Frei: Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

Es geht um Freiheiten und wie sie sich beim Erwachsenwerden ändern. Das Buch gefiel anfangs, weil es die Gedanken und Gefühle eines kleinen Mädchens beschreibt, das im stalinistischen Albanien aufwuchs. Sie liebte ihre Lehrerin, die so schöne Geschichte von Stalin erzählte, und auch den Onkel Hoxha. Und die Lehrerin konnte so gut erklären, dass es im Sozialismus noch Klassenkämpfe geben muss, aber im Kommunismus wären dann alle absolut frei. Ihre Eltern und die Großmutter waren auch Sozialisten, jeder hatte eine Lieblingsrevolution, der Vater liebte die, die noch kommen sollte. Aber, warum wollten die Eltern kein Bild vom Präsidenten Enver Hoxha im Wohnzimmer haben?

Als in Berlin die Mauer fiel, war sie zehn Jahre alt geworden, und alles änderte sich. Die Eltern lästerten plötzlich über die geliebte Lehrerin. „Diesmal gab es keine Fixpunkte, alles musste von Grund auf neu erschaffen werden. Die Geschichte meines Lebens war nicht die von Ereignissen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt abgespielt haben, sondern die einer Suche nach den richtigen Fragen, jenen Fragen, die mir zuvor nicht in den Sinn gekommen waren.“ Hier nimmt sie die Leser/innen mit beim Erwachsenwerden, bei der Suche nach den Fragen. Nach und nach erfährt sie, dass die Eltern aus der Bourgeoisie stammten und dass sie wegen „der Biografie“ nicht ihre Berufe hatten wählen können.

Zur Oma hat sie eine besondere Beziehung, sie kam aus Saloniki, hatte am Osmanischen Hof verkehrt, in der Familie spricht sie nur Französisch. Da die Familie enteignet worden war, fährt sie zu Verwandten in Athen, in der Hoffnung, manches wiederzuerlangen. Lea darf mit und die Oma kauft ihr ein Tagebuch, wo sie alles vermerkt: Dass hier die Autos Schlange stehen, und nicht die Menschen, dazu gibt es noch Ausführungen über unterschiedliche Taktiken des Schlangestehens, oder, dass die Menschen angeleinten Hunden nachliefen oder Werbeplakate statt anti-imperialistischen Inschriften. Bananen und Jeans gibt es auch.

In Albanien werden die Auseinandersetzungen gewalttätig. Viele Menschen fliehen, aber keiner will die Migranten nun aufnehmen, manche ertrinken im Mittelmeer. „Freiheit wirkt“, sagte US-Außenminister James Baker, und dass die USA das Land auf seinem Weg in die Freiheit helfen würden. „Vor allem kam es aufs Tempo an. Milton Friedman und Friedrich von Hayek ersetzten Karl Marx und Friedrich Engels praktisch über Nacht.“ Es kommen neoliberale Manager. Irgendwann geht der Vater in die Politik, scheitert aber und die Mutter, ehemalige Mathematiklehrerin, wird Altenpflegerin in Italien.

Als sie dann erwachsen geworden ist, am Ende der Geschichte, schreibt sie einen Epilog, Vater und Oma sind gestorben, das Buch widmet sie der Oma. Eigentlich wollte sie ein Sachbuch schreiben, aber die Lektorin riet zu diesem Format, ein guter Rat, denke ich, so bekommen die Gedanken die Gesichter derer, die sie vertreten. Und die Übersetzung aus dem Englischen ist auch gelungen.

Sie berichtet, dass sie Philosophie erst in Italien studierte, wo sie mit neuen Freunden über Politik diskutierte. „Westliche Sozialisten, um genau zu sein. Sie sprachen von Rosa Luxemburg, Leo Trotzki, Salvador Allende und Ernesto „Che“ Guevara, als wären es westliche Heilige. In der Hinsicht ähnelten sie meinem Vater: Alle Revolutionäre, die sie für bemerkenswert hielten, waren ermordet worden.“ Ein Zitat von Rosa Luxemburg ist dem Buch vorangestellt: „Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst.“

Und dann erzählt sie noch, wie sie an der London School of Economics ihre Marx Seminare beginnt. Ob man da wohl mal Gasthörerin werden kann?


Genre: Biographien, Erfahrungen
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Irland. Eine literarische Einladung

Irland. Eine literarische Einladung

Irland. Eine literarische Einladung. Im keltischen Kalender bezeichnet der Vollmond im November die Geburt eines neuen Jahres und symbolisiert einen Endpunkt, den Tod des alten Jahres. In der heidnischen Tradition ist er unter dem Namen “Klagemond” bekannt. In vielen Kulturen wird dieser Vollmond mit Tod und Verlust assoziiert, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Manche nennen ihn “Schneemond” oder “Nebelmond” und heute, da ich in einem Seenebel fröstele, der die Sonne verbirgt, kann ich beides nachvollziehen.”, schreibt Kerri Ní Dochartaigh in ihrem Beitrag, “Dünne Orte”, zu vorliegender Anthologie. Die Tage von Samhain, bei uns auch als Halloween bekannt, lüften die Schleier zwischen den Welten, der Mond ist der letzte vor der sog. Wintersonnenwende. Der Schilfmond wurde auch nach den Schilfgräsern, den Wächtern, benannt, die botanische Zeichen für Samhain sind. Ihre “dünnen Orte” erlauben uns, innezuhalten im Fluss der Zeit. So wie wir am Tag der Toten, Allerseelen, innehalten, um unseren Vorfahren zu gedenken und sie zu ehren.

Irland im Ausverkauf

Kevin Barry eröffnet in vorliegender von Paul McVeigh zusammengestellten Anthologie den Reigen irischer Literatur. In Ox Mountains Todeslied, das im Stile einer amerikanischen Pulp-Short Story verfasst ist, sind die Männer noch aus Hartholz geschnitzt und leiden unter den Frauen.”Ein Canavan kannte auch den größten Trost, der einem Mann zuteil werden kann – dass man ein Mädchen zum Lachen bringen konnte.” Barry stammt aus Limerick. Ox Mountains Todeslied erschien erstmals im New Yorker und in seiner Anthologie “That Old Country Music“. Einen ganzen Berg muss der Protagonist in Jan Carson’s Beitrag, “Nur ein besserer Hügel”, versetzt werden. Der Slemish Mountain in Ballymena wird abgetragen, um nach Japan verschifft zu werden. Darren’s Dad kriegt deswegen einiges zu hören, aber es hilft alles nichts, er braucht das Geld. Vom inzwischen kosmopolitischen Belfast berichtet Riley Johnston in “Gemeinsamkeiten”, wo sie eine Dating-Situation beschreibt, wie sie wohl nicht nur Englischlehrerinnen passiert. Herausgeber Paul McVeigh ist mit einem Auszug aus seinem Roman “Guter Junge”, der ebenfalls bei Wagenbach erschienen ist, vertreten. Sein Mickey Donnelly schafft es, freihändig auf Napoleon’s Nose zu stehen und das Gleichgewicht zu behalten.

Here Are the Young Men

Nach Derry, Londonderry oder Doire entführt uns Darran Anderson mit seinen “Kartographien“. Auch hier geht es um die Zeit: “Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr werden wir zu einer Art Fiktion, sogar für uns selbst.” Ein Spiegel könne das Verstreichen der Zeit nicht so verheerend offenbaren wie eine Fotografie. Und obwohl wir alle Exilierte, ja Kosmopoliten, seien, würde der Mittelpunkt des Universums stets jener Ort bleiben, an dem wir aufgewachsen sind. “Vielleicht ist Stolz nicht das richtige Gefühl, doch überlebt zu haben und dabei im Großen und Ganzen anständig geblieben zu sein – das ist nicht wenig.” Mit ganz anderen Problemen kämpft die Protagonistin in Evelyn Conlon’s “Verstörende Worte”. Binnen eines Tages sterben beide ihrer Eltern und anfangs ist es nicht so klar, wer aus Liebeskummer oder wer zuerst starb. Dave Lordan, ein Gen-X-Poet, erzählt vom Fall der Mauer und den Bomben in Bagdad, die fielen, während er in seiner Jugend in West Cork die “time of his life” hatte. Die Leute in Cork sind stolz darauf, dass sie den Unabhängigkeitskrieg gewannen, während ihn der Rest des Landes verlor. Auch huldigt Lordan den Cureheads, Grufties und New Romantics, die den Weg für die heute weit verbreitete Akzeptanz von Nicht-Cis-Menschen vorbereitet hätten. Auch der aus Dublin stammende Rob Doyle bläst in ein ähnliches Horn. Sein Beitrag “Matthew” stammt aus seinem zweiten Roman “Here Are the Young Men”.

