All Our Hidden Gifts

all our hidden giftsMaeve Chambers hat im Gegensatz zu ihrer intelligenten Familie keine besonderen Talente. Als sie aber eines Tages in ihrer Schule ein altes Tarot-Kartenset findet, ändert sich ihre Situation grundlegend: Sie kann ihren Mitschülerinnen genau ihre Situation beschreiben und exakte Voraussagen treffen. Die Kartensessions bei ihr sind sehr beliebt – bis sie mit ihrer ehemaligen besten Freundin Lily in Streit gerät und Lily daraufhin spurlos verschwindet. Lilys nichtbinärer Bruder Roe, der wegen Maeves schlechtem Verhalten Lily gegenüber ihr erst einmal skeptisch gegenübersteht, nährt sich ihr aber im Laufe der Zeit. Es entsteht eine nicht unkomplizierte Beziehung zwischen den beiden, in der sie über ihre Gefühle zueinander klar werden müssen. Und beide wollen Lily wiederfinden. Unterstützt werden sie von Maeves neuer Freundin Fiona, die durch ihre asiatische Herkunft Vorurteilen ausgesetzt ist. Sie finden Hilfe in einem esoterischen Laden, dessen Besitzerin Maeve das zweite Gesicht und damit paranormale Fähigkeiten bescheinigt. Die braucht sie auch im Kampf gegen die erzkonservativen Kinder Brigids und deren Anführer Aaron und gegen die Mamsell, eine Macht, die sich aus den Gedanken der Menschen materialisiert hat.

 

Gegen den Strom schwimmen und das Verschwinden als Metapher für den Wunsch einer Mainstreamgesellschaft, nicht-konforme Menschen auszugrenzen, zu bekämpfen und unsichtbar zu machen

 

Der in sich abgeschlossene Roman spricht mehrere nicht-konforme, dem Mainstream entgegenstehende Themen an: Das Leistungsprinzip, vertreten durch die Familie Maeves, die intelligent ist und „es zu etwas gebracht“ hat (wobei Maeve entgegen eines Schwarz-Weiß-Denkens von ihrer Familie nicht unter Druck gesetzt wird). Maeve als ein Mädchen ohne gewinnbringende Talente und mit bescheidenen Noten scheidet aus dieser Leistungsgesellschaft aus. Sie entspricht also in dieser Hinsicht nicht dem Mainstream. Ihre Gabe des zweiten Gesichts wird allerdings unter dem Aspekt des Gewinnstrebens in Form von bezahlten Tarot-Sessions mit ihren Mitschülerinnen von diesen akzeptiert, da die Trefferquote Maeves sehr hoch ist. Mitthematisiert wird außerdem das Ausgrenzen und das (ungewollte) Außenseitertum Maeves und ihrer ehemaligen Freundin Lily. Auch Lily ist nicht gesellschaftskonform und macht deswegen wie Maeve immer wieder bittere Erfahrungen. Maeve will aus diesem Außenseiterstatus raus und entscheidet sich (mit den entsprechenden Konsequenzen) gegen ihre beste Freundin Lily und für zwei Mädchen, die sie letztlich zwar nicht leiden kann, die aber in der Klasse einen höheren Status als sie besitzen. Maeve hofft dadurch in der Hierarchie aufzusteigen, was aber letztlich misslingt. So wird indirekt auch das Hierarchiedenken infrage gestellt und kritisiert, weil es einem guten gesellschaftlichen Klima nicht nützt.

Lilys Bruder Roe ist nichtbinär, lässt sich also keinem Geschlecht zuordnen. Damit steht er ebenfalls außerhalb der Gesellschaft und macht schlechte Erfahrungen durch Repressalien. Die konforme Gesellschaft wird durch die Kinder Brigids in ihrer Extremform vertreten. Sie wollen „Normalität“ unter dem Deckmantel der Religion und greifen die queere Bewegung an. Zuspruch erhalten sie von der Gesellschaft, die im Buch in Form eines Radioreporters, der sich vom Charisma des Anführers der Kinder Brigids einlullen lässt, vertreten wird, aber auch von Roes Eltern, die nicht unbedingt glücklich mit gleich zwei nonkonformen Kindern sind. Aber auch diese Eltern werden nicht schwarz-weiß gezeichnet: Sie machen sich Sorgen um ihre Kinder und lieben sie, anstatt sich von ihnen abzuwenden. Aber selbst die Kinder Brigids sind nicht „normal“: Ihr Anführer Aaron hat wie Maeve das zweite Gesicht – nutzt dieses aber, um andere für seine eigenen Zwecke in Guru- und Sekten-Manier zu manipulieren und auszunutzen.

Fiona hat als Migrantin in zweiter Generation ebenfalls mit Vorurteilen zu kämpfen, die im Buch immer mal wieder angesprochen werden. Alle Hauptpersonen sind also nach eindimensionalen Maßstäben „nicht normal“, finden aber trotzdem einen Weg, in der Gesellschaft zu bestehen. Dieser Weg besteht hier v.a. darin, die Unterschiedlichkeit der anderen anzuerkennen, zu akzeptieren und sich in aller akzeptierten Unterschiedlichkeit zusammenzutun, um etwas gegen Unrecht bewirken zu können. Dabei braucht man sich nur einmal die Natur selbst anzuschauen: Diversität/Artenvielfalt und deren Vernetzung scheint ein grundlegendes Prinzip der Natur zu sein, um Leben zu sichern. Der Weg besteht aber auch darin, die Gegenseite kennenzulernen, um sie besser einschätzen zu können. Parallelen zur irischen Geschichte (die Story spielt in Irland) sind sichtbar. Insgesamt wird aber auch eine gesellschaftliche Haltung hinterfragt, die von Normen und deren starrer Einhaltung ausgeht und die alles, was anders ist, verunglimpft und bekämpft.  Negative Vorstellungen über Kirche und gewisse Parteien drängen sich geradezu auf.

Auch der Titel „All unsere versteckten Gaben“ passt sehr gut zu der erzählten Story. Es müssen nicht immer nur die offiziellen erwünschten Gaben sein, die eine Gesellschaft lebenswert machen. Oft sind es die verschleierten Gaben, die man aufgrund des Unerwünschtseins evtl. selbst erst einmal gar nicht herausfindet, die eine Gesellschaft reich(haltiger) machen.

Verpackt werden all diese Thematiken in eine spannende Story über das Verschwinden eines Mädchens und der Suche nach ihm, mit dem durchgängigen Touch des Mysteriösen und der Anspielung darauf, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als offiziell anerkannt wird. Auch die Selbstfindung ist unter den dargestellten schwierigen Umständen ein zentrales Thema dieses Buches.

Sehr empfehlenswert!


Genre: Jugendbuch
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Flughafenfische

Von Fischen und Menschen

Der zweite Roman von Angelika Overath trägt den rätselhaften Titel «Flughafenfische». Das Rätsel klärt sich bereits auf der ersten Seite, denn die titelgebenden Fische leben in einem riesigen Aquarium in der Transithalle eines nicht benannten internationalen Flughafens. In einem kammerspielartigen Setting lässt die Autorin im Gewimmel der Reisenden dort drei Menschen auftreten, deren Leben nicht unterschiedlicher sein könnte. Das verbindende Element dieser solitären Romanfiguren ist ihre inmitten der Menschenmassen irreal wirkende, ganz individuelle Einsamkeit.

