben, sodann aber auch Kollegen, Gefährten und Widersacher. Alle diese Randfiguren werden mit ihrer Vita ebenfalls narrativ eingebunden in diesen detailverliebten, durch seinen Erzählfuror geprägten Roman, der allerdings erhöhte Anforderungen stellt an die Aufmerksamkeit und das Hintergrundwissen seiner Leser.
Denn es wimmelt nur so von köstlichen Anekdoten, denkwürdigen Begegnungen, intertextuellen Bezügen, historischen und biografischen Fakten, man wird angeregt, unterhalten und bereichert zugleich, ein moderner Plutarch mithin. Sprachlich präzise erzählt Patrick Deville vom Gelingen und Scheitern seiner Figuren, von ihrem revolutionären Geist und von den Zufällen, die ihr Schicksal bestimmten. Ein beeindruckendes Kaleidoskop einer von Katastrophen gebeutelten ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts, deren Realität die Fantasie bei weitem übertrifft, wobei hier allerdings die Detailfülle nicht gerade förderlich ist für den Lesegenuss.
Fazit: lesenswert
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Power
Allegorie auf das Verschwinden
In ihrem zweiten Roman mit dem irreführenden Titel «Power» thematisiert die Schriftstellerin Verena Güntner nichts, was irgendwie mit ‹Kraft› assoziiert werden könnte, sondern das Verschwinden und seine gesellschaftlichen Vorbedingungen. Der soeben erschienene Band ist für den diesjährigen Leipziger Buchpreis nominiert, wobei die Jury ihre Wahl folgendermaßen begründet: «In zarter und sicherer Sprache schichtet Verena Güntner Ebene auf Ebene, demontiert Geschlechter-Zuschreibungen, hält sich fern vom Klischee. Und zeigt, welchen Erzählsog die Suche nach einem verschwundenen Haustier entwickeln kann.»
Nach einem irritierenden, unverständlichen Prolog, der den Schluss des zweiteiligen Romans zumindest atmosphärisch vorwegnimmt, glaubt man sich anfangs in einer Pippi-Langstrumpf-artigen Geschichte. Deren nicht minder vorlaute, selbstbewusste, elfjährige Heldin hört auf den schönen Namen ‹Kerze› als Symbol des Lichts, welches sie ins Dunkle bringt. Weniger symbolisch trägt der verschwundene Hund ihrer Nachbarin, der alten Hitschke, den Namen ‹Power›, ein eher profaner Einfall seines Frauchens. Als die nämlich überraschend nach dem Namen des noch ungetauften Welpen gefragt wurde, fiel ihr Blick zufällig auf eine Kaffeemaschine, deren Einschalttaste so beschriftet war. Dieser inzwischen ebenfalls elfjährige Hund ist eines Tages verschwunden, und Kerze verspricht der untröstlichen Alten, ihn zu finden. Was folgt ist eine intensive Suchaktion des Mädchens im angrenzenden Wald, der sich, die großen Ferien haben gerade begonnen, nacheinander auch sämtliche Kinder des 200-Seelen-Dorfes anschließen. Was wie ein kindliches Abenteuerspiel beginnt, nimmt schon bald geradezu kafkaeske Züge an: Die Kinder kommen nicht mehr nach Hause, bleiben wochenlang im Wald, bewegen sich auf allen Vieren, beginnen zu bellen, ja sie basteln sich sogar einen Schwanz, den sie sich umbinden und mit dem sie wedeln, wie ein Hunderudel hausen sie zusammen in einem tiefen Bombentrichter im Wald. Die alte Hitschke kocht ihnen aus Dankbarkeit täglich ein Essen, das sie in aller Herrgottsfrühe heimlich am Waldrand abstellt. Kein Erwachsener darf sich ihnen nähern, sämtliche Rückhol-Aktionen ihrer genervten Eltern scheitern kläglich, die Kinder weichen ihnen geschickt aus und bleiben unauffindbar.
