Die weiße Garde

Hochaktuell

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine kommt dem Romandebüt «Die weiße Garde» von Michail Bulgakow plötzlich erhöhte Aufmerksamkeit zu, werden darin doch einige der Hintergründe für das aktuelle kriegerische Geschehen beleuchtet. Das 1924 erschienene Buch diente als Vorlage für das Theaterstück «Die Tage der Turbins», womit auch gleich die Protagonisten des autobiografisch inspirierten Romans genannt sind, die drei Geschwister Turbin. Thematisch wird in dieser Geschichte das politische Chaos behandelt, welches die Oktober-Revolution und der Zerfall des Russischen Reiches auf dem Gebiet der Ukraine ausgelöst haben. Es wurde schließlich mit dem Sieg der Roten Armee beendet.

Im Winter des Jahres 1918 herrscht in der Großen Stadt, wie Kiew im Roman immer nur genannt wird, ein Bürgerkrieg mit mehreren Fronten. Dem Marionetten-Regime des von Deutschland gestützten, konservativen russischen Staatsoberhauptes stehen unversöhnlich die revolutionären Bolschewiki gegenüber, eine dritte Kriegspartei bilden die links orientierten, ukrainischen Nationalisten unter Petljura. Nach dem Rückzug der Deutschen flieht der Staatschef und überlässt seine Soldaten einem aussichtslosen Kampf. Der 28jährige Militärarzt Alexej und sein elf Jahre jüngerer Bruder, aufopfernd unterstützt von ihrer Schwester Jelena, geraten in einen wilden Strudel völlig unübersichtlicher Kämpfe mit verschiedenen Fronten. Während manche der russischen Kommandeure sich dem aussichtslosen Kampf stellen, lösen andere resigniert ihre Einheiten auf und schicken die Soldaten nach Hause. Der auf der Flucht schwer verletzte Alexej wird von einer unbekannten Frau gerettet. Während dessen nehmen die siegreichen ukrainischen Nationalisten unter Petljura Kiew ein und richten unter den als russische Offiziere enttarnten Zivilisten, und vor allem auch an den Juden, ein beispielloses Massaker an. Der inzwischen geheilte Alexej schließt sich, als Zivilist unerkannt, den ukrainischen Nationalisten an und wird als Militärarzt eingesetzt. Einer seiner Patienten ist schließlich ein für seine Brutalität besonders berüchtigter Oberst, aus Rache erschießt er ihn und muss erneut flüchten. Zu Hause stellt er fest, dass sein Bruder und auch Schwester Jelena mit ihrem Mann die gemeinsame Wohnung verlassen haben. Die wenigen Überlebenden unter seinen Freunden haben sich der «Weißen Garde» im Donbass angeschlossen. Als Alexej schließlich seine Retterin wiederfindet, marschiert schon die Rote Armee in Kiew ein.

Bei der Lektüre wird deutlich, welch unterschiedliche Vorstellungen in der Bevölkerung herrschten während dieser turbulenten Umbruchzeit. Die Konservativen trauerten dem Zarenreich nach und hätten am liebsten alles so gelassen wie es war, die Bolschewiken wollten stattdessen den Sozialismus verwirklichen. Unversöhnlich standen sich auch die Separatisten mit ihrem Traum vom eigenen Staat und die sich einem russischen Staat zugehörig fühlenden Ukrainer gegenüber. Der Roman wird aus der Perspektive der strikten Gegner all dieser revolutionären Umwälzungen geschildert, er verdeutlicht zudem die Unwägbarkeiten, die den Menschen derart schicksalhafte Entscheidungen schwer machen. Bulgakow lässt die kontroversen Meinungen in Dialogform aufeinander treffen, wobei vieles im Konjunktiv gesagt wird, denn die Nachrichtenlage ist äußerst unzuverlässig, was einen bisher festen Standpunkt schnell erschüttern kann.

Wie der Übersetzer Alexander Nitzberg erklärt hat, erzählt dieser Roman keine Geschichte, «vielmehr entwirft er Räume und Bildsphären». Obwohl er in seinem üppigen Anhang auf 94 Seiten mit hilfreichen Anmerkungen das Verständnis für den Leser erleichtert, bleibt letztendlich doch so manche subtile Anspielung oder sprachliche Besonderheit unentdeckt. Mit einer Syntax voller narrativer Extravaganzen, zu denen die absurde Erzählperspektive gehört, hat Bulgakow sich mit seinem Debüt als Meister des phantastischen Realismus etabliert. Es setzt jedoch geduldige Leser voraus.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Galiani

She likes Gay Boys but not me 2 und 3

She likes gay boys but not me 3 - Naoto Asahara, Akira Hirahara

Konformität versus Individualität

Jun wird gegen seinen Willen geoutet und hat anschließend einen schweren Stand in der Klasse. Auch seine Freundin Sae kämpft mit der Situation. Aber als sie vor ihren Schulkameraden eine Rede hält, outet sie sich als Fan von BL-Manga und steht für sich und Jun, sowie für alle, die anders sind, ein. Jun kommt daraufhin eine Weile nicht mehr in die Schule. Er erfährt schließlich, dass die anderen in der Klasse mit den Lehrer*innen über Homosexualität gesprochen haben und sie scheinbar tolerant sind. Aber Jun merkt an kleinen Details, wie es um diese Toleranz tatsächlich bestellt ist – da ist noch viel Luft nach oben. Da ist ihm eine ehrliche, wenn auch unangenehme Meinung wie die von Yusuke lieber, denn mit Ehrlichkeit kann man besser umgehen als mit Scheinheiligkeit, zumal dieser Austausch der Meinungen langfristig mehr Verständnis füreinander bewirkt. Außerdem will Jun den Selbstmord seines Internetfreundes „Mr. Fahrenheit“ aufarbeiten und fährt deshalb mit Sae zu dessen Wohnort. Als er die Familie des Toten kennenlernt, weiß er, warum der Junge sich umgebracht hat. Außerdem will er für sich und seinen toten Freund herausfinden, warum Gott Homosexuelle geschaffen hat, wenn sie vordergründig keinen Nutzen für die Fortpflanzung bringen.

Auch seine Beziehung zu seinem deutlich älteren Lover stellt Jun infrage. Er erkundet, wie dieser die Beziehung zwischen ihnen sieht und erkennt, dass es keine Zukunft für sie gibt, weil der ältere Mann nicht zu seiner Homosexualität steht und Teil der Gesellschaft bleiben will. Und immer wieder fragt sich Jun, was Liebe eigentlich bedeutet, denn er liebt Sae sehr, aber nicht auf sexuelle Art. Sae hilft ihm und sich selbst, indem auch sie über verschiedene Dinge reflektiert und ihre Gedanken mit ihm teilt. Dabei erfährt Jun, dass Mädchen bzgl. Homosexualität aufgeschlossener sind als Jungen. Jun wird immer verirrter von all den Problemen und unternimmt einen Selbstmordversuch, der aber scheitert. Danach ordnet er sein Leben neu.

Selbstfindung unter besonderen Umständen

Die in sich abgeschlossene dreiteilige Reihe beleuchtet tiefsinnig die Probleme, die Menschen haben, wenn sie anders sind. Dabei bietet der Manga immer mehrere Sichtweisen an, betrachtet diese von allen Seiten, indem die Protagonist*innen für ihre Sichtweisen sprechen und sich dabei weiterentwickeln. Bewertet werden sie nicht, höchstens von den Protagonist*innen selbst, die ihre Gedanken und die der anderen im Herzen bewegen und schließlich ihre eigenen Schlüsse ziehen. Damit bietet die Reihe auch Problemlösungsstrategien an und spielt diese durch. Psychologie und Philosophie spielen in dem Manga eine große Rolle und verbinden sich mit den Irrungen und Wirrungen von Pubertierenden, die es so schon schwer haben und erst recht, wenn sie auf irgendeine Weise anders sind.