Da ist zunächst Tobias, der nie verreist, Hüter eines künstlich angelegten Korallenriffs, das mit seinen zwanzig Kubikmetern Wasser wie ein dekorativer Raumteiler eine in den südlichen Ozeanen beheimatete Tier- und Pflanzenwelt beherbergt. Übermüdet von einem strapaziösen Langstreckenflug wartet Elis in diesem Transitbereich auf ihren verspäteten Anschlussflug. Sie ist eine erfolgreiche Fotografin, die rund um den Erdball jettet, mit den unterschiedlichsten Aufträgen für Artikel in angesagten Hochglanz-Magazinen. In ihrem Kopf wirbeln verschiedene Reisebilder aus Afrika und Asien schlaglichtartig durcheinander. Sie ist verblüfft, als sie plötzlich im lauten Trubel des Airports das Ruhe ausstrahlende Aquarium mit seinen stummen Bewohnern sieht. Fasziniert bleibt sie stehen, um durch die Scheiben dem munteren Treiben der bunten, exotischen Lebewesen eines Riffs zuzusehen. Ebenfalls durch Fenster abgetrennt sitzt in der Nähe im Raucherfoyer ein hoch angesehener, namenlos bleibender  Professor der Biochemie, der als Vielflieger von Kongress zu Kongress eilt. Gerade eben hat er eine SMS von seiner Frau erhalten, die ihm nach dreißig Ehejahren überraschend mitteilt, dass sie sich ab sofort von ihm getrennt hat. Zigaretten rauchend grübelt er nun über seine Versäumnisse nach, lässt sein vollständig der Karriere gewidmetes Leben selbstkritisch Revue passieren.

Neben diesen beiden rastlosen Globetrottern stellt Tobias den Gegenentwurf des bodenständigen Mannes dar, der die Erfüllung seines Lebens ausschließlich in der liebevollen Betreuung der ihm anvertrauten Aquariums-Bewohner findet. Als Elis ihn anspricht, erzählt er ihr bereitwillig vom schwierigen Aufbau des künstlichen Riffs, das nur unter ganz bestimmten Bedingungen existieren kann. Es habe mehr als ein Jahr gedauert, bis all die diffizilen Parameter der chemischen Zusammensetzung des Wassers, seiner Temperatur und der erforderlichen Strömungs-Verhältnisse penibel justiert waren. Und auch die fragile Lebensgemeinschaft von Fischen, Krebsen, Muscheln, Anemonen, Schwämmen, Algen sowie der zugehörigen Unterwasser-Flora stellt ein hochkompliziertes System dar, in dem es für einzelne Spezies immer wieder mal zu Rückschlägen kommt.

Der ansonsten dialogfreie Roman aus dem Airport-Kosmos bleibt auch hier völlig unpersönlich, die Zwei am Aquarium kommen sich nicht wirklich näher, sie bleiben sich als Zufalls-Bekanntschaft letztendlich Fremde. Angelika Overaths in 18 Kapiteln erzählte, klug durchdachte Geschichte lebt von der bewundernswerten Beschreibungskunst seiner Autorin, die zuweilen sogar poetische Züge annimmt. In parataktischer Form beschreibt sie kenntnisreich und anschaulich eine nur Wenigen zugängliche, aquatische Welt, die inmitten des umweltfeindlichen Flugwahns wie ein, allerdings unbeachtet bleibendes, Mahnmal wirkt. Ihre immer wieder auf die Unterwasserwelt bezogene Metaphorik erscheint mit der Zeit allerdings etwas aufdringlich. Die nur als «Raucher» bezeichnete, als einzige in Ich-Form sinnierende Figur des Professors wirkt zudem deplaziert, seine Ehe-Thematik stellt keine gelungene, plausible Ergänzung dar. Und Tobias und Elis reden nicht wirklich miteinander, sie tauschen lediglich wechselseitig Monologe aus. Thematik und Impetus dieses Romans verblassen in Anbetracht der stilistischen Erzählkunst seiner Autorin, die hier als ‹L’art pour l’art› nutzlos verschwendet wird. Schade!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by btb München

Adam und Evelyn

Von einem Paradies ins andere

Ingo Schulze hat mit seinem Roman «Adam und Evelyn» einen Wende-Roman geschrieben, der die Zeit vor und nach dem Mauerfall aus östlicher Sicht thematisiert. Das Buch wurde 2008 für den Frankfurter Buchpreis nominiert und zehn Jahre später verfilmt. Erzählt wird die Geschichte eines Liebespaares in der DDR, wobei sich der Autor, wie zuvor schon in anderen seiner Werke, auch hier wieder als Spezialist für die Befindlichkeiten der Deutschen hinter Mauer und Stacheldraht erweist. Denn das junge Paar lebt wahrlich nicht im Paradies, auch wenn ihre biblischen Namen das suggerieren.

Der Held mit Spitznamen Adam, seines markanten Adamapfels wegen, ist ein 32jähriger, von den Frauen verehrter Damenschneider, dessen Künste in dem von trister Mode in schlechter Qualität geprägten DDR-Bekleidungsangebot sehr gefragt sind. Die zehn Jahre jüngere Evelyn durfte nach dem Abitur im Arbeiter- und Bauernparadies nicht ihr gewünschtes Studium antreten und arbeitet frustriert als Bedienung. Kurz vor der geplanten gemeinsamen Urlaubsreise an den Balaton im August 1989 ertappt sie ihn nach einer Anprobe in flagranti beim Sex mit einer drallen Kundin. Erbost fährt sie mit ihrer fluchtwilligen Freundin und deren Cousin aus dem Westen allein nach Ungarn. Adam folgt ihnen reumütig mit seinem uralten, liebevoll gepflegten Wartburg, den er ‹Heinrich nennt›. Er ist ein phlegmatischer Gemütsmensch, der sich pudelwohl fühlt im ererbten Haus mit dem Garten drum herum und nichts vermisst im sozialistischen Deutschland. Er lebt zufrieden vor sich hin, ist immer gut drauf, und wenn es mal wieder an irgendetwas mangelt, nützt er seine guten Kontakte zu solidarischen Helfern.

Im Stil einer Roadnovel erzählt Ingo Schulze von den Liebeswirren des ungleichen Paares, das über verschiedene Zwischenstationen und mit mancherlei Pannen schließlich am Plattensee eintrifft. Evelyn und der Cousin der Freundin beginnen ein Techtelmechtel, er will sie zu sich nach Hamburg mitnehmen, in den Westen, der für sie ein Paradies darstellt, in dem fast alles möglich zu sein scheint. Adam hat unterwegs Katja aufgegabelt, die auf der Flucht in den Westen gescheitert ist und beinahe in der Donau ertrunken wäre. Sie hat dabei alles verloren, er hilft ihr selbstlos als unfreiwilliger Fluchthelfer und nimmt sie vorerst mal mit nach Ungarn. Im Grunde passiert nichts Dramatisches in dieser Erzählung von unpolitischen kleinen Leuten, die hier das Figuren-Ensemble bilden. Sie sind keine Revoluzzer und erleben lediglich die Auswirkungen der politischen Veränderungen auf ihre private Situation. Der auktoriale Erzähler entwickelt seinen rasant vorangetriebene Plot weitgehend in dialogischer Form. Die Gespräche und Diskussionen seiner Figuren sind in ihrer Banalität schon fast peinlich, wirken gerade dadurch aber authentisch. Die große Politik bleibt völlig ausgeblendet, allerdings bindet er auch Kontemplatives mit ein bis hin zur Religion. Adam liest aus Langeweile erstmals die Bibel und ist erstaunt über deren intellektuelle Zumutungen.

Das Paar wird überrascht von den Nachrichten aus der deutschen Botschaft in Budapest und nutzt die Lockerungen der Grenzkontrollen zur Flucht nach Bayern. Als am neunten November die Mauer durch die denkwürdige ‹Revolution von unten› fällt, sind sie schon eine ganze Weile dabei, sich im vermeintlichen westlichen Paradies zurechtzufinden. Während Evelyn problemlos ihr Wunschstudium aufgenommen hat, ist für Adams Schneiderkünste kein Bedarf, hier kauft man die industriell hergestellten Kleider ‹von der Stange›. Alle Figuren sind stimmig beschrieben, wobei insbesondere Adam als stets freundlicher, genügsamer Ossi sehr sympathisch wirkt. Orientierungslos müssen die Beiden ihr Leben ganz neu aufbauen, was besonders Adam schwer fällt, «Der läuft hier rum wie Falschgeld» klagt Evelyn. Das Besondere jedoch ist die private Perspektive, aus der hier fast beiläufig über eine Glückssuche erzählt wird, von einem Paradies ins andere.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Berlin Verlag Berlin

Jim Morrison: Der König der Eidechsen

Jim Morrison: Der König der Eidechsen. 50 Jahre ist Mr. Mojo Risin‘ tot und dieses Mal wohl endgültig. Das Akronym unter dem er sich wieder melden wollte, Mr. Mojo Risin‘, taucht auch in dem Titelsong der letzten Langspielplatte der Doors, „L.A. Woman“ auf: „Mr. Mojo Risin‘, got to keep on rising“ heißt es dort bedrohlich. Jim Morrison, dessen weltliche Überreste auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise ruhen, ist wohl zu ewigen Wiedergeburt verdammt. Dem Stehaufmännchen des Rock huldigt die vorliegende bebilderte, überarbeitete und erweiterte Ausgabe mit dem Titel „Jim Morrison. König der Eidechsen“.