Um den eher banalen Kern dieser chronologisch erzählten Geschichte herum entwickelt sich in parallelen Handlungssträngen, durch Rückblenden angereichert, ein nachdenklich machendes Szenarium der Radikalisierung, als deren Ursache sich die erschreckende Kontaktarmut erweist. Das Leitmotiv des spurlosen Verschwindens wiederholt sich auch bei den Menschen, der Mann der alten Hitschke war eines Tages ebenso plötzlich nicht mehr da wie die Frau des Huberbauern von nebenan, beide Male ausgelöst durch ein geradezu abnormes Fehlen jedweder emotionaler Bindung, das sich in gleicher Weise dann auch auf den Sohn des Bauern erstreckt. Und auch die alte Frau verlässt klammheimlich für immer ihr Haus und das Dorf, dessen Bewohner «Hitschke-raus» skandieren und sie mit Wandschmierereien zunehmend terrorisieren, weil sie mit ihrem verschwundenen Hund letztendlich für das unerklärliche Verhalten der Kinder verantwortlich sei. Insoweit ist der Roman eine exemplarische Studie der grassierenden gesellschaftlichen Verrohung, hochaktuell also!
Sprachlich uninspiriert, zuweilen etwas holprig – wenn beispielsweise von «hektarlangen» Getreidefeldern die Rede ist – entwickelt Verena Güntner ihre verstörende Geschichte eines kindlich naiven Ausbruchs aus dem profanen Alltag als Allegorie auf das nur äußerlich wohlgeordnete soziale Gefüge einer eng benachbarten Dorfgemeinschaft. Die dabei entstehende Gruppendynamik ist psychologisch nachvollziehbar und anschaulich dargestellt, der Plot mündet allerdings, nachdem das Ganze völlig aus dem Ruder gelaufen ist, abrupt in ein leider allzu voraussehbares Ende, das dann doch wieder an Bullerbü erinnert.
Fazit: mäßig
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Oblomow
Schlafrock-Existenz als Allegorie
In der russischen Literatur verkörpert die Titelfigur in Ivan Gontscharows 1859 erschienenen Roman «Oblomow» archetypisch den ‹überflüssigen Menschen›, jener auch schon bei Puschkin und Lermontow thematisierten Leitfigur aus dem patriarchalischen Landadel. Mit diesem provozierenden zweiten Roman, dessen berühmtes neuntes Kapitel mit sensationellem Erfolg schon vorab veröffentlicht wurde und an dem er dann aber noch volle zehn Jahre lang gearbeitet hat, wurde der Schriftsteller schlagartig berühmt und sicherte sich seinen Platz im Olymp der Weltliteratur. Er wurde allein achtmal ist Deutsche übersetzt, zuletzt wahrhaft kongenial von Vera Bischitzky in der neuen Ausgabe von 2014. Als Oblomowerei bezeichnet man inzwischen eine infantile, phlegmatische Geisteshaltung des absoluten Nichtstuns, welche der introvertierten Weltsicht des saturierten russischen Adels jener Zeit zu entsprechen schien.