Weitere Beiträge von Darran Anderson, Kevin Barry, Evelyn Conlon, Rob Doyle, Liam O’Flaherty, Riley Johnston, Dave Lordan, Frank O’Connor, Éilís Ní Dhuibhne, Jan Carson, Kerri Ní Dochartaigh und nicht zuletzt Paul McVeigh selbst.

Paul McVeigh (Hrsg.)
Irland
Eine literarische Einladung
Aus dem irischen Englisch von Hans-Christian Oeser u. a.
SALTO [268]. 17.3.2022
144 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1367-2
Wagenbach Verlag
20,– €


Genre: Anthologie, Irland, Literatur, Sammelband
Illustrated by Wagenbach

Lucky Luke Bd. 101: Rantanplans Arche

Lucky Luke Nr. 101 - Rantanplans Arche

Tierschutz und vegetarische/vegane Lebensweise

In Cattle Gulch, wo Lucky Luke seinen neuen Auftrag bekommen soll, muss er erst einmal die Menge vor einer Lynch-Aktion abbringen. Olive Byrde, der Gerettete, entpuppt sich als wahrer Tierfreund, der zuhause eine Ranch voller geretteter Tiere versorgt. Außerdem hat er aus Mitgefühl für Tiere dem Fleischgenuss abgeschworen und ernährt sich nur noch vegetarisch – was durchaus auch köstlich ist, wie Luke trotz seines Hungers auf ein ordentliches Steak feststellt. Luke ist beeindruckt von Byrdes Lebensweise und den glücklichen Tieren auf dessen Farm, aber leider steht er mit dieser Bewunderung ziemlich allein da, denn der tierliebe Mann wird von allen anderen als Spinner verschrien und sogar tätlich angegangen. Trotzdem gibt Byrde nicht auf und findet sogar hin und wieder Unterstützerinnen. Aber nachdem Luke den wieder einmal verirrten Rantanplan im Gefängnis abgesetzt und dort von Byrde erzählt hat, macht sich ein Gauner dessen Gutmütigkeit zunutze und bringt in Byrdes Namen Terror über Cattle Gulch, das sich jetzt Veggie Town nennt. Tacos Cornseed trommelt dazu die schlimmsten Verbrecher*innen des Westens zusammen, um mit striktem Vegetarismus Geld zu verdienen. Byrde ist zwar froh, dass die Bewohner von Veggie Town auf einmal dem Fleisch und der schlechten Tierhaltung abgeschworen zu haben scheinen, aber selbst ihm entgeht nicht, dass sich trotzdem alles zum Schlechteren wendet. Das bemerkt auch Lucky Luke, als er von seinem Auftrag zurück ist, und er muss um das Leben seines Pferdes Jolly Jumper fürchten.

 

Der Weg zu einer heileren Welt

Der in sich abgeschlossene Comic nutzt als Ausgangsbasis für seine Story die wahre Gründungsgeschichte von Tierschutzvereinen in den USA und bietet am Ende ein kurzes Portrait zu Henry Bergh, der den Grundstein für die Tierschutzbewegung in Amerika legte. Außerdem stellt der Band den Deutschen Tierschutzbund kurz vor.

In diesem Band vereint sich vieles. Man fühlt sich z.B. sofort an die 80er erinnert, in denen Vegetarier*innen aufgrund ihres Lebensstils verlacht und verspottet wurden, ohne dass sich die Fleischesser meist männlichen Geschlechts gefragt hätten, ob an diesem Lebensstil nicht doch etwas dran ist. Das wird im Comic deutlich, indem die Farm von Byrde eine eigene Welt darstellt, die zudem von Cattle Gulch abgelegen und somit auch räumlich getrennt ist. Es gibt eigentlich keine Berührungspunkte, bis Tacos den vegetarischen Lebensstil gewaltsam durchsetzt. Aber auch dann finden nur Tierliebhaber*innen den Weg zur Farm und nicht das „normale“ Volk.

Anders Luke. Er ist offen genug, sich den „Spinner“ und seine Lebensweise einmal anzusehen und erlebt eine glückliche und geradezu heilsame Art und Weise, wie Tiere und Menschen miteinander umgehen könnten. Diese heile Welt springt geradezu von den Panels auf die Leser*innen über und vermittelt Glücksgefühle. Luke wird zwar trotzdem wohl weiterhin Hunger auf sein Steak haben, aber er kennt jetzt auch einen anderen Ernährungsstil und geht insgesamt achtsamer mit anderen Lebewesen um. Verstärkt wird das noch durch den in Lebensgefahr geratenen Jolly Jumper.

Außerdem drücken in den Panels die Tiere ihre Gefühle sowohl im Positiven als auch im Negativen (Angst, Qual) sehr gut aus – so wird im wahrsten Sinn des Wortes bildlich dargestellt, dass alle Lebewesen Gefühle haben und damit Subjekte und keine Objekte sind, mit denen man machen kann, was man will. Das muss sich in letzter Konsequenz auch in der Gesetzgebung niederschlagen.

Auch Kinder sind schon empfänglich für Ethik, wenn es um Tiere geht. Im Comic wird das durch „Flinker Lauch“, das Kind eines der Stämme der Indigenen, gezeigt. Er weigert sich Fleisch zu essen, weil der Kleine den Vortrag eines Tierschützers gehört hat. Ich selbst erinnere mich an einen Jungen in der Kita, der, als er erfahren hatte, dass seine Mahlzeit aus dem Fleisch von Tieren gemacht ist und deswegen Tiere getötet werden mussten, kein Fleisch mehr essen wollte und das auch durchzog. Mit vier Jahren!

Nebenbei werden noch sehr realistisch die Eltern“freuden“ dargestellt, denn entgegen allem Mythos ist das Elterndasein alles andere als ein Zuckerschlecken. Allerdings geht in diesem Fall auch das Unverständnis der Eltern und überhaupt der Gesellschaft mit Menschen einher, die empathischer und mitfühlender sind als andere. Diese werden leider oft gemobbt, ausgelacht, beschimpft, abgewertet, lächerlich gemacht, anstatt das Potential zu sehen, das solche Menschen in sich tragen und mit dem sie die Welt ein Stück besser machen würden. Mittlerweile kommt es zum Glück immer mehr in der Mitte der Gesellschaft an, dass zu viel Fleischkonsum ungesund, umfassend umweltschädlich, mitverantwortlich für den Hunger der Welt und aufgrund der Massentierzucht ethisch nicht vertretbar ist.

Allerdings zeigt der Comic auch, wohin Fanatismus führt. Byrde ist ein herzensguter Mensch, aber sein Idealismus und sein verzweifeltes Wollen einer besseren Welt führen dazu, dass er blind ist für seine Angestellten, die aus lauter Verbrechern bestehen. Dass sie Namen aus der pflanzlichen Nahrungswelt tragen, blendet Byrde ebenfalls. So erwächst aus einer eigentlich guten Sache etwas Ungutes, in diesem Fall der unter Todesstrafe gestellte Zwang, auf Fleisch zu verzichten und an der Lebensrealität vorbeizuleben. Mit Zwang erreicht man kein Verständnis. Übertragen auf unsere Welt hieße das, dass Aktionen von Umweltschützer*innen, die Dingen oder Menschen schaden (z.B. Gemälde beschädigen) eher das Gegenteil von dem auslösen, was sie eigentlich erreichen wollen. Ausgerechnet die Kunst zu wählen, die von jeher ein Mittel der kritischen Auseinandersetzung mit der Welt ist und diese intelligent spiegelt, geht völlig am Umweltschutzgedanken vorbei und spielt dazu noch denjenigen in die Hände, gegen die die Umweltschützer* eigentlich vorgehen wollen, wie z.B. Öllobbyisten.

Ansonsten ist der Humor wie üblich pfiffig, scharfsinnig und treffend. Allerdings geht er im Fall der Gemüsetotems völlig an der Kultur der Indigenen vorbei, denn Tiertotems spielen eine wichtige Rolle in der Spiritualität: Sie sind Beschützer und Vermittler zwischen Natur, Diesseits und Jenseits und stellen archetypische Tiere dar. Wohlwollend könnte man die Gemüsetotems im Comic vielleicht noch als Versuch werten, auch den Pflanzen ihre Bedeutung als Lebe- und spirituelle Wesen zuzugestehen. Humoristisch bekommen allerdings beide Seiten (die der Fleisch- und Pflanzenesser) ihr Fett weg, wobei der Blick auf Vegetarier wohlwollender ist.