Paris liegt (auch) in Afrika

The Doors  am Venice Beach (1967), Robert Klein, Courtesy by Schirmer/Mosel

 

Die „endgültige Biographie und die großen Interviews“ spielt auf „Keiner kommt hier lebend raus“, die eigentliche Biographie Morrisons an, die der Autor, Jerry Hopkins 1980 mit Danny Sugerman herausbrachte. Diese Biographie begründete den Kult um Morrison, ließ sie doch zwei mögliche Enden realistisch erscheinen: entweder Morrison ist wirklich in seiner Badewanne in Paris gestorben oder er hat sich – wie sein literarisches Vorbild Arthur Rimbaud – nach Afrika abgesetzt. „Do you remember when we were in Africa?“ ruft er scheinbar unzusammenhängend als Intro auf dem Song „Whishful Sinful“. Aber es wird schon einen Grund gehabt haben, warum sich Jim Morrison Anfang 1971 nach Paris absetzte, um dort mit seiner Lebensgefährtin Pamela Courson ein neues Leben anzufangen. Er wollte dort vor allen Dingen schreiben und seine Filme in Frankreich veröffentlicht sehen. Denn Jim Morrison war mehr als nur ein Rockstar.

Jim Morrison in seinen eigenen Worten

Angels dance, angels die: Jim Morrison (1967); Courtesy Schirmer/Mosel

 

Als 1991 Oliver Stone’s Doors Film heraus, gab es einen Passus im Vertrag mit Pamela’s Eltern, der besagte, dass kein Zusammenhang zwischen Jim’s Tod und Pamela hergestellt werden dürfe. Allein das erweiterte den Rahmen für Spekulationen um ein Vielfaches und so kann Jim Morrison regelmäßig zu seinem Todestag immer wieder erneut auferstehen. Denn alles was seinen Tod 1971 betrifft ist ungesichert und wird wohl nie restlos aufgeklärt werden können. Die vorliegende „endgültige Biographie“ erschien erstmals unter dem Eindruck des x-ten Doors-Revivals, das durch den Stone-Film ausgelöst wurde. Insofern verteidigt Hopkins Jim, denn er sei keinesfalls der „gemeine, zügellose, selbstzerstörerische Alkoholiker“ gewesen als den Stone ihn darstelle, sondern vielmehr ein „charmanter, witziger, intelligenter, beredter“ Mensch mit „viel Sinn für Humor und Selbstironie“. Das

Jim Morrisons Augenzwinkern in Paris, 1971; Andrew Kent, Courtesy Schirmer/Mosel

beweisen unter anderem auch die Interviews (darunter zwei Gespräche von 1969 und 1970 aus „The Village Voice“ und „Creem Magazine“), die ungefähr die Hälfte des vorliegenden Buches ausmachen und Jim Morrison auch selbst zu Wort kommen lassen. In his own words. Alles andere steht ohnehin in seinen Liedern und Gedichten oder seinen Filmen.

 

Jerry Hopkins
Jim Morrison: Der König der Eidechsen
Die endgültige Biographie und die großen Interviews
Aus dem Englischen von Manfred Ohl, Hans Sartorius, Carl Ludwig Reichert und Marion Kagerer
Überarbeitete und erweiterte Ausgabe
2021, 280 Seiten, 57 Abbildungen, Format: 16,5 x 24 cm, broschiert
ISBN: 9783829609340
Verlag Schirmer Mosel


Genre: Biographien, Musik, Rockmusik
Illustrated by schirmer/mosel

Mädchen, Frau etc.

Dreadlocks etc.

Mit «Mädchen, Frau etc.» hat Bernardine Evaristo 2019 den Booker Prize gewonnen, ihr Roman erschien Anfang dieses Jahres als erstes ihrer Werke auch in deutscher Übersetzung. Die Tochter einer englischen Mutter und eines nigerianischen Vaters war die erste farbige Schriftstellerin, die diesen begehrten britischen Buchpreis bekommen hat. Wie bereits der Titel andeutet, stehen Frauen aller Altersstufen im Blickpunkt, hier natürlich Farbige in sämtlichen Schattierungen. Und ebenso variantenreich ist deren sexuelle Ausprägung. Also vor allem lesbisch, aber auch bisexuell, nichtbinär, trans, queer, schwul – und nur ausnahmsweise auch mal heterosexuell.

In vier Kapiteln stehen abschnittsweise jeweils drei dieser Frauen im Zentrum, allesamt auf verschiedene Weise diskriminiert und deshalb nicht nur wütend, sondern auch sozial und politisch unangepasst. Der Reigen beginnt mit Amma, die als knapp fünfzigjährige Dramatikerin mit ihrer ersten Inszenierung «Die letzte Amazone von Dahomey» am National Theatre Premiere hat. Als ‹frauenmordende›, für Polyamorie schwärmende Lesbe hat sie schon weit über hundert Liebhaberinnen unglücklich gemacht, denn nach wenigen Liebesnächten ist sie ihrer überdrüssig und serviert sie kaltlächelnd ab. Ihre durch die Samenspende eines schwulen Mannes gezeugte Tochter Yazz gehört der «Matchen-Liken-Chatten-Daten-Ficken-Generation» an. Da sie noch nicht den Richtigen gefunden hat, betrachtet sie einen amerikanischen Doktoranden übergangsweise als ihren «Fuck-Buddy». Als kritische Denkerin hat sie bereits erste journalistische Erfolge aufzuweisen und bildet zusammen mit drei ebenfalls unangepassten Kommilitoninnen den Kreis der «Unverarschbaren». Die Lebenswege verschiedenster Frauen unterschiedlichster Herkunft im Alter zwischen 19 und 93 werden in diesem Roman über drei Generationen hinweg kunstvoll ineinander verwoben. Die soziale Stellung reicht dabei von der Putzfrau oder Bäuerin bis zur gefeierten Regisseurin oder erfolgreichen Investment-Bankerin, von bitterer Armut bis zu märchenhaftem Reichtum. «Diese Charaktere repräsentieren für mich die Bandbreite, wer wir sind in dieser Gesellschaft» hat die Autorin erklärt.

Sie verfolge keine didaktischen Absichten, hat Bernardine Evariso betont, ihr Roman behandele das zutiefst Menschliche, Liebesbeziehungen vor allem. Aber auch Familienbande sowie die Gefühlswelt als solche seien ihr Thema. Davon zeugt der Epilog, in dem lebensklug von der späten Liebesgeschichte der siebzigjährigen Penelope mit Jeremy erzählt wird. Sie hat durch einen genetischen Herkunftstest ihre leibliche Mutter ausfindig gemacht und liest auf der Zugfahrt eine «überschwängliche Rezension eines Stücks über afrikanische Amazonen», womit sich der erzählerische Rahmen dieses Romans gekonnt schließt.