Auch der Avatarname „Mr. Fahrenheit“ passt in dieses Thema der Andersartigkeit, denn der Junge, der sich so nennt, ist anders, intelligent und gebildet, was die Protagonisten im Buch „Fahrenheit 451“ nicht sein dürfen – selbstständiges Denken, das meist durch die Lektüre von Büchern gefördert wird, gilt als gefährlich. Sich zu outen gilt als gefährlich. Das zieht oft genug den gesellschaftlichen Tod nach sich. Und diesen erfährt Jun, wenn auch in abgemilderter Form, weil er Sae und seinen besten Freund und sogar Yusuke um sich hat, die ihm auf ihre Weise helfen.  „Mr. Fahrenheit“, überraschenderweise jünger als Jun, hatte diese Hilfe nicht, weshalb ihm aus seiner Sicht nur der Freitod blieb.

Fazit

Andersartigkeit, Homosexualität, Sterben und Tod, Liebe und Liebeskummer sind die Hauptthemen dieser sehr guten Reihe, die diese tiefsinnig und intelligent beleuchtet und zu denen verschiedene Sichtweisen angeboten werden. Empfohlen.


Genre: Anderssein, Homosexualität, Manga, Selbstfindung, Selbstmord, Trauer
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

Effingers

Literatur-Skandal

Das Opus magnum «Effingers», der zweite Roman von Gabriele Tergit, wurde seit der Erstausgabe 1951 mehrfach neu aufgelegt, zuletzt 2019. Der Publikums-Erfolg jedoch blieb trotz euphorischer Besprechungen im Feuilleton weitgehend aus. Hatte Thea Dorn Recht, als sie erklärte: «Dass dieses Buch nicht längst fester Bestandteil des deutschen literarischen Kanons ist, halte ich für einen Skandal». 50 Jahre davor erschien mit «Die Buddenbrooks» der erste «Gesellschaftsroman in deutscher Sprache von Weltgeltung». Ohne Zweifel ist «Effingers» in diesem Genre inzwischen ebenfalls ein Klassiker, nach Heinz Schlaffers Definition also «gleichermaßen vergangen, erinnert und gegenwärtig», diese Neuauflage beweist es!

Über vier Generationen hinweg, von 1878 bis 1948, wird in diesem opulenten Roman eine breit aufgefächerte Familien-Chronik aus der großbürgerlichen, jüdischen Berliner Gesellschaft erzählt. Als Klammer um das Geschehen dient anfangs und zum Schluss je ein Brief eines der markantesten Protagonisten, des Sohnes Paul aus der Uhrmacher-Familie Effinger im Städtchen Kragsheim. Anfangs ist er als 17Jähriger noch ein Lehrling voller Tatendrang, am Ende wartet er als 81jähriger, einst erfolgreicher Industrieller auf seine Deportation ins Vernichtungslager. Er habe «an das Gute im Menschen geglaubt», schreibt er resigniert, «Das war der tiefste Irrtum meines verfehlten Lebens». Der im Buch abgedruckte Stammbaum führt als zweiten Zweig den Bankier Markus Goldschmidt aus Berlin als Stammvater der Familie auf. Anders als bei Thomas Mann geht hier aber eine ganze Welt unter als Folge des politischen Wahnsinns eines verbrecherischen Diktators, nicht nur eine zunehmend degenerierte Kaufmanns-Familie.

Über weite Strecken liest sich dieser Roman als detaillierte deutsche Gesellschafts-Studie über mehrere politische Epochen hinweg, deren markanteste die wilhelminische Ära mit Erstem Weltkrieg, Weimarer Republik und Inflationszeit, Machtübernahme der Nazis und Zweiter Weltkrieg sind. Diese politischen und gesellschaftlichen Umbrüche spiegeln sich im Leben der Effingers wieder, wobei die ökonomische Bandbreite vom einfachen Uhrmacher oder Krämerladenbesitzer bis zum Bankier und Großindustriellen reicht. Die Religion betreffend geht die Spanne vom strenggläubigen bis zum nicht praktizierenden Juden, wobei allerdings anzumerken ist, dass die Religion, ganz anders als vielfach behauptet, nur eine völlig nebensächliche Rolle spielt in dieser Familiensaga. Nur an wenigen Stellen, zunehmend natürlich gegen Ende, hat sie überhaupt mal Einfluss auf das Geschehen. Stattdessen sind es die üblichen Fährnisse des Lebens, die im Blickpunkt stehen, allem voran die Ehe als sinnstiftend für die Frauen früherer Zeiten. Überhaupt erstarkt die weibliche Emanzipation im chronologischen Ablauf von geradezu unglaublicher Spießigkeit, mit Anstandsdame beim Spaziergang des künftigen Paares, bis hin zur selbstbewussten Entscheidung, was den Ehepartner und vor allem Studium oder Berufswahl anbetrifft. Nicht verheiratet zu sein oder Liebhaber zu haben ist dann irgendwann kein Makel mehr für die selbstbewusst gewordene Frau.

Man merkt sprachlich den journalistischen Hintergrund der Autorin, der dialogreiche Roman wird präzise und ohne Ausschmückungen in kurzen Kapiteln, aber mit scharfem Blick für Details erzählt. Neben dem abgedruckten Stammbaum sei ergänzend das äußerst hilfreiche ‹Literaturlexikon› empfohlen, auf dessen diesem Werk gewidmeter Internet-Seite nicht weniger als 131 Roman-Figuren detailliert beschrieben werden. Als lebensnahe Informations-Quelle über die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse ist «Effingers» durchaus mit entsprechenden Werken Fontanes vergleichbar, und erfreulicher Weise auch ähnlich genüsslich und den Horizont erweiternd zu lesen. Dazu tragen besonders die klugen philosophischen und kulturellen Erörterungen bei, die viele Lebensbereiche und Geisteshaltungen abdecken. Thea Dorn hat völlig Recht, ein Skandal!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Schöffling & Co Frankfurt am Main

Ich muss nicht wohin, ich bin schon da

Gerhard Polt»Als seriös gilt der Bayer nicht. Er hat seinen Platz, wo Politik als Theater verstanden wird«. Das sagt ein bayerisches Urvieh namens Gerhard Polt. Der einzigartige Kabarettist mit dem unverwechselbaren Dialekt und Habitus wird am 7. Mai achtzig Jahre jung. Zu seinem 80. Geburtstag sind zwei Bücher erschienen. Weiterlesen


Genre: Humor und Satire, Kabarett
Illustrated by Kein & Aber Zürich

Mandalay Moon

Schauplätze einerseits in Thailand, vor allem in seiner Hauptstadt Bangkok, andererseits in Myanmar, dem früheren Burma, da läuft jedem Reise- und Asien-affinen Leser schon vor der ersten Seite das Wasser im Mund zusammen. Dann hat der Autor nicht nur diesen Roman, sondern ganz nebenbei auch noch als Reisebücher „Gebrauchsanweisung für Thailand“ und „Gebrauchsanweisung für Burma/Myanmar“ publiziert. Das schraubt die Erwartungen an die Kulisse schon ganz schön nach oben.

So viel sei verraten – Martin Schacht wird ihnen gerecht. Zumindest was das Atmosphärische, das Lokalkolorit, die Stimmungsbilder, die Detailbeschreibungen und die gelungenen Bilder über Land und Leute anbelangt. Schacht lebt und arbeitet heute als Journalist immer noch teilweise in Bangkok. Neben Südostasien sind Mode, Kunst und Design seine Leidenschaften.

Und auch das ist an unzähligen Stellen im Buch spürbar und sehr wohltuend. Wenn er „Klebreis im gefalteten Bananenblatt mit einer süß-scharfen Chili-Kokos-Mischung“ oder einen „Blumenstand mit Opferketten aus aufgezogenen Jasmin- und Tagetes-Blüten“ beschreibt, dann ist der Kopf sofort in Asien, mitten in der Szene. Film ab.

