Dunbridge Academy – Anywhere

Dunbridge Academy - Anywhere - Sarah Sprinz - PBNeuanfang in Schottland

Die deutsche Gymnasiastin Emma hat sich entschieden, als Austauschschülerin für ein Jahr nach Schottland auf die Dunbridge Academy zu gehen. Ihre vielbeschäftigte Mutter freut sich, denn sie war ebenfalls Schülerin des renommierten Internats, das für eine gute Zukunft seiner Schüler*innen steht. Aber Emma geht nicht nur aus Bildungsgründen nach England – sie will ihren verschollenen Vater finden, der die Familie vor einigen Jahren verlassen hat, und ihm einige für sie wichtige Fragen stellen. Da ihr Vater ebenfalls die DA besucht hatte, erhofft sie sich Hinweise vor Ort, um ihn suchen zu können.

Womit sie nicht gerechnet hat: Sie entwickelt Gefühle für ihren Mitschüler Henry. Aber Henry ist schon vergeben und scheint mit seiner Freundin Grace ein perfektes Paar zu bilden. Aber dieser Schein trügt, denn Grace vergöttert zwar ihren Freund, aber Henry hat sich innerlich schon von ihr entfernt. Um alles noch komplizierter zu machen, scheint ein griesgrämiger Lehrer Emma vom ersten Tag an auf dem Kieker zu haben. Aber er könnte auch etwas mit der Vergangenheit ihrer Eltern zu tun haben. Emma beschließt, diese wenn auch schwierige Chance zu nutzen, um ihren Vater zu finden.

Wirklich schwierig wird es für Emma, Henry und ihre Freund*innen, als Henrys Schwester stirbt. Henry fällt in tiefe Depressionen, die ihn zu verschlingen drohen.

Ernste Themen in „trivialem“ Gewand

Der in sich abgeschlossene Band (er behandelt vordergründig die romantische Beziehung zwischen Emma und Henry) ist Teil einer Reihe. Als Extra ist eine Karte der DA beigelegt. Eigentlich zur Belletristik und eher zur Trivialliteratur zählend, ist allerdings nur die Rahmenhandlung „trivial“, weil sie eine romantische Beziehung behandelt. In diese eingebettet sind erste Themen: Tod, Trauer, Trauerbewältigung, Verlust, Substanzmissbrauch und Abhängigkeit, die plausibel entfaltet werden, auch wenn man stellenweise den Eindruck hat, dass die Teenager zu erwachsen handeln.

Ebenso wird das Thema alleinerziehende Familien und deren Konsequenzen angesprochen: der Verlust, den die Kinder verarbeiten müssen, der fehlende Vater, die immerzu beschäftigte Mutter, das frühe Aufsichalleingestelltsein, die schmerzlichen vielfältigen Gefühle der Kinder. All dies wird am Beispiel von Emma thematisiert, die versucht, ihre schmerzliche Vergangenheit aufzuarbeiten, indem sie ihren Vater, und damit Antworten, sucht. Der Wert von Freundschaften vor allem in schwierigen Zeiten wird ebenfalls thematisiert.

Insgesamt hat dieser Roman Züge eines Entwicklungsromans: Die Heldin (aber auch die Freund*innen) ziehen aus, um erwachsen zu werden / sich weiterzuentwickeln, und müssen auf ihrem Weg Schwierigkeiten meistern. Die Teenagerzeit hält viele Herausforderungen bereit, die ebenfalls zu diesem Weg zählen und im Roman angesprochen werden. Dass all dies nicht ohne Irrungen und Wirrungen, Fehler und Stolperfallen abgehen kann, zeigt der Roman immer wieder – das macht ihn für die junge Leserschaft plausibel und nachvollziehbar. Sie können sich wahrscheinlich gut mit den Held*innen identifizieren. Lösungen werden ebenfalls geboten, auch wenn die ein oder andere Lösung im ersten Moment nicht im Sinne der Held*innen ist.

Allerdings frage ich mich, warum die Haupthandlung meist im (englischsprachigen) Ausland stattfinden muss – in Deutschland würden sich die Themen doch ebenfalls gut umsetzen lassen. Die Anlehnung an englisch- bzw. amerikanischsprachige Kultur soll wohl Verkaufsargumenten dienen. Was schade wäre.

Insgesamt empfohlen.


Genre: Jugendroman, Tod, Trauer, Verlust
Illustrated by LYX

Der Erinnerungsfälscher

Mehr Realität als Fälschung

Der neue Roman «Der Erinnerungsfälscher» von Abbas Khider ist ein gelungenes Werk der Migranten-Literatur, weil es dem Autor auch hier wieder gelingt, die durch das Erzählte ausgelöste Betroffenheit des Lesers durch Humor abzumildern. Der 1973 in Bagdad geborene Schriftsteller fand nach langer Flucht im Alter von 27 Jahren in Deutschland Asyl, machte in Potsdam Abitur und studierte Literatur und Philosophie. Obwohl er Flucht und Exil als sein literarisches Programm bezeichnet hat, seien seine Werke nicht autobiografisch. Sie sollen vielmehr als Teil der Gegenwarts-Literatur die Befindlichkeiten seiner Generation wiedergeben, wobei die deutsche Sprache ihm dabei eine gewisse Distanz zum Inhalt gewähre.

Der Anruf seines Bruders aus Bagdad erreicht Said Al-Wahid im ICE auf dem Heimweg von einem Podiumsgespräch in Mainz: «Komm so schnell wie möglich her!» Die Mutter des Schriftstellers (sic) liegt im Sterben, kurz entschlossen disponiert er um, findet mit dem Smartphone einen Flug ab Frankfurt und informiert seine Frau in Berlin. «Zum Glück hat Said seinen Reisepass dabei». Eine anlasslose Personen-Kontrolle in München nämlich, bei dem er ihn einmal nicht dabei hatte, mit einer anschließenden Nacht in Polizeigewahrsam, wird ihm lebenslang eine Lehre bleiben. Er trägt ihn  nun immer bei sich, sogar im Supermarkt. In Rückblenden erzählt Abbas Khider nicht nur von den haarsträubenden Erlebnissen seines Protagonisten als Asylant in Deutschland, sondern auch von der vierjährigen Odyssee des jungen Irakers auf der Flucht über Jordanien, Libyen und Griechenland nach München. Bei der Machtergreifung Saddam Husseins wurde Saids Vater hingerichtet. Nach Sturz des Diktators 2003 verlor er in den nachfolgenden Bürgerkriegs-Wirren durch ein Bombenattentat auch noch seine Schwester mitsamt ihrer Familie. Für ihn war der Irak damals wieder «bärtig und verschleiert» geworden, wie es im Buch heißt, eine gelungene Metapher für die sarkastische Wertung der restriktiven politischen Umwälzungen, zurück ins Mittelalter!

Breiten Raum nehmen vor allem die an Spiegel-Fechtereien erinnernden Kämpfe des jungen Mannes mit der «schattigen Hautfarbe» bei seinen Bemühungen um eine unbefristete Aufenthalts-Erlaubnis mit den deutschen Behörden ein. Erst nach dem Einschalten einer entsprechend spezialisierten Anwaltskanzlei bekommt er mit allerlei Verfahrens-Tricks und viel Geld das ersehnte Dokument. Als er mit seiner deutschen Frau einen Sohn bekommt, löst dies eine nicht minder absurde Farce um die Geburtsurkunde für das Baby aus. Bezeichnend für die Verhältnisse im Irak des Jahres 2014 ist die dringende Aufforderung seines Bruders, nach der Beerdigung aus Sicherheitsgründen sofort wieder zurück zu fliegen. Und alles was Said dort selbst sieht und miterlebt bekräftigt nur diesen brüderlichen Ratschlag. Ihm wird erschreckend klar, dass dies nicht mehr sein Land ist, – und Deutschland es wohl nie wird werden können!

