Lucky Luke – Wanted (Hommage 4)

http://christianendres.de/wp-content/uploads/2021/05/ll_wanted.jpgGesucht

Ist Lucky Luke unter die Verbrecher gegangen? Jedenfalls ist auf ihn eine ordentliche Kopfgeldsumme von 50.000 Dollar ausgesetzt, auf die nicht nur alle im Umkreis vorhandenen Kriminellen anspringen. Das führt zu verzwickten Situationen für den Helden, der schneller schießt als sein Schatten. Noch komplizierter wird es, als sein Beschützerinstinkt zuschlägt: Er begleitet drei junge Frauen und ihre Rinderherde auf ihrer Reise. Und natürlich verlieben sich alle drei in ihn.

Platte Story, unkritische Bedienung von Geschlechterklischees

Die Story ist leider genauso platt wie die obige Inhaltsangabe vermuten lässt. Durchschaubare Handlung, Haremskonstellation und Männertraum in einem machen das Ganze zu einer Lesequal. Die Frauen folgen ausgenudelteten Schemata – jung, hübsch, dem Helden verfallen, naiv, kühl, pseudogefährlich, sexy Frauen mit Waffen als verlängertem Penis – und der Held benimmt sich ebenfalls ausgenudelt, was nicht nur das Cover und diverse Panels mehr als deutlich machen.

Herrje, wo ist unser Lucky Luke geblieben, den wir alle kennen und lieben? Auch mein kleiner Sohn, bekennender Lucky-Luke-Fan, der die ganze Zeit mit Spielzeug-Revolvern, Revolvergurt und Spielzeuggewehr herumrennt und versucht, schneller zu schießen als sein Schatten (und damit seine Mutter in den Wahnsinn treibt), kann mit dem Band herzlich wenig anfangen. Diese Entfremdung eines beliebten Charakters tut dem Comic nicht gut, zumal er auch noch ein nicht nur veraltetes, sondern ungutes Frauenbild transportiert, dass mir als weiblicher Leserin die Tränen in die Augen treibt. Das erinnert mich wieder einmal daran, dass die franko-belgischen und amerikanischen Comics des Mainstreams in ihrer Entwicklung zu mehr Gendergerechtigkeit immer noch sichtbar hinterherhinken. Und das ist noch sehr nett ausgedrückt…

Fazit

Auf diesen Band kann man gut verzichten (Gründe s.o.)! Sorry!


Illustrated by Egmont Ehapa

Am Götterbaum

Blitzlicht auf einen vergessenen Poeten

In seinem neuesten Roman «Am Götterbaum» widmet sich Hans Pleschinski zum dritten Mal einem deutschen Nobelpreisträger für Literatur. Nach Thomas Mann in «Königsallee» und Gerhart Hauptmann in «Wiesenstein» wird hier Paul Heyse in den Blick genommen. Der literarisch der Postmoderne zugerechnete Autor erzählt mit Lust am Fabulieren von der Initiative dreier engagierter Damen, die verwahrloste Villa des heute völlig vergessenen, einstigen ‹Großschriftstellers› aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken und in ein modernes Literatur-Zentrum umzuwandeln.

München brauche so etwas, um kulturell zu Berlin aufschließen zu können, da ist sich die toughe Stadtbaurätin völlig sicher. Auch den Kämmerer hat sie von ihrer Idee überzeugen können. Als sachkundige Mitstreiterinnen hat sie eine Schriftstellerin und eine Bibliothekarin gewonnen, mit denen sie sich 2019 an einem Frühlingsabend vor dem Rathaus trifft, um von dort aus zu einer ersten Ortsbegehung aufzubrechen. Da sie früh dran sind, beschließen die Damen, gemütlich zu Fuß zur Luisenstraße 22 im Kunstareal Münchens zu laufen. Auf dem Weg dorthin unterhalten sie sich sehr angeregt über Paul Heyse und das geplante Kulturprojekt, debattieren kontrovers über dessen Sinn und Machbarkeit. Pleschinski nutzt die Szenerie am Rande auch zu allerlei kritischen Betrachtungen des täglichen Wahnsinns. So wenn beispielsweise zwei smartphone-süchtige junge Männer mit ihrer Daddel vor der Nase auf dem Bürgersteig kollidieren und eines dieser elektronischen Kulturtöter auf Nimmerwiedersehen in den Gully gleitet. Oder die Damen erleben den Streit einer Tauben fütternden Alten mit einem erbosten Herrn, der von Flugratten spricht und die Polizei herbeirufen will, weil das Füttern aus guten Gründen ja verboten sei.

Die sich an einem einzigen Abend abspielende Geschichte dieses literarischen Spaziergangs durch München wird nur einmal kurz durch einen Rückblick auf einen Besuch von Adolf von Kröner am Gardasee unterbrochen. Der Besucher des Ehepaars Heyse zählte damals zu den führenden Verlegern in Deutschland, ihm verdankt der Buchhandel die seit 1888 geltende, kulturell begründete Preisbindung für Bücher. Ansonsten ist dieser Roman, neben seinen beiläufigen Alltags-Beobachtungen, überreich gespickt mit Zitaten von Heyse. Gedichte zumeist, die erkennen lassen, warum dieser Literat heute zu Recht vergessen ist. Ihm fehlt, was Pleschinski im Roman als Ingenium bezeichnet, seine literarischen Hervorbringungen sind allenfalls mittelmäßig, was auch für seine 180 Novellen, 68 Dramen und acht Romane gilt, soweit man das durch die eingefügten Zitate beurteilen kann.

Oft am Rande der Kolportage entlang schliddernd mit seinem banalen Münchner Alltags-Kolorit, enttäuscht dieser Roman durch das kulturbeflissene Dauer-Geschwafel des Damentrios, von dem man als Leser oft nicht weiß, wer denn da überhaupt spricht. Ihnen gesellt sich zu allem Überfluss auch noch ein als Heyse-Spezialist ausgewiesener Professor aus Erlangen hinzu, samt jungem, chinesischem Ehemann (sic!). Sehr zum Verdruss des geplagten Lesers trägt nun dieser Heyse-Experte immer weitere Zitate vor. Völlig absurd aber wird das Ganze, wenn zuletzt nach mehreren Pannen überraschend doch noch eine Begehung der vermieteten Villa möglich wird. Die zunächst abweisenden Mieter outen sich plötzlich als Heyse-Fans und tragen spontan im Treppenhaus der Villa ein Stück des verehrten Meisters vor. Spätestens an diesem Punkt stellt sich dann die Frage, ob diese Hommage womöglich als Satire gedacht ist. Es gibt allerdings keine Hinweise, die solche Deutung untermauern könnten, es fehlt jedwede Komik. Im Interview hat der Autor erklärt, er hoffe, «dass der Roman für Leser in diesen Zeiten eine Art Antidepressivum sein kann». Das mag für einige zutreffen, und außerdem hat er einen vergessenen Poeten blitzlichtartig ins Leser-Bewusstsein zurückgerufen, auch darin liegt ein gewisser Verdienst, aber das ist dann auch schon alles!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München

Die Schlange im Wolfspelz

Von den Ursachen getrübter Lesefreude

Die Reihe nützlicher Sachbücher zum Thema Literatur ist von Michael Maar mit «Die Schlange im Wolfspelz», einem bei Eva Menasse entlehnten Titel, jüngst um ein populäres Werk ergänzt worden. Der Untertitel «Das Geheimnis großer Literatur» weist auf das durchaus ambitiöse Vorhaben hin, Licht ins Dunkel der Buchstaben-Kunst zu bringen. Wobei der Autor sich als Germanist, wen wundert’s, auf die deutsche Literatur beschränkt. Wer also als Leser in seiner Lektüre mehr sieht als nur einen angenehmen Zeitvertreib, wer sich über die Finessen eines gekonnten Schreibstils umfassend aufklären lassen will, der wird in diesem informativen Buch fündig. Um dann, deutlich besser gerüstet, in künftige Leseabenteuer aufzubrechen.

Diese Stilkunde beginnt denn auch gleich, die Frage «Was ist Stil?» mit vielen Textbeispielen systematisch und unterhaltsam zu klären. Was sind denn wohl die Fallstricke, die beim Schreiben auf den Autor warten? Um zu verdeutlichen, was denn Stil überhaupt ist, zitiert Maar eine kurze Passage aus Daniel Kehlmanns Roman «Die Vermessung der Welt». Darin wird Humboldt von seinen Ruderern gebeten, etwas zu erzählen. Er könne, bietet er ihnen an, das schönste deutsche Gedicht für sie ins Spanische übersetzen: «Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald wird man tot sein». Die Zuhörer sind verblüfft. Aber er hat alles richtig gemacht, er hat genau das erzählt, was Goethe, als «Wanderers Nachtlied», 1870 an die Holzwand einer Jagdhütte geschrieben hatte. Inhaltlich also gleich, nur stilistisch nicht! «Über allen Gipfeln / ist Ruh, / in allen Wipfeln / spürest du / kaum einen Hauch; / die Vöglein schweigen im Walde. / Warte nur! Balde / ruhest du auch.» Einprägsamer kann man die Funktion von Inhalt und Stil in der Literatur wohl kaum demonstrieren. Und solche anschaulichen Beispiele gibt es ungewöhnlich viele in diesem Buch! Inhalt und Stil, so lernen wir, kann man eben nicht trennen voneinander. Sie gehören zusammen, bilden eine künstlerische Einheit, die, wenn alles perfekt aufeinander abgestimmt ist, zu großer Literatur werden kann.

Mit vielen Porträts ganz unterschiedlicher Schriftsteller verdeutlicht Maar in unzähligen Textauszügen sprachliche Besonderheiten. Satzbau, Wortwahl, Sprach-Rhythmus, Dialoge, gekonnt eingesetzte Metaphorik oder einprägsame Leitmotive sind Bausteine, aus denen wahre Prosa-Kathedralen entstehen können, wenn Sprachgenies die Baumeister sind. Trotz aller akademischen Bemühungen bleibt die Beurteilung von Sprachkunst aber ein eitles Unterfangen. Das weiß der Autor auch, und so finden sich bei seiner oft sehr strengen Kritik häufig Anmerkungen wie «Die Arno-Schmidt-Jünger werden laut Protest erheben». Es bleibt also auch nicht aus, dass man als Leser manchen Einwand partout nicht nachvollziehen kann. Aber das ist völlig normal und mindert den Wert dieses Literatur-Führers keineswegs. Die Auswahl der als Referenz herangezogenen Schriftsteller ist, Germanisten können wohl nicht anders, zudem derart vorvorgestrig, dass man als heutiger Leser viele nie gelesen hat, bei einigen nicht mal ihrem Namen kennt. Umso erstaunter ist man dann, wenn plötzlich Hildegard Knef auftaucht, deren Autobiografie von Michael Maar stilistisch sehr gelobt wird, – nicht zu unrecht übrigens, wie die Textzitate zeigen.

Wer einigermaßen belesen ist, wird natürlich auch manches finden, bei dem er mitreden, seine Meinung mit dem vergleichen kann, was Maar, oft durchaus scharfzüngig, darüber schreibt. En passant erfahren wir zudem, dass Goethe mit ausgezählten 90.000 Wörtern den höchsten je gemessenen deutschen Wortschatz hatte. Trotzdem sind «Die Wahlverwandtschaften» kein Roman, den heute jemand freiwillig lesen würde, Wortschatz ist eben nicht alles! Schlechten Stil aber dürften aufmerksame Leser nach der Lektüre dieses Ratgebers deutlich besser entlarven können als eine Ursache getrübter Lesefreude!