Wenn man das in einem Roman sucht, bekommt man mehr als genug davon.

Aber Martin Schacht kann auch der nachdenkliche, der philosophische Autor sein. „Hobbys sind etwas für Rentner oder pickelige Nerds, aber ich bin so lange dabei, dass ich gar nicht anders kann, als damit weiterzumachen. Aufhören wäre das Eingeständnis, einen guten Teil meiner Lebenszeit unnütz vergeudet zu haben“ oder „Wenn man einmal mit dem Reisen angefangen hat, hört man nicht wieder damit auf….Alles wird gewöhnlich, sobald man sich daran gewöhnt hat. Und dann muss man eben weiterziehen.“

Ach ja. Dann gibt es da auch noch eine Story. Vom Alltagsleben gefrusteter Journalist erhofft sich in Bangkok eine Inspiration und Neuorientierung (der autobiographische Anteil an der Geschichte ist nicht bekannt) und trifft auf ein vom Leben verwöhntes Paar. Glück, Liebe, gutes Aussehen und finanzielle Unabhängigkeit. Er ist ein eher wenig engagierter Filmemacher, möchte aber einen Dokumentarfilm über das Leben seiner Großmutter im damaligen Burma zu Zeiten des Militärputsches drehen. Anfangs etwas verwirrend, später aber als Parallel-Handlung spannungssteigernd, springt Schacht immer wieder zurück in die Zeiten, als das Opium-Geschäft im Goldenen Dreieck florierte, beherrscht von der Opium-Königin Olive Yang.

Belletristisch sehr unterhaltsam gleitet die Handlung beider Erzählungen dahin und muss natürlich fast zwangsläufig irgendwann fusionieren, da Olive Yang auch zum Zeitpunkt der gegenwärtigen Handlungsstranges noch zu leben scheint. Eher überraschend wird erst sehr spät aus der Erzählung mit ästhetischem, kulturellem und historischen Schwerpunkt plötzlich ein Krimi mit dem für dieses Genre typischen Finale furioso.

Alles in allem ein wirklich gelungener Roman eines feinsinnigen und feingeistigen Autors mit leicht melancholischer Note.


Genre: Kriminalliteratur, Reisen, Roman
Illustrated by Rowohlt

Heimweg

Hintersinnige Heimkehrer-Geschichte

Mit dem Roman «Heimweg» hat der vor allem als streitbarer Journalist und Kolumnist bekannte Schriftsteller Harald Martenstein im zarten Alter von 53 Jahren sein überzeugendes Debüt als Romancier vorgelegt. Es ist ein Schlüsselroman, dessen Protagonisten er der eigenen Familie entliehen hat. Im Interview mit der FAZ hat er erklärt, er sei ein schlechter Geschichten-Erzähler: «Ich schmücke aus und schneide weg, was übersteht». Entstanden ist dabei ein Buch über die Bundesrepublik Deutschland der fünfziger bis siebziger Jahre, die ja, als Zeit des Wirtschafts-Wunders verklärt, nur Gewinner zu haben schien. Es habe ihn gereizt, sie als Verlierer-Geschichte zu erzählen, ihre Lebenslügen zu entlarven.

Joseph, der Großvater des Ich-Erzählers, kommt als Heimkehrer aus russischer Kriegs-Gefangenschaft mit einem Lungendurchschuss und zwei steifen Fingern am Bahnhof an. «Er war geradezu in Topform, verglichen mit einigen anderen armen Teufeln in seinem Eisenbahnwagon». Daheim erwartet ihn ein Blutbad. Ein unbekannter Mann öffnet ihm die Wohnungstür, er findet seine Frau Katharina nackt in einer Blutlache liegend, der Fremde hat ihr in den Hals geschossen. Sie überlebt den Streifschuss. Eine Eifersuchtstat, wie sich herausstellt, der Mann ist einer der vielen Liebhaber seiner im Rotlichtmilieu arbeitenden Ehefrau. Sie tritt in der Rheingoldschänke ihrer Schwester Rosalie als Schleiertänzerin auf. Das Ehepaar versöhnt sich schon bald wieder, er lässt seiner schönen Frau ihre Freiheiten, und bald findet er auch eine einfache Arbeit. Genügsam wie er ist, reichen ihm die bescheidenen Verhältnisse, in denen sie leben. Er liest viel und widmet sich seinen Wellensittichen, nebenbei wirkt er auch als Hausmeister. Rosalie findet einen gutsituierten Mann unter ihrer Kundschaft, den ihre anrüchige Vergangenheit nicht stört, sie verkauft ihr Etablissement und heiratet ihn.

In Rückblicken werden, auch weit zurückreichend, düstere Kapitel der Familiengeschichte aufgerollt. Zu denen gehört der Mord des Urgroßvaters an seinem Sohn, ferner ein Selbstmord und die Exekution eines Kommissars der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Den musste Joseph als Truppführer aufgrund des geheimen Kommissar-Befehls erschießen lassen, wobei er auch noch ohne Not einen Knaben tötete, der sich in der Nähe herumtrieb. Außer seiner Frau hat er Niemandem je davon erzählt. Schließlich beginnt mit der zunehmenden Demenz von Katharina auch die erzählte Geschichte ins Mystische abzugleiten, tauchen Geister der Vergangenheit als Besucher auf, lebende Tote sozusagen. Darunter befindet sich auch der einst in Russland ermordete Knabe, der Ich-Erzähler des Romans, mit dem Joseph jedoch vereinbart hat, er solle sich als sein Enkel ausgeben. Und auch Kuhlenkampf, Freddy Quinn und Rudolf Schock gehören dazu, genüsslich decouvriert der Autor die aus heutiger Sicht auch medial dröge Nachkriegszeit. Ironisch, fast schon zynisch schickt er seine Figuren in eine der damaligen wirtschaftlichen Entwicklung entgegen gesetzte Abwärtsspirale aus Problemen und Pleiten, Krankheit und Tod.

Er habe, hat der Autor dazu erklärt, die Metapher von den Geistern der Vergangenheit «halt wörtlich genommen», zurück reichend bis zum Urgroßvater und zu Heigl, dem bayrischen Robin Hood. Das zeigt sich sprachlich in den Vergleichen mit der Gegenwart, die dann oft mit «Heute würde man …» eingeleitet werden und so den zeitlichen Abstand verdeutlichen. Anfangs wie ein ironisch erzählter, ins Triviale abzugleiten drohender Roman, erweist sich diese Heimkehrer-Geschichte später zunehmend als klug konstruiert und hintersinnig. Das entscheidende Merkmal ist die darin ausgedrückte moralische Unbestimmtheit, die viel Raum lässt für eigene Interpretationen. Bei denen sollte man aber trotz der erst im weiteren Verlauf des Geschehens zum Tragen kommenden, mystischen Elemente die journalistisch geprägte Nüchternheit des Autors nicht ganz unberücksichtig lassen, auch wenn da so ausgesprochen launig erzählt wird.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by btb München

LTB Spezial 105: Am Hofe

news ltb spezial 105

Illustre Adelsgesellschaft…

„Der Graf von Quackham“: Auf Quackham Manor, einem idyllischen englischen Landsitz, kümmert sich Sir Dagobert um das Vermögen seines Schwagers Graf Basil Quackley, der seit rund 30 Jahren verschollen ist. Abgesehen vom Geiz des Sir Dagobert geht es allen dort Lebenden gut. Aber eines Tages findet sich ein legitimer Erbe des Grafen – ein amerikanischer Bürgerlicher mit Namen Donald Duck. Sir Dagobert ist geschockt, seine Nichte Daisy dagegen begeistert. Auch das Personal kann Donald durch seine offene und liebenswürdige Art für sich gewinnen. Allerdings gibt es auch viele Geheimnisse in Quackham Manor, die nicht ans Licht dringen dürfen: Das Personal übt heimlich für eine Theateraufführung und Daisy darf sich nicht bei ihrer Geschäftsfrauentätigkeit erwischen lassen – Frauen haben kein Recht auf Männerarbeit. Außerdem gibt es da noch einen seltsamen Landstreicher, der Kost und Logie in Quackham Manor gefunden hat. Und Claas Clever will Sir Dagobert wieder einmal ein lukratives Geschäft streitig machen.