Die Arche steht hier für die letzte Zufluchtsstätte der Tiere, wo sie noch so sein und leben dürfen, wie sie sind.

 

Fazit

Intelligent und humorvoll gestaltete Auseinandersetzung mit den Themen Tierschutz und Vegetarismus.


Genre: Comic, Tierschutz, vegetarische/vegane Lebensweise
Illustrated by Egmont Ehapa

Zur See

Zur SeeIn ihren anderen Büchern ging es um das Landleben und, wie Menschen sich ändern müssen, um dort zu leben: Im Alten Land suchen Vertriebene eine neue Heimat und bleiben fremd, in der Mittagsstunde flieht ein Einheimischer in die Stadt, aber kommt immer wieder zurück und beobachtet, wer und was sich ändert. (link Landlust und Landfrust) In Zur See bleiben die Inselbewohner der Heimat treu und erleben, wie das Meer auch andere in seinen Bann zieht. Aber auch, was sich hier alles ändert. Da sind alte Geschichten zu erzählen, von Männern, die zur See gingen und von großen Fluten. Wir leben mit den Menschen auch in der Winterzeit, sehen wie die Gewerke der Fischer und Bauern sich ändern und lernen, wie der Zeitplan der Fähre das Leben bestimmen kann.

Auf einer kleinen Nordseeinsel lebt Hanne Sander im Kapitänshaus mit ihrem Ältesten, einem wegen seiner Alkoholkrankheit ausgemusterten Kapitän, der gerne den kauzigen alten Seebären gibt, das lieben die Touristen, besonders weibliche. Das Haus ist seit Jahrhunderten im Familienbesitz. Darüber kreisen Drohnen, denn eine solche Immobilie würde jeder Makler gerne vermarkten. Es gelingt ihr gut, dies zu ignorieren, und wenn sie in Ruhe lesen will, dann versteckt sie sich hinten im Garten neben Komposthaufen und Mülltonnen, denn vorne laufen die Touris.

Ihr Jüngster feiert seinen dreißigsten Geburtstag, in seinem Atelier. Er war schon immer ein Aussteiger, hat die Insel nie verlassen, geht barfuß mit seinem Hund jeden Tag am Strand lang und sammelt Strandgut. Daraus schafft er Kunstwerke, die sich gut verkaufen, an die Städter, die ihre Zweithäuser damit schmücken. Bei der Party kennt sie nur den Pfarrer, die anderen Gäste sind Teil der Parallelwelt, Städter, die vom Meer angezogen wurden. Sie geben sich einheimisch, wenigstens schlurfen keine Tagestouristen mit Schlappen durchs Atelier. Aber auch dieser „zweite Stamm“ bleibt nicht, irgendwann finden sie, dass ihre Sehnsucht nicht gestillt wird, sie bleiben fremd und ziehen wieder zurück aufs Festland. Überhaupt hat sich der Tourismus gewandelt: Früher hat Hanne Zimmer vermietet, an Gäste, die in den Zimmern der Kinder schliefen, die Kinder wurden wegsortiert. Darüber hat sie auch Jens verloren, ihren Mann und Vater der Kinder.

Er zog vor über 20 Jahren aus, lebt als Einsiedler bei seinen geliebten Vögeln, die Zwergseeschwalben haben es ihm besonders angetan. Er kämpft für die Erhaltung der Natur, nicht nur ihm, auch anderen ist bewusst, dass der Meeresspiegel steigt, und größere Fluten kommen könnten. Eigentlich ist er zu alt, um so allein zu leben, zittert stark, seine Vorgesetzten sagen es ihm aber nicht, sie schicken „Prinzen“, junge, dynamische Vogelkundler mit Laptop. Mit dem letzten kommt er klar und mit ihm kann er wieder Menschen in seiner Nähe ertragen, sogar in einem Raum zusammen schlafen.

Tochter Eske ist Altenpflegerin, hört neben Heavy Metal gerne die Geschichten der Alten im Heim, begleitet sie in den Tod. Sie hatte die alten Sprachen der Küsten studiert, kam aber zurück. Sie gibt das Raubein, vertreibt gerne Touristen mit ihrem Auto an die Straßenränder. Eine Inselregel lautet: „Sei nie freundlich zu Touristen!“ Sie schämt sich, wenn die Einheimischen Touristenrummel veranstalten, wie bei der Hafenfeier.  Auch der Pfarrer kennt alle von früher, aus dem Konfa. Sein Glaube, auch an sich selbst, wird bedroht, gerade, als seine Frau aufs Festland zieht, natürlich nicht seinetwegen, sondern, um bei den Enkeln zu sein und er allein zurückbleibt.

In der größten Not … gibt es auch Veränderungen, die die Menschen wieder zusammenbringen, so kommt Jens zurück ins Kapitänshaus, denn schweigen kann er auch dort, bei Hanne.

Ich lese so etwas gerne: die richtige Balance zwischen Sehnsucht und Realität, etwas Spökenkiekerei und viel Empathie.


Genre: Deutsche Literatur, Familiengeschichte
Illustrated by Penguin

Tomás Nevinson

Der letzte Roman des Romanciers Javier Marías

Tomás Nevinson. Das auf Deutsch 2019 erschienene „Berta Isla“ bildet mit “Tomás Nevinson”, das im Todesjahr des spanischen Autors, 2022, erschien, quasi ein Roman-Diptychon über die beiden gleichnamigen Eheleute. Javier Marías nennt seine beiden Romane im Nachwort zu vorliegender Ausgabe ein “Paar”, kein Fortsetzung. In seiner schon zuvor unter Beweis gestellten “Poetik der Abschweifung” gibt sich Javier Marias wieder ganz seinem eigentlichen Leitmotiv hin: die Unmöglichkeit, den anderen wirklich zu kennen.

Tomás Nevinson: Don’t linger and delay!

Bertram “Bertie” Tupra, der Chef des Geheimdienstes wendet sich erneut an Tomás Nevinson, der eigentlich mit seinem alten Arbeitgeber schon abgeschlossen hat. Seine Ehe mit Berta Isla war aufgrund seiner Arbeit tief zerrüttet worden, wovon der quasi erste nach ihr benannte Teil des Roman-Diptychons ausführlich Beweis ablegt. Zwischen der spanischen ETA und der irischen IRA, beides zwei Terrororganisationen, die die Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts beherrschten, so wie es heute die Dschihadisten tun, musste Tomás mit seinem natürlichen Talent für beide Sprachen dem Geheimdienst stets zur Stelle sein. Auch dieses Mal, im quasi zweiten Teil, sind wieder seine Sprachkenntnisse gefragt, denn er soll für Tupra eine nordirische Terroristin namens Magdalena Orue O’Dea enttarnen.

Drei Frauen im Terrorverdacht

Als Deckidentitäten wurden vom Geheimdienst drei Frauen eingekreist, die als Magdalena in Frage kämen: Maria Viana, Celia Bayo und Inés Marzán. Alle drei leben im Nordosten von Madrid in dem Städtchen Ruan. Nevinsons Aufgabe ist es nun, die “richtige” der drei Frauen als Magdalena Orue O’Dea zu identifizieren und dann zu liquidieren. Er hatte in seiner Laufbahn beim Geheimdienst schon zwei Männer umgebracht. Nun tut er sich allerdings als Vertreter der alten Schule noch etwas schwer bei dem Gedanken, eine Frau umzubringen. Erst als ihm sein Arbeitgeber, Tupra, unter Druck setzt und meint, ansonsten alle drei zu füsilieren, wenn er sich nicht für eine entscheiden könne, beginnt Nevinson zu spuren und will die Mordtat umsetzen. So kann er wenigstens zwei der drei Frauen “retten”. Aber genauso gut kann es sein, dass er selbst zum Opfer der Terroristin wird, da diese längst Lunte von seinem Vorhaben gerochen hat. Wird als der Verfolger bald zum Verfolgten? Auch dadurch erreicht Javier Marías ein “Moment der letzten Spannung”, das die Handlung in der Peripetie des Romans jederzeit wieder herumreißen könnte.