Fazit: erfreulich

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Genre: Sachbuch
Illustrated by Rowohlt

The Run – Die Prüfung der Götter

The Run Cover

Die Prüfung

Die 18-jährige Sari steht kurz vor ihrer Prüfung “The Run”, die sie zu einem wertvollen Mitglied der Gesellschaft machen soll. Vorher sind Kinder und Jugendliche sogenannte Phantome, die sich vollverschleiern müssen und in der Gesellschaft keine Rechte haben. Sari bereitet sich schon seit Jahren auf die Prüfung vor, obwohl niemand den Phantomen verraten darf, wie The Run abläuft. Die Vorbereitungen laufen unter erschwerten Bedingungen: Sie muss nach dem Tod ihrer Mutter vor sieben Jahren sowohl ihren verrückt gewordenen Vater als auch ihren kleinen Bruder versorgen. Sie ist die Ernährerin der Familie und muss ihren Bruder vor den Ordnungshütern verstecken, weil er ein Mutant ist. Mutanten werden ihren Familien entrissen und niemand weiß, was mit ihnen passiert. Unter diesen ungünstigen Voraussetzungen tritt sie The Run an.

Bald merkt sie, dass The Run gefährlich ist und nicht selten tödlich endet. Die Prüfungen, die sie und die anderen bestehen müssen, sind alles andere als leicht und dienen nur dazu, dem despotischen Herrscher gebrochene Untertanen zu sichern. Als Sari das erkennt, beschließt sie, The Run in jedem Fall zu bestehen, um danach den Herrscher zu stürzen. Hilfe erhält sie von Keeran, der aber v.a. seine eigenen Ziele verfolgt. Trotzdem fühlt sie sich zu dem innerlich zerrissenen Mann hingezogen. Während The Run merkt sie aber auch, dass sie selbst Kräfte hat, die das normale Maß übersteigen.

Die Tribute von Panem

Der in sich abgeschlossene Roman erinnert  an “Die Tribute von Panem”. Auch hier gibt es Despoten, die für die Jugend lebensgefährliche Prüfungen ansetzen, um den Untertanen ihre Macht zu demonstrieren. Auch dort wird eine Dystopie beschrieben, in der hierarchisch-despotische Machtverhältnisse für eine nachhaltige Unterdrückung der Bevölkerung sorgen. Hier wie dort werden die Qualen der jugendlichen Protagonistin und die Gewalt ausführlich dargestellt, aber auch der ungebrochene Wille der Heldin, das alles zu überstehen. Außerdem sorgt die Heldin für bahnbrechende Neuerungen. Wer die Tribute von Panem mochte, wird wohl auch diesen Roman mögen.

Mir persönlich gefällt die ausschweifende Darstellung der Gewalt nicht. Das ist mir zu voyeuristisch. Wenigstens wird in diesem Roman durch die Heldin die Gewalt nicht gutgeheißen – sie protestiert bei jeder Gelegenheit und unter Gefährdung ihres eigenen Lebens gegen das unterdrückerische Regime. So wird die Gewalt zumindest hinterfragt.

Heldin mit Vorbildcharakter

Die Heldin ist in ihrem Handeln und ihrem Hören auf ihren eigenen Gerechtigkeitssinn Vorbild. Sie nimmt  die Gegebenheiten nicht einfach hin wie die meisten anderen, sondern versucht, etwas an ihrer Situation zu verändern. Auch ihre Funktion als Basis der Familie ist vorbildhaft, allerdings mit dem Einwand, dass auch in der Realität Frauen durch die Umstände oft genug gezwungen sind, die Basis der Gesellschaft zu sein und alles schultern zu müssen – ob sie wollen oder nicht. Anerkennung dafür gibt es keine. Auch das verdeutlicht der Roman. Frauen entwickeln durch die permanente Belastung und Unterdrückung aber etwas, das die Psychologie als “diamantene Fähigkeiten” bezeichnet: Durch den Druck werden sie zu dem stärksten und edelsten aller Edelsteine. Diese Fähigkeiten hat Sari ebenfalls entwickelt und setzt sie zu ihrem Vorteil ein. Im Roman wird ihre Stärke (interessanterweise von den Männern) immer wieder betont: Sie wird bewundert von Keeran und gefürchtet vom Despoten.

Verdrehung der Wahrheit

Despotische Regime verändern, verdrehen und beschneiden gern die Wahrheit, um sie zu ihren eigenen Zwecken zu benutzen. Im Roman wird das durch die Göttersagen deutlich, die der Bevölkerung nur in Teilen zugänglich und damit von ihrem Kern entfremdet sind und einen neuen Sinn erhalten. Sari findet während The Run eine Ausgabe mit dem vollständigen Text, der sie bei ihrem Vorhaben unterstützt. Auch hier gilt: Bildung schützt vor Manipulation. Deshalb die Bücherverbrennungen despotischer Regime und die Kontrolle der Literatur, Kunst und Presse. Nachdem Sari die Wahrheit über ihr Land und ihre Abstammung erfahren hat, ist sie bestrebt, für eine bessere Welt zu kämpfen.

Verschleierung

Die vollständige Verschleierung der Phantome erinnert an die Verschleierung von Frauen in der realen Welt. Im Roman sind weibliche und männliche Charaktere betroffen, die für die Gesellschaft durch das Symbol der Verschleierung unsichtbar und ohne Wert sind.

Schwächen im Ausdruck und der Charakterzeichnung

Die Figuren im Roman können anscheinend nicht normal sprechen. Im ganzen Buch gibt es keine Wörter wie “sagen”, “antworten” usw., dafür aber ausschließlich “knurren” (mit Abstand am häufigsten), “raunen”, “zischen”, “fauchen”. Das stört den Lesefluss irgendwann sehr, zumal diese Begriffe nicht immer zu dem, was die Figuren sagen, passen wollen.

Die männliche Hauptfigur Keeran erinnert an männliche Hauptfiguren von Schnulzenromanen, die pseudogeheimnisvoll und -gefährlich sind. Er hat keine wirklich erkennbare Charaktertiefe.

Fazit

Wer “Die Tribute von Panem” mochte, könnte auch an diesem Roman Gefallen finden. Allerdings verhindern ein paar Schwächen ein rundum gelungenes Leseerlebnis.


Genre: Dystopie, Fantasy, Jugendroman
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Der zweite Jakob

Zum Nutzen des eigenen Schadens

Der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein, der in wenigen Tagen sechzig Jahre alt wird, hat sich mit seinem soeben erschienenen Roman «Der zweite Jakob» quasi selbst ein Geburtstags-Geschenk gemacht. Und so beginnt das Buch denn auch mit den Worten «Natürlich will niemand sechzig werden», die das Lebensgeständnis eines alternden Schauspielers einleiten. Man könnte einen Schlüsselroman darin sehen, in jedem Fall aber dürfte es eine künstlerische Selbstverortung des Autors sein, von der aus er das Leben seines Protagonisten herleitet.

Die Rahmenhandlung dieser Erzählung beginnt mit der Frage einer Tochter, «Was ist das Schlimmste, das du je getan hast?» Damit bringt sie den Ich-Erzähler, ihren Vater, in arge Verlegenheit. Der erfolgreiche Innsbrucker Schauspieler mit dem Künstlernamen Jakob Thurner, der eigentlich einen Nachnamen mit vier aufeinander folgenden Konsonanten hat, «ähnlich wie Gestirn», steht kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag. Der soll in seinem Tiroler Heimatort groß gefeiert werden, wovor sich der eher menschenscheue Jubilar aber am liebsten drücken würde. Ein Verlag hatte zuvor schon eine Biografie von ihm in Auftrag gegeben, die Gespräche mit seinem Biografen endeten jedoch in einem Desaster, er zog wutentbrannt seine Autorisierung zurück. Der sensationslüsterne Schreiberling hatte nämlich allzu aufdringlich in Jakobs nicht gerade rühmlicher Vergangenheit herumgestöbert. In einer zeitlich Ende der achtziger Jahren angesiedelten, zweiten Handlungsebene erzählt Jakob von einem Filmdreh bei El Paso, nahe der amerikanisch-mexikanischen Grenze, bei dem er eine tragende Rolle als Frauenmörder hatte. Während der Drehtage in New Mexico kam es zu einem tödlichen Autounfall in der Wüste, bei dem Jakob nur Beifahrer war, sich aber wegen unterlassener Hilfeleistung und gemeinsamer Fahrerflucht zumindest mitschuldig gemacht hat.

Diese Schuld lässt ihn nicht los, obwohl seitdem Jahrzehnte vergangen sind. Es gibt aber noch ein weiteres Problem für ihn, denn er hatte in einem Interview seine Familie mal als Faschisten bezeichnet. Das nimmt man ihm in seinem Heimatdorf auch heute noch übel, er ist seit vielen Jahren nicht mehr dort gewesen. Überhaupt ist Jakob ein schwieriger Mensch, er hat drei Ehen hinter sich, das Verhältnis zu seiner Tochter ist äußerst problematisch, er ist ein Eigenbrödler durch und durch. Das hier mit dem Stilmittel des unzuverlässigen Erzählers angestimmte, literarische Vexierspiel entlarvt den Protagonisten als elegischen Schwächling, der alles andere als sympathisch wirkt. Die von Norbert Gstrein eifrig betriebene Dekonstruktion seines psychisch schwer einschätzbaren Romanhelden ist voller literarischer und historischer Anspielungen und Verweise. Sogar ein späterer US-Präsident kreuzt seinen Weg, in dem unschwer George W. Bush zu erkennen ist. Und von Jakob wird erzählt, dass er eine Rolle als Frauenmörder in einem Spielfilm abgelehnt habe, die dann der amerikanische Filmstar John Malkovich mit Freuden übernommen hat.

Jakobs Lebenslüge erweist sich als handfeste Tragödie, die hier geradezu kammerspielartig in Szene gesetzt ist und ganz unaufgeregt, fast schon beiläufig erzählt wird. Er steht vor den Trümmern seiner psychischen Existenz, insbesondere weil er sich als zweiter Jakob fühlt. Sein gleichnamiger Onkel war geistig zurückgeblieben und wurde von ihm oft gehänselt, wie er reumütig bekennt. Während der Nazizeit hatte die Familie ihn dann ins Heim gegeben, dort war er allerdings später von Euthanasie bedroht. Es gibt so manche Ungereimtheit bei den vielen Nebenfiguren, bei der von Mörderbanden bedrohten Prostituierten in Mexico zum Beispiel, oder der kurzen Affäre mit der dreißig Jahre jüngeren Kollegin. «Er handelt zum Nutzen des eigenen Schadens aus trotzigem Stolz» hat der Autor über Jakobs zwielichtige Rolle in diesem Spiel mit Identitäten erklärt. ‹Nur keine Wirklichkeit zulassen› scheint das Motto dieses eher verstörenden Romans zu sein.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Geek Girls forever! Handbuch für Nerds, Geeks & Fangirls

Selbstbewusstsein stärken

Das vorliegende Buch ist als kleiner Kompass für  weibliche Geeks gedacht. Die sind in der Nerd-Szene egal welchen Couleurs meist immer noch unterrepräsentiert und damit selbst dort, wo man es eigentlich nicht erwarten würde, Repressalien durch Jungen und Männer ausgesetzt. Es stellt Themen wie Nerd-Partys, Challenges, Conventions, Autorendasein und die Selbstbestimmung als Frau in einer immer noch als männlich angesehenen Domäne in den Vordergrund. Der weiblichen Selbstbestimmung widmet die Autorin demnach ein ganzes Kapitel. In diesem Kapitel geht es hauptsächlich um die Verteidigung in brenzligen Situationen wie Mobbing, Sexismus, sexueller Belästigung und die Abwertung weiblicher Fans durch männliche Nerds. Denn auch unter Nerds und Geeks steht leider immer noch der Sexismus hoch im Kurs. Die Autorin stellt Maßnahmen gegen solche “Trolle, Dementoren, Daleks” vor und spricht Frauen und Mädchen Mut zu, sich nichts, aber auch gar nichts gefallen zu lassen. Sie gibt praktische Tipps im Umgang mit den leider allzu alltäglichen negativen Situationen. Allein damit ist dieses Buch den Kauf für Fangirls wert.