„Daisy von Duckenburg“: Dienstmagd Daisy bittet Graf Donald von Undzu nach Hause zurückzukehren, um seiner betagten Tante Gesellschaft zu leisten. Graf Donald kommt der Bitte nach, soll aber noch einen Brief von Konsul Knauserle an Hauptmann Hallodrius übergeben. Was Donald nicht weiß: Dieser Brief hat es in sich, benennt er doch alle Verschwörer gegen den König. Damit heften sich sofort allerhand Gegner auf seine Fersen, um ihm den Brief wieder abzujagen. Dabei kommt es zu allerlei Verwicklungen und einer spontanen Liebe zu Daisy – von der Graf Donald nicht weiß, dass sie keine Adlige ist.

„Kampf um die Krone“: Dagobert Duck erfährt, dass sich sein Erzrivale Klaas Klever einen Adelstitel erkauft hat. Das lässt Dagoberts Ansehen im Milliardärsklub auf einen Schlag sinken. Dann aber kommt er überraschenderweise in den Besitz eines Adelstitels und einer Diamantenmine. Allerdings ist nicht alles Gold, was glänzt…

„Seiner Majestät neuer Hut“: Die drei Musketier-Anwärter Goofos Goofamis, Micky de Mausignan und Rudios Lecheval haben sich ihre Aufgaben als Anwärter spannender vorgestellt als nur den Vorkoster, Hundesitter und Golfjunge zu mimen. Also beschließen sie, Schurken auf frischer Tat zu ertappen. Leider erwischen sie die falschen, sodass die echten Schurken mit der neuesten Hutkreation für den König entkommen können. Die drei Mausketiere beschließen, den Fehler wiedergutzumachen und heften sich den Dieben an die Fersen.

„Der aristokratische Rivale“ (deutsche Erstveröffentlichung): Onkel Dagobert will mit einem Aristokraten lukrative Geschäfte machen. Dabei erhält Donald nicht nur einen neuen Rivalen um Daisys Gunst, Phantomias kommt außerdem unsauberen, adligen Praktiken auf die Spur.

… alles andere als fehlerfrei

9 Geschichten weist das 512 Seiten starke LTB-Spezial auf. Davon sind zwei als Fortsetzungen konzipiert, die aber im Band ihr Happy End (?) finden. Die Episoden rund um „Graf von Quackham“ kommen als deutsche Erstveröffentlichung daher; die Episoden von „Daisy von Duckenburg“ wurden überarbeitet. Zudem beinhaltet der Band die beiden ersten Episoden der Mausketiere. Recht, Gerechtigkeit (was nicht immer das Gleiche ist), Demokratie, ungerechte Hierarchie, Frauenrechte und immer wieder der Kampf um eine bessere Welt zeichnen diesen Band aus. Frauenrechte und selbstbestimmte Frauen in Männergesellschaften kommen in mehreren Geschichten vor („Die Wirtin von Venedig“, „Daisy von Duckenburg“, „Der Graf von Quackham“) und im Gegensatz zu den Episoden rund um die Musketiere spielen sie keine nachgeordnete, sondern eine gleichberechtigte Rolle als Hauptfiguren. Zudem wird das asymmetrische Verhältnis zwischen Volk und Adel angesprochen und kritisch, aber auch humorvoll beleuchtet. Ebenso wird spannend und humorvoll, dabei aber auch kritisch der Adel als ebenso im Guten wie im Bösen menschlich dargestellt. „Rummel in Rolabola“ zeigt auf, dass ein despotischer Herrscher zwar ein Land erobern kann – aber ob er es auch hält, ist die ganz andere Frage. Der genetisch verankerte Sinn für Gerechtigkeit bricht immer wieder hervor und verteidigt demokratische Grundwerte. Damit hat die Geschichte auch einen aktuellen Bezug zu den diversen despotisch regierten Regionen der realen Welt und aktuell zum Ukraine-Krieg.

Empfohlen.


Genre: Comic
Illustrated by Egmont Ehapa

Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist

Und täglich grüßt das Murmeltier

Der soeben unter dem Titel «Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist» veröffentlichte Roman von Gert Loschütz hat eine weit zurückreichende, editorische Vorgeschichte. Das Buch basiert auf dem gleichnamigen Hörspiel aus dem Jahre 1988, das zwei Jahre später unter dem Titel «Flucht» erstmals als Roman veröffentlicht wurde. Wie der Autor in seiner Nachbemerkung schreibt, stand der damalige Titel in deutlichem Zusammenhang mit den Absetz-Bewegungen aus der DDR. Angesichts der heutigen, ganz anders gelagerten Flucht-Problematik «ist der Titel falsch». Er sei für die Neuausgabe deshalb «zu dem Titel zurückgekehrt, den die Geschichte für mich immer hatte», erklärt der 1957 als Elfjähriger mit seinen Eltern aus der DDR ausgereiste Autor.

«Sieh dir alles genau an, weil du es nicht wiedersiehst», sagt die Mutter von Karsten, als sie spätabends noch mal durch die Straßen gehen, es ist der Abend vor ihrer klamm-heimlichen Ausreise in den Westen. Immer wieder wurden vorab schon mal von verschiedenen Postämtern aus Pakete dorthin geschickt, wurde das Geld vom Konto abgehoben und davon ein teurer Fotoapparat gekauft. Der soll ‹Drüben› dann gleich wieder verkauft werden, der Erlös ist als Startkapital gedacht. Am nächsten Morgen machen sie sich dann auf den Weg zum Bahnhof. «Sieh dich nicht um» sagt die Mutter unterwegs immer wieder zu ihrem Sohn. Ihre Reise ist allen gegenüber als Urlaubsreise an die Ostsee deklariert worden, niemand darf wissen, wohin sie tatsächlich fahren. Diese konspirative Ausreise aus seinem Heimatort Plothow hinterlässt bleibende Spuren bei Karsten, um nicht zu sagen Schäden. Zeit seines Lebens ist der Abreisetag für ihn nun ein ganz besonderes Datum, sein persönlicher Feiertag quasi, der eine gravierende Zäsur in seinem Leben markiert. Und auch die traumatische erste Nacht in einem hessischen Hotel wird prägend für sein weiteres Leben. Denn künftig wird jede erste Nacht in einem Hotel den Reisejournalisten an die beklemmende, ungewohnte Situation erinnern, irgendwo ganz neu zu sein, so wie damals, als plötzlich alles ganz anders war als daheim in der DDR.

Eine durchgängige Handlung findet man nicht in diesem Roman, es sind eher narrative Vignetten, die da, zeitlich vor und zurück springend, aufgereiht werden. Den Ich-Erzähler Karsten hat das Fluchterlebnis nicht nur geprägt, es hat ihn total entwurzelt, er ist nirgendwo mehr richtig zu Hause und sucht bei seinen Reisen ruhelos nach Orten und Landschaften, die ihn an seine märkische Heimat erinnern. In Irland und auf Sizilien glaubt er sie gefunden zu haben. Als Reisejournalist schreibt er so manches Notizbuch voll und sitzt am Ende mit drei anderen Teilnehmern in einer Rundfunksendung, in der es ums Reisen geht, Genaueres erfährt man aber nicht. Gert Loschütz erweist sich hier als Großmeister der Andeutungen. Er lässt eine Feindschaft in der Schulzeit seines Helden kurz aufblitzen, führt einen ebenfalls viel reisenden und schreibenden Freund Götz ein, von dem man kaum etwas erfährt, und auch Frauen spielen nur andeutungsweise eine Rolle. Einzige Ausnahme ist Vera, mit der Karsten wohl länger liiert ist, und die dann auch als Adressatin fungiert, wenn beim Erzählen zuweilen in die Du-Form gewechselt wird. Aber auch da wird nur episodenhaft verkürzt erzählt, Vera bleibt eine eher schemenhafte Figur ohne Profil.