Der rote Faden: (Un-)Schuld

Als roter Faden des Romans kann zweifellos die Frage gelten, ob es legitim sei, einen Menschen zu töten, um ein Blutbad an der Menschheit zu verhindern. Marias bringt dabei immer wieder das Beispiel eines vermeintlichen Hitler-Attentäters, der diesen vom Wald in Berchtesgaden zwar im Korn hatte, beim Laden einer echten Patrone aber erwischt und verhaftet wird. Dieses vereitelte Attentat ist quasi die Mise en abyme des Romans Tomás Nevinson und der Person Tomás Nevinson. Lassen sich Schuld und Unschuld eines Menschen zweifelsfrei erkennen und vor allem beweisen? Und darf man einen Menschen töten, um ein größeres Verbrechen zu verhindern? Im Falle Hitlers wäre diese Antwort zweifellos einfacher mit “Ja” zu beantworten, als im Falle von Magdalena Orue O’Dea. Denn die Terroristin ist ja seit einiger Zeit untergetaucht und bereut vielleicht ihre Taten bereits.

Reue nur durch Misserfolg

Aber ist diese Reue ausreichend für eine Entschuldung? Die Massaker der Vergangenheit wiegen schwer und auch die Zugehörigkeit zu einer Terrororganisation, die vor allem zivile Opfer im Visier hat, wäre eigentlich schon Grund genug, sich mit Schuld zu beladen. Und überhaupt Reue! Der einzige Grund zur Reue sei nicht nur bei einem Mörder der Misserfolg. “Dass ein Spiel schiefgeht. Die gelungenen beklagt man nicht, auch nicht die ungestraften.” Wenn es die mangelnde Reue ist, die einen Menschen vom Unschuldigen zum Schuldigen stempelt, sind wir dann nicht alle verurteilenswert? Und noch eine Frage steht ganz deutlich im Raum dieses Jahrhundertromans: Machen wir uns alle nicht gegenseitig etwas vor?

Maxime des 21. Jahrhunderts

Ist die Lüge nicht längst zum geheimen Credo dieses so scheußlich gewordenen 21. Jahrhunderts geworden? Die Lüge und die Täuschung, ja. Javier Marías’ letzter Roman ist voller Anspielungen und Zitate, darunter auch eine Huldigung an die drei Musketiere von Alexandre Dumas u.v.a.m. Aber auch Beispiele aus der Geschichte holt der Autor aus dem Vergessen und flechtet sie ein in diesen Roman der Abschweifung. Der Sohn eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen zeigt auch in seinem letzten Roman, dass es der Zweifel und der Selbstzweifel sind, die uns eigentlich zu den Menschen machen, die wir sind. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt. Am 11. September 2022 ist Javier Marías in Madrid verstorben.

Javier Marías
Tomás Nevinson. Roman.
Übersetzt von: Susanne Lange
2022, Hardcover, 736 Seiten
ISBN: 978-3-10-397132-3
S. FISCHER Verlag


Genre: Krimi, Roman, Spanien
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Glaube Hoffnung und Gemetzel

Glaube, Hoffnung und Gemetzel

Glaube, Hoffnung und Gemetzel. “Hoffnung ist ein Optimismus mit gebrochenem Herzen“, lautet einer der letzten Sätze dieser schonungslos offenen Beichte eines der herzlichsten Rockstars unserer Gegenwart. Erst gegen Ende des vorliegenden Interviewbuches gelingt es dem englischen Journalisten Sean O’Hagan (Guardian, Observer) das Gespräch mit seinem Interviewpartner, Nick Cave, auch auf das zweite Wort im Titel zu lenken. Von Glaube und Gemetzel ist nämlich weit ausführlicher die Rede. Nicht nur weil das vorläufig letzte Album von Nick Cave und Warren Ellis “Carnage” (dt.: Gemetzel) heißt.

Verlust, Trauer und Rastlosigkeit

Jeder Mensch, der es schafft, die magische Grenze der 50 zu überschreiten, wird spätestens dann mit Verlust und Trauer konfrontiert. Diese beiden Gespenster gehören zum Leben wie das Amen zum Gebet. Aber sie müssen nicht unbedingt das Ende bedeuten. Nick Cave, der im selben Jahr nicht nur einen Freund, seine Mutter, seinen Sohn und seine Freundin verlor, weiß am besten wie man damit umzugehen lernt. Kurz vor Drucklegung des Buches starb auch noch ein weiterer Sohn von Nick Cave, wie Sean O’Hagan im Epilog erschüttert vermerkt. Sein Verlust war ein jüngerer Bruder und vielleicht hat genau das die beiden so unterschiedlichen Männer einmal zusammengeführt: gemeinsam zu trauern. Über den Zeitraum des ersten Lockdowns ist durch einige Telefongespräche ein Buch entstanden, das jedem, der trauert, helfen wird, diese zu überwinden.

Arbeit als Antidepressivum

Nick Cave schaffte es sogar die Aufnahmen zu seinem “Skeleton Tree” Album fertigzustellen, da das einzige Antidepressivum das für ihn wirkte, Arbeit war. Das vorletzte Album mit den Bad Seeds enthält eine Menge Songs, die vor dem Tod seines Sohnes Arthur geschrieben wurden, aber dennoch genau auf die Situation nach seinem Tod passen. Es ist, als hätte Nick Cave das vorweggenommen, was später geschah. Andrew Dominik (“Blonde”) machte darüber den beeindruckenden Film “One More Time With Feeling”. Als dann auch noch “Ghosteen” erschien, das vorläufig letzte Album mit den Bad Seeds, kam die Pandemie und vereitelte die groß angelegte Tournee eines Albums, das die Welt so noch nie gehört hatte.

Man in Dark Black

Vor allem nicht von Nick Cave. Und so hatte Sean O’Hagan mehr Zeit den “Man in Dark Black” zu interviewen. Natürlich geht es auch um Kunst, Freiheit, Beziehung, Musik, die Red Hand Files, “In Conversations”, Australien und andere interessante Themen, die von Nick Cave stets mit dem gewohnten Schuss Selbstironie präsentiert werden. Sean O’Hagan, der Nick Cave schon über dreißig Jahre kennt, weiß auch, wie man den Egomanen in die Schranken verweist und so ist eine lesenswerte Lektüre entstanden, die einen Menschen zeigen, der seinen Weg zu Gott selbständig gefunden hat.

Glaube, Hoffnung und Gemetzel

Es ist ein erschütterndes und gleichzeitig sehr hoffnungsvolles Buch, denn es ist auch viel von Reue und Vergebung die Rede. Man kann den Schmerz den Eltern, die eines ihrer Kinder verlieren, haben, wohl kaum beschreiben, aber sehr wohl nachempfinden, wie es ist, wenn einem der Teppich unter den Füßen weggezogen wurde. Jedem ist es vielleicht schon einmal so gegangen, wenn eine Beziehung zu Ende ging, aber was der Verlust eines Kindes bedeutet ist wahrscheinlich unermesslich. Dennoch haben es Susi und Nick geschafft: “Wir haben überlebt, weil wir zusammengeblieben sind. So einfach ist das. Wenn einer hinfiel, hat der andere übernommen. Das war entscheidend.”

Gesunde Egomanie

Denn die meisten Paare die so etwas erleben zerbrechen, machen sich gegenseitig Schuldzuweisungen und Vorwürfe. Also auch das ist ein Wunder. Aber Nick Cave spricht noch von viel mehr Wundern, denn das Trauern kann sehr unterschiedliche und unvorhergesehene Formen annehmen. Bei ihm mündete sie in noch mehr Aktivität und Kreativität, rastlos und egomanisch bestimmt, ja, aber es hilft auch anderen Menschen, wenn einer zeigt, dass man es trotzdem schafft.Und so ist auch “Glaube, Hoffnung und Gemetzel” zu verstehen, als Ermunterung, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Leiden als menschliche Verbindung

Wir erkannten auf eine sehr tiergehende Weise, dass Menschen liebenswürdig waren. Die Menschen sorgten sich um uns. Ich weiß, dass das simplifizierend klingt, vielleicht sogar naiv, aber ich kam zu dem Schluss, dass die Welt am Ende doch nicht so schlecht war – dass letztlich das, was wir für böse halten oder als Sünde bezeichnen, eigentlich Leiden ist.” Und genau das verbindet uns Menschen, denn das Leiden haben wir alle gemeinsam. Man muss sich nur entscheiden, ob man sich auf diese liebende Kraft hinbewegt, die einem Trost spendet, oder lieber zugrunde gehen will. “Niemand hat Kontrolle über die Dinge, die einem zustoßen, aber wir haben die Wahl, wie wir darauf reagieren.”

Ein unvergleichliches, absolut empfehlenswertes Buch, das viel Weisheit enthält und nicht nur an Allerheiligen, dem Tag der Toten, viel Trost über die Verluste und Wunden, die das Leben eines jeden schlägt, bietet.