Nebenbei wird auch von Saids Problemen erzählt, Schriftsteller zu werden, denn seine Erinnerungen sind derart löcherig, dass er irgendwann nichts mehr zu Papier bringt. Ein Arzt rät ihm zu einer psycho-therapeutischen Behandlung, er sei hochgradig stigmatisiert durch Folter und Flucht. Said entschließt sich, nicht in seinem Unterbewusstsein herumstochern zu lassen aus Angst, was dabei zum Vorschein kommen könnte. Er bevorzugt es vielmehr, die Verfälschung der Erinnerung durch das kreativ Ergänzte oder Veränderte wie real Erinnertes zu behandeln, – und siehe da, er kann wieder schreiben! Verdeutlicht wird diese literarische Vorgehensweise durch Patrick Süskinds Novelle «Die Taube», die Said im Roman mehrfach anfängt zu lesen. Das Buch kommt ihm aber immer wieder abhanden, ehe er es ganz zuletzt doch komplett liest, – ohne Zweifel eine gelungene Metapher für sein eigenes Trauma. Diese schnörkellos erzählte Geschichte enthält jedenfalls mehr Realität als Fälschung, wie sie der Buchtitel dem Leser suggeriert.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

The Gender of Mona Lisa 2

The Gender of Mona Lisa 2Einfach nur ich selbst sein…

Hinase ist verwirrt von all den Gefühlen, die auf sier einprasseln. Shiori und Ritsu haben Hinase ihre Liebe gestanden und Hinase bemerkt an sich selbst sieren Reaktionen, dass sier die beiden ebenfalls nicht gleichgültig sind. Allerdings kann sier diese Gefühle nicht einordnen und fragt sowohl Ritsu als auch Shiori, was denn der Unterschied zwischen der einen und der anderen Liebe ist. Und eigentlich wünscht sich Hinase nichts sehnlicher, als dass alles so bleibt wie es ist – und dass v.a. sier so bleiben darf, wie sier ist! Währenddessen sucht Hinases Arzt verzweifelt nach einer Möglichkeit, die es erlaubt, dass Geschlechtslose das 20. Lebensjahr überleben, denn bisher sind alle, die sich noch nicht für ein Geschlecht entschieden hatten, spätestens zu diesem Zeitpunkt gestorben. Die Todesursache könnte einen Hinweis geben: Alle sind an einem Unfall, durch Mord, Krankheit, Erschöpfung oder Selbstmord gestorben. Auch Hinase erleidet einen Unfall, bei dem nicht klar ist, ob sier ihn überlebt…

Ungesunder Gesellschaftsdruck – es gibt hier nur ein „entweder – oder“, kein „sowohl – als auch“

In einer Welt, in der die Kinder bis zum 12. Lebensjahr keinem Geschlecht zugeordnet werden, weil sie biologisch noch keines besitzen, wächst allerdings der Druck, sich zu entscheiden, je älter sie werden. Hinase spürt diesen Druck, will aber, dass alles so bleibt, wie es ist, weil sier sich damit wohlfühlt. Nur der Druck behagt siem nicht. Er führt zu ungewolltem Entscheidungsdruck und verwirrten Gefühlen, die gefährlich für die Geschlechtslosen werden, da sie völlig aus dem Gleichgewicht geraten.

Das erinnert an die Erzählungen von intersexuellen Menschen, die vielfältig darunter leiden, dass die Gesellschaft erstmal nur zwischen weiblich und männlich unterscheidet. Das fängt mit ungewollten geschlechtsangleichenden OPs in der Säuglingszeit an und endet mit der ständigen Konfrontation mit den sowieso schon ungesunden Rollenklischees, der Wahl der öffentlichen Toiletten und dem Gang zu Behörden. Geschlechtsneutralität bzw. freie Entfaltung der eigenen Sexualität und Geschlechtsidentität ist bis hin zum Spielzeug nicht vorgesehen.

Die Rollenklischees sind auch in diesem Manga eindeutig, nachdem sich die Kinder für ein Geschlecht entschieden haben: Mädchen sind in der Tendenz (es gibt auch Ausnahmen) klein und niedlich und achten sehr auf ihr Äußeres. Die Jungen sind groß, stark und sportlich. Es steht im Raum, ob auch diese enge Zuweisung Hinase wünschen lässt, dass sich an der eigenen Geschlechtsneutralität nichts ändert. Zudem hat sier so die Möglichkeit, beide Freund*innen zu lieben und muss sich auch hier nicht zwischen einer/einem von ihnen entscheiden.

Der Druck auf Hinase wird dadurch verstärkt, dass sich beide Freund*innen nicht vorstellen können, dass Hinase geschlechtslos bleibt. Sie wollen – heterosexuell konform – dass Hinase zum eigenen (heterosexuellen) Geschlecht passend entweder ein Junge oder ein Mädchen wird. Leser*innen ahnen schon, worauf das hinausläuft: Geschlechtslose sterben letztendlich wegen des gesellschaftlichen Normdrucks. Das erinnert auch an Transsexuelle, die zu ca. 50% Selbstmord begehen, weil sie in Gesellschaftsnormen gepresst werden sollen. Die, die so anerkannt werden, wie sie sind, überleben. Das sollte ernsthaft zu denken geben, auch und gerade wegen der (auch im Grundgesetz verankerten) Menschenwürde!

Ein nicht unwichtiges Detail findet sich in der Namensgebung der Charaktere: Yoshimura hat sehr darauf geachtet, japanische Namen zu finden, die beiden Geschlechtern gerecht werden.

Die Anspielung auf den namensgebenden Titel „Mona Lisa“ wird in einem Zusatzmanga besonders deutlich: Ritsu und Shiori unterhalten sich über Hinases verhaltene Gefühlsäußerungen, die beide an siem so anziehend und faszinierend finden. Diese gleichen dem feinen, aber ausdrucksstarken Lächeln der Mona Lisa.

Mit Bonusmangas.

Sehr empfohlen!


Genre: Manga, sexuelle Identität
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

Americanah

Dieses Buch ist anders. Aber genau deshalb kam es ja in die Auswahl. Warum nicht einmal ein Buch aus einem ganz anderen Kulturkreis lesen.

Die junge Autorin Chimamanda Ngozi Adichie ist Nigerianerin, hat viele Jahre ihres Lebens in den USA verbracht und pendelt auch heute noch zwischen den Welten. So trägt ihr Roman unverkennbar autobiografische Züge. Und bei diesem Lebenslauf ist sie eine, die – gesegnet mit einer herausragenden Wahrnehmung und verbalen Treffsicherheit – besser als manch anderer beurteilen kann, was es heißt, hier oder dort zu leben und zu lieben. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Kleine Paläste

Wenn Tote miterzählen

Es ist der Blick hinter die Fassaden jener im Buchtitel «Kleine Paläste» genannten Villen einer städtischen Bourgeoisie, mit dem Andreas Moster in seinem neuen Roman dem äußeren Schein eine eher erschreckende Realität im Innern gegenüberstellt. Dabei nutzt er das beliebte Motiv des Heimkehrers, der nach einem gravierenden Erlebnis das Elternhaus verlassen hat und nach Jahrzehnten dorthin zurückkehrt. «Es ist nicht das erste Mal, dass der Hund versucht, mich zu ermorden» heißt der erste Satz, und dieses Mal bleibt es nicht beim Versuch, der sechzig Kilo schwerer Bullmastiff namens Lupus bringt Sylvia Holtz auf der obersten Treppenstufe zum Straucheln, sie stürzt hinab. Das Notfall-EKG des Sanitäters zeigt nur noch einen Strich, wie sie selbst erzählt. «Lupus hat mich erwischt, endgültig» endet ihr Bericht aus dem erzählerischen Off über ihren eigenen Tod.

Sohn Hanno, der das Elternhaus 1986 im Streit mit dem Vater verlassen hat, ist nun 32 Jahre später gezwungen, zurückzukehren und sich um den dementen Vater zu kümmern. Carl Holtz hatte als Rechtsanwalt hohes Ansehen genossen, die Familie lebte in Wohlstand und konnte es sich leisten, das Haus von Carls Eltern nach deren Tod von Grund auf zu sanieren und aufwändig umzubauen. Sylvia hatte freie Hand dabei, die entkernte Villa wurde unter ihrer Regie völlig umgestaltet und nach ihrem Geschmack komplett neu eingerichtet, alles ist jetzt hell und luftig. Im September 1986 lädt das stolze Ehepaar Holtz Familie, Freunde und Nachbarn zu einer pompösen Einweihungsfeier ein, in deren Verlauf sich der pubertäre Sohn Hanno und die etwas ältere Nachbarstochter Susanne näherkommen, auch küssen will gelernt sein!

In jeweils mit den Jahreszahlen 1986 und 2018 überschriebenen Abschnitten wird abwechselnd von den damaligen Ereignissen erzählt und von der Gegenwart. Hanno hat sich all die Jahre wie ein fahrender Geselle in den verschiedensten Berufen betätigt, hat immer ‹von der Hand in den Mund› gelebt, ist alleinstehend geblieben und nie sesshaft geworden. Nun nimmt er es auf sich, den Vater selbst zu pflegen, obwohl er ja, wie er überlegt hat, das große Haus verkaufen und vom Erlös bequem ein erstklassiges Pflegeheim für ihn bezahlen könnte. Susanne hat ihr Elternhaus nie verlassen, ihre Eltern sind tot, sie ist ebenfalls alleinstehend, arbeitet in einem Supermarkt und wohnt noch immer nebenan. Von ihrem Fenster im Dachgeschoss hat sie all die Jahre immer wieder mit dem Fernglas das Nachbarhaus und Herrn Holtz beobachtet. Seit der Einweihungsfeier vor 32 Jahren betritt sie nun zum ersten Mal wieder dieses Haus, um Hanno bei der Pflege des Vaters zu helfen. Hanno lehnt das zunächst zwar halbherzig ab, ist dann schließlich aber doch heilfroh, dass sie diese ungewohnte Tätigkeit weitgehend übernimmt und sich auch noch um den inzwischen total verlotterten Haushalt kümmert. Und nun? Friede, Freude, Eierkuchen?