Von dienstbaren Geistern umschwirrt wächst Oblomow im weitab gelegenen Landgut seiner Eltern, zu dem auch das gleichnamige Dorf mit 300 Leibeigenen gehört, als total verhätscheltes Kind auf und wird privat bei einem deutschen Lehrer unterrichtet. Er besucht die Universität und nimmt in Sankt Petersburg eine Stelle als Beamter an, die er aber bald schon aufkündigt, weil ihm die ständige Arbeiterei zuviel wird. Künftig lebt er, betreut von seinem Diener, faul und genügsam von den Einkünften des ererbten Landgutes und versinkt rasch in eine lähmende, träumerische Lethargie. Deren Gipfelpunkt ist, neben opulentem Essen, der ausgedehnte, tägliche Mittagsschlaf. Alle Pflichten aber schiebt der Dreißigjährige ständig vor sich her, lässt sich naiv gutgläubig von sogenannten Freunden finanziell ausnehmen und gerät immer mehr in eine prekäre Lage. Andrej Stolz, sein bester Freund, erfolgreicher Sohn seines ehemaligen Privatlehrers, versucht ihn zwar unermüdlich aus seiner Passivität zu locken, er hilft ihm auch tatkräftig bei der Besorgung seiner unerledigter Angelegenheiten, kann aber letztendlich auch nichts ausrichten gegen sein unsägliches Phlegma. Seine erste Liebe zu der quirligen Olga scheitert schließlich ebenfalls an dieser ewigen Lethargie, er selbst erkennt sein unentschuldbares, antriebsloses Verhalten und schreibt ihr einen selbstkritischen Abschiedsbrief. Einige Jahre später heiratet er seine einfältige Haushälterin, die sich immer aufopfernd um ihn gekümmert hat und eine hervorragende Köchin ist (sic), bekommt einen Sohn und stirbt dann sehr früh.
Fressen und Faulenzen als Lebensinhalt wirft existenzielle Fragen auf, die Ivan Gontscharow in seinem Roman mit dem Gegenpart des strebsamen deutschen Freundes kontrastiert. Die Hamlet-Frage wird von Oblomow überdeutlich – durch konkludentes Nicht-Handeln – mit ‹Nichtsein› beantwortet, er will nur seine Ruhe und Bequemlichkeit und ist dafür zu fast jedem Verzicht bereit. Diese konservative Absage an jedwede Veränderung fußt allerdings auf den üppigen Privilegien des Adels, der die Leibeigenen schamlos ausbeutet und ein parasitäres Leben führt. Der Interpretation dieses grandiosen Romans sind kaum Grenzen gesetzt, man kann ihn als amüsante Allegorie auf die Schlafrock-Existenz eines notorisch passiven Tagträumers deuten, eines ewigen Zauderers, der dem Fatum durch Nichtstun zu entfliehen sucht, als Sonderform des Eskapismus also, aber auch als psychiatrische Anamnese im Teufelskreis zwanghaften Nichtstuns.
Die gedankliche Tiefe dieses Jahrhundertromans ist phänomenal, bis in die feinsten Verästelungen hinein wird hier der Sinn des Lebens skeptisch hinterfragt, und in diesem Kontext wird vor allem auch das Phänomen der Liebe in einer universellen Sichtweise thematisiert. Sprachlich überzeugend und konstruktiv genial angelegt bietet dieser Roman ungetrübten Lesegenuss. «Oblomowerei», was ist denn das, fragt ein beleibter, namenloser Literat (wer wohl?) seinen Freund Andrej Stolz ganz am Ende erstaunt: «Und er erzählte ihm, was hier geschrieben steht»!
Fazit: erstklassig
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Superheldin Harley Quinn
Die erste Comic-Verfilmung des Jahres startet im Kino und rückt die DC-Superheldinnen in die erste Reihe. Der Filmtitel „Birds of Prey: The Emancipation of Harley Quinn“ will zeigen, wie die (Ex-)Freundin des Jokers sich freispielt und zu einer eigenen DC-Superheldin wird.
Solo einer Superheldin
Panini veröffentlicht zeitgleich zum Film eine ganze Reihe von Birds of Prey-Lesestoff. Aber auch andere Superheldinnen wie Black Canary und Huntress spielen dabei an der Seite der von Margot Robbie verkörperten Lieblingsfigur aller Cosplayer, Harley Quinn, eine wichtige Rolle. Die Ursprünge der Birds of Prey-Story reichen sogar bis ins Jahr 1996 zurück, als sie in der dritten Ausgabe der mit ständig wechselnden Inhalten aufwartenden Showcase-Reihe erschien. Danach erschien einer vierteilige Mini-Serie (Black Canary / Oracle: Birds of Prey). Zwei Jahre später, 1998, wurde eine fortlaufende Serie gestartet, die bis 2014 lief und sage und schreibe 170 Ausgaben erreichte. Die Serie wurde anfangs von Chuck Dixon gestaltet, dann ab Ausgabe 56 übernahm Gail Simone die Serie federführend. Zuletzt schrieben Duane Swierczynski und Christy Marx die Birds of Prey Geschichten. Die Zeichner der Serie waren verschiedene Künstler, darunter Ed Benes, Joe Bennett, Greg Land und Nicola Scott.
Birds of Prey: der Knaller
Neben der neuen (zweiten) Anthologie, die gerade bei Panini erschien und mit der ersten Birds of Prey-Story aus dem Jahr 1996 eröffnet wird, sind darin außerdem 13 weitere Geschichten bis zum Jahr 2017 enthalten. Darunter auch Storys, die die unterschiedlichen Team-Zusammensetzungen über die Zeit hinweg zeigen. So gibt es darin Harley Quinn Crossovers mit Anti-Heldinnen wie Catwoman und Poison Ivy aber auch das schwierige Verhältnis zu den männlichen Kollegen wie Batman, Nightwing und Robin wird darin thematisiert. Zwei Sonderbände, die sich besonders den beiden Hauptprotagonistinnen aus dem Film – Black Canary und Huntress – widmen nennen sich „Birds of Prey: Huntress“ und „Birds of Prey: Black Canary“. Andere Comic-Veröffentlichungen zum Film haben natürlich auch ausschließlich Harley Quinn im Fokus. Darunter Band 4 der Knaller-Kollektion und ein weiterer Greatest Hits-Band, sowie ein Birds of Prey: Harley Quinn Special und das erste Album des Dreiteilers Harleen, einer grandiosen Neuinterpretation der Figur von Ausnahmekünstler Stjepan Sejic.
Neuerscheinungen bei Panini
Speziell zum Erscheinen des Films „Harley Quinn: Birds of Prey“ bietet Panini auch ein Birds of Prey Bundle an, bei dem die Fans neben Comics zusätzlich auch noch eine Harley Quinn-Uhr erhalten. Einem verrückten Harley Quinn Frühling steht somit also nichts mehr im Wege.
Zeichner:Amanda Conner, Gary Frank, Greg Land, John Timms, Michael Lark
Autor:Amanda Conner, Chuck Dixon, Greg Rucka, Jimmy Palmiotti, Julie Benson, Shawna Benson
Charaktere:Black Canary, Harley Quinn, Huntress
Einsteigerfreundlich:Ja
Format: Hardcover
Kategorie: Comics
Marke:Birds of Prey, Harley Quinn
Seitenzahl: 372
Storys: Batgirl And The Birds Of Prey 8-10, Batgirl And The Birds Of Prey: Rebirth 1, Batman 567, Black Canary/Oracle: Birds Of Prey 1, Detective Comics (1937) 734, Gotham Central 1-2, Harley Quinn Annual (2014), Nightwing and Huntress (1998) 1-2, Secret Origins 4 + 11
Thema: Superheldinnen
Kream Korner
Boheme vs. Dekadenz
Der zweite Roman von Anna Katharina Fröhlich mit dem kryptischen Titel «Kream Korner» überrascht in vielerlei Hinsicht, der schmale Band verweigert sich als ein literarisches Capriccio beharrlich allen narrativen Konventionen. Einem Triptychon ähnlich steht im Zentrum der Geschichte ein unwirtliches Landgut in der Provence, dem zwei in die bunte Exotik Indiens führende, äußere Romanteile als Hommage an eine erträumte Gegenwelt beigefügt sind, wie sie konträrer nicht sein könnte. Da muss doch Absicht hinter stecken, denkt man sich beim Lesen, was will die Autorin denn damit sagen?
Die seit ihrem siebten Lebensjahr verwaiste Ich-Erzählerin wurde von Onkel und Tante in Südfrankreich liebevoll großgezogen, nach einem abgebrochenen Theologie-Studium in Paris kehrte sie desillusioniert in die ländliche Abgeschiedenheit zurück. Ihr asketisches Leben in dem feuchten, kalten, «beharrlich verfallenden Anwesen» ist durch die gartennärrische Tante vorgezeichnet. Neben vielerlei gehaltenen Tieren bewirtschaftet sie liebevoll einen geradezu archaisch anmutenden Garten, für dessen botanische Geheimnisse und Wunder sie auch die Nichte zu begeistern versteht. Als der äußerst belesene Onkel stirbt, studieren die eigenbrötlerischen Frauen aufmerksam die Heiratsanzeigen, aber welcher Mann könnte denn ernsthaft ihr ebenso kontemplatives wie – auf ernährungsbezogene Autarkie ausgerichtetes -arbeitsreiches Landleben teilen? In diesem zwischen Garten und Bibliothek changierenden, völlig zurückgezogenen Alltagsleben werden die alljährlichen Reisen zu einem befreundeten, unermesslich reichen Sikh-Clan in Indien zur hochwillkommenen Flucht aus der selbst auferlegten Askese.
Vorangestellt ist diesem europäischen Mittelteil die Schilderung eines solchen Besuchs auf dem Subkontinent, bei dem die namenlose Erzählerin, die sich selbst als «intellektuelle Erotomanin» bezeichnet, erfolglos versucht, den ältesten Sohn der indischen Familie als Ehemann für sich zu gewinnen. Das Leben in Lucknow ist orientalisch bunt, es wimmelt von dienstbaren Geistern in diesem prunkvollen Palast, dessen apathische Bewohner, denen sie «Readers Digest-Dummheit» bescheinigt, mit «nilpferdhafter Grazie» träge, faul und völlig antriebslos vor sich hindämmern, während im wüsten Getümmel außerhalb der Gartenmauern ein unvorstellbares Elend herrscht. Ein Jahr später sind sie, im letzten Teil des Romans, als Gäste zur Hochzeit dieses Sohnes erneut eingeladen. Der geht, familiären Traditionen folgend, eine von den Eltern arrangierte Ehe ein mit einer – wie die Erzählerin hämisch feststellt – grotesk unattraktiven Frau. Hier wiederholt sich nun wieder, frei von jedwedem Ressentiment, auch die ausufernde Schilderung der dekadenten, elegischen Oberschicht im Kontrast zur elendigen Bevölkerung, die sich bettelnd auf den vermüllten Strassen der Millionenstadt herumtummelt. Besonderen Eindruck aber macht ein fröhlicher Rikschafahrer auf sie, er «lachte die Pferde und Kühe an, lachte die Süßspeisen hinter den gläsernen Vitrinen, lachte die Krähen auf den Müllhaufen an, lachte in das Gold und Silber, das allenthalben in Stoffe, in Süßspeisen gemischt ist, Tempel, Ohrlöcher, Fußknöchel, Zöpfe, Affenschaukeln, Pferderückendecken schmückt».
Der nahezu handlungslose Roman lebt von solcherart detailversessenem Erzählfuror, dessen Markenzeichen geradezu diese narrative Reihenbildung ist. In ihrer adjektiv-gesättigten, eigensinnigen Diktion schwärmt Anna Katharina Fröhlich auf humoristische Weise von ihrem östlichen Sehnsuchtsort, als Apologie des gelungenen Lebens gleichsam, als Triumph der Sprache über die Zumutungen des Erdendaseins. Eine letzte Zumutung ist dann auf der Rückreise ein Imbiss mit dem Namen «Kream Korner», provisorisch auf dem ungesicherten Dach eines maroden Hochhauses in Kalkutta eingerichtet. Dort sagt am Ende die Tante völlig resigniert: «… wir machen unser Glück in Indien nicht. Falls du jemals ein Buch schreiben solltest, nenne es Kream Korner».
Fazit: mäßig
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