Nick Cave/Sean O’Hagan
Glaube, Hoffnung und Gemetzel
Übersetzt von: Christian Lux
2022, Hardcover, 336 Seiten
ISBN: 978-3-462-00331-4
Kiepenheuer&Witsch


Genre: Biographie, Interview
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Die Kakerlake

Zuallererst: Nicht überall, wo Ian McEwan drauf steht, ist auch Ian McEwan drin. Wer als Leser also das übliche, flüssig-harmonische Gleiten einer bisweilen pointierten, aber immer eingängigen Handlung wie in „Honig“ oder „Solar“ erwartet, sei vorgewarnt. Surrealistische Trends wie in „Der Tagträumer“ haben bereits aufblitzen lassen, dass der Autor auch anders kann, wenn er will. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Gesellschaftsroman, Humor und Satire, Politik und Gesellschaft, Roman
Illustrated by Diogenes

Dunbridge Academy 2: Anyone

Dunbridge Academy - Anyone
 - Sarah Sprinz - PBNur beste Freunde?

Victoria Belhaven-Wynford und Charles Sinclair sind schon seit langer Zeit beste Freunde. Was beide allerdings voreinander verschweigen: Sie lieben sich gegenseitig. Aber immer wieder verhindern Befürchtungen und diverse Verstrickungen, dass sie sich ihre Liebe gestehen. Stattdessen lässt Charles das Gerücht aufkommen, er sei in Eleanor verliebt. Und Victoria geht eine Beziehung mit Valentine ein – vor dem sie allerdings nicht nur ihre Freundinnen, sondern auch Charles immer wieder warnen. Denn dieser verhält sich Frauen gegenüber toxisch. Nur will Victoria das nicht wahrhaben, da sie auch sieht, woher Valentine seine psychischen Schäden hat. Statt sich von ihm abzuwenden will sie Valentine helfen. Allerdings nimmt dieser keine Hilfe an, dafür demütigt er Victoria immer wieder. Trotzdem bleibt Victoria weiterhin an seiner Seite. Aber als sie erfährt, dass Charles zusammen mit Eleanor bei der alljährlichen Romeo-und-Julia-Aufführung den Romeo und Eleanor die Julia spielen wird, wird es immer schwerer für sie, ihre Gefühle für Charles zu unterdrücken. Als wäre das noch nicht genug, soll sie für die Drehbuch-AG die Liebesgeschichte zwischen den beiden verfassen. Und auch in Victorias Familie läuft nicht alles rund: Ihre Mutter hat erneut angefangen zu trinken.

 

Romantische Verwicklungen, Substanzmissbrauch, toxische Beziehungen

Der zweite Teil der Trilogie befasst sich mit einem Freundespaar von Emma und Henry: Victoria und Charles. Emma und Henry kommen zwar auch vor, nehmen aber jetzt Nebenrollen ein, da sowohl Charles als auch Victoria in Vergangenheit und Gegenwart mitsamt ihren Schwierigkeiten und Gefühlen näher beleuchtet werden. Es geht dabei eher nebenbei um den Konflikt Bürgertum-Geldadel und darum, dass nicht alles Gold ist, was glänzt, denn der (Geld-)Adel hat so seine eigenen Schwierigkeiten. Alkoholsucht z.B. macht jedwede Familie kaputt und Sprinz zeigt, wie sehr Victoria und ihre Familie im co-abhängigen System gefangen sind. Valentine nimmt Drogen, um sich dem schädigenden Druck seiner reichen und mächtigen Familie zu entziehen, und er demütigt andere, um sich selbst zu erhöhen.

Victoria geht eine Beziehung mit Valentine ein, um über ihre Liebe zu Charles hinwegzukommen, aber auch, weil sie Valentine anziehend findet. Aber ihr kaum vorhandenes Selbstbewusstsein verhindert, dass sie dieser toxischen Beziehung rechtzeitig den Rücken kehrt – sie hat in ihrer Familie gelernt, sich und ihre Bedürfnisse zu unterdrücken und zu funktionieren. Immer wieder wird in ihren Formulierungen und Gefühlen deutlich, dass sie in die Falle der typisch-patriarchalen Rolle einer sich (auf)opfernden Frau tappt und dort lange verharrt, bis sie endlich ihren Zweifeln, ihren Gefühlen und ihren Freunden Gehör schenkt und sich nach und nach Selbstbewusstsein erarbeitet, das sie aus dieser Opferrolle befreit, die sie als Tochter und als Girlfriend innehat.

Diese emotionalen Stürme und Schmerzen tun schon beim Lesen weh, sodass die Triggerwarnung des Buches – toxische Beziehung, Essstörung, häusliche Gewalt, Substanzmissbrauch und Abhängigkeit – gerechtfertigt ist. Denn nicht nur die Hauptfiguren Victoria und Charles werden vorgestellt, sondern auch Victorias schwuler Bruder und dessen Boyfriend, der in einem gewalttätigen Zuhause lebt.

Die Buntheit von Beziehungen ist also ebenfalls Thema des Bandes, aber eher nebenbei – so sollte es auch in der Realität sein: Liebevolle Beziehungen, egal welcher Art, sollten so selbstverständlich sein, dass man keine großen Worte mehr darüber verlieren muss. Dass Beziehungen durchaus schwierig sind, kommt der Realität schon sehr nahe und korreliert auch mit dem Stoff von Romeo und Julia, die sich ebenfalls Schwierigkeiten gegenübersehen. Aber im Gegensatz zu deren tragischem Ende setzen die Figuren in diesem Band alles daran, ihre Schwierigkeiten anzupacken (wenn auch ganz realistisch mit Rückschlägen), zu überwinden und sich weiterzuentwickeln. Dabei helfen ihnen (Selbst-)Reflexionsfähigkeit, Kommunikation und Freundschaften. Es wird also auch gezeigt, wie man mit Schwierigkeiten umgehen könnte.

Was mich aber persönlich etwas gestört hat, ist das kaugummiartige Hinziehen der Beste-Freunde-Sache und die Verbohrtheit Victorias, was Valentine angeht, obwohl beides durchaus plausibel entfaltet wird. Das ist aber wohl meinem persönlichen Geschmack geschuldet.

 

Fazit

Romantische Verwicklungen mit Tiefgang. Für Teenager und junge Erwachsene.


Genre: Romantik, Substanzmissbrauch, toxische Beziehungen
Illustrated by LYX

Das Archiv der Gefühle

Nach der vorausgehenden Lektüre von Orhan Pamuk, Richard Powers und Jonathan Franzen kann man den Schweizer Autor Peter Stamm mit Fug und Recht als echtes Kontrastprogramm bezeichnen. Nach Büchern mit einer blumigen bis schwülstigen Sprache, bunten und detaillierten Bildern, feinsinnig gerankten bis langatmigen Familiengeschichten und teilweise aufwühlenden Emotionen ist die Umstellung zu „Das Archiv der Gefühle“, als hänge man Pieter Bruegel den Älteren neben Mondrian.

Aber – im einen wie im anderen Fall – absolut wohltuend und bereichernd. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Erzählung, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Milch ohne Honig

Ursachen und Folgen des Insektensterbens – aber auch Lösungen

Was passiert, wenn dem Land von Milch und Honig der Honig ausgeht? Oder andersherum gefragt: Was passiert mit den Lebewesen der Erde, wenn Bienen und andere Insekten unsere Pflanzen nicht mehr bestäuben? Diesen Fragen geht Hanna Harms in ihrem mit dem Ginco Award in der Kategorie „Best Non Fiction“ ausgezeichneten Graphic-Novel-Debüt nach. Mit einfachen, aber punktgenauen Sätzen und ebenso einfachen, aber pointierten Zeichnungen, die bestens miteinander harmonieren, beschreibt sie zunächst die Biene und ihre Lebensweise, bevor sie auf andere Insekten eingeht und dann analysiert, wieso es zum Insektensterben gekommen ist.

Da rückt v.a. die konventionelle Landwirtschaft in ein unrühmliches Licht: Monokulturen auf ausgedehnten Flächen, die den Tieren und damit den Insekten viel zu viel Lebensraum wegnehmen, sind ebenso zu nennen wie die Gifte, die bis in die Pflanzen eindringen und bei Bienen unwiderrufliche Schäden anrichten. Monokulturen bedrohen auch die Vielfalt der Pflanzen und damit der Insekten, da einige Pflanzen und Insekten aufeinander spezialisiert sind. Hinzu kommen Viren und Bakterien, vom Menschen eingeschleppt, die Bienenvölker bedrohen. Es gibt hierzulande kaum noch freilebende Honigbienen. Und die hier leben, werden wenig artgerecht gehalten (im Comic nur angedeutet, aber in einer Doku, die ich vor ein paar Jahren gesehen habe, weiter ausgeführt) und leiden z.T. unter Überzüchtung. Der Honig, den sie sammeln, ist pestizidverseucht.