Mitnichten, denn allmählich wird deutlich, dass das Fest vor 32 Jahren ein dunkles Geheimnis birgt, in das Susanne schicksalhaft verstrickt ist. Mit steigender Spannung nähert sich die Erzählung dem alles entscheidenden Vorfall, bei dem Hannos Vater damals schwere Schuld auf sich geladen hat. Hannos Frage an den dementen Vater «Was wollte Susanne damals nicht» bleibt unbeantwortet. Susanne nimmt sich fest vor, nun endlich auf der Geburtstagsfeier für Carl Holtz erstmals zu berichten, was damals geschah. Im Kontrast zwischen seinem derzeitigen hilflosen Zustand und der unverzeihlichen Schuld, die er vor so langer Zeit auf sich geladen hat, entsteht ein psychologisches Spannungsfeld, das den Leser in Bann schlägt. Die durchgehend im Präsens erzählte Geschichte enthält zusätzlich eine mystische Komponente, wenn die verstorbene Sylvia gelegentlich auftritt und aus ihrer Jenseits-Perspektive berichtet. Am Ende hofft Susanne bei ihrer Flucht, auf ihrem vor Jahren entdeckten ‹steinernen Sessel› an der französischen Atlantikküste ihre Würde wiederzufinden.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Arche Zürich

Kleiner Mann – was nun?

Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun?

Kleiner Mann – was nun? Am Vorabend der Machtergreifung der Nazis in Deutschland geschrieben zeigt der hier erstmals in der ungekürzten Originalfassung veröffentlichte Roman die Sorgen des kleinen Mannes. Und seiner Frau. Exemplarisch dargestellt an dem Mandel Modehaus Verkäufer Johannes Pinneberg und – der liebevoll vom ihm mit “Lämmchen” liebkosten – Emma, einer klassischen Proletariertochter.

Die Roaring 20ies

Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben. Mit diesen Worten könnte man die Situation des frisch gebackenen Ehepaares Pinneberg umschreiben. Denn der Angestellte Johannes hat zwar eine Arbeit und Emma auch, aber als sie schwanger wird und der kleine Murkel erwartet wird, müssen sie den Gürtel immer enger schnallen. Die Wirtschaftskrise von 1929 hat auch sie im Würgegriff, alles ist teuer und die Löhne niedrig. Liebevoll und detailreich beschreibt Hans Fallada das Schicksal des Angestellten und der Arbeitertochter, die wenigsten ihren Klassenstolz noch nicht vergessen hat. Denn sie wählt ganz klar KPD, während ihr Mann eher zur Zentrumspartei oder den Sozialdemokraten neigt. Aber in Johannes’ Umfeld tummeln sich auch schon die Nazis, aber auch Vertreter verschiedenster Subkulturen der „Roaring Twenties“.

Berliner Bums und Pumm

So ist ein Kollege von ihm ein bekennender Freie Körper Kultur Verfechter, der Aktfotos sammelt. Der Vermieter des Ehepaares wiederum ist ein Trinker, der sie in einer illegalen Wohnung hinter einem Kinosaal unterbringt. Nur eine Leiter führt in die kleine Einzimmerwohnung, aber immerhin ist der Preis okay. Als der Lebensgefährte von Johannes’ Mutter, Jachmann, dort unterschlüpft, wird ihnen klar, wie geschützt sie in ihrer Dachkammer vor dem Zugriff der Welt sind. Jachmann ist es auch, der sie in das Berliner Nachtleben der Zwanziger einführt, ein Kapitel, das in der ersten Auflage einfach gestrichen wurde, ebenso wie Episoden zu Charlie Chaplin, Robinson Crusoe, Goethe, Wilhelm Busch und dem Prinzen von Wales. Der Erfolg des Buches damals gab den Streichungen zwar recht, aber dennoch ist es viel erquicklicher, endlich die unzensierte Version von Falladas Roman in Händen zu halten. Denn die Streichungen waren vielmehr “Tilgungen, die an die Substanz des Romans” gingen, schreibt auch der Gießener Literaturprofessor Carsten Gansel im Nachwort.

Neusachliche Ästhetik

Neue Sachlichkeit wird diese Kategorie der deutschen Literatur genannt, die als Epochenbegriff solche Schlagworte wie Antiexpressionismus, Präzision, Beobachtung, dokumentarisches Schreiben, Nüchternheit, Berichtform, Tatsachenpoetik und Entsentimentalisierung in sich vereint. Hans Falladas Ansatz ziele dabei auf eine “mimetische Illusion” im Rahmen der neusachlichen Ästhetik, so Gansel. Begeisterte Kritiken rief freilich auch die gekürzte Version des Kleinen Mannes hervor. So schrieb etwa der österreichische Autor und Herausgeber Paul Elbogen in einem Brief an Fallada: “Oh Fallada, der du hängest! Ich verdanke Ihnen eine halbe schlaflose Nacht! Ich habe Ihr neues Buch (als Ihr erstes) gelesen und eine Viertelstunde (alles in Allem) geweint wie seit Jahren nicht! Vielleicht seit dem Winnetou oder den “Glücklichen Menschen” von Kisten (das als einziges Buch sich mit ihrem in vielen Punkten vergleichen lässt.)

Fazit: Jedem sein Lämmchen

Auch über die positive Figur des Lämmchens waren sich viele Kritiker:innen und Leser:innen einig. Glücklich ein Mann, der so eine Frau hat: “Von diesem Lämmchen sollt ihr lernen, wie man dieses armselige Leben anpackt und es gestaltet und Ja zu ihm sagt. Wie man sich nicht kleinkriegen lässt, wie man auch im Schlimmsten noch das Gute sieht, das darin oder dahinter verborgen ist.” Ja, mit so einem Lämmchen ließe sich selbst die Wirtschaftskrise oder die Diktatur überleben. Letzteres gelang Hans Fallada, allerdings mit einer neuen Frau, die wie er seit Ende des Kriege wieder morphium- und alkoholsüchtig war. Fallada wurde deswegen im Dezember 1946 in die Nervenklinik der Berliner Charité eingewiesen. Dort schrieb er innerhalb (nur) eines Monats in miserablem körperlichen Zustand den Roman “Jeder stirbt für sich allein“. Fallada starb schließlich im Hilfskrankenhaus Niederschönhausen in einem umgestalteten Schulklassenzimmer am 5. Februar 1947 im Alter von nur 53 Jahren an den Folgen seines Morphinkonsums.

Hans Fallada
Kleiner Mann – was nun?
Roman. Erstmals in der Originalfassung
Mit einem Nachwort von
2017, Taschenbuch, 557 Seiten
ISBN: 978-3-7466-3344-2
Aufbau Verlag
12,99 €


Genre: Romane
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin

Erst grau dann weiß dann blau

Was nicht erzählt wird, gibt es nicht

Es ist nichts weniger als der Ausbruch in ein anderes Leben, den die holländische Schriftstellerin Margriet de Moor 1996 in ihrem Romandebüt «Erst grau dann weiß dann blau» als Motiv gewählt hat. Und zwar nicht in der sattsam bekannten Form vom Mann, der Zigaretten holen geht und nie wiederkommt, sondern von einer Frau, die plötzlich verschwunden ist und zwei Jahre später wieder da ist. Sie steht in der Küche und fragt ihren von der Arbeit heimkehrenden Mann, ob er draußen essen will bei dem schönen Wetter, – so als ob nichts gewesen ist, als ob sie sich erst morgens noch gesehen haben. Der eigentliche Skandal aber ist, dass Magda kein Wort dazu sagt, wo sie gewesen ist.

Ihren Mann Robert hat sie in Kanada kennen gelernt, er ist nach abgebrochenem Jurastudium Maler geworden. Als sie 1963 heiraten, bricht auch sie ihr Studium ab, folgt ihm in seine holländische Heimat. Bald schon besuchen die Beiden Roberts alten Freund Erik. Dessen hochschwangere Frau Nelli steht unmittelbar vor der Geburt und bringt noch in der Nacht Gabriel zur Welt. Das Kind leidet, wie sich schließlich herausstellt, an Autismus. Robert und Magda verlassen Holland nach kurzer Zeit wieder und kaufen in den französischen Alpen einen alten Bauernhof. Magda erleidet dort mehrere Fehlgeburten hintereinander und bleibt schließlich kinderlos. Elf Jahre später kehren sie nach Holland zurück, Robert übernimmt die vor dem Bankrott stehende Firma seines verstorbenen Vaters und wird ein erfolgreicher Unternehmer. Magda gelingt es, zu dem herangewachsenen Gabriel, der inzwischen in einer Behinderten-Einrichtung arbeitet, über dessen Begeisterung zur Astrologie eine enge Vertrautheit herzustellen. Er hat darin beachtliche Kenntnisse erworben, sie interessiert sich ebenfalls dafür und hilft ihm als Übersetzerin bei der Korrespondenz mit namhaften Sternwarten rund um den Erdball.