Die posttraumatisch bedingte Ruhelosigkeit des Protagonisten wird in einem unablässigen Gedankenstrom artikuliert, der in beeindruckenden Bildern Landschaften ebenso stimmig wiedergibt wie Erlebnisse und Begebenheiten im eng begrenzten Lebensradius des melancholischen Helden. Mit der Methode des unzuverlässigen, und zudem auch noch heftig mäandernden Erzählens wird der Leser allerdings ziemlich gefordert. Man fühlt sich verloren wie Karsten, dessen Gedanken refrainartig immer wieder auf den «Tag, der nicht vorüber ist» zurückweisen, was als fatale Zeitschleife (sorry!) an «Und täglich grüßt das Murmeltier» erinnert.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman

Wo, bitte, geht´s zum Kapitän? Eine Reiseleiterin auf ihrem Weg ins Glück

Wer zum ersten Mal im Leben eine Kreuzfahrt unternimmt, einen Flussdampfer entert oder die Weltreise in einem schwimmenden Hotel bucht, der wird mit diesem kleinen Buch auf die mitunter undurchsichtige Welt der Kabinenschiffe vorbereitet. Anders als beispielsweise bei dem satirischen Essay »Schrecklich amüsant – Aber in Zukunft ohne mich« von David Foster Wallace schildert Heidi von Balingen Erlebnisse und Beobachtungen auf den Meeren dieses Planeten aus der Perspektive einer Reiseleiterin. Weiterlesen


Genre: Erfahrungen, Romane
Illustrated by Kindle Edition

Hochzeit in Jerusalem

Schläfenlocken und Dolce Vita

Der zweite Roman von Lena Gorelik mit dem Titel «Hochzeit in Jerusalem» wurde für den Deutschen Buchpreis 2007 nominiert. Die vor allem als Journalistin tätige, in Leningrad geborene Autorin mit russisch-jüdischen Wurzeln knüpft mit diesem ebenfalls autobiografisch geprägten Werk an ihren erfolgreichen Debütroman an. Denn auch hier geht es wieder um die Frage, was Jüdischsein in Deutschland heute bedeutet. Es gelingt der Autorin, diesem nach wie vor konfliktreichen Thema auf humoristische Weise die Schärfe zu nehmen, ohne jedoch den bitterernsten Hintergrund damit zu verleugnen.

Die Ich-Erzählerin Anja Buchmann, deren Eltern als russische Juden nach Deutschland ausgewandert sind, ist als Kommunikations-Beraterin tätig. Mal wieder auf der Suche nach einem neuen Partner, lernt sie auf einer jüdischen Single-Internetseite Julian kennen, ein ökologisch orientierter, eher unscheinbarer Hippietyp. Er hat gerade erst erfahren, dass sein Vater Jude ist, wenn auch ein nicht praktizierender, und dass seine Großeltern im KZ ermordet wurden. Nun möchte er mehr darüber wissen und beginnt sich für das Judentum zu interessieren. Zunächst kommuniziert er per E-Mail mit Anja darüber, lernt sie, obwohl er ihr zuweilen auf die Nerven geht, schließlich auch persönlich kennen und begleitet sie sogar in eine Synagoge. Nach dem Studium religiöser Schriften überlegt er nämlich, ob er Jude werden will. Er erfährt aber vom Rabbiner, dass Jude nur ist, wer eine jüdische Mutter hat. Eine Konvertierung in diese Religion wäre zwar möglich, sei aber ein langer und dornenreicher Weg. Als Anja und die gesamte Familie überraschend zur Hochzeit einer entfernten Cousine nach Jerusalem eingeladen werden, nutzt Julian die Gelegenheit und fragt zaghaft, ob er sich anschließen dürfe. Anjas Mutter würde die beiden, bisher nur lose als Freunde verbundenen, mit knapp dreißig aber immer noch Ledigen, bei dieser Gelegenheit gerne verkuppeln, sie stimmt also begeistert zu.

Es gibt wohl kein Klischee russisch-jüdischen Alltagslebens, das in diesem heiteren Roman nicht bedient wird. Sei es die unbekümmerte Art, mit der mehr oder weniger religiös geprägte Juden trickreich allerlei Auswege finden, die strengen Regeln und Gebräuche ihrer Religion zu umgehen. Sei es die weitverbreitete Verachtung aller Palästinenser, die ausgelassene Feierwut und Fresslust jüdischer Familienfeste oder die Streiterei mit der nervtötenden Verwandtschaft im Kontrast zu der ungebremsten Überschwänglichkeit innerhalb der eigenen Sippe. Besonders lustig ist die Episode mit der Anreise zur titelgebenden Hochzeit, bei der Anja mit ihrer beklemmenden Flugangst kämpft, um dann im Bus in Jerusalem auch noch in jedem Araber einen Selbstmord-Attentäter zu vermuten. Unverkennbar ironisch wird auch das touristische Jerusalem geschildert, mit dem Gedrängel vor der Klagemauer und den in der Altstadt herumwuselnden, schwarz gekleideten Ultraorthodoxen mit ihren Schläfenlocken, in absurdem Kontrast stehend zum lockeren Strandleben in Tel Aviv und dem von Konsumgier geprägten Dolce Vita der säkularen Oberschicht.

Mit ihrem dialogreichen, lockeren Erzählstil umschifft die Autorin elegant und selbstironisch so manche Hürde der Banalität, sie schafft es sogar, aus der Freundschaft zwischen Anja und Julian keine kitschige Liebesgeschichte werden zu lassen. Zudem gibt sie auch allerlei, den Zionismus betreffende, politische und gesellschafts-kritische Denkanstöße. Oder sie persifliert beispielsweise genüsslich den Markenwahn auch in der israelischen Konsum-Gesellschaft. Im Epilog sitzt Anja dann wieder im Flugzeug und bekämpft ihre Angst, indem sie mit ihrem MP3-Player die dreitägige Aufzeichnung abhört, in der ihre schon sehr vergessliche Großmutter ihr Leben erzählt: «Geboren wurde ich in einem Schtetl, das weißt du ja. In Weißrussland war das, es war ein Schtetl, wahrscheinlich wie das in Kanada, wohin du fliegst. Warum eigentlich noch mal?» Amüsant also, – mehr aber auch nicht!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Diana Verlag

Eine runde Sache

Absolut keine runde Sache

Als Gewinner ist Tomer Gardi mit seinem Roman «Eine runde Sache» die große Überraschung der diesjährigen Leipziger Buchmesse. Erstmals wurde hier auch ein Buch prämiert, dessen etwas umfangreicherer zweiter Teil auf Hebräisch geschrieben wurde und den man folglich nur in Übersetzung lesen kann. «Mein Grundkonzept hinter diesem Roman war, dass ich wissen wollte, wie unsere Sprachen unsere Fantasie beeinflussen» erklärte der Autor dazu. Die Jury sprach euphorisch von einem «Feuerwerk der Einbildungskraft», das «ebenso dreist wie kunstvoll mit den Lesegewohnheiten spiele». Es fragt sich nur, inwieweit dieses feuerwerkartige Spiel auch diejenigen erfreut, auf deren Kosten es geht, die überraschten Leser nämlich.