Auch Lichtverschmutzung, Versiegelung durch Städte und Klimawandel machen den Insekten und damit den Honigbienen zu schaffen. Durch den rasanten Schwund der Insekten ist die Ernährung der Welt bedroht – ohne Pflanzen keine Tiere und Menschen. Dies alles stellt Harms umfassend dar: Der Mensch stört und zerstört lebenswichtige Netzwerke der Natur. Weiter ausgeführt und eingeordnet werden die Informationen der Graphic Novel durch Experte Jürgen Tautz, zudem gibt es am Ende des Werkes eine Liste mit weiterführender Literatur.

Aber Harms rückt nicht nur die äußerst negativen Folgen des Insektensterbens in den Fokus. Sie deutet auch Lösungswege an: Allen voran die nachhaltige, ökologische Landwirtschaft. Aber auch Einzelne können etwas für Insekten tun, indem sie naturnahe Gärten pflegen oder insektenfreundliche Blühpflanzen auf dem heimischen Balkon, der Terrasse oder auf den Fenstersimsen pflanzen. Da möchte ich noch hinzufügen, dass es mittlerweile auch (oft durch Frauen angestoßen) naturfreundliche Städteplanungen gibt, um mehr Grün, und damit mehr Lebensqualität für Mensch und Tier in die Stadt zu holen. Vom kühlenden Effekt der städtischen Bäume und Parks ganz zu schweigen. Auf Dächern z.B. gibt es schon heute Imker*innen, die für Bienen eine Wiese angelegt haben. Die Politik kann solche Lösungen fördern, anstatt sie zu verschleppen, und der konventionellen Landwirtschaft sowie den umweltverschmutzenden Ölkonzernen endlich einmal den Geldhahn zudrehen!

 

Fazit

Sehr gelungene Graphic Novel über das Insektensterben, dessen Ursachen und Lösungen. Auch für die Schule als Lehr- und Lernmaterial geeignet.

Edit

Weitere Infos z.B. hier:

https://www.spektrum.de/news/5-jahre-krefeld-studie-was-hat-sich-beim-insektensterben-getan/2070240?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE


Genre: Graphic Novel, Insektensterben
Illustrated by Carlsen Hamburg

Dark Rise

55424891. sy475 Gut gegen Böse?

Will lebt zusammen mit seiner Mutter ein einfaches Leben auf einem Bauernhof– bis eines Tages seine Mutter von mysteriösen Männern ermordet wird. Er selbst kann nur knapp entkommen und verdingt sich seitdem als Hafenjunge. Aber eines Tages wird er von einem reichen und einflussreichen Händler namens Simon gefangen genommen, der in ihm eine Wiedergeburt einstiger magischer Wesen sieht. Durch die Hilfe von Violett, der Schwester und Tochter der zwei treuesten Untergebenen Simons, kann Will sich befreien. Auf der Flucht werden die beiden von Kämpfern des Ordens der Stewards gerettet und finden dort Zuflucht. In Will sehen die Stewards einen Nachfahren der Dame, die vor langer Zeit den Dunklen König in seine Schranken verwiesen hat. Deshalb wird er von der Ältesten der Stewards in Magie unterrichtet, während Violett Unterricht in den Kampfkünsten erhält. Allerdings hat Violett ein Geheimnis, das für sie tödlich enden könnte: Sie ist ein Löwe – und die gelten als die treuesten und stärksten Verbündeten des Dunklen Königs. Aber auch Will hat zu kämpfen, denn in ihm wollen die Kräfte der Dame einfach nicht erwachen. Diese allerdings braucht er dringend, wenn er gegen James St. Clair, den mächtigen wiedergeborenen General des Dunklen Königs, bestehen will. Außerdem würde der Tod des Nachfahrens der Dame den Dunklen König wiedererwecken – und damit den Untergang der Welt einleiten.

Perfekt aufgebaute Fantasy-Welt mit überraschenden Wendungen

Der Auftakt der Trilogie verbindet Elemente der Steam-Punk-Fantasy mit Fabelwesen, die neu interpretiert werden, und mit eigenen neuen Ideen, angesiedelt im klassischen Setting „Gut gegen Böse“. Aber die Autorin versteht es auch hier, dieses Setting neu zu gestalten und ihrem Haupt-Helden eine überraschende Wendung zu geben, die sie aber schon subtil im Buch vorbereitet, sodass aufmerksame Leser*innen, die gut Spuren deuten können, ahnen, worauf die Geschichte hinausläuft. Insgesamt ist der Roman spannend, die Figuren sympathisch, die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen, die Motive der Figuren sind nachvollziehbar.

Die vom Verlag beschworene und beworbene Diversität im Buch wird allerdings nur nebenbei behandelt, sodass die Inhaltangabe auf der Rückseite des Buches und die Pressemitteilung etwas irreführend wirken. Wer also meint, dass u.a. Homosexualität und Romantik den Großteil des Romans einnehmen, irrt. Beides kommt (wie schon geschrieben) eher nebenbei vor; es wird deutlich mehr Wert auf Spannung und Charakterentwicklung gelegt. Die Welt an sich ist stimmig, der Spannungsaufbau perfekt, die Handlungsstränge stringent und penibel geplant.

Die Beiläufigkeit der Erwähnung der sexuellen Orientierungen gefällt mir andererseits aber auch wieder gut. Denn das zeigt etwas, wo in der realen Welt noch deutlich Luft nach oben ist: Die sexuelle Orientierung, egal welcher Art, gehört einfach so sehr zum Leben dazu, dass darüber kaum noch Worte verloren werden müssen. In diesem Buch wird Homo- und Bisexualität so behandelt, wie sie in der Natur vorkommt: Sie war und ist schon immer da, gehört zum diversen (Über-)Lebensprinzip der Natur dazu und wird als Naturphänomen ganz selbstverständlich akzeptiert.

Frauen in diesem Roman werden als starke Frauen charakterisiert, wobei sie aber auch ihre Macken, Verletzlichkeiten und Schwächen haben – aber macht nicht gerade das sie stark? Violett wird in ihrer Eigenschaft als Löwe, der ohnehin ein Symbol für Mut und Kraft ist, ohnehin als stärker als sogar männliche Löwen dargestellt. (Sind es nicht die Löwenweibchen, die jagen gehen und das Rückgrat des Rudels bilden?) Dahingegen gestehen sich manche männlichen Charaktere ihre Schwächen, dunklen Seiten und Verletzlichkeiten ein, was ihrer Entwicklung einen Schub nach vorne versetzt. Der Kontrast wirkt umso mehr, weil Pacat auch Frauen und Männer einbaut, die im klassischen Rollenklischee verhaftet sind und nicht reflektieren. Aber selbst hier bricht zwar kein Mann, aber eine Frau (Katherine, in die Will sich verliebt hat) aus den Konventionen aus, um ihren eigenen Weg zu gehen – auch wenn dieser unsicher ist. Das spiegelt gut auch reale historische und aktuelle Situationen wider, denn es sind oft genug v.a. Frauen, die Ungerechtigkeiten anprangern und für Gerechtigkeit einstehen. Bei den Stewards ist es selbstverständlich, dass eine Frau den mächtigen Orden anführt, dass Frauen Führungsrollen übernehmen und kämpfen. Es wird nicht infrage gestellt, dass sie umfassend stark sind, auch körperlich. Das wird nicht explizit erwähnt, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt und entsprechend im Roman behandelt – es ist Teil dieser Welt. Und es ist eine Frau, die der toxischen Männlichkeit nachhaltig die Stirn bietet.

Wie die sexuelle Orientierung und die Stärke der Frauen wird auch ein weiteres Thema eher nebenbei eingebaut, ohne aber an Wichtigkeit zu verlieren: der Glaube an die Wiedergeburt. Er wird nicht infrage gestellt, sondern ist selbstverständlicher Bestandteil der Welt, während die Magie, die früher keiner Erklärung bedurfte, in der aktuellen Zeit als Mythos gilt.

Fazit

Rundum gelungener Fantasy-Roman mit neuen Ideen, die sich in althergebrachten Mustern verstecken und diese aufbrechen. Ich bin gespannt auf die Fortsetzung!