Der in vier Teile gegliederte Roman wird aus wechselnden Perspektiven erzählt, zunächst in der Ich-Form aus der von Erik. Darin wird das bittere Ende der Geschichte vorweg genommen. Im zweiten Teil wird geschildert, wie der plötzlich einsame Robert mit dem Verlassenwerden umgeht, wie er mit seinem ungewohnten Single-Leben zurechtkommt. Der dritte Teil beleuchtet in vielen Rückblenden das wechselvolle Leben von Magda, die 1938 in Tschechien geboren wurde, den Vater im Krieg verloren hat und mit ihrer Mutter über Berlin und Neapel nach Halifax in Kanada emigriert ist. In filmschnittartig aneinander gereihten Szenen erzählt die Autorin von ihrer radikalen Aussteigerin Magda und deren vergeblichem Versuch einer Selbstfindung. Sie vermischt die Geschehnisse mit vielerlei Metaphern und raffinierter Symbolik zu einem poetischen Bild der Suche nach Liebe, nach Glück und Freiheit. Wobei sie vieles in der Schwebe hält, was dann auch zu vielerlei Interpretationen verleitet, zumal nicht alles wirklich plausibel ist, was da geschildert wird. Die Autorin hat dazu erklärt: «Ich möchte meinen Leser genau in diesen zweideutigen Zustand versetzen, in dem die Grenzen der Wirklichkeit aufgehoben sind».

Dazu gehört insbesondere die provozierende Selbstverständlichkeit, mit der die Romanheldin nicht nur ihre Identitätssuche betreibt, sondern sich auch noch beharrlich darüber ausschweigt. Damit wird von ihr offensichtlich ein Tabu gebrochen, eine zweite Magda, von der man partout nichts weiß, neben der allen wohlbekannten ersten, ist keinesfalls akzeptabel. Und das gilt nicht nur für die Mitmenschen, sondern insbesondere auch für Robert. In einer ergreifenden Szene bei der Überfahrt nach Kanada berichtet Magda von der bevorstehenden Seebestattung eines gerade verstorbenen Babys in einer Pappschachtel. «Erzähl es mir, bat ich das Baby leise. Stimmt es, dass alles erst grau wird, dann weiß, dann blau, und dass man dann zu den Sternen fliegt?» Und als Credo findet sich an anderer Stelle im Roman der Satz: «Was nicht erzählt wird, gibt es nicht». Wie wahr!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Am besten lebe ich ausgedacht / Bäume im Zimmer

       In diesem Frühling hat der Innsbrucker Haymon-Verlag zwei Lyrikbände veröffentlicht, “Am besten lebe ich ausgedacht” von Sabine Gruber, 1963 in Meran geboren, und “Bäume im Zimmer” von Josef Zoderer, geboren 1935, ebenfalls in Meran. Die Texte in beiden Sammlungen sind formal unterschiedlich, weisen auf einer tieferen Ebene aber doch Ähnlichkeiten in Themen, Bezügen und Stimmungen auf. Deshalb sollen sie hier zusammen besprochen werden.
       “Am besten lebe ich ausgedacht” von Sabine Gruber verzeichnet 43 Gedichte, auf festes Papier gedruckt, mit Fadenheftung in steifen Karton gebunden. Der Umschlag bezeichnet die Texte als “Journalgedichte” – damit wird auf eine Chronologie angespielt, auf einen Alltag, den diese Texte möglicherweise begleiten oder kommentieren. Das lyrische Ich erweckt einen dynamischen Eindruck von sich. Die Gedichte sind mit Zeit- und Ortsangabe versehen, gleich das erste z.B. mit: “Im März/ Leopoldstadt, Wien”. Insgesamt 25 von den 43 Gedichten sind mit “Wien” überschrieben, 11 tragen italienische Ortsbezeichnungen, 3 davon Südtiroler Schauplätze, 6 spielen an Orten in Deutschland oder Österreich, und ein Gedicht beschwört die Grenze zwischen Österreich und Italien, den Brenner.
       “Bäume im Zimmer” von Josef Zoderer ist ein schmales Hardcover, 81 Gedichte auf 85 Seiten. Das lyrische Ich erscheint in der Situation seines Sprechens statisch, als sei es eben an das Zimmer im Titel gebunden. Aber der Titel evoziert auch die unablässige Bewusstseinstätigkeit des lyrischen Ich, das sich eben die Eindrücke zu sich ins Zimmer holt. Erinnerung und Vorstellungskraft ermöglichen eine Überlappung  von Bewusstseinszuständen, für die das Gedicht eine gute Ausdrucksform zu sein scheint. Man könnte von “Mixturen der Zeit” sprechen, um eine Formulierung von Sabine Gruber zu entlehnen. Zoderers siebtes Gedicht “Was ich suche am Morgen” kann dafür vielleicht als programmatisch bezeichnet werden. Das lyrische Ich imaginiert einen Weg durch mediterrane Natur ans Meer als existenziellen Heimweg.
       Formal gehen die beiden Schreibenden unterschiedliche Wege. Mit Ausnahme der beiden letzten Texte gehen alle Gedichte in Sabine Grubers “Am besten lebe ich ausgedacht” über 20 Verszeilen. Grundsätzlich hat sie freies, oft der Prosa angenähertes Versmaß gewählt. Denkt man von Gedichten als Verdichtung von Sprache und Bildern, so schaden die Binnenverse, in die Sabine Grubers Sprache mitunter verfällt, den Gedichten mehr, als dass sie ihnen nützten. Auch der Zeilensprung, das Enjambement, das ein Wort auseinanderreißt, trägt nicht zur Verdichtung bei. Eines der stärksten Gedichte in der Sammlung, “Vierundzwanzigster August/Millstätter See, Kärnten” (S. 43) verzichtet auf diese Stilmittel. Grubers Tonfall spielt vorwiegend um die Färbungen Humor, Tapferkeit und Trotz.
     Auch Josef Zoderer hat sich für den freien Vers entschieden. Seine Verszeilen sind kurz, ebenso die einzelnen Gedichte. Der längste Text, ein Listen-Gedicht, geht über 11 Zeilen. Es war schon von der angestrebten Überlappung der Zustände die Rede – das sprechende lyrische Ich, das sich Erinnertes und Imaginiertes in sein Zimmer holt. Hier kann es passieren, dass eine Metapher doppelt gebucht wird, wie eben jene des Zimmers im 5. Gedicht – aus den vielen Zimmern des Schweigens werden die tanzenden Zimmer des lyrischen Ich. Hier droht die ästhetische Kohärenz unscharf zu werden. Zoderer tönt oft lakonisch, verstärkt durch den Verzicht auf jede Interpunktion, manchmal tastend, mitunter auch ängstlich.
       Motivisch setzt Sabine Gruber in “Am besten lebe ich ausgedacht” vor allem auf die verschiedenen Orte, die jeweils eigene Assoziationen heraufbeschwören. Im 15. Gedicht “Zweiundzwanzigster Jänner” beeinflusst z.B. Nestroy stark das lyrische Geschehen in der Leopoldstadt, das 37. Gedicht “Anfang März/Wien” hingegen führt über das Motiv der Schlange eine Begegnung zwischen dem Reich der Mitte und Dantes Universum herbei. Josef Zoderer hingegen setzt in “Bäume im Zimmer” auf zwei Naturmotive – eben den Baum, zu finden in 25 Gedichten, und auf das Wasser, das durch 20 Gedichte seiner Sammlung fließt oder darin steht, als Meer, als Regen oder Schnee, als Bach oder Fluss, einmal auch als Teich. Mitunter übt Wasser die Funktion eines Spiegels aus, öfters trennt der Fluss die Sphären oder Bewusstseinszustände, das Meer kann als Ursprung des Lebens auftreten, zu dem sich das lyrische Ich auf dem Rückweg sieht. Die Bäume, allen voran der Apfelbaum, stehen wohl eher für die Erinnerung – und hier ergibt sich eine Brücke zu Sabine Grubers Sammlung: Im 39. Gedicht – “Siebenundzwanzigster April / Prösels, Südtirol” – sehnt sich das lyrische Ich nach dem Nussbaum der Kindheit – doch geht es bei genauer Lektüre weniger um Erinnertes, sondern um den Wunsch nach der Wiedereinsetzung der Unschuld, nach dem Zurückgehen vor alle Lebenserfahrung, “ohne Tote, ohne Trauernde” zu sein, wie es im Gedicht heißt.
((c) Photo C. Pichler)
       
       Und damit wäre das große Motiv angesprochen, das beide Gedichtbände durchzieht – der Tod. Und mit ihm die Begleitmotive Vergänglichkeit, Nostalgie, Nacht, Angst und Traum. In Sabine Grubers Gedichten geht es vor allem um die Erinnerung an die Toten, an die toten Lebensmänner, an die Toten der Geschichte, an die Toten aus Afrika, die auf dem Meeresgrund liegen. In 11 Gedichten ist der Tod namentlich anwesend, in den anderen sorgt er gern fürs Hintergrundrauschen. In “Bäume im Zimmer” von Josef Zoderer begegnet uns der Tod in 16 Gedichten – als Todesflügel, als dunkle Tiefe, in der das lyrische Ich ertrinkt – verwandt mit der Meer-Metapher – als Todesröcheln, als Schnitter, als Nacht, als letzte Tür. Aber auch in einer Erinnerungssequenz als Tod, den das lyrische Ich Vögeln zugefügt hat. Wenn man von Dichtung als Möglichkeit denkt, in verdichteter Form Aussagen über die conditio humana zu treffen, so ist Zoderers stärkstes Gedicht das 45. – “Warum läufst du” – auf Seite 49. Ein siebenzeiliges Selbstgespräch, das gleichermaßen von Montaigne wie von japanischer Dichtung informiert zu sein scheint.
       “Am besten lebe ich ausgedacht” von Sabine Gruber und “Bäume im Zimmer” von Josef Zoderer – zwei Gedichtsammlungen, die sich einer jeweils eigenen Poetik verpflichtet haben. Doch zeigen beide Bücher das Bemühen, mit dem emotional aufgeladenen Erinnerungsgepäck zurande zu kommen, das uns Menschen begleitet. Ebenso finden sie Bilder für die schwierige Aufgabe, weiterzuleben, sich aus der Nacht zu schälen, jeden Tag aufs Neue zu beginnen, mit der geliebten oder unerwünschten Erinnerung an Vergangenes, mit den Sätzen, die sich an Tote richten, mit dem Tod selbst, der sich unaufhaltsam  nähert. Ein Leben mit der Angst und der irritierenden Unverlässlichkeit der Träume, aber auch mit dem Schatz, den ein gelebtes Leben darstellt. Denn was wäre eine Dichterin, ein Dichter ohne die eigenen Erfahrungen, ohne – um mit Josef Zoderer zu sprechen – “das Rätsel dieser Wahrheit”?

Illustrated by Haymon Innsbruck

Zama wartet

Latein-amerikanischer Existentialismus

Der bekannteste und im Original 1956 erschienene Roman des argentinischen Schriftstellers Antonio di Benedetto wurde in verschiedenen Auflagen unter dem Titel «Zama wartet» ins Deutsche übersetzt. Als Wiederentdeckung wurde er in der Buchreihe «Bibliothek der Weltliteratur» des Manesse-Verlags 2009 mit einem kenntnisreichen Nachwort von Roland Spiller versehen und schließlich 2017 durch die argentinische Regisseurin Lucrecia Martel auch erfolgreich verfilmt. Dieses Buch verweigert sich beharrlich jeder einengenden Zuweisung in eine literarische Gattung. Obwohl Ende des 18ten Jahrhunderts angesiedelt, ist es kein historischer Roman, auch nicht die psychologische Studie eines zum Scheitern verurteilten Karrieristen oder die an Ransmayr erinnernde Geschichte einer desaströsen Expedition in die menschliche Finsternis.

Die mit den Jahreszahlen 1790, 1794 und 1799 überschriebenen drei Abschnitte befassen sich in 50 Kapiteln schwerpunktmäßig jeweils mit einem der im Roman behandelten Themen-Komplexe. Diego de Zama gehört als Justiziar zu den leitenden Beamten von Asunción, er vertritt schon seit mehr als einem Jahr die Krone in dieser spanischen Kolonie, fernab von Frau und Kind. Vergeblich wartet er auf Beförderung oder Versetzung nach Buenos Aires, alle wichtigen Posten in der Verwaltung haben die aus der Heimat entsandten Beamten inne. Als Kreole, als in Argentinien geborener Weißer, hat er da kaum Aufstiegschancen und wird immer wieder mit verlogenen Versprechungen vertröstet. Finanziell lebt er in prekären Verhältnissen, die Gehälter der Angestellten werden oft monatelang nicht ausgezahlt, er kann dann auch seiner Frau kein Geld schicken. Und so wartet Zama Jahr um Jahr, hofft auf ein Schiff mit Briefen von seiner Frau – oder mit seiner Beförderungs-Urkunde! Der eher schüchterne Mann träumt sich zunehmend in Liebesabenteuer mit verschiedenen Frauen hinein, scheitert dabei aber an seinem tölpelhaften Draufgänger-Gehabe. Er verliert jeden Bezug zur Realität und zeugt schließlich einen Sohn mit einer einfachen Frau, die allerdings so gar nicht seinen Träumen entspricht. Als ihm die Leitung einer Strafexpedition übergetragen wird, die den gefürchteten, landesweit gesuchten Verbrecher Vicuña Porto und seine Bande gefangen nehmen soll, erhofft er sich davon den nötigen Karriereschub. Aber die Mission scheitert kläglich, in verlustreichen Scharmützeln mit Indianern werden sie immer mehr dezimiert und scheitern zudem an der wilden Natur. Schließlich erkennt Diego de Zama voller Schreck, dass der Gesuchte, und wohl auch einige Mitglieder seiner Bande, sich unerkannt als Söldner seiner Truppe angeschlossen haben.

In dieser Geschichte vom langsamen Verfall eines Mannes verlagert sich der narrative Status von einem, der als Subjekt das Geschehen beobachtet, zunehmend zu einem, der als Objekt selbst beobachtet wird, sei es von Frauen, von Kollegen oder vom Vermieter seiner bescheidenen Behausung. Die Ich-Form bleibt dabei allerdings bis zuletzt erhalten, nur das Erzählte verschiebt sich immer mehr in den Bereich des Traumes, wird mystisch, existiert nur im Delirium. Verbunden mit diesem Realitätsverlust ist insbesondere die wachsende Erkenntnis des Protagonisten von der eigenen Unfähigkeit, die den Macho mit voller Härte trifft.

Geradlinig und lakonisch erzählend wird hier der Fokus auf das innerlich und äußerlich Wahrnehmbare konzentriert, ohne es ergänzend auch kontemplativ zu würdigen oder gar psychologisch zu deuten. Die Sprache ist karg und wirkt unbeholfen, inhaltlich bleiben zudem alle moralischen oder religiösen Aspekte konsequent ausgeblendet. Ein Untergebener Zamas, der im Dienst beim Schreiben eines Buches erwischt wird, antwortet auf die Frage, warum er überhaupt schreibt: «Ich schreibe, weil ich muss, weil ich das, was ich im Kopf habe, herausbringen muss». Der ästhetisch unbedarfte Protagonist aber verkörpert hier einen latein-amerikanisch gefärbten Existentialismus.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Manesse Zürich

LTB Sonderband „Frohe Ostern“ 14

news ostern 14

„Was hat der Osterhase denn da ins Nest gelegt?“

… fragt das Ostern-LTB ganz neugierig auf der Rückseite des Comics. Nun, das sind u.a. rosarote Riesenhasen, die Kommissar Hunter bloß für einen April-Scherz hält – bis deren explosive Möhren ihn eines Besseren belehren. Als vermeintlicher Aprilscherz kommt aber auch die „Seltsame Botanik“ daher, mit der sich Entenhausen urplötzlich konfrontiert sieht. Dem fleischfressenden Gewächs kommt nur ein Vegetarier bei. Als „Kuckucks“-Ei ins falsche Nest gelegt empfindet sich Vogelkundler Dussel, wenn er merkt, dass Theorien nicht unbedingt der Praxis entsprechen. Schon gar nicht, wenn sein Vetter Donald in selbige unbemerkterweise involviert ist. Ganz andere Probleme haben Mickys Neffen, als sie bemerken, dass sie den falschen Rucksack für ihre Jugendfreizeit eingepackt haben – Gammas außerirdische Habseligkeiten entsprechen nicht unbedingt denen eines irdischen Campings. Auf die Suche begibt sich auch Donald mit seiner Herzensdame Daisy nach einem schönen, romantischen Plätzchen. Und damit ja nichts schiefgeht, soll ein Navi helfen. Aber kann man der Technik immer trauen? Aus dem Ei gepellt haben will Supergoof seine Überraschung. Nur leider hat sein Überraschungs-Ei etwas dagegen, seine Geheimnisse preiszugeben. Überraschend von Murmeltieren überrannt wird Entenhausen. Donalds Neffen wollen dem Übel auf den Grund gehen und entdecken eine fiese Masche von Klaas Klever. „Gefangen im Großstadtdschungel“ sind Micky, Goofy und die anderen, als die neueste Erfindung von Professor Wunderlich nach hinten losgeht. Das wuchernde Gewächs hat im Nu die ganze Stadt in einen Urwald verwandelt, was die einen schlecht, die anderen aber gut finden – zumindest zunächst. Um Grünzeug geht es auch Donald, und zwar um essbares. Denn er will unbedingt mit seinem „vertikalen Garten“ eine Wette gegen Onkel Dagobert gewinnen.

Nicht viel Ostern, aber immerhin mehr Natur

Die 11 Geschichten haben meist zwar nur peripher etwas mit Ostern zu tun – mehr Ostern wäre bei dem Cover und bei dieser Überschrift definitiv ein Mehrwert gewesen! – aber sie sind zumindest unterhaltsam und gerade für Kinder spannend. Spannend für Erwachsene sind auch die Anspielungen, die sich in den Storys verstecken: Umweltschutz spielt genauso eine Rolle wie unkritische Technikgläubigkeit, Vegetarier mal anders und radikales Denken, das den Sichtkreis doch arg verengt. All dies wird humorvoll durch den Kakao gezogen, in Sachen Umweltschutz aber durchaus auch eine Lösung präsentiert und Engagement vorgemacht.