Außerdem stellt es das Fandasein in positiver Art und Weise dar, sodass die Fangirls mehr Selbstbewusstsein tanken können. Dazu passend ist die Sprache insgesamt sehr energetisch und pusht damit das Geekgirl auf. (Ich habe mir automatisch eine Frau vorgestellt, die mich wie ein Cheerleader enthusiastisch anfeuert, das Fangirldasein so richtig zu genießen.) Ein Beispiel: Sie nennt Fangirls “GLOW” (Glorious Ladys of Weirdness). Glow hat u.a. die Bedeutung “glänzen, schimmern, leuchten, glühen” – eine sehr positive Bezeichnung und zudem sehr treffend! “Wir sind glow” heißt es dementsprechend. Selbstbewusst darf das Fangirl seltsam und verrückt sein! Wo sonst, wenn nicht hier kann frau ihre Träume ausleben und  mit ihren Talenten glänzen? Dementsprechend neutral sind die Definitionen für die Begriffe: “Geek = Eine Person, die in großes Interesse für ein oder mehrere bestimmte Themen hat. Nerd = Eine Person mit speziellem Interesse und Wissen zu einem oder mehreren Themen. Fangirl = Eine Person (übrigens egal, welchen Geschlechts), die sich für ein oder mehrere Themen begeistert.” (Aufgefallen? Wenn das Weibliche für beide Geschlechter gelten soll, muss frau das extra erwähnen…) Diese neutrale Definition trifft somit auf egal wen zu. Denn jede*r hat so ihre/seine speziellen Interessen.

Die Autorin hat das Buch für alle Fangirls egal welchen Alters geschrieben. (Ich musste bei der Lektüre auch an Mangas wie “BL-Metamorphosen – Geheimnis einer Freundschaft” und “Akihabara Shojo” denken.) Allerdings merkt frau doch, dass es v.a. auf die Jugend zugeschnitten ist. Viele der Tipps zielen auf jüngere Fangirls ab. Die älteren wissen das meiste schon. Oder: Die älteren wissen manches, wie für sie neue Begriffe, nicht. Bezeichnungen wie “NOTP”, “Twihard”, “Con-Hon”, “BSOD”, “SUB” oder “Binge-Watching” sind an mir vorbei gegangen. Das Mutterdasein vereinnahmt einen doch (viel zu) sehr. Wie gut, dass es einen Glossar im Anschluss an den Haupttext gibt, wo solch rätselhafte Abkürzungen ihre Auflösung finden.

Um noch weiter positive Stimmung zu verbreiten, sind die einzelnen Kapitel farbig gehalten. Da braucht frau an einem schlechten Tag einfach nur das Buch aufzuschlagen, um bessere Laune zu bekommen.

Außerdem gibt es Tipps, wo frau Gleichgesinnte finden kann. Wobei sich das durch das Internet doch deutlich einfacher gestaltet als zu meiner Zeit, als noch stapelweise Briefe, Faxe, Videokassetten, Kopierer und die Kontaktanzeigen der AnimaniA herhalten mussten, um die hiesige Fangemeinschaft kennenzulernen und sich gegenseitig mit Futter der Manga- und Anime-Art in sämtlichen damals zur Verfügung stehenden Sprachen zu versorgen.  Immerhin hat frau so ihr Englisch, Französisch und Italienisch aufgebessert. Die älteren Fans wissen, wovon ich spreche… Deutschland ist halt in Bezug auf Comics und Mangas Entwicklungsland, wobei es seit “Dragonball” und “Sailor Moon” deutlich einfacher geworden ist, an das begehrte Material heranzukommen.

Fazit

Kunterbuntes, fröhliches, Mut machendes, die wichtigsten Bereiche umfassendes Handbuch über das weibliche Fansein! Inklusive Tipps gegen männliche Trolle, Dementoren und Daleks! Definitiv empfohlen!


Genre: Handbuch
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

LTB Enten-Edition 66: Immer im Einsatz

DGD und KGD – eine unseelige, aber humorige Kombination

DGD – wenn der von Onkel Dagobert zu seinem finanziellen Wohle gegründete Duck’sche Geheimdienst ruft, müssen Donald und Dussel springen. Denn die beiden sind die (günstige, weil unbezahlte) Geheimwaffe des DGD. Sie sollen im Auftrag Dagoberts die für ihn ungünstig verlaufenden Geldgeschäfte aufklären. Natürlich mit minimalem finanziellem Ausrüstungsaufwand. Das scheint sie beim KGD (Klever’schen Geheimdienst) ins Hintertreffen zu bringen, denn dieser gibt deutlich mehr Geld für (professionelle) Agenten und Ausrüstung aus. Erstaunlicherweise trotzen Donalds Pech in Kombination mit Dussels Dummheit jedweder Turbulenz und dem KGD. Die Aufträge befördern die beiden in die abenteuerlichsten Situationen: Ein raubgieriger Reicher, der extra ein Gerät erfunden hat, um Dagoberts Geldspeicher aus der Ferne zu leeren. Ein Abenteuerpark, der außer Rand und Band gerät. Ein Konkurrent, dessen Glück verlangt, dass auch Gustav eingesetzt werden muss. Ein berühmter Restaurantkritiker, der  nicht merken darf, dass Dagoberts Lokal sabotiert wird. Der KGD, der aus Versehen zusammen mit dem DGD einen Fall löst. Ein Dagobert Duck, der nicht mehr Herr seiner selbst ist. Und so manövrieren sich Donald und Dussel unter Beanspruchung der Lachmuskeln der holden Leser*innenschaft munter von einer Katastrophe in die nächste.

Katastrophenteam

Der vorliegende Band enthält ausschließlich Geheimagentencomics rund um den DGD. Diese bieten sowohl eine Hommage an die Geheimagentenfilme aus dem Fernsehen als auch eine Parodie derselben, sodass Humor ein Grundbestandteil jeder Geschichte ist. Da wird durch die Kombination Dussel und Donald das Maximum an Situationskomik herausgeholt. Die Stories sind für Kinder, aber auch für erwachsene Fans kurzweilig zu lesen.

Der Band bietet insgesamt 14 Agentengeschichten, von denen die Hälfte deutsche Erstveröffentlichungen sind.

Kritik aus Kindermund: Mein Sohn merkt allerdings an, dass er es nicht gut findet, dass Dagobert seine Agenten “immer so robust in die Zentrale ruft und ihnen dabei so wehtut”. Außerdem merkt er an, dass er den beiden Agenten ein Lob des Onkels wünscht – um das kommen sie unglücklicherweise immer herum. Für empathische Kinder wie meines ist die Gewalt und die Ungerechtigkeit, denen v.a. Donald permanent ausgesetzt ist, ein Greuel. Das finden sie nicht witzig. Meiner Meinung nach hat er Recht, denn Schadenfreude ist tatsächlich eine negative Freude, die sich am Unglück anderer ergötzt. Eine solche Freude sollte man nicht noch weiter befördern in einer Welt, die sowieso auf dem Ellenbogenprinzip und der Willkür von anderen über andere beruht.

Gut findet mein Sohn, dass Dagobert wenigstens ab und zu seine Agenten ordentlich ausrüstet. Aber er könne sie “wenigstens bezahlen und besser behandeln. Aber an sich sind es spannende Abenteuer.”


Genre: Comic
Illustrated by Egmont Ehapa

Die Bank gewinnt immer: Wie der Finanzmarkt die Gesellschaft vergiftet

Seit ich in diesem Buch lese, verstehe ich Vieles besser, zum Beispiel die hilflosen Versuche, den Wire Card Betrug aufzuarbeiten. Aber sehen Sie selbst!

Gerhard Schick hat sich während seiner mehr als zehnjährigen Tätigkeit als Bundestagsabgeordneter der Grünen das Wissen über Grundlagen, aber auch über die Hintergründe der Finanzwelt erarbeitet. Als promovierter Volkswirt verfügte er über die Voraussetzungen dafür, denn es geht darum, dicke Bretter zu bohren. 2018 entschloss er sich, inmitten der Wahlperiode, sein Mandat aufzugeben und eine NGO aufzubauen, um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Sie heißt: Finanzwende.

Ein Grund war auch der spröde Umgang der Medien mit diesem Thema. Erst schon die Namen, die die Banken ihren Produkten geben, Cum-Ex oder Libor, und wie kann man die kriminellen Machenschaften bildlich darstellen? Ein Foto von einem Hochhaus in Frankfurt, das Logo einer Bank, oder gerade jetzt, während ich dies schreibe, die Verhöre einzelner Politiker in Ausschüssen, als wenn es darum ginge, den einen Sündenbock zu finden, der die Schuld auf sich nimmt, aber bitte von einer anderen Partei sein sollte … Dabei ist es ein Konglomerat von Wechselbeziehungen, die einander bedingen. Inzwischen bin ich der gleichen Meinung wie Herr Schick, dass die Rituale eines Parlaments nicht geeignet sind, solche Machenschaften aufzudecken, oder gar abzuschaffen. Es braucht eine größere Öffentlichkeit. Um Ihr Interesse für das Gebaren der Finanzwelt zu wecken, empfehle ich auch meine Rezension des Buches von Maja Göpel.

Im Buch werden in neun Kapiteln diejenigen Gegebenheiten kenntnisreich beschrieben, die, wie es im Untertitel heißt, „die Gesellschaft vergiften“. Er geht von dem Versprechen der Politiker im Bundestag nach der Lehmann Krise 2008 aus, dass sich so etwas nie wiederholen dürfe. Und er beschreibt, wie das Vorhaben immer weiter verwässert wurde, sodass jetzt, über zehn Jahre später, neue Krisen nicht bewältigt werden würden.

Gleich das erste Kapitel Kriminalität: Wie der Finanzmarkt illegale Machenschaften fördert ist die Einführung in das Zusammenspiel zwischen legalen Institutionen und Verbrechern. „Die Creme der Bankenwelt“ spielt mit, ob sie Deutsche Bank oder anders heißen. Zusammen mit Investmentbankern, Investoren, Geschäftsbanken für Kreditvergabe, Wirtschaftskanzleien und Rechtsprofessoren, Lobbyorganisationen, Beamten in Ministerien und Aufsichtsbehörden, meist mit Verbindungen ins Ausland.