Genre: Entwicklungsroman, Fantasy
Illustrated by LYX

Lebendige Gärten im Winter

Für diese Rezension von Lebendige Gärten im Winter habe ich lange gebraucht, und sie ist sehr persönlich geworden: Während der ersten Jahrzehnte meines Gärtnerinnenlebens galt für mich Klaus Foersters Spruch: „Es wird durchgeblüht!” als Leitmotto. Darum geht es auch in meinem Buch „Blütenfreuden“. Ich habe noch einmal die beiden Kapitel zum Winter gelesen: Der Winter war für mich Wartezeit auf und Vorbereitung für den Sommer. Das ist jetzt anders geworden.

Als ich das Buch Lebendige Gärten im Winter bestellt hatte, guckte ich mir die vielen (schönen!) Bilder an, und sah, dass es meist welche aus England waren, ah ja, die Autorin bietet ja Wintergärtenreisen (!) dorthin an, und dann kam erstmal der Sommer. Allerdings hatte ich schon Exemplare von Cornus alba sibirica bestellt, wegen der roten Stiele im Winter.

In den letzten Jahren kann ich den Winter immer besser genießen, etwa wenn rauhreifige Gräser sich bewegen, oder sich die Blüte der Herbstanemone nach dem Frost wie ein Baumwolltupferchen auflöst. Und es gab in meinem Garten auch immer mehr anzugucken, da ich gezielt pflanzte, was im Winter blüht. Dazu gab es im letzten Jahr den Beitrag.

Nun gucke ich mir, im Herbst, das Buch näher an und staune. Es gibt so viel mehr zu sehen. Auf 200 Seiten, fast im DIN A4 Format, werde ich angeleitet, „Eigenschaften von Pflanzen mit winterlichen Höhepunkten“ zu sehen. Dass Frau Ney Gartenplanerin ist, schärfte nicht nur ihren Blick, es prägt auch die Ausdrucksweise.

Es geht um mehr als Blüten, um die Strukturen im Garten, die Texturen und vor allem um „Dauerhafte Farbakzente“, die dann genau aufgeschlüsselt sind in: Farbige Zweige und Rinden, Farbige Nadeln (17 Seiten, mit den Untergruppen; Weißgold, Gelbgold, Altgold und Schwefelgelb), farbiges Laub und die Bodendecker, um Knospen und Früchte, und das bei jeder Wetterlage.

Sie sind beeindruckt und befürchten, in Ihrem Garten so etwas nie schaffen zu können? Dazu kam der Trost schon in der Einleitung: „Unsere Gärten eignen sich eben in der Regel besser für Kammerkonzerte als für Operndramatik.“ Das Kapitel zu meinen geliebten Blüten ist betitelt: „Blüten, kurzfristige Farbakzente und Duft.“ Für eine Oper braucht es eben mehrere Klangkörper …

Es gibt an vielen Stellen Bemerkungen, die würdig sind, gemerkt zu werden. Ich schätze es besonders, wenn sie Gedanken ausdrücken, die mich auch beschäftigen. Als es um Hecken geht: „Man verwendet hierfür gerne Taxus und etwas eingeschränkter auch Buxus – und besonders robuste Gärtner integrieren selbst durch Blattdornen piksende Ilex, Berberis und heimtückisch bedornte Pyracantha.“ Die beiden Letzteren hatte ich nämlich großflächig entfernen müssen, als wir vor bald vierzig Jahren den Garten übernommen hatten und begegneten noch Jahre später heimtückischen Pyracanthadornen.

Im Serviceteil, welches mit dem Register über 20 Seiten ausmacht, werden Pflanzen für verschiedene Rahmenbedingungen kategorisiert.

Ich vermute, diese größere Offenheit für das früher Nebensächliche hat mit dem Älterwerden zu tun. Sie suchen noch ein Geschenk für Oma und Opa, die Gärten lieben? Vielleicht zu Weihnachten, wenn der Winter gerade angefangen hat?

Das Einzige, was ich bemängeln könnte, ist, dass die Autorin, die Schneeglöckchen liebt, im Serviceteil nichts zum Schloss Übigau mit dem Schlossgärtner Manig schreibt. Nach der Erwähnung von zehn Gärten im Vereinten Königreich wäre es dann ein zweiter in Deutschland. Siehe hier.


Genre: Gartengestaltung
Illustrated by Verlag Eugen Ulmer

Das fabelhafte Pompom-Buch

Bildergebnis für Das fabelhafte Pompon-Buch. Größe: 163 x 185. Quelle: www.weltbild.at

Die Vielfalt der Pompoms – nicht nur für Kinder ein Spaß

Der Autor hat Grafikdesign studiert und ist Pompomkünstler und Unternehmer in Vietnam. Seit 2016 beschäftigt er sich begeistert mit Pompoms und hat mittlerweile sein Hobby zum Beruf gemacht. Er hat sich auf kleine Pompons spezialisiert, die man auch zu Ringen, Ohrhängern und Schlüsselanhängern verarbeiten kann. Wie man dabei vorgeht, zeigt er am Ende seines Buches: Das letzte Kapitel widmet er den Accessoires, die man aus Pompoms herstellen kann. Diese basieren auf den Formen, die er vorher im Buch beschrieben und vorgestellt hat.

Aber zunächst zum Anfang des Buches. In seinem Vorwort ermuntert er seine (erwachsenen!) Leser*innen, den Spaß am Fertigen von Pompoms zu entdecken und gibt eine kurze Einführung über seine Vorgehensweise in dem Buch. Auf den nächsten Seiten zeigt er jeweils in Großformat einzelne Pompombeispiele, wohl um den Appetit auf diese kleinen, süßen Kunstwerke anzuregen und um einen Einblick zu geben, welche Motive mit Pompoms möglich sind: Tiere, Nahrungsmittel, Smileys.

Bevor er mit den Leser*innen loslegt, informiert er sie verständlich in Wort und Bild darüber, welche Werkzeuge sie brauchen, welche Garnfarben es gibt und wie man seine Grafiken liest, die zur Anfertigung der Pompoms wesentlich sind. Die Grafiken muss man sich als Anfänger*in allerdings erst einmal genau anschauen, bevor man durchsteigt, wie sie zu verstehen sind. Ich hatte anfangs Schwierigkeiten damit, aber wenn man es einmal verstanden hat, sind sie gut zu lesen.

Um seine Leser*innen nicht zu überfordern, fängt er zunächst mit einfachen Motiven an und erklärt in einer Anleitung und einer bebilderten Schritt-für-Schritt-Folge, was genau man tun muss, bis man den fertigen Pompom in Händen hält. Er schafft damit die Grundlage für die Fertigung einzelner und miteinander verbundener Pompoms. Diese man wird später brauchen.

Dann unterteilt er seine Kapitel in Motiv-, Emoji-, Tier-, Frucht-, Lebensmittel-, Süßigkeiten-Pompons und -Accessoires. Mit fortschreitenden Kapiteln werden die Anweisungen kürzer, da Le wohl davon ausgeht, dass man mittlerweile immer mehr Übung im Wickeln der Pompoms und Lesen der Grafiken gewonnen hat. So beschränkt er sich schließlich auf die wesentlichen Neuerungen bei seinen Motiven, ohne dabei den ganzen Hergang genau zu beschreiben. Gerade bei den miteinander verbundenen Pompoms wie dem Hot Dog oder der Geburtstagstorte würde eine genaue Beschreibung eher ausufern und evtl. verwirren als helfen. Es ist also besser, sich an die Reihenfolge im Buch zu halten, damit man schon eine gewisse Übung hat, um sich an die schwierigeren Motive im Verlauf des Buches zu wagen.

Fazit

Insgesamt ein gelungenes Buch, das Wert auf Spaß legt und großen Wert darauf, dass die Leser*innen ein Erfolgserlebnis haben – die Anleitungen sind gut durchdacht und aufgebaut und letztlich auch für Anfänger*innen nachvollziehbar. Man muss allerdings beachten, dass die Fertigung dieser Motive für Erwachsene gedacht ist, nicht für Kinder.


Genre: gestalten, Pompoms, Sachbuch
Illustrated by Weltbild

The Gender of Mona Lisa 6 und 7

Typisch weiblich? Typisch männlich? Und wo ist der Unterschied zwischen romantischer und platonischer Liebe?