Für die narrative Umsetzung ihres Figuren-Reigens hat die Autorin den Begriff ‹fusion fiction› geprägt, «Optisch sieht der Text fast aus wie Dichtung, aber ich verstehe ihn eher als experimentelle Prosa», hat sie dazu angemerkt. Und so mutet dieser Stilmix, – Verzicht auf grammatikalisch korrekte Sätze, kleingeschriebene Satzanfänge, Ersatz von Punkten durch Zeilenumbrüche, Fehlen von Anführungszeichen, – beim Lesen zunächst etwas störend an. Man gewöhnt sich aber erstaunlich schnell daran und merkt schon bald, dass genau dadurch der Lesefluss geschmeidig an die Thematik und den modernistischen Yuppie-Slang angepasst wird. Temporeich wird in diesem Roman vom Anderssein These auf These aneinander gereiht, werden auf gerade mal dreißig/vierzig Seiten ganze Lebensgeschichten erzählt. Weniger überzeugend sind dabei die eher hölzernen Dialoge, denen die Eleganz der Erzählung selbst oft fehlt. Die britische Historie wird hier aus dem ungewohnten Blickwinkel der Diskriminierten und Erniedrigten erzählt, wobei die Autorin mit den Dreadlocks in ihrer auktorial erzählten Geschichte mit kreativen Wortschöpfungen humorvoll zuweilen sogar sich selbst persifliert.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Tropen Verlag

Die Verdächtige

Ein Krimi-Märchen

Der durch seinen Titel «Die Verdächtige» vordergründig als Krimi erscheinende Roman von Judith Kuckart versucht, den Spagat zwischen Spannung und menschlicher Selbstverlorenheit in seinem Plot zu realisieren. Ein Genre-Mix also, der nüchterne Polizeiarbeit mit der psychischen Unbehausheit seiner Figuren verbinden will, Rationales mit Mentalem. Eine ebenso kühne wie schwierige Gradwanderung, bei der die Gefahr besteht, dass Beides sich gegenseitig eher behindert.

«Sie saß mit dem Rücken zur Tür. Der Kragen eines altmodischen Mantels fiel ihr wie ein riesiges Rhabarberblatt über die Schultern». Die da im Polizeirevier sitzt heißt Marga Burg, eine hübsche Frau Ende dreißig, die eine Vermisstenanzeige aufgeben will. Ihr Freund sei vor zwei Wochen mit ihr auf der Kirmes gewesen und allein in die Geisterbahn gestiegen, dann aber nicht mehr herausgekommen. Es fehle seither jedes Lebenszeichen von ihm. Fälle wie dieser erweisen sich in Wahrheit allerdings gar nicht so selten als ein eleganter Abgang in ein komplett neues Leben. Der Fall wird Robert, dem Kommissar, der aussieht wie George Clooney, und seiner Kollegin Nico vom Morddezernat übertragen. Die üblichen Nachforschungen beginnen, Nachbarn, Kollegen, die Ex-Frau werden befragt, Telefon und Bankkonto überprüft. Es gibt keinerlei Hinweise, ob er noch lebt, aber auch keine Anhaltspunkte für ein Gewaltverbrechen oder für Suizid. Insoweit ist der Plot genretypisch mit dem üblichen Spannungsbogen aufgebaut, das Besondere hier aber sind die handelnden Personen.

Marga ist eine eher seltsame Frau vom Typus Traumtänzerin, die mit ihrer Psyche im Verlauf der Geschichte sehr viele Rätsel aufgibt. Der melancholische Schönling Robert ist kürzlich erst von seiner Frau verlassen worden und stimmungsmäßig in ein tiefes Loch gefallen. Er weiß nichts anzufangen mit seinem Leben und meldet sich freiwillig zu den sonst eher unbeliebten Sonntagsdiensten, weil er nicht einsam zuhause herumsitzen will. Wie zu erwarten landet der Frauenversteher mit seiner Zeugin, die dann allmählich zur «Verdächtigen» wird, schon bald im Bett. In das Personen-Karussell um das Verschwinden einbezogen ist auch Roberts Ex-Frau, die ihn plötzlich sogar wieder anmacht, ferner eine hilfsbereite Nachbarin, die sich überraschend als Margas Arbeitskollegin entpuppt, und schließlich Margas adipöser, geistig zurückgebliebener Bruder, mit dem sie zusammenlebt. Zusätzlich bindet die Autorin auch die Geisterbahn mit ein, denn Marga ist auf einmal ihrerseits abgetaucht, sie hat ihren Job beim Straßenverkehrsamt einfach hingeschmissen. Robert findet sie dann nach einem Hinweis beim Betreiber der Geisterbahn, der inzwischen in eine andere Stadt weitergezogen ist. In dem gruseligen Fahrgeschäft hat sie die Rolle der ‹kalten Hand› übernommen, erschreckt also die Leute während der Fahrt mit ihrer auf einem Kühlakku temperierten, eisigen Hand.

Mit dem besonderen Augenmerk auf die ewig rätselhafte Anziehungskraft der Geschlechter wird hier, durch märchenhafte Einblendungen ergänzt, eine elegische Geschichte über Wünsche und Ängste erzählt, über Glückssuche und Verlassenheit, letztendlich aber auch über den Sinn all dessen. Verzauberung und brutale Ernüchterung wechseln sich dabei ständig ab, mit der Geisterbahn hat Judith Kuckart dafür ein stimmiges Sinnbild gefunden. Ihre Stärke ist der scharfe Blick, mit dem sie selbst kleinste Details in Mimik und Gestik ihrer Figuren beschreibt. Ihr narrativer Stil ist durch eine starke poetische Suggestivkraft geprägt, die den Leser in Bann zu ziehen vermag. Die Metapher vom Verschwinden und Neuanfang mündet hier in die Erkenntnis, dass man seiner Veranlagung nicht entkommen kann. Sogar das Paradoxon der Kälte-Idiotie ist in Form einer kurzen Vortragsreise von Robert in die Geschichte eingebaut, es dient der Verdeutlichung des schicksalhaft Vorgegebenen. All diese psychologischen Tiefen-Schürfungen jedoch mindern den Roman leider zu einem eher misslungenen Krimi-Märchen herab.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by DuMont

Der Buchspazierer

Carsten Henn erzählt die Geschichte des Buchhändlers Carl Kollhoff, der auch im Ruhestand nicht davon ablassen kann, ausgewählten Kunden genau diejenigen Bücher zu bringen, die diese gern lesen wollen. Seine Zeit ist abgelaufen, sein ehemaliger Arbeitgeber hat das Ladengeschäft an seine Tochter abgegeben, die sich als moderne Sortimenterin versteht und den Alten gern loswerden will. Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by Pendo , Weissbooks Frankfurt am Main

Die Gestirne

Sterndeuter dürfen sich freuen

Der Roman «Die Gestirne» der neuseeländischen Schriftstellerin Eleanor Catton wurde 2013 mit dem britischen Booker Prize ausgezeichnet. Deutet bereits der Buchtitel auf die Astronomie hin, so outet sich die Autorin dann auch im Vorwort als astrologiegläubig, weshalb der Aufbau ihres Romans den zwölf Sternzeichen folgt als Ausdruck ihres Vertrauens «in den unendlichen und wissenden Einfluss des endlosen Himmels». Die einen zentralen Personenkreis bildenden zwölf Männer ihres Romans sind dementsprechend jeweils mit Planeten und Sternen assoziiert, denen verwandte ‹Häuser› und ‹Einflüsse› gegenüber stehen, ein astrologischer Hokuspokus also bildet hier das narrative Konstrukt.

Der Roman beginnt am 27. Januar 1866 mit der Ankunft eines Schotten in der neuseeländischen Hafenstadt Hokitika. Im Raucherzimmer seines Hotels platzt der 27jährige Walter Moody in ein geheimes Treffen von zwölf sehr unterschiedlichen Männern hinein. Nach anfänglich betretenem Schweigen beginnt einer der Männer ein Gespräch mit ihm. Auf dessen neugierige Fragen erklärt Moody, dass er sich hier in dieser neuen Boom-Region als Goldgräber versuchen wolle. Und ehe er sich versieht ist er auch schon tief hineingezogen in ein rätselhaftes Gefecht von gegenseitigen Verstrickungen, von Verrat, dreisten Lügen und hinterlistigen Intrigen. In deren Kern geht es letztendlich um eine veritable Serie schlimmer Verbrechen. Insoweit ist dieser Roman eine vielschichtige Kriminalgeschichte mit oft schwer durchschaubaren Handlungs-Strängen, die in zwölf Kapiteln jeweils aus der Perspektive eines der Männer erzählt werden. Gleichzeitig sind hier aber auch Elemente des Abenteuerromans enthalten, der Goldrausch lockt viele bunte Gestalten an, die alle ihr Glück machen wollen. Dazu gehören auch Geschäftsleute, Spediteure, Politiker und Glücksritter verschiedenster Art, und natürlich ist auch das horizontale Gewerbe vertreten. Gleich zu Beginn findet denn auch ein Politiker auf Wahlkampf-Reise nicht nur einen Toten, sondern auch eine bewusstlos auf der Straße liegende Hure.

Der ungewöhnlich vielseitige, knifflige Plot baut systematisch eine zunehmende Spannung auf. Es ist allerdings oft schwer, dem verwickelten Geschehen zu folgen und die komplexen Zusammenhänge zu durchschauen. Erst nach einer längeren Lesestrecke beginnt man allmählich, das individuelle Geheimnis hinter jeder einzelnen der zwölf Figuren zu erkennen, ihre spezielle Rolle in dem kriminellen Sumpf auch wirklich zu verstehen. Die jüngste Booker-Preisträgerin aller Zeiten mit dem dicksten dort je prämierten Buch aller Zeiten hat die Fäden ihrer auktorial erzählten Handlung virtuos im Griff. Vieles vermittelt sie über ausgedehnte Dialoge, denen sie allerdings leider keine eigenständige Sprechweise zugeordnet hat, die Charaktere unterscheiden sich also sprachlich nicht, ein erhebliches Manko. Zudem ist ihre ansonsten ungewöhnlich detaillierte Figurenzeichnung oft viel zu langatmig, man wird weit weggeführt vom eigentlichen Handlungs-Geschehen und hat dann erhebliche Probleme, den Faden wieder aufzunehmen.

Insoweit bleibt ihr sperriger Roman eine mühsame Lektüre, und mehr als tausend Seiten wollen schließlich auch bewältig sein. Die ersten paar hundert sind eine einzige Geduldsprobe, ehe man sich dann endlich irgendwie doch eingelesen hat. Bei alledem wird man aber das ungute Gefühl nicht los, dass die Autorin jede Chance nutzt, um intellektuell zu glänzen. Besonders die vielen astrologischen Bezüge und Andeutungen dürften aber nur einer verschwindend kleinen Minderheit von Lesern wirklich verständlich sein, und damit eventuell von Nutzen. Der mit dem Hineinplatzen des Helden in den konspirativen Männertreff sofort erzeugte Spannungsbogen wird, mit weiteren Überraschungen, bis ganz zum Schluss durchgehalten, auch wenn nicht alles aufgelöst wird. Die Leser werden also zumindest in dieser Hinsicht belohnt fürs Durchhalten, und die Sterndeuter unter ihnen dürften sich sogar freuen.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by btb München

Run away with me, Girl 1 und 2
by battan

Liebe, die nicht gelebt werden darf

Maki und Midori waren beste Freundinnen in der Schulzeit. Zumindest sollte es nach außen hin so wirken. In Wahrheit waren die beiden Mädchen ein lesbisches Paar – bis zum Ende der Highschoolzeit. Denn jetzt bricht für Maki eine Welt zusammen, weil Midori nicht zu ihr steht, sondern ihren Traum einer “normalen” Hochzeit leben will. Zehn Jahre später treffen sich die beiden zufällig wieder. Sie nähern sich einander an, bis Midori sagt, dass sie schwanger ist und heiraten wird. Sie will Maki zu ihrer Hochzeit einladen. Maki erleidet wieder Liebeskummer, lernt aber trotzdem Midoris Mann kennen. Sein Gebaren gegenüber Midori gefällt ihr nicht und sie fragt sich, ob Midoi wirklich glücklich mit ihm ist. Auch Midori hinterfragt allmählich ihren Traum, v.a. als sie merkt, wie glücklich sie mit Maki ist. Als beide Urlaub auf einer Insel bei einer lesbischen Freundin Makis machen, stellen sie fest, wie gut sie immer noch zueinander passen. Midori will sich zu Maki bekennen und mit ihr ein neues Leben beginnen. Aber dann taucht überraschend Midoris Mann auf und fordert sie zurück.

 

Lesbische Liebe – immer noch ein rares Gut in der Literatur

Die beiden in sich abgeschlossenen Bände werden vom Verlag beworben mit “berührende Girls-Love-Serie”. Das ist  nicht untertrieben. Die Gefühle der beiden sind vielschichtig und werden durch die Zeichungen sehr gut unterstützt. Die Lebenssituation ist nicht  – wie oft in Boys-Love oder Girls-Love-Mangas – einer echten Realität entrückt, sondern mitten in dieser angesiedelt, sodass auch die Probleme, mit denen Homosexuelle zu kämpfen haben, zum Tragen kommen. So werden u.a. die Einsamkeit und das belastende Sich-Verstecken-Müssen bzw. die Frage eines Comig Outs angesprochen. Trotzdem bietet der Manga auch Problemlösungen an, wie z.B. eine Auszeit, um sich über die eigenen Gefühle klarzuwerden und sich zu überlegen, wie es weitergehen soll. Überhaupt werden Gefühlen und der Vergangenheit bzw. den Motiven der einzelnen Figuren viel Raum gegeben. So wird ein plattes Schwarz-Weiß-Bild vermieden und auch den Motiven von Midoris Ehemann Platz verschafft, obwohl dieser auf den ersten Blick unsympathisch wirkt. Aber auch er ist ein Produkt der Gesellschaft und ihrer starren Rollenklischees, die der tatsächlichen menschlichen Vielfalt keinerlei Raum gewährt und im Gegenteil nur einengt und verletzt. Das verdeutlicht der Manga sehr gut. Er verdeutlicht aber auch, dass unerwartet Unterstützung kommen kann, wenn man sie braucht, auch von Menschen, die man evtl. falsch eingeschätzt hat. Und natürlich, dass der Kontakt zu Gleichgesinnten befreiend und bereichernd sein kann.

Hervorgehoben werden sollte auch, dass diese Serie eine der wenigen ist, die lesbische Homosexualität in den Fokus rückt (und das mit einer sehr guten Story, was ebenfalls nicht selbstverständlich ist). Die lesbische Homosexualität geht meist unter in der schwulen Homosexualität, zu der es weitaus mehr Mangas gibt. Auch da kommt das Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau leider wieder zum Tragen.

Fazit

Runde Sache. Der Manga verdeutlicht in spannender, einfühlsamer Form sehr gut homosexuelles Leben, diesmal in der immer noch zu raren Form der lesbischen Liebe.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

Die Lehren der Großmütter: Selbstermächtigung – Die Offenbarung des zutiefst Weiblichen

Zu viel Yang, zu wenig Yin

Autorin Sharon McErlane begegnete den weisen Frauen, die sie “Großmütter” nennt, während einer ganz normalen Alltagssituation: Sie erschienen ihr bei einem Spaziergang. Sie waren einfach da. Und ab dieser Zeit begleiten sie die Autorin auf ihrer Reise zu sich selbst und zu ihrer Weiblichkeit genauso wie McErlane die Leser*innen mit den Lehren der weisen Frauen begleitet, damit gerade Frauen wieder zu ihrer Urkraft finden. Sie nennt diese weibliche Urkraft nach der asiatischen Lehre Yin und die männliche Yang.

Nach den Botschaften der weisen Frauen, die die Autorin durch schamanische Reisen empfängt, leidet unsere Welt an einem Übermaß an Yang, welches völlig außer Kontrolle geraten ist. Sie vergleicht diese Kraft mit einem Stier, der gegen eine Kette wütet, die zum Zerreißen gespannt ist. Dagegen wird das weibliche Yin gering geschätzt und ist deswegen unterrepräsentiert. Das Yin vergleicht die Autorin mit den Wurzeln eines Baumes, die den Baum aus dem Feuchten und der Erde nähren und stärken. Die Yang-Welt ist zur Zeit vom Yin abgeschnitten; sogar viele Frauen leben Yang. Aber beide Geschlechter leiden unter diesem extremen Ungleichgewicht.

Deshalb seien nach der Autorin die Großmütter in ihr Leben getreten, um die Yin-Kraft wieder in den Frauen zu verankern. Die Großmütter verdeutlichen, dass Yin und Yang nur scheinbar Gegensätze sind, denn das eine trägt den Samen des anderen in sich. Yin soll in der heutigen Zeit Yang neu ordnen, denn Energie stagniert und wird gestaut, was die Probleme der Welt verursacht. Wenn es keine Bewegung gibt, gibt es kein Leben.

Yin und Yang formen sich gegenseitig, indem sie in ihrem natürlichen Fluss aneinanderstoßen. Die Welt soll wieder zurückkehren zum Genährtsein, zur Liebe und zur Geborgenheit der Mutter. Eroberung und Aggression seien schon so weit getrieben worden wie möglich, ohne alles Leben zu zerstören. Die Energie müsse sich wieder dem Erhalt des Lebens zuwenden. Mitgefühl, Hingabe und Verständnis seien jetzt wichtig, ebenso Vertiefung des Mitgefühls zur Weisheit anstatt Anhäufung von Wissen. Anstrengung und Sein müssten wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Yang sei jetzt müde und überspannt. Außerdem gebe es keine Anerkennung für den weiblichen Aspekt Gottes. Die Frauen sollen ihre eigene göttliche Natur wieder erkennen. In diesem Zusammenhang unterliegen Großmütter nicht mehr dem Kampf, sondern halten ihre Familie und fördern das Gute im Leben. Die Eigenschaft des selbstlosen Gebens einer Großmutter sei das, was die Erde jetzt braucht.

Die weisen Frauen betonen, dass alle miteinander verbunden sind und nennen diese Verbundenheit das Gewebe des Seins, in denen sich die Fäden der Lebewesen miteinander verweben. Hastende Menschen – das sei falsch. Ebenso die Art und Weise, wie (Nutz-)Tiere gehalten und (Nutz-)Pflanzen zum Wachsen genötigt werden. Haustiere seien wichtig, weil sie uns mit der Erde verbinden, das Herz nähren und ihm Frieden geben. Gottesdienst ist die Liebe und Fürsorge, die wir einem Lebewesen, egal ob Mensch, Tier oder Pflanze, angedeihen lassen. Einander lieben sei die einzige Tat, die zählt.

Der Lebensbaum werde heute nicht als Einheit betrachtet, was Probleme verursacht. Der Lebensbaum gibt jeder/jedem seine ganz spezielle (Lebens-)Frucht. Wenn diese gewürdigt wird, blüht man und trägt Früchte. Mit Machtkämpfen zwischen Männern und Frauen solle man keine Zeit verschwenden, denn der ganze Baum braucht Fürsorge. Wenn die Äste (Yang) abgeschnitten oder die Wurzeln (Yin) abgeschnitten werden, stirbt der Baum. Alle seien eins mit dem Baum des Lebens.

Außerdem zeigen Die Großmütter der Autorin den Wert des Tanzes, des Spielens und des Singens. Frauen können sich auch einen eigenen heiligen Ort z.B. in ihrer Wohnung einrichten, an dem sie Ehrerbietung üben können und so einen Kraftort schaffen. Dabei sind die Art der Gebete und die Zeremonien egal, solange sie dem selbstlosen Geben dienen. Auf diese Art führen alle Wege zu Gott, kein Weg ist schlechter als der andere. Aus solchen Gebeten komme Liebe in Aktion. Es sei an der Zeit, dass Yin und Yang sich umarmen.

Einfach man selbst zu sein, anstatt ständig zu tun; langsam gehen und tief gehen. Weisheit zeige sich, wenn das Ego verstummt. Liebe allein bringe Weisheit, während Weisheit eine tiefere Liebe hervorbringt. Weisheit komme nicht aus dem Verstand, sondern aus dem Herzen. Unter den Exzessen des Yang liege Harmonie auf der Erde. Deshalb solle man auf den Rhythmus des Lebens vertrauen und mit ihm tanzen.

 

Zurück zum Gleichgewicht

Mich persönlich erinnert das alles an das, was über das Patriarchat und das Matriarchat gesagt wird. Das Patriarchat hat viel Unheil angerichtet, das wieder ins Lot gebracht werden muss. Es schadet, wie die Großmütter in ihren eigenen Lehren festgestellt haben, nicht nur den Frauen, sondern auch den Männern. Ohne die Achtung voreinander und für die Umwelt, ohne Gleichgewicht und gegenseitige Wertschätzung geht die Welt zugrunde. Das kann man aus den Forschungen zum Patriarchat, Matriarchat und auch hier aus den Lehren der Großmütter mitnehmen.

Im Buch sind noch Übungen angeschlossen, die schon im Hauptteil des Buches erwähnt werden, und die die Verbundenheit zu sich selbst und allen Lebewesen verstärken sollen.

Die Wahrheiten, die die Großmütter verbreiten, sind mit den gesunden Menschenverstand sehr gut nachzuvollziehen und übereinzubringen. Man kann sich angesichts der Zustände auf der Erde nur immer wieder an den gesunden Menschenverstand erinnern bzw. sich erinnern lassen. Das tut dieses Buch.

Das Einzige, was mir nicht so gut gefällt, aber das ist wohl eine Sache der Persönlichkeit, ist die fast schon devote Art und Weise, wie sich die Autorin vor den weisen Frauen unterwirft. Auf der anderen Seite erinnert das sehr daran, dass es immer noch nicht gern gesehen wird, wenn Frauen in natürlicher Weise selbstbewusst sind. Auch McErlane muss dieses Selbstbewusstsein wiedergewinnen; und in dem Buch sieht man den Prozess, den sie durchläuft, um wieder zu sich selbst und ihrer Weiblichkeit zu kommen. Das kann andere Frauen ermutigen, diesen Prozess ebenfalls anzustoßen.

 

Fazit

Lesenswertes Buch über das Patriarchat und das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern.


Illustrated by Neue Erde

Ghostly Things 2

Mystery mit Nachhaltigkeit

Die Oberschülerin Yachiho hat sich mittlerweile in ihrem neuen Zuhause eingelebt und hilft Moro, dem Wächter der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, bei der Arbeit. Eines Morgens aber überrascht sie die Nachricht, dass ihr Vater kurzfristig nachhause kommt. Von ihm erfährt sie, dass ihre Mutter nach dem verschwunden Professor Tachibana gesucht hat. Yashiho vermutet daraufhin, dass ihre Mutter vieleicht ins Jenseits gegangen ist. Nachdem ihr Vater wieder fortreisen muss, erhält Yashiho einen neuen Lehrer an der Schule: Es ist ausgerechnet Herr Kamo, der Naturgeister zwar auch sehen kann, ihnen aber eher feindlich gesonnen ist. Außerdem kommt ein neuer Naturgeisterjäger hinzu, der diese wie Kamo ebenfalls nicht respektiert: Komei. Yashiho dagegen will immer erst die Gründe für das Handeln der Naturgeister herausfinden, bevor sie einschreitet. So ermöglicht sie einem Spötter einen letzten Gefallen, dämmt diplomatisch die Fähigkeiten der Wasserspender ein und hilft dem Torwächter auf der Suche nach dem Spiegel ins Jenseits.

 

Erst ganzheitlich denken, dann handeln

Wie auch schon im ersten Band gibt es tatsächlich eine Art weibliches und männliches Denken: Kamo und Komei stehen der Natur eher feindlich gegenüber und betrachten sie unter der Kosten-Nutzen-Rechnung. Sie wollen die Natur unterwerfen und sie sich zunutze machen. Gelingt dies nicht, wollen sie sie zerstören. Yashiho dagegen denkt ganzheitlich. Sie will der Natur ihren angestammten Platz lassen und hilft ihr, wo sie kann. Sie will Probleme nicht niederringen, sondern eine Lösung finden, die für alle Beteiligten gut ist. Das macht zwar kurzfristig mehr Arbeit und erfordert Einfühlungsvermögen und weitreichendes Denken, aber dafür sind Probleme endgültig geklärt und nicht nur verschoben oder unterdrückt. Yashiho sieht hinter die Fassade und ist in ihrem ganzen Denken und Handeln Vorbild, auch weil sie alleine lebt und ihren Alltag in all seinen Facetten meistert.

Der Gegensatz dieser beiden Denkweisen ermöglicht die Spannung der Geschichte. Aber auch die Geister an sich, die der japanischen Mythologie entnommen und harmonisch in den Manga eingewebt werden, erzeugen Spannung. Der Manga enthält als Extra Infos zur Mythologie der einzelnen eingeführten Wesen. Die Zeichnungen selbst unterstützen sehr gut und flüssig die Geschichte, sind an passender Stelle dynamisch und untermalen die Stimmungen der Szenen und Figuren gekonnt.

Insgesamt eine runde Sache.

 


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen Manga!

Haushalt im Griff – Einfach, schnell und nachhaltig

Haushalt im Griff - Verbraucherzentrale NRW; Frey, CarinaHaushalt praktisch und nachhaltig mit gut verständlichem, reichhaltigem (Detail-)Wissen

Autorin Corina Frey möchte mit ihrem Buch die Verbraucher*innen für ihre Eigenverantwortung sensibilisieren: für sich selbst, die eigene Gesundheit, die Umwelt. „Im eigenen Haushalt entscheiden wir, mit wie viel Chemie wir uns umgeben, wie viele Zusatzstoffe wir essen, wie sparsam wir mit Ressourcen umgehen.“ Weniger ist oft mehr, so ihr Slogan, denn die Industrie will uns immer verleiten, mehr auszugeben als nötig. „Dieses Buch zeigt die Tricks und falschen Versprechen. Das macht Einkaufen nicht immer einfacher. Es schützt aber davor, dass wir uns hinterher übers Ohr gehauen fühlen. Und spart am Ende Geld, das sich weit sinnvoller ausgeben lässt.“ Wenn schon die anderen Argumente nicht ziehen sollten – den eigenen Geldbeutel schonen will so gut wie jede*r.

Um das Buch übersichtlich zu gestalten und Leser*innen durch die Texte zu navigieren, ist es mit einfachen Symbolen versehen, werden häufige Fragen an den Anfang gestellt, die Texte ergänzt mit separat aufgeführten Tipps wie den 10 goldenen Einkaufsregeln oder der Frage, wie man am besten Müll vermeidet.

Das Buch ist unterteilt in folgende Kapitel: „Das kommt in die Tüte: Einkaufen und Aufbewahren“, „Kochen und Backen: Zaubern in der Küche“, „Kleiderpflege“, „Einfach sauber: Putzen“, „Das Nicht-Alltägliche: Hilfe, ich muss…“, „Anhang“. Die angeführten Hauptkapitel sind wieder unterteilt in viele, interessante Unterkapitel wie z.B. „Was tun gegen Lebensmittelverschwendung“, „Speisen zubereiten – ganz praktisch“, „Gut gewappnet: Die Vorräte“, „Ausmisten – weggeben“, „Was zum Putzen wirklich notwendig ist“ oder „… meine Wohnung in einer halben Stunde vorzeigbar machen“.

Auch wenn sich diese Kapitel möglicherweise wenig spektakulär anhören: Die Autorin gibt ein detailreiches, aber dennoch gut verständliches Wissen weiter, das immer wieder den ein oder anderen neuen Tipp oder die ein oder andere neue Information bereithält. Ich persönlich dachte, dass ich eigentlich schon gut informiert sei, habe aber in diesem Buch immer mal wieder Neues entdecken können.

Außerdem erschrecken zumindest mich die Zahlen, die den Verpackungsmüll betreffen. Laut Frey verbucht nämlich jede*r Deutsche 226, 5 Kilogramm Plastik pro Jahr. Damit ist Deutschland Spitzenreiter in Europa. Sie weist außerdem darauf hin, dass v.a. Lebensmittel in Kunststoff verpackt werden – und zwar üppig. Allein die To-go-Kaffeebecher reichen aneinandergereiht von Frankfurt nach Kalabrien. Ebenfalls erschreckend sind die Erkenntnisse über Verpackungsanteile im Essen: Reste von Druckfarben und Klebstoffen finden sich ebenso in Leebnsmitteln wie Mineralölbestandteile, Weichmacher oder BPA, z.B. in Recyclingkartons; oder Metalle in Konservendosen. Ein hoher Fettgehalt begünstigt übrigens den Übergang von BPA in Lebensmittel. Verpackungen aus Glas seien am besten, weil dort der Übergang von unerwünschten Stoffen in Lebensmittel am geringsten sei. Ansonsten frische Lebensmittel kaufen oder TK-Lebensmittel. Ebenso unappetitlich sind hormonell schädigende Stoffe und Plastik in Kosmetika. Da sollte man auf Naturkosmetik ausweichen. Frey setzt außerdem auf natürlich(er)e Stoffe im Haushalt: Essig/Zitronensäure, Soda und Natron ersetzen chemische Putzmittel. Sie gibt an, wofür diese geeignet und ungeeignet sind. Ansonsten reichen ihrer Meinung nach nur wenige ausgesuchte Putzmittel für die gesamte Wohnung aus.

Außerdem gibt sie Tipps, wie man mit einfachen Gerichten große Mengen kocht, um so den Einkauf der in mehrerlei Hinsicht unguten Fertiggerichte zu vermeiden. Denn diese kosten (zu) viel Geld, enthalten (zu) viel Fett, Salz, Zucker und Inhaltsstoffe. Des Weiteren sortiert sie schon vor, wenn es z.B. um die Küchenausstattung geht: Was braucht man wirklich und was ist unnötig? Welche Dinge in der Küche putzt man selten, sind aber z.B. Keimträger? Heißt „regional“ wirklich „nahe“? Expertenmeinungen, Alltagserfahrungen von Blogger*innen und weitere farblich abgehobene Texte in eigenen Blöcken vertiefen die Texte.

Die Bilder zu den Texten sind bunt und einfach gehalten. Meist kommen sie neutral daher: Die Verbraucherzentrale scheint sich darum bemühen zu wollen, Rollenklischees zu vermeiden. Trotzdem tappt sie bei einigen wenigen Bilder in die Klischeefalle: Nur ein Mann und eine Figur, die man als neutral bezeichnen könnte, sind bei Haushaltstätigkeiten zu sehen – dafür aber drei Frauen.

Fazit

Insgesamt gesehen ein sehr gut verständliches Buch über praktisches und nachhaltiges Haushalten mit tiefgehendem, sehr gut zusammengefasstem Wissen, das auch gut informierten Verbraucher*innen noch neue Informationen vermitteln könnte. Ein gelungener Haushalts-Rundumschlag!


Illustrated by Verbraucherzentrale

Der schmale Pfad durchs Hinterland

Beklemmende Lektüre

Für den Roman «Der schmale Pfad durchs Hinterland» erhielt der tasmanische Schriftsteller Richard Flanagan 2014 den britischen Booker Prize. Inhaltlich stützt sich die Geschichte auf Erlebnisse seines Vaters, der im Zweiten Weltkrieg als Kriegsgefangener in einem japanischen Arbeitslager beim Bau der ‹Todeseisenbahn› quer durch den Dschungel von Thailand und Burma eingesetzt war. Damit greift er eine Thematik auf, die weltweit durch die Verfilmung von Pierre Boulles Roman «Die Brücke am Kwai» bekannt geworden ist.

Held des Romans ist Dorrigo Evans, ein vielversprechender junger Chirurg, der sich zum Militär gemeldet hatte und von den Japanern nun als Lagerarzt an der Bahnstrecke einsetzt wird. Unter unmenschlichen Bedingungen schuften dort mehr als tausend Gefangene an einem Teilstück der vom Kaiser höchstpersönlich angeordneten, militärisch wichtigen Nachschublinie, die in ihrer Dimension einem ‹Pharaonenprojekt› gleicht. Die Soldaten der Alliierten stoßen dabei auf einen japanischen Patriotismus, bei dem Gefangenschaft als schändliche Schwäche gilt. Eine fanatische Denkweise, denn ein Soldat ergibt sich nicht, er kämpft für seinen Kaiser bis zum ehrenvollen Tod. Was da im Urwald passiert, verhöhnt die Genfer Konvention, die Gefangenen werden wie Vieh behandelt. Sie sind in einem erbärmlichen Zustand, die Cholera bricht aus, sie sterben wie die Fliegen. Ihr baldiger Tod ist absehbar für den Lagerarzt, mangels Medikamenten und medizinischen Instrumenten kann er ihnen aber auch kaum helfen. Gleichwohl muss er sie als arbeitsfähig einteilen, um die vom Kommandanten jeweils geforderte Zahl von Arbeitskräften bereitzustellen, auch Schwerkranke sind dabei. Jeder tote Gefangene ist nämlich ein guter Toter für die Japaner, sein Leben ist rein gar nichts wert, sein Tod erlöst ihn vielmehr von seiner Schmach.

Eingebettet in diese später als Kriegsverbrechen geahndeten Gräuel ist eine tragische Liebesgeschichte, die sich wie ein roter Faden durch das Leben von Dorrigo zieht. Obwohl er verlobt war, hatte er sich kurz vor seinem Kriegseinsatz unsterblich in Amy, die junge Frau seines Onkels verliebt, für Beide die Liebe ihres Lebens. Während der Gefangenschaft erhält er einen Brief von seiner Verlobten Ella, die ihm einen Zeitungsausschnitt mitschickt, aus dem hervorgeht, dass Amy bei einer Gasexplosion im Hotel seines Onkels ums Leben kam, man hatte sie anhand des Gebisses identifiziert. Am Ende kommt es zu einer Katharsis, die in ihrer berührenden Tragik an große antiken Dramen erinnert. Weite Teile des auktorial erzählten Romans widmen sich jedoch den unsäglichen Verhältnissen, unter denen der Arzt und die Gefangenen dahinvegetieren. Angesichts der ausufernd und detailliert geschilderten, sadistischen Gräueltaten und der jede Vorstellungskraft sprengenden, unbehandelt bleibenden Verletzungen sind starke Nerven erforderlich beim Leser, wenn er nicht gerade zu den abgehärteten Fans von Horrorgeschichten gehört.

Nach dem Krieg macht der als Held verehrte Dorrigo eine glänzende medizinische Karriere, der Roman beginnt mit den Erinnerungen des nunmehr 77jährigen Witwers. Die erweisen sich jedoch oft als lückenhaft und unsicher. Voller Empathie und weit ausgreifend werden in diversen Episoden menschliche Schicksale aus dem Gefangenenlager geschildert. Aber auch über das weitere Leben des sadistischen Kommandanten und seiner brutalen Mittäter nach Kriegsende wird berichtet. Die Schlüsselfrage, die dieser Roman stellt, richtet sich auf den Sinn des Überlebens in Anbetracht der Schuld, die man dabei auf sich geladen hat. Im Interview betonte Flanagan, «dass Hoffnung der Antrieb des Lebens ist», und fügte hinzu, «für einen Geschichtenerzähler ist die größte Hoffnung die Liebe». Er interpretiert sein Buch als Liebesroman, für den er leitsymbolisch eine rote Blume einsetzt. Wie auch immer, diese beklemmende Lektüre dürfte als virtuos erzähltes Wechselbad zwischen schlimmstem Gräuel und ewiger Liebe lange nachwirken.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Mutige Seelen: Planen wir unsere Lebensaufgabe bereits vor der Geburt?

Schwartz | Mutige Seelen | 2015 | Heyne Taschenbuch | Ratgeber | Heyne-Bücher Allgemeine ReiheVorgeburtliche Lebensplanung

Unfälle, Tod, schwere Krankheiten, Behinderungen, Drogen, Alkohol – es gibt viele Menschen, die von diesen Dingen mittelbar oder unmittelbar betroffen sind. Autor Robert Schwartz untersucht, ob diese Leiden reiner Zufall, sinnlos oder gar gottgebene Strafen sind. Anhand von mehreren beispielhaften Fällen zeigt er auf, dass diese Leiden seiner Ansicht nach Sinn haben. Eine dieser Menschen ist die schwarzhäutige Penelope, die taub zur Welt kam und darunter litt. Aber sie hat sich als junge Frau zum Ziel gesetzt, anderen Gehörlosen zu helfen, indem sie Gebärdensprache unterrichtet. John ist schwul und an AIDS erkrankt. Er wuchs in einer Gegend auf, die nicht nur diese Krankheit ächtet, sondern auch ethnische Minderheiten und Homosexuelle. Er leidet unter der Verachtung und Geringschätzung. Sharon ist Mutter eines drogenabhängigen Sohnes. Als ihr Sohn nach einer Überdosis im Sterben lag, schwor sie sich, anderen zu helfen, wenn er überlebt. Valerie verlor schon früh Sohn und Geliebten. Sie ertränkte ihren Kummer in der ersten Zeit in Alkohol und fragte sich, warum alles so schwer sein muss. Christina erlitt schwere Verletzungen durch eine Briefbombe. Aber anstatt aufzugeben, schlug sie einen neuen Lebensweg ein: Sie wurde Logopädin und half damit vielen Menschen.

Robert Schwartz hat in Gegenwart von Christina und den anderen “Gebeutelten” Medien zum schweren Schicksal dieser Menschen befragt und herausgefunden, dass fast alle ihren Lebensweg als Seele vor ihrer Geburt geplant hatten, um in ihrem Leben eine Entwicklung zu einem besseren Menschen zu durchlaufen und um Karma abzutragen. Er ist nach den Sitzungen mit den Medien und durch ein paar seiner Gesprächspartner*innen, die hellwahrnehmend sind, zu der Auffassung gelangt, dass Seelen inkarnieren, um Erfahrungen zu sammeln und sich durch diese Erfahrungen weiterzuentwickeln. Meist scheint die Seele durch Gegensätze zu lernen. Da sie z.B. im Jenseits keine negativen Gefühle empfinden kann, wird sie im irdischen Leben mit Hass konfrontiert, um den Wert der Liebe, der in der geistigen Welt selbstvertändlich ist, kennen- und schätzen zu lernen. Sie erfährt dieses Gefühl durch das Gegenteil davon viel tiefer und in all seinen Aspekten.

 

Lernen von Liebe, Selbstwert, usw. durch die Erfahrung des Gegenteils

Das Buch ist sehr gut verständlich und flüssig geschrieben. Schwartz erklärt in den ersten Kapietln, wie er arbeitet und was man unter vorgeburtlicher Planung versteht. Dann umreißt er in den einzelnen Kapiteln die Lebensunstände seiner Interviewpartner*innen und gibt recht ausführlich die Sitzungen mit den Medien wieder, in der die Gründe für die Schicksalsschläge erläutert werden. Diese rühren oft von früheren Leben her, dienen aber insgesamt der Weiterentwicklung der Seele und deren Seelengruppe.

Schwartz versucht klar zu machen, warum sich Seelen für schwierige Lebenssituationen entscheiden. Oft gelingt ihm das auch, aber manchmal habe ich mich als Leserin gefragt, wie Grund A zu Schwierigkeit B führen konnte, da mir der Grund nicht plausibel genug erschien. Ich habe nach dieser Lektüre auch den Verdacht, dass die Seelen womöglich aufgrund des Fehlens der Negativität gar nicht wissen, worauf sie sich da einlassen (und von ihren Seelenbegleiter*innen oft auch gewarnt werden), und dann in ihrem Leben in der unmittelbaren Erfahrung einen Schock erleben. Trotzdem scheint das Wissen, dass sie alles selbst geplant haben, dazu beizutragen, mit ihrem Schicksal Frieden zu schließen und einen besseren Lebensweg einzuschlagen. Manche dieser Interviewpartner*innen sind auch selbst hellwahrnehmend begabt, sodass sie schon vorher wussten, dass sie sich ihr Schicksal ausgesucht hatten.

Mir persönlich stellt sich trotz aller Versuche, das Schicksal als gewollt und Grausamkeiten als Akte der Liebe zu erklären, die Frage, ob es nicht auch andere, genauso effektive Wege gibt zu lernen als nur der Leidensweg. Es mag für viele eine ausreichende Erklärung sein, aber ich habe nach der Lektüre noch mehr Fragen als vorher.

 


Illustrated by Heyne München