Genre: Comic
Illustrated by Egmont Ehapa Media

Rückkehr

Wahrheit schichtweise

In seinem neuen Roman «Rückkehr» folgt Willi Achten dem bekannten Handlungsmuster des nach langer Zeit heimkehrenden Protagonisten, der sich schwertut, wieder an sein einstiges Leben anzuknüpfen. Handlungsort ist ein ungenanntes Alpendorf, fortgetrieben hat ihn ein schlimmes Erlebnis, das im beschaulichen Ambiente eines Heimatromans geschildert wird und dessen Geheimnis sich dem Ich-Erzähler nach mehr als zwanzig Jahren nur zögerlich erschließt. Die in der Gegenwart angesiedelte Geschichte behandelt sattsam bekannte Themen wie Heimatliebe, Umweltzerstörung, Ehebruch, Männerfreundschaft und Jugendliebe. Gelingt es dem Autor, diesem Themenkomplex neue Facetten abzugewinnen?

«Wir sehnen uns nach Hause und wissen nicht, wohin» lautet das dem Roman vorangestellte Motto von Joseph von Eichendorff. Auch für Jakob Kilv stellt sich die Frage, ob er an den seinerzeit fluchtartig verlassenen Ort seiner Kindheit zurückkehren soll. Seine Freunde von einst sind alle noch da, auch seine erste Freundin Liv lebt noch in dem Dorf am See, und sogar die Nachbarn sind die alten. Sie alle freuen sich, dass er wieder da ist. In zwei Zeitebenen wird Jakobs Suche nach den geheimnisvollen Hintergründen geschildert, die geradezu zwangsläufig zu seiner überstürzten Flucht führen mussten. Mit vielen Rückblenden werden schichtweise all die Geschehnisse aufgedeckt, die ihn damals so brutal fortgetrieben haben. Seine Clique hatte in hilflos wirkenden Attacken versucht, die Pläne des örtlichen Liftbetreibers für einen gigantischen neuen Skizirkus zu vereiteln. Dadurch würde nicht nur die Landschaft zerstört und die Natur nachhaltig geschädigt, wie die erbosten Umweltschützer meinen, auch die geologische Stabilität der betroffenen Bergregion am Weißkogel wäre massiv gefährdet. Die ist ohnehin schon durch die Klimaerwärmung und den deshalb abschmelzenden Permafrost äußerst fragil geworden. Ein dadurch irgendwann ausgelöster Bergrutsch in den See hinein würde jedenfalls katastrophale Folgen haben. Der Vater von Jakob unterstützt als engagierter Ornithologe die jugendlichen Naturschützer, deren Anführer Bruno mit Jakobs Mutter heimlich ein Verhältnis hat. Ein auswärtiger, gewaltbereiter Umwelt-Aktivist löst dann auf einer Geburtstagsfeier des rücksichtslosen, von Politikern unterstützten Ski-Moguls eine Brandkatastrophe aus, die zwei Menschenleben fordert und Jakob verheerende Brandwunden zufügt.

Durch die von ihm wie Zwiebelschichten nach und nach freigelegten Hintergründe und Zusammenhänge wird erst ganz zum Schluss klar, durch welch unheilvolle Verstrickungen das Geschehen damals den für Jakob so tragischen Verlauf nahm. Gleiches gilt für sein Verhältnis zu Liv, das er selbst nicht richtig einzuschätzen weiß. Ist sie nun wieder seine Freundin oder ist er nur ein Liebhaber, wie es sein bester Freund Bruno scheinbar auch ist? Willi Achten treibt sein Spiel mit der Ungewissheit auf die Spitze, sehr zum Missvergnügen vieler Kommentatoren, denen diese Spannung fördernde, bis zuletzt alles offen lassende Erzählweise als gar zu aufdringlich erscheint. Erschwerend kommt hinzu, dass die Figuren allesamt als wenig emphatisch beschrieben sind und damit kaum Einblick in ihr Innerstes zulassen, was es schwierig macht, ihr Handeln wirklich zu verstehen.

Eine Besonderheit sind neben den mitreißenden Schilderungen einer grandiosen Natur insbesondere die ornithologischen Ausflüge des Ich-Erzählers auf den Spuren des Vaters. Er liebt die Vogelwelt ebenso und beschreibt sie kenntnisreich, am Ende sogar mit der diffizilen Auswilderung zweier Bartgeier. Er selbst ist ja wie ein Zugvogel an den ursprünglichen Ort seines Lebens zurückgekehrt, aber ob er denn hier auch bleiben wird? Der eher passiv wirkende Held sagt dazu nichts. Liv neben ihm schläft noch, «Ich bleibe, schreibe ich mit dem Finger in die Luft und breche auf», lautet der letzte Satz. Neue Facetten zum Thema, wie eingangs gefragt, tun sich hier allerdings nicht auf!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Es gilt das gesprochenen Wort

Wahrhaftig und ungeniert schnodderig

Den Anstoß zu seinem Debütroman «Es gilt das gesprochene Wort» bekam der Film-Regisseur Sönke Wortmann bei einem Friseurbesuch in Prag. Der schwatzhafte Figaro zog ihn mit der Frage, woher er denn komme, in ein Gespräch hinein und antwortete auf die Gegenfrage zu seiner eigenen Herkunft mit ‹Tunesien›. Im Roman führt dieses Gespräch Franz-Josef Klenke, der Redenschreiber des deutschen Außenministers, der zu einem Arbeitsbesuch nach Prag gekommen ist und zu dessen Delegation Klenke gehört. Ein Tunesier, der in Prag lebt und arbeitet, sei außergewöhnlich wegen der restriktiven Immigrations-Politik östlicher EU-Staaten, – und schon hatte Wortmann sein Thema gefunden, wie er berichtete.

Der Autor erzählt in seinem gut recherchierten, informativen Roman von einer Reise des deutschen Außenministers nach Tunesien, deren Höhepunkt die Unterzeichnung eines neuen Migrations-Abkommens bildet. Zur Entourage des Ministers gehört neben dem Rhetoriker Klenke auch der in der Botschaft arbeitende Diplomat Schröder, der sich in einer fatalen Lebenskrise befindet. Nicht nur, dass er sich bei der Beförderung übergangen fühlt, auch seine Ehe ist gescheitert, seine Frau reist mit den Kindern in ihre chilenische Heimat zurück. Und was Migration anbelangt, so hat sich Cornelius von Schröder mit der Zeit im Internet einigen Schwachsinn angelesen und auch zueigen gemacht. Der Autor nutzt die privaten Diskussionen des radikalisierten Querdenkers mit seinen Kollegen zu köstlichen Seitenhieben auf die Verschwörungs-Theoretiker aller Couleur. Besonders in dem Disput über 9/11 wird deutlich, wie anfällig die ewig Unzufriedenen für hanebüchene Umdeutungen der Fakten sind, deren offensichtlichen Blödsinn sie dann mit religiösem Eifer verteidigen. Und dazu gehört eben auch die durch den Islam eifrig betriebene ‹Umvolkung› Europas, die dann ja immer wieder gewaltbereite Radikale auf den Plan ruft. Die im Buchtitel angesprochene Kunst der Rede konterkariert der Autor elegant durch die Figur der Freundin von Klenke. Maria nämlich leidet an selektivem Mutimus, einem oft mit Depressionen verbundenen, psychogenen Schweigen, selbst ihrem Freund gegenüber kann sie sich anfangs nur schriftlich äußern.

Der Autor schickt seiner Geschichte einen informativen Prolog voraus, in dem er in launigen Worten vom ‹Prager Fenstersturz› berichtet. Es ist erstaunlich, wie es dem Autor gelingt, die großen Themen der aktuellen Politik, mit immer neuen, unterhaltsamen Szenen angereichert, in seine auf ein dramatisches Ende hinsteuernde Geschichte einzubauen. Dazu gehört beispielsweise die strapaziöse, mehrtägige Tour von drei deutschen Angehörigen des diplomatischen Dienstes auf Kamelen durch die Sahara, Sandsturm inklusive, oder ganz zum Schluss dann der erste Flug von Maria, der in böse Turbulenzen gerät und unabsehbare Folgen zeitigt.