(Zu den Rechtsprofessoren empfehle ich den wunderbaren Krimi von Daniel Zimmer, den man kostenlos herunterladen kann, Möbius, und die Kunst des Betrügens. Meine Rezension dazu steht am Ende dieser Rezension)

Im Kapitel zwei Geldanlage: Warum unser Erspartes Banken, Versicherer & Co. reich macht geht es um die Beratung der Banken für Kunden, die Provisionen für Berater, die es für den Verkauf der Bankprodukte gibt, bei denen die „Bank immer gewinnt“. Im dritten um Immobilien: Wie uns Spekulanten um bezahlbare Wohnungen bringen, erst wird das Dilemma des Anteils von Immobilien zur Gewinnmaximierung in Mischfonds gezeigt. Hier taucht erstmals BlackRock auf. So wie in den anderen Kapiteln auch werden zum Schluss unter Da geht noch was Wege gezeigt, wie die Gemeinnützigkeit wieder an Bedeutung gewinnen könnte. In Ungleichheit: Wie der Finanzmarkt von Arm nach Reich umverteilt geht es darum, wer, und vor allem wer keine Kredite bekommt, aber auch um den Volkssport Steuerflucht.

Näher wollte ich das fünfte Kapitel Klima: Wie der Finanzsektor die Klimakrise nach Kräften vorantreibt besprechen, und sehe: Hier geht es nicht um Klimarelevantes für meinen Garten, sondern, zu meiner Überraschung, um meine Rententräger.

Die Finanzindustrie investiert in Projekte, die eine möglichst hohe Rendite bringen. Dies sind, bisher, Öl, Kohle und andere Energieträger, die C02 freisetzen. Analysiert man diese Portfolios unter dem Aspekt der Klimakrise, so ergäbe sich mit ihrer Hilfe ein globaler Temperaturanstieg um drei bis vier Grad. Die Rentenkassen finanzieren also (mit meinem Geld!) die Klimakatastrophe. Immerhin hat die Europäische Investitionsbank entschieden, nach 2021 nur noch saubere Energien zu fördern.

Diese Absicht, Divestment genannt, wird von Rententrägern seit einiger Zeit in Erwägung gezogen. Als Ärztin mit Wohnsitz in Berlin, war ich verpflichtet, die Rente bei der Berliner Ärzteversorgung erst einzuzahlen und nun beziehe ich sie von dort. Irgendwann las ich, dass die Berliner vorbildlich im Divestment wären, nun lese ich, dass sie nur in solche Projekte nicht investieren, die mehr als 25 % ihrer Vorhaben in Klima schädliche Projekte stecken. Als wenn das reichte!

Noch schlimmer die VBL, der Rententräger von fünf Millionen Angestellten des Öffentlichen Dienstes, von denen ich eine kleine Teilrente beziehe, wegen meiner Tätigkeiten im ÖD. Wie das Geld von Millionen angelegt wird, ist Staatsgeheimnis, es gibt keine Informationspflicht. Wenn doch eine Anfrage beantwortet wird, dann wird auf Produkte verwiesen, die insgesamt geächtet werden, wie einige Waffentypen. Beim Greenwashing ist man auch hier kreativer als dabei, die Investitionen in nachhaltige Produkte umzuschichten. Auch hier plant die EU „eine gesetzliche Grundlage für Nachhaltigkeitskriterien. Sie will klare Regeln schaffen, welche Finanzanlagen klimafreundlich und nachhaltig sind.“

Das 6. Kapitel Digitalisierung: Warum Techkonzerne den Finanzmarkt nicht kapern dürfen hat mir endlich klargemacht, wie gefährlich BlackRock ist und dass Friedrich Merz auf keinen Fall der zukünftige Finanzminister werden darf.

Die dann folgenden Kapitel zum Erstarken des Populismus als Folge der Ungerechtigkeiten, die wundervolle Geldvermehrung für Einige, etwa für Hedgefonds durch Corona und die allgegenwärtigen Lobbyisten, denen politische Entscheidungsträger ausgesetzt sind, lohnen das Lesen ebenfalls.

Schick berichtet, dass zwar inzwischen international die GAFA (Google, Amazon, Facebook, Apple) unter Beobachtung stehen, sie sollen endlich Steuern zahlen und Versuche, noch mehr Einfluss zu gewinnen, etwa, wenn Facebook die Währung Libra entwickelt, in Zaum gehalten werden. Aber was ist mit BlackRock?

Sie sind im Finanzwesen die größte Datenkrake, sie kontrollieren weltweit 37 % der Geschäfte, mit ETPs Exchange Trades Funds. Dazu bedient man sich der Software Aladdin (Assets, Liability and Debt Derivative Investment Network). „Über 2000 IT-Spezialisten, Programmierer und Datenanalysten werten nicht nur Unternehmens- und Wirtschaftsdaten aus, das System ist auch in der Lage, auf die Sekunde genau auszurechnen, welchen Wert die Aktien, Bonds, Devisen oder Kreditpapieren haben, die in BlackRocks Anlageportfolios liegen.“

Spezialisten sorgen sich wegen des „horizontalen Aktienbesitzes“, der den freien Wettbewerb störe, mir als Laiin ist unheimlich, wo BlackRock alles mitmischt. Nicht nur als Aktionär der „Mieterschreck-Wohnungskonzernen wie Vonovia oder Deutsche Wohnen“, sondern als Berater.

Die Europäische Zentralbank ließ BlackRock den Stresstest bei den großen europäischen Banken durchführen, in den USA setzt die Notenbank Fed sie ein, um Stabilisierungsmaßnahmen durchzuführen. Sie sind Anteilseigner der großen US Ratingagenturen, die auch Produkte von BlackRock bewerten, also sich selbst. Da wird der Bock zum Gärtner! Auch hier stellt Schick klare Forderungen auf.

Zum Schluss heißt es, Deutschland redet zu wenig über Finanzen. Mit dieser Rezension will ich sie ermuntern, Fragen zu stellen, über Ihr Erspartes, über Ihre Rente, und darüber mit anderen zu sprechen. Das ist nicht so schön wie Gespräche über unsere Gärten, aber nötig, wenn wir unsere Gärten erhalten wollen.

Hier der Link zur Rezension des Krimis Möbius und die Kunst des Betrügens.


Illustrated by Campus Verlag

Unsichtbare Tinte

Vexierspiel der Erinnerung

Der französische Nobelpreisträger Patrick Modiano hat mit seinem neuesten Roman «Unsichtbare Tinte» wieder ein Werk vorgelegt, in dem das Erinnern thematisiert wird. Die Jury in Stockholm hatte ihm 2014 den Preis «Für die Kunst des Erinnerns» verliehen. Der Buchtitel spielt darauf an, dass manche versteckte Botschaft erst durch äußere Einflüsse wieder entschlüsselt und damit ins Bewusstsein zurückgerufen werden kann.

Der zwanzigjährige Jean, Ich-Erzähler und trotz belgischem Pass unverkennbar Alter Ego des Autors, nimmt Anfang der sechziger Jahre einen Job bei einer Pariser Detektei an. «Ich hatte gedacht, diese zeitweilige Arbeit würde mir einen Haufen Material liefern, das mich später einmal inspirieren könnte, falls ich mich der Literatur widmete». Er bekommt zur Einarbeitung den Auftrag, möglichst viel über das Verschwinden einer gewissen Noëlle Lefebvre herauszufinden. Doch seine Recherchen sind wenig ergiebig, es gibt kaum verwertbare Spuren, und von den wenigen passt einfach nichts zusammen. Es gibt zwar einige Orte wie die Tanzbar ‹Dancing de la Marine›, in der sie anscheinend verkehrte, oder ein Lederwaren-Geschäft, in dem sie gearbeitet hat, aber nirgendwo weiß man etwas über ihr plötzliches Verschwinden. Als hartnäckiger Schnüffler stöbert er sogar einen Schauspieler auf, der mit ihr befreundet war, und findet mit dessen Hilfe auch ihre letzte Wohnung, wo er schließlich auf ein Notizbuch von ihr stößt. Aber auch dessen Einträge bringen ihn nicht weiter, ebenso wenig wie das über sie angelegte Dossier, das er später beim Ausscheiden aus der Detektei an sich genommen hat. Auch nach vielen Jahren, er geht längst einer anderen Beschäftigung nach, denkt er immer wieder mal an den ungelösten Fall zurück. Denn eine der damals gesammelten Informationen betrifft ihn ganz persönlich, die Frau stammt aus der Gegend um Annecy, wo auch er herkommt. Damit erweist sich diese Geschichte in Wahrheit als eine Identitätssuche des Erzählers.

«Diese Nachforschungen könnten den Eindruck erwecken, ich hätte ihnen viel Zeit gewidmet – schon über hundert Seiten», heißt es auf Seite 104, «aber das stimmt nicht. Zählt man die Augenblicke zusammen, die ich bisher in einer gewissen Unordnung erwähnt habe, dann kommt ein knapper Tag heraus. Was ist ein Tag in einem Zeitraum von dreißig Jahren?» Das scheinbar simple Handlungsgerüst dieses mehrdeutigen Romans erweist sich zusehends als immer komplexer, aber auch wenn mit den Jahren weitere Puzzelteile hinzu kommen, zu denen auch das rote amerikanische Cabriolet auf dem Einband gehört, widersetzt sich das Rätsel um die schattenhafte Existenz der Frau jeder Klärung. Bis plötzlich auf den letzten vierzig Seiten des schmalen Bändchens ein Orts- und Perspektiv-Wechsel stattfindet. Ein auktorialer Erzähler berichtet nun aus der Perspektive einer Frau, die in Rom eine Fotogalerie betreut. Eines Tages tritt ein Unbekannter bei ihr ein, der als französischer Professor für Geschichte Nachforschungen für eine Studie anstellt. Die wichtigsten Begegnungen, das lernt der Leser am Ende, sind immer die zufälligen!

Was treibt einen Siebzigjährigen an, eine etwa gleichaltrige Frau zu suchen, die vor fast fünfzig Jahren spurlos abgetaucht ist? «Im ziemlich geradlinigen Verlauf meines Lebens war es eine ohne Antwort gebliebene Frage», heißt es im Buch dazu. Leerstellen, erzählerische Sackgassen, trügerische Namen und unzuverlässige Zeugen beherrschen diesen wie mit Zaubertinte geschriebenen, narrativ extrem reduzierten Roman des Erinnerns und Vergessens. Wie immer bei Modiano beherrscht auch hier seine Paris-Nostalgie das Geschehen. Es geht kreuz und quer durch die Straßen der französischen Metropole, von Café zu Café. Und wie immer wird auch das Wetter als stimmungsmäßige Grundierung gekonnt in das Geschehen mit einbezogen. Statt als Vexierspiel der Erinnerungen kann man diesen großartigen Altersroman natürlich auch als eine Reflexion über das Entstehen von Literatur deuten.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Welt aus Glas

Literarische Bußübung

Ernst-Wilhelm Händler spürt in seinem Roman «Welt aus Glas» den großen Themen der Menschheit nach, wobei ihm die Glaskunst als Vehikel dient für seine Geschichte. Was in Hesses «Glasperlenspiel» als Überwindung einer lebensfeindlichen Bildungselite angelegt ist, das wird hier als Kapitalismuskritik mittels einer dekorativen Kunstgattung thematisiert. Mit seiner Detailfülle dürfte der dickleibige Roman besonders für Liebhaber dieser elitären Kunstgattung interessant sein, aber auch bereichend für kunstsinnige Leser, die sich noch nie mit exquisiten Glasobjekten beschäftig haben.

Die Protagonisten, das Ehepaar Jillian und Jacob Arbogast, betreiben in New York erfolgreich eine Galerie für Glaskunst. Der dreißig Jahre ältere Jakob hat sich beim Ankauf der Villa eines verstorbenen Kunstsammlers total verspekuliert. Statt der von ihm bezahlten vier ist das Anwesen allenfalls eine Million Dollar wert, sie sind wahrscheinlich ruiniert. Aber Jillian rechnet damit, durch den Ankauf einer überaus wertvollen Glaskunst-Sammlung, von deren wahrem Wert die Mailänder Eigentümer keinerlei Vorstellung haben, diese finanzielle Schlappe ausgleichen zu können, sie hat Käufer dafür bereits an der Hand. Wenn das Geschäft erfolgreich abgewickelt ist, will sie sich dann auch endlich von ihrem Mann trennen. Der hofft, eine reiche Kundin als Investorin für einen Großauftrag gewinnen zu können, bei dem es um die Gestaltung der Grenzbefestigung der USA in Richtung Mexico geht, ihm schwebt eine landschafts-verträgliche Glaskonstruktion vor. Bei seiner Erkundungstour entlang der Grenze zusammen mit der steinreichen Investorin, die inzwischen auch seine Geliebte ist, werden sie von einem kriminellen mexikanischen Polizisten entführt, der Lösegeld erpressen will.

Ideenreich entwickelt der Autor seine Geschichte in zwei abwechselnd erzählten Handlungs-Strängen, die mit vielen Rückblenden das Leben des Ehepaares schildern. Über den Erotomanen Jacob heißt es lapidar: «Existierte noch etwas außer Geld, Sex und Kunst? Ihm fiel nichts ein». Jillian hingegen ist an Sex wenig interessiert, und wenn, dann bevorzugt sie Frauen, mit Jacob hat sie quasi mal eine Ausnahme gemacht. Sie findet stattdessen ihr Glück in Tiffany-Lampen mit floralen Motiven, hat allerbeste Beziehungen zu finanzstarken Sammlern und ist im Übrigen genauso geldgierig wie ihr Mann. Wobei sie auch genauso skrupellos ist wie er, ihrer beider Transaktionen bewegen sich hart am Rande der Legalität, sie nutzen die Sammel-Gier und Unkenntnis ihrer Kunden schamlos aus. ‹Sex sells› ist ja eine Marketing-Weisheit auch in der Literatur, und diesem Mantra folgend gibt es im Roman reichlich Szenen, die ins Pornografische abdriften, ohne jede Beziehung zum eigentlichen Thema, der Selbstfindung zwischen Kommerz und Kunst.

Der Autor versteht es zweifellos, stilistisch gekonnt philosophische Reflexionen und penibel bis ins letzte Detail beschriebene Szenen in seinem Plot miteinander zu verbinden. Es ist aber genau diese filigrane Beschreibungs-Kunst, die auf Dauer lästig wird und zum reinen Selbstzweck ausartet. Allein das mit «Flunky» betitelte Kapitel, in dem Jillian die Glas-Sammlung für den Transport zum Käufer in eigens angefertigte Transportkisten verpackt, erstreckt sich über neunzehn Seiten. Man meint, die Staubkörner zählen zu können, die sie akribisch beseitigt, bevor sie die teuren Objekte vorsichtig, als wäre eine Bombe zu entschärfen, in ihrer jeweiligen Kiste verstaut. Man fragt sich als Leser genervt, warum macht der Autor das? Weil er es eben kann, – so einfach ist die Antwort! Wo blieb da der Rotstift des Lektors? Sowohl die pathetisch vorgetragenen philosophischen Betrachtungen und endlosen Selbst-Reflexionen wie auch die sich immer mehr ausbreitende Langeweile bei den endlosen kunsttheoretischen Exkursen machen die Lektüre zu einer regelrechten Bußübung. Da können dann auch die Thriller-Elemente nichts mehr retten, und die deplazierten Sexszenen erst recht nicht!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Frankfurter Verlagsanstalt

Die Weisheit der Mütter – Heilsame Impulse aus dem Matriarchat

Ganzheitliches, soziales, naturverbundenes Denken

Theologe Lothar Beck untersucht im vorliegenden Buch Symbole des Matriarchats, die Mythologie und die Überfrachtung des Matriarchats durch das Patriarchat und durch das Christentum kirchlicher Ausprägung. Er beruft sich dabei auf schon vorhandene Literatur, z.B. auf die Basiswerke von Marija Gambutas und Heide Göttner-Abendroth. Er beschreibt im Prinzip, was die Autoren von “Die Wahrheit über Eva” als die “Religion von unten” bezeichnen.

Außerdem benutzt er durchgehend die weibliche Sprachform: “So möchte ich die Selbstverständlichkeit der männlichen Prägung unserer Sprache bewusst machen.” Für mich als weibliche Leserin hat sich das als sehr erholsam und heilsam erwiesen: Ich als Frau werde endlich sichtbar! Ich habe schon vorher eine gendergerechte Sprache befürwortet, jetzt bin ich erst recht dafür, dass diese forciert wird: Sprache ist Ausdruck von Wirklichkeit, Sprache schafft aber auch Wirklichkeit. Beides kommt im Patriarchat zum Tragen, wenn die männliche Sprachform vordergründig für alle gilt, aber trotzdem hintergründig mindestens ein Geschlecht ausschließt und unsichbar macht. Wenn eine gendergerechte Sprache eingeführt wird, mag das vordergründig zwar etwas mühsamer zu lesen und zu schreiben sein, aber sie holt ans Licht, was schon lange da, aber (gewollt) unsichtbar war. Damit kommt Frauen und anderen Geschlechtern mehr Sichtbarkeit und damit mehr Präsenz und Wertschätzung zu. Diese wirkt sich (das ist meine tiefste Überzeugung), konsequent angewandt, auch auf andere Bereiche des Lebens aus.

Theologe Lothar Beck kommt, kurz zusammengefasst, zu folgenden Erkenntnissen:

  • Die symbolische Vaterordnung ist auf allen Ebenen eng mit männlichem Domminanzverhalten und männlicher Gewalt verknüpft. “Die Symbolordnung zwingt das andere Geschlecht zu einer stärkeren Anpassung an die jeweilige Sichtweise und ihren Wertekanon.”
  • arche, griechisch = Ursprung, Herrschaft => matri-arche = mütterliche Ursprungsbezogenheit allen Lebens; patri-arche = väterlich-männliche Vorherrschaft
  • männliche Gewalt zielt in 3 Richtungen: gegen männliche Konkurrenten, gegen Frauen und Mütter, gegen Mutter Natur
  • Politik der Gleichberechtigung: Frauen werden verstärkt dazu eingeladen, sich an patriarchalen kapitalistischen bzw. sozialistischen Unterdrückungs- und Ausbeutersystemen aktiv zu beteiligen
  • Die Umwandlung vom matriarchalen zum patriarchalen System erfolgte nicht von innen, sondern von außen durch frühpatriarchale Eroberer, dann auch immer hierarchisch von oben nach unten gegen massiven jahrtausendelangen Widerstand (vgl. auch das Buch “Die Wahrheit über Eva”).
  • Matriarchale Religiosität erklärt sich von selbst und bindet Natur und Alltag sinnstiftend ein (s. “Wahrheit über Eva”: Religion von unten), während patriarchale Religion von oben kommt: “Eine abstrakte theologische Idee wird sekundär mit natürlichen Abläufen verknüpft, um ihren künstlich-theoretischen Sinngehalt glaubwürdiger und verständlicher zu machen.” Sie dienen dabei ausschließlich männlicher Machtinteressen. (s. “Wahrheit über Eva” Religion von oben bzw. Herrschaftsreligion) => derzeitige Weltreligionen wie monotheistische Religionen, Buddhismus… sind zutiefst patriarchal
  • Frauen gelten in Vaterreligionen als zweitrangige Menschen, werden von Priesterämtern ausgeschlossen, gelten zur Zeit der Menstruation und Geburt als unrein (bei der Geburt von Mädchen doppelt so lange wie bei der Geburt von Jungen); Sexualität gilt als Sünde, wobei die Frau angeblich den Mann zur Sünde verführt; der gesamte Bereich der Monatsblutung, der Frauwerdung, des Frauseins nach der Menopause wird bis heute negativ erlebt und tabuisiert (s. das Jugendbuch “Alles ganz normal”) und seine große Würde und Bedeutung wurde und wird ihm genommen
  • “Frauen werden im Grunde bis heute als Menschen zweiter Klasse behandelt. Sie werden unterbezahlt und stehen noch immer ziemlich alleine da: im unlösbaren Konflikt zwischen Kindererziehung und Karriere. Dies bedeutet, dass sich jede Frau in der vaterländischen Volkswirtschaft selbst ihren Weg zwischen Kindern und Beruf suchen muss, also zwischen einer randständigen weiblichen und einer außenwirksamen männlichen Lebensgestaltung. Obwohl sie statistisch gesehen dabei sind, die Männer sowohl in kommunikativ-emotionaler als auch in mathematisch-technischer Intelligenz zu überholen, werden sie belächelt und weniger ernst genommen, wenn sie in der Ehe oder in einem Team von Männern ihre Werte und ihre weibliche Art, an eine Sache heranzugehen, zu äußern oder zu begründen versuchen.”
  • Die “weibliche Art” beschreibt Beck als ganzheitliche Herangehensweise, die z.B. in einem Konfliktfall nicht auf eine schnelle, dominante Lösung aus ist, sondern auf eine langfristige, ganzheitliche und alle Parteien aus sich heraus befriedende Lösung. Der Lösungsprozess ist dabei oft schmerzlich, aber heilsam.
  • Das geht einher mit dem weiblichen Symbol des Knotens und des Lösens desselben: Früher war es die Aufgabe des Mannes als Eignungstest für Führungsaufgaben, den Knoten geduldig zu lösen und dabei zu wertvollen Erkenntnissen zu gelangen, während die patiarchal-gewaltsame Lösung eines Alexanders des Großen so aussieht, dass er den gordischen Knoten einfach durchschlägt – das Gegenteil einer ganzheitlichen Lösung.
  • “Die symbolische Ordnung der Mutter und die Hochachtung der Mutter Natur könnten einen existentiellen Rahmen für eine Kurskorrektur und eine lebensbewahrende, nachhaltige Entwicklung darstellen […]”
  • “Der Sinn von Intelligenz ist vornehmlich ein sozialer […] Ungebundenes Mannsein steht in Gefahr, die Ehrfurcht vor dem Leben zu verlieren.”
  • Im alten Europa, aber auch weltweit verkörperte das Weibliche das Ursprüngliche. Alles Weibliche war schöpferisch: Jedes Tier entsteht aus dem Eierstock, jede Pflanze aus dem Fruchtknoten. Das Weibliche war deshalb das Abbild des Göttlichen und ihm wurde eine besondere schöpferische Kraft zugeschrieben. In jedem Muttertier, in jeder samentragenden Pflanze, in jedem fruchttragenden Baum zeigt sich die Göttin als schöpferisch Gebärende, als Große Mutter. Der Todesaspekt war in die ganzheitliche Muttersymbolik integriert. Die Göttin trat deshalb auch meist in der Dreiheit auf: als Mädchen (Farbe weiß), als Menstruierende/Mutter (Farbe Rot), als Frau in der Menopause (Farbe Schwarz). Diese Dreiheit der weiblichen Gottheit hat das kirchliche Christentum übernommen und versucht, sie auf das Männliche umzudeuten, wobei der weibliche Aspekt zurückgedrängt und bekämpft worden ist. Die Dreiheit des Weiblichen (Göttinnen bzw. Aspekte der Großen Göttin erscheinen gern in Dreierformation, aber auch Feen) gilt auch für die Mondphasen (mit dem Mond ist die Frau besonders eng verbunden, weil der Mond wie die Periode zyklisch ist und Frauen oft im Mondzyklus menstruieren), den Lebenszykkus und den Jahreszyklus. Die zyklische Frau ist mit dem Zyklus der Natur verbunden und lebt mit, nicht gegen die Natur. (In diesen Zusammenhang fällt auch die Wiedergeburt, an die die meisten Religionen glauben. Die Hauptströmungen des Monotheismus haben den Wiedergeburtsglauben verbannt und verfolgt. Er ist aber in den mystischen und den Nebenströmungen des Monotheismus immer noch vorhanden. Die Göttin birgt die Seelen der Verstorbenen in ihrem Bauch (s. Höhlengräber und runde Gräbererhebungen), bis sie wiedergeboren werden (s. z.B. Frau Holle im Buch “Unsere heimischen Göttinnen neu entdecken” von der Archäologin Joanne Foucher).)
  • Die Religion von unten erklärt sich (wie oben angedeutet) von selbst: Runde Formen in der Natur wurden dem Weiblichen zugeschrieben (Schwangerschaftsbauch, Brüste), Fels- und sonstige Spalten der Vagina (die besondere schöpferische Kraft besaß und deshalb verehrt wurde). Wasser wurde ebenfalls mit dem Weiblichen und Göttlichen in Verbindung gebracht (Fruchtwasser, Wasser, das aus Felsspalten dringt, Flüsse => Flüsse schlängeln sich: Schlangen und Drachen => im Christentum verteufelt und bekämpft, s. z.B. Garten Eden und Georg und der Drache). Die erblühende Natur im Frühling wurde u.a. der Göttin Ostara (Ostern) zugeschrieben. Eier (s. Weltenei), meist rot gefärbt (Menstruationsblut), Hennen, Kaninchen/Hasen (weil sichtbar fruchtbar), Lämmer gelten bis heute als Symbole für Ostern! Wo solche Göttinnensymbole nicht verbannt werden konnten, wurden sie entweder christianisiert oder dämonisiert bzw. als Aberglaube abgewertet. (s. auch “Unsere heimischen Göttinnen neu entdecken”)
  • Als Abbild der Göttin trug die Frau die Bezeichnung “geweihter Mensch” (Wei(h)b) bzw. englisch “wo-man”. Die ältesten Figuren, die man gefunden hat, sind Frauenfigurinen. Die Frau ist die Schöpferin (s.o.), der Mann das Geschöpf. In diesen Zusammenhang fällt auch die weltweite Mythologie des Sohn-Geliebten. Die Göttin gebiert alle(s) und damit auch den männlichen Gott. Als Geschöpf stirbt der Gott, von der Göttin beweint, entweder in der Trockenphase heißer Länder oder im Herbst und feiert im Frühling Wiederauferstehung. Mit der Göttin vermählt er sich, um Fruchtbarkeit zu garantieren. Er ist als Gott und als Mann in das Geschöpfliche, geboren aus der Göttin, eingebunden. Als solcher ist er guter Hirte (s. Christentum) und vorausschauender, ganzheitlicher Gärtner. Das Patriarchat hat diese weibliche Schöpferkraft schrittweise zurückgedrängt und dem männlichen Gott zugeschrieben, wobei diese Zuschreibung künstlich konstruiert wird, sich aber nicht aus natürlichen Begebenheiten erklärt. Die Götter Odin und Thor z.B. waren ursprünglich ebenfalls gute Hirten und Gärtner, bevor der destruktive Herschafts- und Gewaltanteil überwog und verherrlicht wurde. Jesus ist auch im Christentum der gute Hirte und war ursprünglich der Religion von unten zugetan (s. auch “Die Wahrheit über Eva”) und hat sie verkörpert (was Beck mit verschiedenen Bibelpassagen belegt).
  • Göttinnensymbole sind der oben schon beschriebene Knoten als Symbol der Weisheit und Wandlungskraft. Die Kröte verkörpert die gebärende Stellung der Göttin/Frau und damit die Geburtskraft. Weitere Göttinnensymbole sind neben dem Ei und der Vulva das Schamdreieck als Symbole des Entstehens und des Ursprungs. Das kosmische Kreuz (!) und das Rad sind Symbole der kreisenden (zyklischen) Bewegung. Das Rautennetz verkörpert den Zusammenhang und die die Koevolution. Mondsichel, Horn und Raupe stehen für das Werden und den Übergang. Biene (die Göttin wird gern als Biene dargestellt) und Schmetterling verkörpern die Transformation und die Wandlungskraft. Bärin und Hirschkuh sind Sinnbilder der Mütterlichkeit. Hügel, Quellen, Höhlen und Bäume sind Grundelemente des heiligen Ortes.
  • “In der Ehtnologie ist die große Friedfertigkeit matriarchaler Gesellschaften allgemein belegt.” Sie stärkt das Ich-Bewusstsein im egalitär-akzeptierenden Sinn und erweitert es auf die Gemeinschaft. Wenn eine Mutter Unterstützung bei der Kindererziehung von ihrer Mutter erhält, leben die Enkel länger. Unter dem Vorsitz der Sippenmutter wird Konsenz angestrebt. “Es herrscht niemand. Was zählt, ist die Klugheit, die Kompetenz und die Erfahrung des einzelnen.” Freiwillige Akzeptanz, Prinzip des Ausgleichs, des freiwillig angenommenen Ratschlags und Stammesbündnisse von Gleichen sind weitere Merkmale eines Matriarchats. Der Herd gilt als heiliger Ort für die Ahn*innenverehrung. Feste bestreiten und Hilfsbereitschaft bringen hohe Anerkennung. Die Anhäufung von Gütern stellen keinen Wert dar (s. auch “Wahrheit über Eva”). Nachhaltiges Umgehen mit natürlichen Ressourcen, Geburtenregelung allein durch die Frau, umfassende Solidarität, heiliges Gastrecht, hoher Wert der selbstbestimmten Sexualität, freie Liebesbeziehungen, innige Beziehung und Fürsorglichkeit der Muttersippe sind weitere Merkmale.
  • Zusammengefasst gesagt: Vom Matriarchat in seinen verschiedenen Ausprägungen kann man viel lernen für einen gesunden, heilsamen und konstruktiven Umgang mit der Welt und miteinander.

Sinnstiftung und wohlwollender Umgang miteinander, nicht gegeneinander

In der Zuammenfassung oben konnte ich nicht alle Aspekte beleuchten, dafür ist die Lektüre dieses Buches da. Lothar Beck gibt wie auch Joanne Foucher und die Autoren von “Die Wehrheit über Eva” wichtige Erkenntnisse und Impulse für ein sinnstiftendes, ganzheitliches, nachhaltiges, soziales Leben mit und nicht gegeneinander, mit und nicht gegen die Natur. Er verbindet in seinem Buch die Göttinnensymbolik und Erkennntnisse aus dem Matriarchat mit dem kirchlichen Christentum und zeigt auf, wo die alte Religion vom Christentum überformt und defamiert wurde. In seinen Exkursen stellt er weitere Verbindungen her und gibt tiefere Einblicke in eine Welt, die aus ihrem System heraus um so vieles besser ist als die jetzige. Er zeigt sehr deutlich auf, wie tiefst patriarchalisiert wir heutzutage sind, stellt die einzelnen Phasen des Patriarchats dar (Früh-, Hoch- und Spätpatriarchat) und zeigt auf, wo sie heute noch zu finden und wie weit wir in ihnen verstrickt sind. Er gibt aufgrund der Erkenntnisse über das Matriarchat Tipps für ein in allen Belangen gesünderes, ganzheitliches und befreiteres Leben – für Frauen und Männer! Er zeigt also auch auf, wo Männer sich in einem solchen ganzheitlichen System verorten können und welche Vorteile es nicht nur für die Frau, sondern auch für den Mann hat.

Fazit: Definitiv lesens- und überdenkenswert!


Illustrated by Neue Erde

Der Vogel, der spazieren ging

Leichtfüßig mit Tiefsinn

In seinem satirischen Roman «Der Vogel, der spazieren ging» erzählt Martin Kluger mit viel Witz eine jüdische Familiengeschichte, deren überbordende Lebensfülle von einer verborgener Tragik überschattet ist, welche aber nur sehr vage angedeutet wird. Man merkt dem Plot an, dass sein Verfasser auch Erfahrungen als Drehbuchautor hat, viele Szenen sind geradezu filmreif. Wobei hier der kriminalistischen Elemente wegen eher an den ‹Film noir› zu denken ist, vor allem aber ist sehr viel schwarzer Humor im Spiel. Beim Humor jedoch scheiden sich ja bekanntlich die Geister, denn wenn man die Anspielungen oder falschen Fährten, die in diesem Schelmen-Roman immerzu gelegt werden, nicht als solche erkennt und einordnen kann, dann kann man sich natürlich auch nicht darüber amüsieren!

Der Ich-Erzähler Samuel Leiser lebt als einer von neunundzwanzig Übersetzern der Kriminalromane seines Vaters in Paris. Yehuda Leiser, der als Jude dem Naziterror entkommen konnte und mit seinem dreijährigen Sohn nach Amerika ausgewandert ist, schreibt unter dem Pseudonym Jonathan Still eine äußerst erfolgreiche Krimireihe. Sam, der die Bücher des Vaters ins Deutsche übersetzt, hat eine Tochter mit der bekannten Filmregisseurin Letitia aus Montevideo, die sich von ihm aber getrennt hat und jetzt mit einem glamourösen Filmstar zusammenlebt. Die zwölfjährige Ashley verlässt ihr englisches Internat und zieht zu Sam nach Paris. Damit beginnt für ihn ein turbulentes Leben mit dem frühreifen Mädchen gerade in dem Moment, als er sich frisch in seine Spanisch-Lehrerin verliebt hat.

So beginnt ein im Jahre 1972 angesiedelter, zuweilen fast slapstickartig turbulenter Plot, in dessen Verlauf nicht nur die pubertäre Tochter, sondern auch die aus aller Welt anreisende Familie voller skurriler Typen das Leben von Samuel völlig durcheinander wirbelt. Höhepunkt ist Ashleys Geburtstag, zu dem sich alle in seiner Wohnung versammeln. Mit erkennbarer Wonne lässt der Autor seine liebevoll beschriebenen Figuren, die in ganz unterschiedlichen Beziehungen zueinander stehen, aufeinander prallen. Als da wären: Tochter, Geliebte, Samuels Ex, deren Neuer, der dominante Vater, der mafiöse Onkel samt Bodyguards, eine ungemein erfolgreiche Bestseller-Autorin trivialer Kitschromane. In diesem Trubel geht für Sam so ziemlich alles schief, Ashley nervt mit Fragen nach ihren jüdischen Wurzeln, seine längst überfällige Übersetzung bleibt unerledigt liegen, mit der Liebsten gibt es erste Probleme, die Geburtstagsfeier für die Tochter endet im Fiasko.