«Ein Mann rutscht auf eine Scheibe Salzgürke aus, stürzt nieder auf seiner Arsch», beginnt slapstickartig und in ‹Broken German», dem für den Autor typischen Migranten-Deutsch, der erste, vom Museumswächter Tomer Gardi erzählte Teil des Romans. Er wird auf eine Yacht eingeladen, landet aber überraschend im Wald auf einer Jagd, bei der er selbst der Gejagte ist, der bissige Schäferhund Rex ist hinter ihm her. Es gelingt ihm, Rex zu überrumpeln und ihm die «Portable Vagina» über die Schnauze zu ziehen, die er gestern Abend in einem Pissoir aus dem Automaten gezogen hat. Der Hund protestiert wütend, Tomer aber tut so, als habe er ihn nicht verstanden. «Dü Plüstükfützü! Nüm sü jützt vün münür Schnützü rüntür!» «Das ist keine Plastikfotze, Rex. Das ist dein Maulkorb» antwortet Tomer. «Ürzühl mür kün Schüß!» Wie bei den Bremer Stadtmusikanten schließt sich ihnen bald auch der tote Erlkönig an, der nur in altmodischen Reimen spricht. Im allegorisch benannten Bad Obdach versucht das hungrige Dreigespann durch Singen etwas Geld zu verdienen, wird bald schon von einer freundlichen Oma (oder Hexe?) zum Essen eingeladen und erlebt schließlich auch noch die Sintflut. Es gelingt aber nur Tomer Gardi, sich auf die Arche Noah zu retten, ehe er am Ende wieder auf den Intendanten trifft, der am Anfang auf der «Salzgürke» ausgerutscht ist.

Im zweiten, stilistisch konventionellen Teil des Romans wird die Geschichte des realen indonesischen Malers Rahden Saleh von der Insel Java erzählt, der im 19ten Jahrhundert zur Ausbildung nach Europa reiste, schnell berühmt wurde und in den höchsten Kreisen verkehrte. Als er auf Wunsch des Königs Jahrzehnte später in die niederländische Kolonie zurückkehren musste, war er dort als Einheimischer plötzlich nicht mehr privilegiert und erlebte einen bitteren sozialen und künstlerischen Abstieg. Diese gut recherchierte Lebensgeschichte bietet historisch aufschlussreiche Details aus der Kolonialzeit, wobei die Leser aber mit einer Fülle von Figuren konfrontiert werden, von denen die meisten nie etwas gehört haben dürften. Das trägt nichts zur Sache bei, sondern stört nur den Lesefluss!

Im Grunde sind es zwei Romane, die man da liest. Deren einzige Verbindung kann dahingehend interpretieren werden, dass hier zwei Künstler, durch mehr als ein Jahrhundert getrennt, auf Identitätssuche in ihren unterschiedlichen Kunstgattungen geschildert werden. Einerseits die Romanfigur des ehemaligen Schriftstellers und Museumswächters Tomer Gardi im ersten, als Schelmenroman angelegten Teil, andererseits der von höchstem Ruhm verwöhnte Maler, der am Ende völlig desillusioniert auf Nimmerwiedersehen in den Weiten einer javanischen Kaffeeplantage verschwindet. Dabei werden auch die Mythen vom Ewigen Juden und vom Fliegenden Holländer mit einbezogen. Das wird im märchenhaften ersten Teil durch das wohl auch real vorhandene, hier mutmaßlich aber übertrieben stümperhafte Deutsch des israelischen Autors symbolisiert, im historischen zweiten durch die Zerrissenheit des Malers zwischen den unterschiedlichen Kulturen von Orient und Okzident. Die verhaltene Rezeption der Leserschaft ist mehr als deutlich: Eine runde Sache, zusammenpassend und preisträchtig also, ist dieser seltsame Roman keinesfalls!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Droschl

Die besten Ideen von einem Blech

Alles auf einem Blech

Es hat Vorteile, wenn Gerichte auf einem Blech gemacht werden, und die hebt das vorliegende Buch hervor: Man muss nicht mit vielen verschiedenen Töpfen und Pfannen hantieren. Aufwand und Abwasch halten sich in Grenzen. Wenn das Gericht im Ofen ist, kann man auch etwas anderes machen. Das zahlt sich z.B. bei Partys aus. Alles ist gut vorzubereiten, gart gleichmäßig und liegt so dicht beieinander, dass die Aromen sich gut durchdringen können. Die Bleche lassen sich gut reinigen.

Das Buch geht außerdem auf die verschiedenen Betriebsarten von Backöfen und deren Vor- und Nachteile ein. Ebenso ist Backblech nicht gleich Backblech – auch da gibt es Unterschiede, was bei den Gerichten beachtet werden sollte, wie z.B. bei Fettpfannen und verstellbaren Blechen.

Auf den Blechen kann man alles Mögliche zubereiten, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Der Star ist allerdings das Gemüse, das nach Geschmack gewürzt, mit Öl vermengt und mit verschiedenen Käsesorten verfeinert werden kann. Es bildet im Backofen feine Röstaromen. Aber auch Fleisch am Knochen (so bleibt es saftig), ganzer Fisch und sogar Obst und Desserts lassen sich gut im Backofen zubereiten.

Meist ansprechende Rezepte

Dementsprechend sind die Rezepte gestaltet. Die meisten habe ich ausprobiert und sie schmecken sowohl mir als auch meinem Kind sehr gut. Einzig die Rezepte, die mir schon auf dem Foto recht trocken erschienen sind, habe ich ausgelassen. Das Gericht auf dem Cover z.B. finde ich aus mehreren Gründen nicht wirklich ansprechend, weil es zum einen ganze, ungeschälte Knoblauchknollen enthält (lieber geschält und geschnitten), Tomaten mit Rispen (die von den heißen Tomaten abzuklauben ist nicht mein Ding) und es mir, wie schon erwähnt, zu trocken erscheint.

Die Gerichte sind sehr übersichtlich gestaltet und mit großen Fotos bebildert. Es sind meist wenige Zutaten und überschaubare Zubereitungsschritte nötig, um das Gericht zuzubereiten. Es kostet damit tatsächlich relativ wenig Zeit. Das Argument, dass man zwischenzeitlich etwas anderes machen kann, stimmt zwar, aber weil das Backen doch meist noch einige Zeit in Anspruch nimmt, eignen sich Backofenrezepte eher weniger, wenn es mal schnell gehen muss.

Unterteilt werden die Rezepte ganz klassisch in Hauptgerichte, Snacks und Beilagen, Desserts und süßes Gebäck. Insgesamt sind sie fleisch- und fischlastig mit Gemüsebeilage; es gibt aber auch ein paar vegetarische Varianten, v.a. bei den Snacks und Beilagen, die z.T. aber auch als Hautgerichte durchgehen würden. Ein Rezeptregister rundet das Buch ab.

Fazit

Schmackhafte, übersichtlich gestaltete Rezepte süß und herzhaft für Fans der Backofengerichte. Manche Gerichte sind aber Geschmackssache, da sie schon auf dem Foto etwas trocken aussehen.


Genre: Koch- und Backbuch
Illustrated by Weltbild

Der geschenkte Gaul: Bericht aus einem Leben

Hildegard Knef hatte mit Ende vierzig ihren „Bericht aus einem Leben“ herausgegeben. Dass ich ihn fünfzig Jahre später lesen wollte, liegt an Angela Merkels Wunsch, sich vom Bundeswehrorchester zum Abschied das Lied Für mich soll’s rote Rosen regnen, als Ständchen darbieten zu lassen. Ihre Lieder hatten mir schon lange gefallen, vor allem Von nun an ging’s bergab, nun weiß ich, dass es eine, in ihrem kodderigen Stil gefasste, Kurzbiografie darstellt …

Das Buch überrascht, es ist ein Stilmix, von ihrer Jugendzeit sind es lebhafte Erzählungen, später werden es Tagebuchnotizen, manchmal sind Briefe eingestreut, die Jahrzehnte später verfasst sind, alles ist prall gefüllt mit ihren Erlebnissen, geprägt von ihrer Neugier und Lust auf das Leben.

Als Kleinkind zieht ihre Familie Mitte der Zwanziger nach Berlin, kurze Zeit später stirbt der Vater, die Mutter muss Geld verdienen und so kommt sie zu den Großeltern. Am liebsten ist sie mit dem Opa in Zossen, in einer Laube, wo sie sich frei entfalten konnte. Das erste Kapitel heißt „Liebeserklärung an meinen Großvater.“ Die Oma hatte Angst vorm jähzornigen Ehemann, ihr konnte er gar nichts. Später, als ihr erster Ehemann auch zu Jähzorn neigt, ist es ihr auch kein Problem.

Die Mutter heiratet einen Schuhmacher, dessen Geschäft am S-Bahnhof Wilmersdorf (heute Bundesplatz) liegt, und sie berichtet von seinen Versuchen, den Blockwart auszutricksen, wenn er seinen Laden mit der Nazifahne schmücken soll. Zwei Lehrerinnen langweilen sie mit dem Schwärmen von Führer und Vaterland, manche schikanieren sie. Das erschwert die Berufswahl, es gelingt ihr, in einen Zeichenkurs bei der Ufa zu kommen. Sie will mehr, glaubt an sich, und sie schafft es, als Schauspielerin vorzusprechen. Ihr Motto ist, ganz berlinerisch: Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommste ohne ihr.

Der Krieg beginnt, die ersten Freunde werden Soldaten, dann fallen die Bomben, sie verbringt Abende in Bunkern und sieht, wie Stück für Stück das Viertel zerstört wird. Die Straßennamen aller ihrer Wohnungen sind ausgeschrieben, die meiste Zeit wohnte sie ganz in der Nähe meines Wohnorts, was meine Aufmerksamkeit erhöhte. Die Mutter ist mit dem kleinen Bruder evakuiert, sie lebt mit dem schwindsüchtigen Stiefvater zusammen, als die Wohnung teils zerbombt ist, kommt die Kapitulation.

Als Freund bei Kriegsende hatte sie einen führenden Parteigenossen, dessen Namen sie nur als Initiale, aber mit Adelstitel verrät. Sie schließt sich ihm zur Verteidigung der Stadt an, sie wollten, an der S-Bahn entlang, Richtung Westkreuz kämpfen und müssen aufgeben, kommen beide in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Alle diese Begegnungen sind ohne Wehklagen geschrieben, nach vorne wird geguckt. An ihn, E.v.D. denkt sie oft, einmal schreibt sie von den Flitterwochen am Kriegsende.

Weiter geht es, als die Alliierten das Sagen haben, als die Amis Häuser besetzen in Zehlendorf und die Briten in Wilmersdorf. Inzwischen ist sie Anfang zwanzig, Schauspielerin: Sie macht mit beim ersten Film nach Kriegsende: Die Mörder sind unter Uns, aber lieber noch spielt sie Theater mit Borislaw Barlog.

Manchmal gibt es tagelang nichts zu essen, die Ruhr grassiert, aber das hält sie nicht auf. Ein Ami macht ihr den Hof. Dazu, ganz trocken: „Kurt Hirsch, wurde später der Assistent von Erich Pommer, noch später mein Angetrauter und wesentlich später ein von mir Geschiedener.“

Bei den Amerikanern in Zehlendorf wird sie entnazifiziert, mit Hirsch sieht sie bei den Sowjets einen Film über Auschwitz und beginnt zu begreifen. Seine Eltern sind Juden und werden nie verstehen, wie ihr Sohn eine Deutsche heiraten konnte.

Die ersten Jahre nach Kriegsende sind bewegt, sie lernt Englisch und französisch. Der Film Die Sünderin wird zu einem Skandal, umso mehr zieht es sie nach Hollywood, sie kann als Deutsche keine Verträge abschließen, mit Ihrem Mann wandert sie aus und filmt in den USA, lebt in Hollywood, das in der Zeit von McCarthy als linksversifft bekämpft wird.

Ihre Beobachtungen sind genau, fast wie ethnologische Studien, wenn sie über Sitten, etwa Grill- und andere Partys, schreibt. Sie beschreibt die Dichte von Therapeuten in Hollywood, besonders amüsant wird es, wenn sie von Vertreterinnen der Frauenorganisationen ob ihrer Moralvorstellungen verhört wird. Natürlich trifft sie viele Prominente, schon in Berlin war es so, sie begegnet Rock Hudson, übrigens hat er dieselbe Sprachlehrerin wie sie, Henry Miller, Cole Porter ist Komponist ihrer Broadway-Show. Es bleibt nicht beim name dropping, sie freundet sich mit manchen an, mit Marcuse, vor allem mit Marlene Dietrich, die sie fast ein bisschen bemuttert, ihr ihren Astrologen empfiehlt, und sie mit Rat und Tat unterstützt.

Eingestreut sind interessante Überlegungen, warum gibt es im Englischen kein „Sie“? Wie ist das Bild der Deutschen im Ausland, wie denken die vielen Emigranten, denen sie immer begegnet? Sie ist die „Kraut“ und wird bei Interviews nicht dazu befragt, wie ihr Schauspiel ist, sondern, ob sie Nazi war.

Später geht sie dazu über, Tagebucheintragungen zu verwenden. Es gibt Erfolge, aber auch Enttäuschungen in New York, Rückkehr nach Deutschland, Ärger mit Produzenten, Me too-Erlebnisse. Eine lange Aufzählung ist den Anfeindungen gewidmet, die sie, lange vor den Zeiten, des Shitstorms erfährt. Und dann Aufzählungen der vielen Krankheiten, die sie durchlitt.

Zum Schluss kommen Berichte ihres Glückes nach der Geburt ihrer Tochter Tinta, und dem Leben mit deren Vater.

Ich las die Erzählungen in ganzen Sätzen, gerne im feuilletonistischen Stil der Theaterkritiker ihrer Zeit, sehr gerne. Das Lesen der Satzbrocken wurde anstrengend. Ob ein Redigieren es verbessert hätte? Oder ist es gerade ihr Stil, frisch und frei „von der Leber weg“ zu schreiben? Jedenfalls konnte ich ihre ersten drei Jahrzehnte mit mehr Aufmerksamkeit, ja Anteilnahme lesen. Schon die vielen zeithistorischen Hinweise lohnen die Lektüre, sie wusste eben, wieder ganz berlinerisch: „Wer angibt, hat mehr vom Leben.“


Genre: Biografien, Theater
Illustrated by Ullstein

Zusammenkunft

Fataler Mix aus Rasse, Klasse und Geschlecht

In England gilt der Roman «Zusammenkunft» der studierten Mathematikerin Natasha Brown als erfolgreichstes Debüt des Jahres 2021. Er wurde von Jackie Thomae kongenial ins Deutsche übersetzt und thematisiert den Rassismus aus einer völlig ungewohnten Perspektive. Die namenlose Protagonistin ist entgegen aller Klischees eben keine unterprivilegierte farbige Frau, die sich vergeblich abmüht, sich den Weg nach oben in eine bessere Zukunft zu erkämpfen. Stattdessen hat hier die Heldin «Oxbridge» absolviert, arbeitet in der Londoner Bankenszene in den obersten Etagen der Hierarchie, mit dementsprechend üppigen Bezügen natürlich. Sie hat es eigentlich doch geschafft, müsste froh und glücklich sein, oder?

Den steilen Aufstieg hat die junge Frau in London nur mit harter Arbeit, eisernem Durchhalte-Vermögen und absoluter Hintanstellung aller privaten Wünsche und Ziele geschafft. Nun, da sie dort angekommen ist, wo sie partout hinwollte, beginnen ihre Zweifel. Dient sie ihrer Firma etwa nur als Aushängeschild für ethnische und gender-bezogene Diversität? Waren all die Mühen das denn wirklich wert? Nach ihrer aktuellen Beförderung stellt sie ernüchtert fest, dass ihr hierarchisch gleichgestellter, neuer weißer Kollege gleichwohl von ihr erwartet, dass sie den Kaffee kocht, dass sie den Flug nach New York für ihn bucht, weil er nun mal in seinem Wochenend-Urlaub mit Familie einfach keine Zeit dafür habe. Und plötzlich schwebt auch noch kurzzeitig das Damokles-Schwert einer möglichen Krebserkrankung über der Ich-Erzählerin. Ihr schnöseliger Freund gehört zur britischen Upperclass, eine Familie «mit Geld so alt und dreckig wie das Empire». Er genießt seinen leistungslosen Wohlstand und wird mit all seinen Beziehungen mühelos eine politische Karriere machen, wenn er denn will, was gar nicht so sicher ist. Mit der Einladung seiner Eltern zu einer pompösen Gartenparty mit illustren Gästen wachsen ihre Zweifel. Soll sie sich wirklich den Demütigungen aussetzen, die sie dort sicherlich erwarten werden, wenn nicht gar möglichen Aggressionen? Vor dem Beginn des Festes zieht sie sich auf eine nahe gelegene Bergwiese zurück. «Warum leben?» fragt sie sich grübelnd, «Warum mich weiterhin ihrem reduzierenden Blick aussetzen? Diesem vernichtenden Objektsein. Warum meine eigene Entmenschlichung dulden?»

Trotz ihrer beruflichen Karriere kann die Heldin als farbige Frau also der latenten Ungerechtigkeit nicht entkommen, dem schlimmen Erbe der Kolonial-Geschichte nicht entfliehen. Sie ist als Karrieristin im Sektor der Hochfinanz ein Fremdkörper in einer fast ausnahmslos männlichen Domäne, und sie wirkt als Farbige mit Migrations-Hintergrund in der konservativen gesellschaftliche Oberklasse so exotisch wie einst der Mohr an den Fürstenhöfen der Feudalzeit. Junge Frau, Farbige auch noch und triumphal Erfolgreiche, dass ist zu viel der Zumutungen für die bessere Gesellschaft. Soziale Flexibilität und Durchlässigkeit der Klassen bleiben jedenfalls reine Utopie, da sie nur vordergründig erkennbar und wirksam sind, sich aber als fest verankerte Denkmuster nie wirklich haben etablieren können.

In einem quasi post-postmodernen Stil mit vielen inneren Monologen entwickelt die Autorin ihre unkonventionellen Gedanken zu einem nicht bewältigten Thema, dem leidigen, scheinbar unausrottbaren Rassismus. Vieles reißt sie dabei nur an, buchstabiert ihre Reflexionen nicht durch bis zur letzten Konsequenz, wohl um dem Vorwurf auszuweichen, ihr Thema allzu theoretisch zu entwickeln. Ihre minimalistische Verdichtung des Stoffes, in der sie sich zum Beispiel über das kollektive Gedächtnis der britischen Gesellschaft äußert, wird in der gewählten unkonventionellen, schon fast irrealen Erzählform den beabsichtigten realen Aussagen kaum gerecht. Auch die emotionslosen Figuren bleiben schemenhaft unwirklich in den Erzähl-Vignetten dieses wenig überzeugenden Romans über einen fatalen Mix aus Rasse, Klasse und Geschlecht.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Am Morgen des zwölften Tages

Hochaktuell

Aus zwei nicht nur zeitlich unterschiedlichen Perspektiven berichtet Vladimir Vertlib in seinem Roman «Am Morgen des zwölften Tages» über orientalische Männer. Dabei geht es dem österreichischen Autor russisch-jüdischer Herkunft hauptsächlich um die Islam-Erfahrungen seiner zwei Protagonisten, die als Großvater und Enkelin, also aus der Perspektive verschiedener Generationen, über das religiös gesteuerte Verhalten von Muslimen berichten. Da ihre Geschichten völlig unabhängig voneinander in Ich-Form erzählt werden, sind es eigentlich zwei Romane, die man da in ständigem Wechsel liest.

«Gnädige Frau, wären Sie bereit, mit mir zu schlafen», fragt gleich zu Beginn in einer Bar der 57jährige Adel die 39jährige Astrid, die seit jeher eine Schwäche für orientalische Männer hat. Die alleinerziehende Mutter einer erwachsenen Tochter bricht 1988, gleich nach dem Abitur, aus ihrer süddeutschen Universitätsstadt zu einer Reise nach Marokko auf, kommt aber nur bis Stuttgart. Dort lernt sie am Bahnhof Khaled kennen, der sich im Kaffeehaus an ihren Tisch gesetzt hat. Die mollige junge Frau kann seinem Charme nicht widerstehen, die Beiden erleben eine rauschhafte Nacht miteinander. Sie verschiebt daraufhin die Weiterreise von Tag zu Tag. «Am Morgen des zwölften Tages verschwand er», – und zwar auf Nimmer-Wiedersehen, sie weiß so gut wie nichts von ihm, außer dass er aus einem Dorf im Irak stammt. Neun Monate später kam ihre Tochter zur Welt. Ähnlich desaströs verläuft auch zwanzig Jahre und viele Männer später ihre Affäre mit Adel, denn schon bald schlägt er sie im Streit. Sie sinnt auf Rache und schließt sich einer Selbsthilfe-Gruppe nicht-muslimischer Frauen an.

Ihr verstorbener Großvater war als Orientalist durch sein Buch «Faschistische Perspektive für die Welt des Islam» berühmt geworden. Im Krieg war er für das Propaganda-Ministerium und die deutsche Abwehr tätig und wurde in eine Delegation berufen, die 1941 mit dem Auftrag in den Irak reiste, dort einen Aufstand gegen die britischen Besatzungs-Truppen anzuzetteln und sich als Verbündete zu inszenieren, wobei ja allein schon der Antisemitismus als Bindemittel diente. Die schriftlich festgehaltenen Ereignisse der Nazi-Mission bilden den größten Teil des Romans. Sie erinnern in ihrer Abenteuerlichkeit zwar an Karl May, sind aber offensichtlich gut recherchiert und durchaus bereichernd zu lesen. Zum Lesegenuss trägt insbesondere die deutliche Ironie des Autors bei, der nicht ganz klischeefrei, aber gut nachvollziehbar die Wurzeln im machohaften Weltbild islamischer Männer in ihrer extrem frauenfeindlichen Religion verortet. Dem Autor deshalb allerdings Islamophobie zu unterstellen, «gerade er als Jude dürfe so nicht über den Islam schreiben», geht allerdings völlig an der Sache vorbei, weist er doch deutlich auf dafür gleichermaßen vorhandene europäische Ursprünge hin.

Man macht es sich auch zu einfach, wenn man das bis heute gültige, mittelalterliche Weltbild des Islam nur als eine Frage der Koran-Auslegung interpretiert. Dieses antike Märchenbuch trägt, übrigens genau wie Talmud und Bibel, zum Leid jener Mehrheit von naiven Gläubigen bei, deren Intellekt den Schwachsinn nicht zu durchschauen vermag, der ihnen da von Kindesbeinen an eingetrichtert wird. Angesichts des islamistischen Terrors wird deutlich, wie gefährlich dieser «explosive Religionskitsch» tatsächlich ist. Die köstlichste Stelle im Buch ist die lebhafte Diskussion der Selbsthilfegruppe-Damen über die 72 Jungfrauen, die im Jenseits auf die Märtyrer des Islam warten. Der dem realistischen Erzählen verhaftete Vladimir Vertlib hat seine Thematik gründlich durchleuchtet und auf humorvolle Weise sehr unterhaltsam darüber geschrieben. Sollte, was Allah verhüten möge, Marine Le Pen am Sonntag zur Präsidentin gewählt werden, droht, wie Emmanuel Macron gestern im TV-Duell prophezeit hat, mit dem von ihr geplanten Kopftuchverbot ein Bürgerkrieg in Frankreich. Hochaktuell also, worüber der Autor hier schreibt!

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Deuticke Wien