Der Verrohung der Sprache in einem unkontrollierten Internet, die zu abstrusen Fehlinterpretationen unbedarfter User führt, steht in diesem Roman die Diplomatie mit ihren ausgefeilten Wortgebilden gegenüber. Es ist der ironische Blick nicht nur hinter die Kulissen des Auswärtigen Dienstes, sondern auch der gesamten politischen Kaste, der dieses Buch zu einer bereichernden Lektüre macht. Und es sind die vielen eingestreuten politischen Begebenheiten samt aller wohltuend kritischen, oft sarkastischen Kommentare, durch die der Roman auf eine sehr amüsante Weise unterhält. Ein Diplomat sei jemand, heißt es da beispielsweise an einer Stelle, der ‹ja› sagt, wenn er ‹vielleicht› meint, und ‹vielleicht› sagt, wenn er ‹nein› meint, und wenn er ‹nein› sagt, – dann ist er gar kein Diplomat! Dicht am aktuellen Zeitgeschehen entlang wird hier mit leichter Hand von der Macht der Worte erzählt, ohne dass damit philosophisch oder politisch Tiefsinniges verbreitet werden soll. Ein Pageturner also, den man ungern aus der Hand legt, weil er die Realität so wahrhaftig und ungeniert schnodderig beschreibt.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Ullstein Berlin

Das Recht auf Sex: Feminismus im 21. Jahrhundert

Das Buch Das Recht auf Sex: Feminismus im 21. Jahrhundert besteht aus sechs Essays, die unabhängig und zu verschiedenen Zeitpunkten geschrieben wurden. Die Autorin wurde in den USA und den UK zur Philosophin ausgebildet und lehrt soziale und politische Theorie am Chichele Institut für Völkerrecht in Oxford, als erste nicht-weiße Professorin.

Das Buch basiert auf breitem Wissen gerade der feministischen Philosophinnen; die kleingedruckten „Anmerkungen“ umfassen über 50 Seiten und sind teils so lesenswert, wie die Essays selbst. Ihr Schwerpunkt liegt auf dem anglo-sächsischen Schriftgut zu Sexualität, Feminismus und Gender.

Was sind Rechte, was sind Normen, und wie verändern sie sich in den letzten sechzig Jahren, seit Debatten über Feminismus und zur sexuellen Revolution öffentlich geführt wurden? In der Einleitung heißt es: “Was wäre zu tun, damit Sex frei ist? Wir wissen es noch nicht, aber versuchen, es herauszufinden.“

Im letzten Kapitel wird es utopisch, aber erst einmal viel Dystopisches: Im ersten Kapitel werden die ersten, teil hilflosen, Versuche beschrieben, mit Rechtsmitteln übergriffige Männer zu zügeln, und wie Männer darauf reagieren. In „Gespräche mit Studierenden über Pornografie“ wird das Schriftgut gerade der Feministinnen darüber dargestellt, es gibt „Porn Wars“, „Pro Porno Feministinnen“. „Für die Studentinnen und Studenten ist Sex das, was die Pornoindustrie als Sex definiert.“

Alles geht von Männern aus, Frauen sind untergeordnet, die Darstellerinnen entweder pubertierende oder milfs (mother I’d like to fuck), und zum Abschluss braucht es einen Ejakulationsschwall.

In allen Kapiteln werden Unterschiede nicht nur der Geschlechter, auch von Rasse und Klasse beschrieben, immer wird der in westlichen Ländern propagierte Feminismus der weißen Akademikerinnen mit den Formen und Aktionen der Frauen in armen Ländern kontrastiert. Wenn es in der Entwicklungshilfe Trend ist, Frauen kleine Kredite zu gewähren, weist sie darauf hin, dass es Aufgabe der Staaten ist, Wasser, Land und Nahrung sicherzustellen.

Im letzten Kapitel Sex, Karzeralismus, Kapitalismus wird Karzeralismus beschrieben als Rechtssystem, in dem Menschen eingesperrt werden, die nicht im Mainstream stehen, und das betrifft in den USA zunehmend auch Frauen: „In den USA, wo 30 % der weltweit inhaftierten Frauen leben (zum Vergleich: In China sind es 15 %, in Russland 7,5 %) ist die Inhaftierungsrate von Frauen doppelt so schnell gestiegen, wie die von Männern.“ Ausführlich geht es um die für Frauen meist die Situation verschlechternden Maßnahmen gegen die Prostitution, oft gefordert vom „karzeralen Feminismus.“ Nur in Neuseeland und in einer australischen Region, wo Zwangsmaßnahmen aufgehoben wurden, hat sich die Lage der Frauen verbessert. Das erfahren wir, übrigens, in einer Fußnote.

Dann knüpft die Autorin am Marxismus an, fragt: „Kann sich die Arbeiterbewegung leisten, nicht antirassistisch zu sein?“ und wünscht sich post-kapitalistische Lösungen auch der Frauenfrage.

Am spannendsten fand ich den fünften, und eher kurzen, Essay: „Warum wir nicht mit unseren Studierenden schlafen sollten“ und möchte ihn beispielhaft vorstellen:

Eine erste Fassung hatte sie geschrieben, nachdem 2010 „ihre“ Universität Yale ein generelles Verbot von „Beziehungen zwischen Fakultätsmitgliedern und nicht Graduierten“ beschlossen hatte. Andere Uni folgten und das University College London 2020 als 3. britische Uni.

Die Frage wird breit diskutiert, wie sich sexuelle Beziehungen entwickeln können, wenn zwischen den Partnern ein Machtgefälle existiert, und verschiedene Sichtweisen beschrieben, auch die von Feministinnen. Srinivasan zitiert mit Jane Gallop eine Autorin, die Freuds Konzept der Übertragung bei Beziehungen zwischen Patient und Therapeut für die Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden, also für den pädagogischen Bereich übernimmt.

Ja, es lernt und lehrt sich besser, wenn die Beziehung stimmt. Aber die Lehrenden müssen wissen, dass sich ein entstehendes Begehren der Lernenden nicht auf sie als Person richtet, sondern auf das, was sie repräsentieren. Die Projektion muss auf: „Wissen, Wahrheit, Verstehen“ gelenkt werden.

Es gibt eine Fülle von genauen Beschreibungen, wie mit diesen Konflikten umgegangen wurde, bei den Beispielen der Autorin sind es eher Frauen, die als Dozentinnen „bestraft“ wurden, als Männer. Es wird gefordert, Lehrende auf die Bedeutung ihrer und der Körperlichkeit der Studierenden beim Vermitteln der Lehre hinzuweisen, manche fordern gar Vorbereitungskurse, um deren Wirksamkeit besser wahrzunehmen und, dessen bewusst, sich besser zu steuern.

Mir gefiel bei der Lektüre, wie die Autorin neben Zitaten von Philosoph:innen auch Ich-Botschaften einfügt, auch hier in diesem Kapitel. So möchte ich mit einer solchen enden:

Als berentete Professorin bin ich einerseits froh, dass Deutschland nicht vorangegangen war mit Versuchen, Beziehungen zu verrechtlichen, die sind doch oft gescheitert. Die Vorstellung, allerdings, in meiner Universitätszeit in den Nullerjahren, wären wir Profs zu solchen, natürlich koedukativen, Kursen geladen worden, bringt mich zu einem verschmitzten Schmunzeln …

Das Buch bringt viele Denkanstöße, auch in unerwartete Richtungen.


Genre: Frauen, Gender, Soziologie
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

“Someone new” und “Someone else”

Someone NewAlles ganz normal?

Micah stammt aus reichem Elternhaus und hat damit alle Chancen, ebenfalls Karriere zu machen. Nach dem Willen ihrer erfolgreichen Eltern soll sie Jura studieren. Als gehorsame Tochter fängt sie tatsächlich ein Jura-Studium an, kann aber mit den staubtrockenen Lehrthemen wenig anfangen. Denn eigentlich hat Micah eine ganz andere Leidenschaft: Sie liest und zeichnet Comics. Deswegen würde sie gern Kunst studieren, aber da das als brotlose Kunst gilt, betreibt sie das Zeichnen nur nebenher. Allerdings wandelt sie sich langsam, als sie in ihre eigene Wohnung zieht: Eh schon quirlig und zielstrebig veranlagt findet sie unter neuen Freund*innen immer mehr zu sich selbst. Dazu verhilft ihr auch ihr Nachbar Julian, der zuerst kühl und abweisend auf sie reagiert, dem sie aber keine Chance zum Rückzug lässt, denn sie hat sich längst in den hübschen, kleinen Mann verguckt. Julian scheint schließlich unter ihrer fröhlich-liebenswerten Art langsam aufzutauen, trotzdem wird Micah das Gefühl nicht los, dass er ihr etwas Wichtiges verheimlicht. Und das führt zu einigen Komplikationen.

Someone Else

Währenddessen haben Julians WG-Mitbewohner*innen Cassie und Auri eigene Probleme. Die Diabetikerin Cassie absolviert ein Literaturstudium und ist begeisterte Fantasy-Leserin und Cosplayerin. Ihr bester Freund Auri dagegen hat sich dem Sport verschrieben, v.a. dem Football. Allerdings führt er ein Doppelleben, denn auch er mag alles, was mit Fantasy zusammenhängt – aber er fürchtet die Reaktionen seiner Footballfreunde und seiner Familie, sollten sie jemals etwas von diesem Hobby erfahren. Cassie, die Auri heimlich liebt, findet, dass er zu sich stehen sollte. Dass Auri nicht zu sich und damit auch zu Cassie stehen will, verursacht immer wieder Verletzungen und Streit.

Alles ganz normal!

Die o.g. beiden ersten Bücher dieser Reihe kommen auf den ersten Blick wie „ganz normale“ romantische Trivialromane einher, denn die Liebesirrungen und -wirrungen stehen hier eindeutig im Vordergrund. Was diese Romane aber von anderen klar unterscheidet, ist die Leichtigkeit, mit der die Autorin Themen einflechtet, die nach der offiziellen Meinung der Gesellschaft eher Randerscheinungen und damit außerhalb der Norm angesiedelt sein sollen, trotzdem aber in Wahrheit inmitten der Gesellschaft und damit im konkreten Alltag existieren: Krankheiten wie Diabetes und der Alltag mit einer solchen Krankheit, Homosexualität, Transsexualität, Liebesbeziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarben und Größen, die Liebe zwischen einer älteren Frau und einem deutlich jüngeren Mann, sich behaupten gegen Bodyshaming, Teenagerschwangerschaft, „Nerds“ (Fantasy, Metal, Horror…), Migration.

Das scheint auf den ersten Blick viel an „außergewöhnlichen“ Themen zu sein, wird aber von der Autorin so selbstverständlich und wie nebenher behandelt und eingeflochten, dass es zu dem wird, was es de facto auch ist: eine ganz normale Sache. Kneidl stellt mit ihren Büchern und dem Setting der sogenannten Trivialliteratur (die bei genauerer Betrachtung gar nicht so trivial ist) die Vielfalt des Lebens dar – und diese Vielfalt ist inmitten des Lebens, des Alltags und sie ist sowas von normal! Sichtbar wird das an ihren Figuren, die trotz oder gerade wegen ihrer „Andersartigkeit“ ganz normale Leute sind – die aber wegen einer konformen, nicht über den Tellerrand blicken wollenden Gesellschaft nicht als normal gesehen werden. Und deshalb werden Micah, Cassie, Auri, Julian und all die anderen von genau diesen Vertreter*innen der konformen Gesellschaft immer wieder behindert, ausgegrenzt und diffamiert, was die beiden Romane nicht verschweigen. Sie bieten aber auch Lösungen an in Form von neuen Freundschaften, Lautsein und sich stark machen für die eigenen Rechte, zu sich selbst stehen, sich Gleichgesinnte suchen, sich gegenseitig unterstützen, aber auch ehrlich miteinander sein.

Was also in der Rahmengestaltung vermeintlich trivial daher kommt (die unsäglichen Buchtitel allein hätten mich wohl wirkungsvoll vom Lesen abgehalten), ist von den Themen und der Selbstverständlichkeit der Themen, die ja wirklich mitten im Alltag vorkommen, alles andere als trivial, sondern zentral. Denn die Natur arbeitet mit Diversität als Überlebensprinzip, und wer die Augen aufmacht und über den Tellerrand blickt, der sieht das auch an jeder Ecke und Kante. Von daher sehr gelungene Bände und: Gern mehr davon! Mindestens eine Fortsetzung gibt es schon: „Someone to stay“.

Einziger Wehrmutstropfen: Warum müssen die Romane, selbst wenn sie von deutschsprachigen Autor*innen verfasst werden, mit amerikanischem Setting arbeiten, das zumal beim Lesen etwas unecht wirkt? Ich finde das völlig unnötig; all das kann man genauso gut in jedem anderen Land ansiedeln, also auch im deutschsprachigen Raum. Da hat der Verlag wohl auf Verkaufszahlen gedrängt, weil das Amerikanische angeblich besser ankommt. Schade!


Genre: Diversität, Roman, Romantik
Illustrated by LYX

Nahtod – Grenzerfahrungen zwischen den Welten

Initialzündung

Psychiater und Neurowissenschaftler Bruce Greyson kam durch Zufall in Kontakt mit Nahtoderfahrungen: Eines Tages wurde in seinem Krankenhaus eine Patientin eingeliefert, die während seines Dienstes wiederbelebt werden musste. Er selbst saß währenddessen in einem anderen Raum und aß Spaghetti. Ein Soßenfleck verblieb auf seiner Kleidung. Dieser Fleck wurde später wichtig – seine spätere Patientin im Bereich der Psychiatrie erwähnte ihn und andere Details zur Zeit ihres Nahtodes während des ärztlichen Gesprächs. Und das, obwohl sie, wie erwähnt zu diesem Zeitpunkt tot und in einem anderen Zimmer untergebracht war. Dieses Erlebnis verwirrte und beeindruckte Greyson so, dass er sich Jahrzehnte lang mit der Forschung über Nahtoderlebnisse beschäftigte.

Positive Aspekte der Nahtoderfahrungen

Greyson fand heraus, dass Nahtoderfahrungen häufig sind und allen Menschen passieren können, egal, welche Religion, welches Geschlecht, Alter oder ethnische Gruppe sie haben. Sie werden vom Gehirn anders als Träume, Vorstellungen oder Halluzinationen als Fakten verarbeitet und bieten einen gewissen Schutz vor der Entwicklung einer Gemütskrankheit nach einem engen Kontakt mit dem Tod. Diese Erlebnisse als real bzw. akzeptiert von anderen eingeordnet zu sehen, hilft den Nahtoderfahrenen sehr, ebenso die Möglichkeit, ihre Eindrücke mitzuteilen und sich ihr eigenes Bild davon zu machen.

Die Nahtoderfahrungen haben normalerweise mehrere tiefgreifende und lange anhaltende Nachwirkungen. Im positiven Fall ist es mehr Lebensfreude, es kann aber auch dazu führen, dass die Nahtoderfahrenen Schwierigkeiten haben, ihr voriges Leben wiederaufzunehmen. Dies wiederum kann aber positiv für ihre weitere Entwicklung und für eine gesündere und lebenszugewandtere Lebensweise sein. Außerdem verringern Nahtoderlebnisse die Angst vor dem Tod, sodass der eigene Tod und der von anderen den Schrecken verliert. Trotzdem trauern Menschen mit Nahtoderlebnissen ebenso wie andere – der Trauerprozess ist notwendig für die Heilung.

Die Erfahrung verringert aber auch die Angst vor dem Leben und bringt die Menschen dazu, mehr im gegenwärtigen Moment zu leben und ihn zu genießen. Das bedeutet, dass man ganz in der Gegenwart ist, während man plant oder sich erinnert; die Vergangenheit und die Zukunft haben also immer noch ihren Platz.

Nahtoderfahrungen legen außerdem nahe, dass der Geist ohne das Gehirn, das Gedanken und Gefühle filtert, ziemlich gut funktionieren kann. Nahtoderlebenisse werfen dann auch Fragen nach dem Weiterbestehen des Bewusstseins nach dem Tod auf. Der Autor stellt außerdem die These auf, dass das bessere Verständnis von Nahtoderfahrungen und ihre Integration in unsere Naturwissenschaften und die Medizin dazu beitragen kann, das Leiden in der Welt zu verringern. Er verweist in diesem Zusammenhang z.B. auf den Buddhismus: Diese Religion sucht Erkenntnisse über die Welt, um harmonischer mit ihr zu leben, anstatt die Umwelt zu beherrschen. Außerdem helfen Nahtoderfahrungen nicht nur denen, die sie gemacht haben, sondern evtl. auch denen, die davon hören und sich darauf einlassen, ihr Leben und den Tod neu zu bewerten.

Ganzheitliche Denkweise und Berichte von Nahtoderfahrungen

Greyson, der u.a. auch mit Moody und Stevenson zusammengearbeitet hat, hat seine Erkenntnisse mit wissenschaftlichen Methoden auch anderer wissenschaftlicher Disziplinen als der eigenen überprüft und wundert sich darüber, dass manch andere Wissenschaftler nichts anerkennen wollen, was über ihren Tellerrand hinausgeht. Er sagt zu Recht, dass Theorien Theorien sind und nicht die ganze Realität abbilden, sondern ihr höchstens nahekommen. Das, was noch nicht wissenschaftlich erforscht, aber dennoch vorhanden ist, verdient eine wissenschaftliche Herangehensweise, zumal wenn es eine so positive Auswirkung auf Betroffene und evtl. auch ihre Umgebung hat wie Nahtoderfahrungen. Dabei verschweigt er aber auch nicht, dass manche Nahtoderfahrungen durchaus bedrohlich auf die Menschen wirken können, zumal wenn sie nicht sterben wollen. Er betont aber dennoch, dass auch diese Erfahrungen einen positiven Ausgang haben.

Sein Buch möchte Menschen erreichen und ihnen Mut machen. Das schafft Greyson durch viele anschauliche Nahtodberichte, durch die verständliche Schreibweise und die transparente Darstellung seiner Arbeit und auch seiner Gedanken und Gefühle, die er dabei hatte. Denn er verschweigt auch nicht seine Verwirrung und seine Zweifel angesichts des wissenschaftlich ignorierten Nahtodphänomens und des Erstaunens darüber, wie hilfreich dieses Phänomen letztlich ist. Das Buch eignet sich für alle, die sich dafür interessieren, aber auch für diejenigen, die Angst vor dem Tod haben und aufgeschlossen für die doch zahlreich vorkommenden Nahtoderfahrungen sind. Sie können zumindest trösten, vielleicht aber auch zu einer positiven Neuausrichtung des Lebens führen.


Genre: Nahtod, Sachbuch, Tod
Illustrated by Ansata / Penguin Random House