Bereichernd sind die Einblicke in jüdisches Leben, und amüsant sind vor allem die vielen Beispiele für jüdischen Humor. Das dominante stilistische Merkmal dieses Romans aber liegt in der Fülle von intertextuellen und philosophischen Querverweisen, die einiges an Belesenheit voraussetzt, will man all die Anspielungen verstehen. Zudem gibt es interessante Einblicke in das Zusammenwirken von Autor, Übersetzer und Verleger, es wird aber auch über stilistische Finessen und Tricks beim Schreiben erzählt. Die Pachtwork-Familie des Romans spricht verschiedene Sprachen wild durcheinander, was durch viele, oft längere englische, spanische und französische Einschübe betont wird, die unübersetzt den Lesefluss allerdings ziemlich stören. Wer außer dem Autor ist denn schon firm in allen drei Fremdsprachen? Sehr erfreulich hingegen sind seine vielen kreativen Satzgebilde, so wenn eine WG-Küche erwähnt wird, «deren Zustand zu beschreiben ein völlig neues Vokabular erfordern würde». Oder wenn sein Protagonist zu erkennen glaubt, die Wirkung der erzwungenen Gemeinschaft in einem Internat würde «eine steppenwolfartige Solidarisierung des Zöglings mit sich selbst [zu] fördern». Ähnlich burschikos formuliert auch Felicitas Hoppe, die genau deshalb ihre Fangemeinde hat mit einer dem Spaß zugeneigten Leserschaft, den Rezensenten eingeschlossen! Wer also leichtfüßig Erzähltes mit reichlich Tiefsinn sucht, der ist auch hier genau richtig!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by DuMont

Alles ganz normal

Alles ganz normal?

Camillas Leben gefällt ihr gerade gar nicht: Ihr Vater hat eine neue reiche Freundin, zu der die Familie ziehen muss. Camilla findet ihre neue Stiefmutter zu oberflächlich und beziehungsunfähig. Ihre Stiefschwester ist ein echter Stinkstiefel. Der Vater kümmert sich nicht mehr um seine eigenen Kinder, hält dafür aber zu seiner neuen Familie. Überhaupt wirkt er sehr überfordert: Es kümmert ihn nicht, dass sein Sohn die Schule dauerhaft schwänzt oder seine Tochter in der neuen Schickimicki-Klasse gemobbt wird. Camillas alte Freundinnen wenden sich von ihr ab.

Dagegen scheint es bei Luna alias Lunatika viel besser zu laufen: Die beliebte Tiktokerin fährt immer neue Follower-Rekorde ein, bekommt Angebote für Verträge. Sie scheint immer auf alles eine Antwort zu wissen und ihren Follower*innen Trost spenden zu können. Aber auch hier ist nicht alles so, wie es scheint. Lunas Vater glänzt seit Jahren aufgrund seines Forschungsprojektes durch Abwesenheit. Die Mutter ist praktisch alleinerziehend und musste daher auf die Verwirklichung ihrer Träume verzichten. Sie versucht es dennoch, nachdem ihre Tochter aus dem Gröbsten heraus ist, aber mit wenig Erfolg. Das Mutter-Tochter-Verhältnis ist angespannt.

In all der Misere startet Camilla einen letzten Versuch, die Freundschaft zu ihren alten Freundinnen zu retten: Sie nimmt ein Video auf, in dem sie über ihre erste Periode spricht. Was eigentlich nur für ihre Freundinnen gedacht war, gerät in die falschen Hände – auf einmal ist Camillas Video für alle zugänglich. Das beschert ihr übles Mobbing, aber auch eine langsam wachsende Solidarität zwischen den Mädchen.

Mobbing, Tabuthemen, Feminismus, Social Media, Familienmodelle, Politik

Das rote Tuch verbindet die verschiedenen Themen des Buches: Es steht zum einen für die Periode, die von der Gesellschaft anstatt gefeiert tabuisiert wird. So sind Frauen und Mädchen gezwungen, so zu tun, als gäbe es die Periode  und alles, was damit zusammenhängt, nicht. Sie müssen sie verstecken, verheimlichen, dass sie sie haben. Sie erdulden still die allmonatlichen Schmerzen und das Unwohlsein und müssen so tun, als wäre alles ganz normal. Bis vor kurzem waren Hygieneartikel für die Periode sogar mit einer Luxussteuer (!) belastet. Das führt dazu, dass sie sich für ihre Regelblutung schämen und nicht wissen, wie sie mit dem Natürlichsten der Welt umgehen sollen. Sie haben keinerlei Kenntnisse über sie und werden von ihr überrascht, wenn sie kommt. Und das führt wiederum zu peinlichen Situationen.

Die Periode ist ein rotes Tuch für eine Gesellschaft, die patriarchal geprägt ist. Sie steht für das Frausein, für die Fruchtbarkeit der Frau. Denn nur die Frau ist in der Lage, Leben zu schenken. Die Frau und alles, was mit dem Frausein zusammenhängt, wird durch das Patriarchat negiert, angefeindet, ins Lächerliche gezogen, ignoriert, tabuisiert, dämonisiert. Im Buch wird das durch das üble Mobbing Camillas verdeutlicht. Sie muss jeden Tag in der Schule eine wahren Spießrutenlauf absolvieren durch Häme, Tuschelei, Stichelei und Angriffe in Form von Tampons, die feucht rot bemalt sind, oder überlebensgroße Graffiti am Schulgebäude, die sie und ihr Bedürfnis, über die Periode zu reden, in den Dreck ziehen. Nutznießer sind in dem Buch die notgeilen, frauenfeindlichen Politiker, gegen die sich Widerstand auch in der Schule regt.

Das Buch verschweigt nicht, dass auch Frauen bewusst oder unbewusst den patriarchalen Interessen dienen. Dafür steht die Lehrerin, die von den Kindern verlangt, einen Aufsatz über eine normale Familie zu schreiben. In der Klasse – alles privilegierte Jugendliche – herrscht Ratlosigkeit darüber, was als normal gilt. Denn die Familienmodelle sind völlig unterschiedlich: Allereinerziehende Eltern, Patchworkfamilien, abwesende Väter usw. Das gutbürgerliche Modell der Kleinfamilie mit Vater, Mutter, Kind(ern) wird von kaum einer Familie erfüllt. Das bringt die Lehrerin aus dem Tritt, was sie aber mit Ignoranz und Strenge überspielt. Der Besuch des frauenfeindlichen Senators löst nur bei ihr Begeisterung aus, in der Klasse aber nicht. Der Senator ist lebensfremd, sodass er die Kids und deren Lebenswirklichkeit weder interessiert noch berührt.

Das rote Tuch steht weiterhin für Solidarität und das Kämpfen für eine bessere Welt – die wiederum für den Senator/ die Herrschenden, der/die sich in Privilegien und Frauenfeindlichkeit eingerichtet hat/haben, ein rotes Tuch ist. Die Mädchen und ein paar der Jungen tragen das rote Tuch in der Schule und während des Besuchs des Senators. Vor der Schule demonstrieren Feministinnen, unter anderem Lunas Mutter, für mehr Gerechtigkeit. Lunas Mutter ist leidenschaftliche Comiczeichnerin, die in ihren Comics feministische Themen aufgreift, auch weil sie selbst die Erfahrung gemacht hat, in einer patriarchalen Welt zu kurz zu kommen und benachteiligt zu werden. Sie hat für den Traum ihres Mannes ihren eigenen aufgegeben und das gemeinsame Kind großgezogen – nur um festzustellen, dass er sie wahrscheinlich betrügt.

Luna und Camilla, die am Anfang alles andere als Freundinnen sind, entdecken, dass es sehr wohl Gemeinsamkeiten gibt und sie voneinander lernen können. Sie entwickeln während des Besuchs des Senators aus dem Stehgreif eine neue Rede, die live gestreamt wird und das alte, feindliche System bloßstellt – so wie Camilla bloßgestellt worden ist.

Die Männer kommen in dem Roman meist nicht gut weg. Sie sind entweder überforderte Väter, vor der Familie geflüchtete und egoistische Väter oder Jungen, die sich dem Mainstream anpassen. Der Senator steht für Machtmissbrauch und Frauenfeindlichkeit. Einzig ein Lehrer an der Schule besitzt Empathie und das Geschick, Mobbing und Tabuthemen für die Schüler*innen so aufzubereiten, dass daraus fruchtbare Einsichten entstehen. Auch Außenseiter Valerio entpuppt sich als tiefsinnig und fortschrittlich und steht so im Widerspruch zu den angesagten, aber empathielosen Jungen seiner Klasse, bei denen das tumbe Ramboverhalten und rücksichtslose Machtstreben als Ideal gilt.

Das rote Tuch als roter Faden schlingt sich auch um Social Media. Am Beispiel Lunas und Camillas werden die Gefahren aufgezeigt, die Social Media mit sich bringen kann. Die junge Tiktokerin versteht diese Gefahren noch nicht und ist überfordert mit ihrer Beliebtheit und deren Konsequenzen. Camilla spürt die Gefahr am eigenen Leib (s.o.). Aber Social Media bietet auch die Chance, sich zu wehren. Luna nutzt ihre Beliebtheit, um positive Änderungen in Gang zu setzen und auf Missstände aufmerksam zu machen.

By the way: Luna ist lateinisch und bedeutet “Mond”. Der Mond steht für die Mondzyklen und ist eng mit dem Weiblichen und der Periode der Frau verbunden. Frauen menstuieren oft im Mondzyklus. Der Mond in diesem Zusammenhang steht auch für weibliche, mächtige Gottheiten. Lunatica dagegen bedeutet “launisch, sprunghaft…” und ist negativ konnotiert. Das passt ins Bild, wie ursprünglich positive Weiblichkeit vom Patriarchat ins Negative verkehrt wird. Der Autorin, selbst Feministin, dürften diese Zusammenhänge bekannt sein. Sie setzt sie wohl sehr bewusst ein und verkehrt z.B. den negativ besetzten Begriff Lunatika wiederum ins Positive durch eine ihrer Protagonistinnen.

Camilla kommt ebenfalls aus dem Lateinischen und bedeutet “die Ehrbare”. Die Kamille wird oft als Zeichen der Hoffnung gedeutet. Muss man dazu noch mehr sagen?

Das Cover

Das Cover ist gut gewählt. Es weist, ohne zu viel zu verraten, auf den Inhalt des Buches hin. Die vorherrschenden Farben sind Rot und Rosa. Rot, das rote Symbol der Weiblichkeit und die Blutstropfen deuten auf die Periode, die kein Tabuthema sein sollte, sondern etwas ganz Natürliches ist, für das sich Mädchen nicht zu schämen brauchen. Sie sollten im Gegenteil stolz auf dieses ureigenste Merkmal der Frau sein dürfen. Rosa ist die kleine Schwester von Rot. Sie war früher Farbe der Männer, die mit Rot den Kriegsgott Mars verbunden haben. Rosa galt als das kleine (kriegerische) Rot, bevor es für Mädchen verharmlost und verniedlicht wurde. Rote Wangen, rote Lippen, rote Tücher, rote Blutstropfen, roter Pulli… Frau pur! Und durchaus kämpferische Frau, denn die Mädchen und Frauen auch im Buch kämpfen für sich und ihre Bedürfnisse. Und Schwarz ist nicht nur die Farbe der Trauer (der Trauer darüber, wie die Verhältnisse für Frauen und Mädchen immer noch sind), sondern auch für die fruchtbare, schwarze Mutter Erde, aus der Leben und Neues erwächst. In diesem Fall positive Veränderungen.

Fazit

Das Buch ist extrem lesenswert, weil es auf mehreren Ebenen in die Tiefe geht. Es spricht nicht nur ein, sondern gleich mehrere kritische Themen an, verbindet sie, reflektiert sie und bietet Lösungsvorschläge an. Diskriminierung ist meist auch nicht ein- sondern mehrdimensional. Die verschiedenen Schichten müssen erst einmal durchschaut und konstruktiv aufgearbeitet werden. Das bietet das Buch ebenfalls. Die Schreibe ist verständlich und spannend. Damit ist “Alles ganz normal” auch als Schullektüre mehr als geeignet.


Genre: Jugendbuch
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Mao – das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes

Mao – der Trump der Kommunisten?

Neulich hat mich Mao angelächelt. Auf einem Buch, das an einen Zaun gelehnt zum Mitnehmen stand. Das passiert im Viertel hier häufig, dass Menschen die Bücher nicht wegwerfen, sondern zum Mitnehmen vors Haus stellen.
Ich habe Mao mitgenommen. Über Stalin wusste ich schon immer viel, die Begeisterung der Marxisten-Leninisten für ihn in den Siebzigern habe ich nie geteilt.
Aber Mao, der schien nicht so schlimm zu sein. Selbst viele Konservative fanden ihn toll.
Und für uns Jugendliche klang Kulturrevolution so verführerisch. Wir haben sie 1968 und später geliebt. Aufstehen gegen eingerostete Kultur, eingerostete Institutionen, Bürokraten. Nicht nur ich, auch viele andere junge Leute haben daran geglaubt.
Das Mao-Buch allerdings erzählt eine Geschichte darüber, die ich so nicht kannte.
Die Kulturrevolution war eine geschickte Intrige Maos. 1958-61 hatte er den großen Sprung nach vorne ausgerufen, überall brannten kleine Hochöfen und sämtliche nützlichen Dinge aus Eisen wanderten dort hinein. Den Bauern wurden die Lebensmittel abgepresst, die Mao ins Ausland verkaufte, um Geld für seinen Traum, die chinesischen Atombombe, zu bekommen. Er glaubte wirklich, dass China mit dem Eisen aus Mini-Hochöfen zur Großmacht werden würde.
1962 wagten dann doch einige Funktionäre den Aufstand. Erstmals kam zur Sprache, dass Millionen beim großen Sprung verhungert waren. Dass Maos Vorstellung, man müsse nur viel Stahl erzeugen, um zur Weltmacht zu werden und die USA zu überholen, ein gigantischer Schwindel war. Mao musste klein beigeben und den großen Sprung abblasen. Natürlich schob er anderen die Schuld in die Schuhe, den örtlichen Funktionären, der Sowjetunion und den Planungskommissionen. Nur einer war unschuldig; der Erfinder des großen Sprungs vorwärts, der Schrott produzierte und Millionen verhungern ließ:
Gott vergibt. Mao niemals. Liu chao Shi, der zweite Mann in der KP Chinas, hatte ihm widersprochen. Und mit ihm viele andere Funktionäre. Widerspruch vertrug Mao nicht und vergaß ihn nie.
So rief er die Kulturrevolution aus. Die Jugend sollte gegen die Bürokraten und die alte Kultur aufstehen. Sie tat es gerne, die Bürokratie war verhasst. Wie immer delegierte Mao die Aufgabe, diesmal an seine Frau Jiang Qin und an seinen Verteidigungsminister Lin Biao. Liu chao Shi wurde gedemütigt und in Isolationshaft genommen. Zahlreiche Funktionäre wurden durch die roten Garden gefoltert, getötet oder, wenn sie Glück hatten, nur öffentlich gedemütigt und zu »Selbstkritik« gezwungen.
Mao legte Quoten fest, die vorgaben, wie viele in jedem Bezirk verhaftet, wie viele ermordet werden mussten. Wer zu wenige erschoss, war ganz sicher ein Rechtsabweichler und musste ebenfalls verfolgt werden.
Das Ganze war nicht neu. Wie Stalin benutzte Mao andere Menschen und ließ sie beseitigen oder ins Arbeitslager schaffen. Die Taktik hatte er bereits seit der Gründung des ersten kommunistischen Staats 1931 in einer chinesischen Provinz angewandt. Um seinen Traum vom »neuen Menschen« zu verwirklichen, der allen Egoismus fahren ließ, nur für das Kollektiv lebte, immer die gleiche Meinung wie alle vertrat und sich auch gleich wie alle anderen kleidete. Wie Ché Guevara hasste Mao Individualismus.
Und wie viele Puritaner predigte er Wasser und trank Wein. Er selbst hungerte nie. Den Chinesen waren Bücher verboten, außer der roten Mao-Bibel. Mao wollte die Kultur nicht revolutionieren, er wollte sie »ermorden«. Unnützes Zeug, das die Menschen von der gesellschaftlich nützlichen Arbeit abhielt.
Er selbst besaß ein eigens konstruiertes Bett, damit die vielen Bücher, die er dort stapelte, nicht in der Nacht auf ihn fielen.
Jung Chang und Jon Halliday schildern Mao ausführlich mit zahlreichen Quellenangaben in »Mao – das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes«. Ein trauriges, aber notwendiges Buch, das den Aufstieg eines Intriganten schildert, der die Welt beherrschen wollte, jeden Widerspruch brutal unterdrückte und die Chinesen hungern ließ.
Das Buch zeichnet Maos Weg gut nach, leider verliert es einiges dabei aus den Augen. Anfang der Zwanziger hatte die KP Chinas knapp über vierzig Mitglieder, Anfang der Dreißiger konnte sie ihren ersten kommunistischen Staat in China gründen, Ende der Vierziger beherrschte sie das chinesische Festland.
Mao beherrschte die KP. Der Frage, warum so viele ihm nachgelaufen sind, geht das Buch leider nicht nach. Und auch nicht der Frage, warum das Konzept der leninistischen Partei, der »Führung der Arbeiterklasse«, nicht nur Mao und Stalin, sondern auch massenhaft weitere Bürokraten, Intriganten und Opportunisten hervorbrachte.
Auch in anderen Gesellschaften wimmelt es von Opportunisten und Intriganten in der Politik. Mit Trump haben wir gerade ein eindrückliches Beispiel erlebt. Genau wie Mao vertrug er keinerlei Widerspruch, glaubte, alles besser zu wissen als die Fachleute, schlug jeden Ratschlag in den Wind und entließ jeden, der ihm auch nur ein bisschen widersprach.
Aber die USA hatten seit langem Gewaltenteilung und Meinungsfreiheit, die selbst ein Trump nicht abschaffen konnte, obwohl er es immer wieder versucht hat. Lenin hat beides bei seinem Revolutionskonzept völlig außer Acht gelassen. Die Rechnung wurde bald präsentiert, als Stalin an die Macht kam. Und später bei Mao wiederholte es sich. Kein unabhängiges Gericht konnte ihnen auf die Finger klopfen, keine freie Presse die gefälschten Erfolgszahlen anprangern, die Hungersnot und die Morde der Geheimpolizei aufdecken.
Das Buch hat mich traurig gestimmt, ich konnte es nur nach und nach lesen, weil es mich an meinen Idealismus und den zahlreicher Anderer erinnert hat. Und die Frage aufwirft, warum so viele Intellektuelle diesem Kriminellen nachgelaufen sind, überall sein Loblied sangen und jeden verteufelten, der ihnen widersprach. Schon damals gab es eine Cancel-Culture, die unbequeme Wahrheiten lieber unter der Decke halten wollte.


Illustrated by Blessing München

Prinz Eisenherz Band 25

Prinz Eisenherz Yeates-Jahre Band 25: Im 25. Band der Nachfolgezeichner Hal Fosters zeichnet Thomas Yeates für Text und Zeichnungen verantwortlich. Er hat nicht nur Aleta, der Frau von Prinz Eisenherz, Zauberkräfte verliehen, sondern ihr auch zwei Raben zur Seite gestellt, die ihr manche Schwierigkeit abnehmen. In vorliegendem Abenteuer ist auch Prinz aus Thule froh, dass er eine Gefährtin gefunden, die so gut zu ihm passt. Und ihm auch noch drei Söhne und die Zwillingstöchter geschenkt hat.

Aberglaube, Zauberei und Aletas Raben

Die LeserInnen erinnern sich: im Vorfeld der magischen Auseinandersetzung mit Maldubh, der Frau Dracos, hatte Aleta ihrem Gemahl eröffnet, dass sie über umfangreich Kenntnisse und praktische Erfahrungen in und mit der traditionellen, die Natur respektierenden, weiblichen Magie verfügt, „deren uraltes Wissen nur in weiblicher Linie und ausschließlich mündlich weitergegeben wird“ (Vgl. 3860,2-5) Möglicherweise gehen ihre Zauberkräfte sogar direkt auf Circe, die berühmte Zauberin des griechischen Mythos, die schon Odysseus verzauberte, zurück, schreibt Uwe Baumann in seinem in vorliegendem Band abgedruckten Vorwort. Auf Seiten Aletas und Maeves standen schon in jenem Abenteuer zwei Raben. Diese waren bei den Griechen positiv konnotiert und dem Gott Apollon heilig. Auch in der Bibel versorgten sie den Propheten Elija mit Nahrung oder symbolisierten Weisheit und Erinnerung bei den Nordländern. Denn auch Odin, ihr höchster Gott, war von den beiden Raben Hugin (Gedanke) und Mugin (Gedenken) begleitet. Die Raben Aletas bringen in vorliegendem Abenteuer des Prinzen aus Thule nicht nur einen wertvollen Hinweis (einen Stofffetzen), sondern schützen auch die beiden Fledermaus-Frauen Audrey und Afton. Denn zurück in Camelot stößt nicht nur der alte Freund und Ritter der Tafelrunde, Gawain, zu den Reisenden Eisenherz, Aleta und Nathan, sondern auch ein alter Aberglaube. Hexerei soll für den Tod Baron Imberts und seines Nachfolgers Gareth verantwortlich sein und die dazugehörigen Hexen werden leicht gefunden. Wie immer werden die Außenseiter beschuldigt, jedoch kann Eisenherz in Sherlock-Holmes-artiger Manier die Verbrechen aufklären. Und wer nicht an die Unschuld von Audrey und Afton glaubt, dem helfen die Raben Aletas etwas nach.

Monarchistische Ritter und demokratische Räuber

Die zwei Abenteuer in diesem Band gehen aber nahtlos in ein drittes Abenteuer über, das hier nur anklingt, aber im folgenden Band noch fortgesetzt wird. Gawains Freundin, Rory Rotkappe, die den Lesern ebenfalls aus einem vergangenen Abenteuer bekannt ist, hat ganze Arbeit geleistet und das Gut von Arne, Eisenherz‘ Sohn, so gut verwaltet, dass satte Profite entstanden. Ob dies mit ihrer politischen Einstellung (sie ist Demokratin) oder ihrem Fleiß zusammenhängt, müssen die beiden Ritter, Gawain und Eisenherz, erst herausfinden. Eine winterliche Reise von Rory, Gawain, Eisenherz und Kleinochs nach Lockbramble führt elegant in das nächste Abenteuer, das jetzt schon mit Spannung erwartet wird und demnächst erscheint.

 

Thomas Yeates

Prinz Eisenherz Yeates-Jahre Band 25. Yeates-Jahre. 2019 – 2020

Text: Mark Schultz

(Originalseiten 4274 – 4377)

Großformatiger (23,5 x 32 cm) Hardcover-Band, 112 Seiten

Reproduktion der farbigen US-Sonntagsseiten

Vorwort: Uwe Baumann

Übersetzung: Uwe Baumann und Claudia Wich-Reif

ISBN 978-3-946842-55-2

24,90 EUR [D] / 25,60 EUR [A] / 35,50 sFr [CH]

Bocola Verlag


Genre: Comic, Graphic Novel
Illustrated by Bocola