Shiori informiert sich bei Hinases Retterin über deren geschlechtslose Freund*in. Dabei fragen sich beide, was eigentlich männlich oder weiblich sein soll. Hinase selbst will Shiori und Ritsu über siere Entscheidung informieren, wen sier als Freund*in haben will. Sier begründet siere Entscheidung damit, dass sier erst einmal herausfinden will, was genau eigentlich weiblich und männlich ist, bevor sier sich festlegt, denn sier liebt beide. Außerdem wird Hinase von sierem Arzt darüber informiert, dass sier wohl sterben wird, wenn die Entscheidung für ein Geschlecht nicht bald fällt. Derweil unterhalten sich Shiori und Aoi darüber, wo Liebe anfängt und platonische Zuneigung aufhört.

Hinase versucht mittlerweile alles, um herauszufinden, was typisch weiblich und männlich ist. Dazu trifft sier sich mit ein paar Freundinnen, um einen Mädelsabend zu veranstalten. Auch hier sind sich die Mädchen nicht sicher, was eigentlich typisch für ihr Geschlecht ist. Jede versteht etwas anderes darunter und insgesamt kommen alle zum Schluss, dass es typisch weiblich in dieser Form nicht gibt, sondern etwas Individuelles ist. Nachdenklich macht Hinase mit Shiori daraufhin einen Termin aus, um mit dessen Freunden abzuhängen. Sier will sehen, was Jungen so alles machen. Hinase trifft sich außerdem mit sierer Retterin, um mit ihr über deren geschlechtslose Freund*in zu reden. Sier will wissen, wie andere in sierer Situation leben.

 

Es gibt nicht typisch, sondern individuell und vielfältig

Das arbeitet der Manga sehr schön und ausführlich heraus. Die Dialoge, die die Jugendlichen und jungen Erwachsenen führen, sind sehr geistreich, tiefsinnig und alltagstauglich-philosophisch. Sie stellen in ganz alltäglichen Situationen fest, dass es außer der physischen Erscheinung eigentlich nichts wirklich Typisches gibt, was Frauen und Männer ausmacht. Was jede*r darunter versteht, ist etwas anderes. Wenn überhaupt, gibt es Tendenzen, die von der Gesellschaft bestimmt werden. Und in diesem Manga ist nicht einmal das Biologische ausschlaggebend, denn das Geschlecht ist eine Sache der Wahl. Man denke an Transgender… Ich denke auch an Transgender, wenn es im Manga heißt, dass man sich bzgl. des Geschlechts entscheiden muss. Auch wenn das Thema bei Transgendern ein anderes ist, der enorme Druck ist der gleiche und potentiell tödlich, v.a. wenn Betroffene keine Rückendeckung vom Umfeld bekommen: Ca. 50% der Transgender verüben Selbstmord. Das ist eine erschreckende Rate.

Im Manga stehen Hinase und andere Geschlechtslose unter enormem Druck, weil sie sich für ein Geschlecht entscheiden müssen, das aber gar nicht wollen. Denn auch hier im Manga wird sehr deutlich, dass es gerade für Frauen ständige Diskriminierung bedeutet, sich für das weibliche Geschlecht zu entscheiden. Wenn man geschlechtslos bleibt, stehen einem viel mehr Möglichkeiten zur Verfügung, anstatt dass man pauschal in Schubladen gesteckt und damit beschnitten wird. Das wird an Hinase (sier kleidet sich und denkt konsequent geschlechtlos) und „Lisa“ (sier nennt und kleidet sich nach Gefallen männlich oder weiblich) exemplarisch dargestellt. Der Druck und die ständigen Hormonschwankungen begünstigen Unkonzentriertheit, Depressionen und Verwirrung. Letztendlich ist es das, woran die Geschlechtslosen sterben.

In einer Gesellschaft, in der konsequent nach einer vorgegebenen Zeit in weiblich und männlich unterteilt wird, ist für die besondere Denkweise und Schönheit der Geschlechtslosen kein Platz. Bewusst oder unbewusst wissen das die Neutren und verzweifeln daran. Sie dienen aber auch als Vorbild für unkonventionelle und damit bereichernde Denkweisen, die tiefsinnig sind und weit über den Tellerrand hinausblicken. Sie bringen damit andere zum Nachdenken und zum Hinterfragen von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, von Dingen, „die immer schon so waren, und damit basta!“. Sie sprengen damit eng geschnürte Korsetts und Ketten und verschaffen sich und anderen wieder Luft zum Atmen und Entfalten. Die Retterin Hinases stellt sie als (geschlechtslose) Engel dar, was sie nicht nur wegen ihrer überirdischen Schönheit, sondern auch wegen ihrer heilenden Denkweise sind.

 

Auch die Liebe ist ein großes Thema. Wo fängt romantische Liebe an und wo hört platonische Liebe auf? Sind die Grenzen nicht vielmehr fließend? Darf man nicht mehrere Menschen lieben und mit ihnen zusammen sein? Und zwar gleichberechtigt? Polyamorie klingt hier indirekt an, ohne aber näher auf die Schwierigkeiten einzugehen, die eine solche Beziehung mit sich bringt. Sie werden nur angedeutet, wenn man sieht, dass Shiori und Ritsu sich eine klassische Zweier-Beziehung wünschen, Hinase aber am liebsten mit beiden zusammen wäre. Aber auch Ritsu und Shiori haben schon eine Entwicklung in Liebesdingen mitgemacht: Sie wären jetzt bereit, Hinase sowohl als geschlechtslose Person als auch in einer Frau-Frau- oder Manna-Mann-Konstellation zu lieben, d.h. sie machen ihre Liebe nicht mehr vom Geschlecht abhängig. Aber auch hier wirft Aoi ein, dass heterosexuelle und homosexuelle Menschen nunmal so gepolt sind, wie sie sind, und man nicht erwarten darf, dass Heterosexuelle auf einmal homosexuell werden oder umgekehrt. Auch hier heißt es schlussendlich: Jede*r liebt individuell und Liebe ist vielgestaltig.

 

Fazit

Extrem empfehlenswert, weil anhand von tiefgründigen Gesprächen aufgezeigt wird, dass es typisch weiblich und typisch männlich, überhaupt „typisch“ gar nicht gibt, sondern naturgemäß die Vielfalt das Leben und Lieben bestimmt.


Genre: Diversität, Manga, Rollenklischees
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

Atme

Nile kauft in einer Boutique ein Kleid. Ihr Freund wartet im Vorraum, als sie es anprobiert. Doch als sie zurückkommt, ist er fort. Die Verkäuferin kann sich nur erinnern, dass er da saß. Auf der Straße ist er auch nicht. Die Freunde, die sie anruft, behaupten, lange nichts mehr von ihr gehört zu haben.
Bis auf seine Ex-Frau, mit der Nile verfeindet ist …

Alle Menschen suchen Liebe.
Alle.
Und dabei ist Liebe so schwer zu finden.
Manche denken, dass man Liebe lernen kann. Dass man
sie berechnen kann. Oder bestellen. Dass man an sich selber
arbeiten muss. Oder am anderen. Dass man dafür sehr besonders sein muss. Oder so wie alle.
All das ist falsch. Das weiß ich. Denn das Einzige, was
man wirklich braucht dafür, das ist der passende Andere.
[…]
Der dich in
den Arm nimmt und sagt: Hab keine Angst. Der zu dir unter
die Decke schlüpft und sagt: Mach die Augen zu. Der nach
deiner Hand greift und sagt: Wir schaffen das. Oder: Du bist
schön. Oder: Alles wird gut.
Hüte dich vor allem vor seiner Exfrau, am allermeisten aber vor dem Vorhang
einer Umkleidekabine.
Halt ihn einfach fest, jede Sekunde.
Sonst kann es sein, dass du eines Tages auf der Straße
stehst und begreifst, dass etwas Schreckliches geschehen ist.
So wie ich.
Vor mir lärmen Autos von links nach rechts, hupen,
quietschen, stoßen stinkende Wolken aus …

Ein ganz ungewöhnlicher Krimi, in dem es gar nicht um eine Mordaufklärung geht. Eher darum, die Geschichte der Ich-Erzählerin aus den hingeworfenen Puzzleteilen zu rekonstruieren. Und warum sie so seltsam ist.
Judith Merchant hat sich völlig in ihre Hauptfigur verwandelt, wir erleben sie mit, ihre Geschichte, wie sie ihren Freund kennenlernt, auf den sie sich absolut verlässt, an den sie sich klammert und den sie verzweifelt sucht.
So entsteht ein spanndes Personenportrait anhand eines kriminellen Verschwindens, das den Leser in Bann schlägt und nicht mehr loslässt.

#atme #krimi #psychostudie


Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln