Christus kam nur bis Eboli

levi-c-1Sehr eigenständiger Duktus

Der Ruhm des italienischen Schriftstellers Carlo Levi gründet sich heute ausschließlich auf seinen 1945 erschienenen, stark autobiografisch geprägten Roman «Christus kam nur bis Eboli», der in 37 Sprachen übersetzt und später dann auch verfilmt wurde. Der in Turin geborene Autor und Maler stammte aus großbürgerlichen Verhältnissen und studierte Medizin, wandte sich aber schon bald der Malerei zu und engagierte sich politisch. Als Antifaschist wurde er 1934 verhaftet und in die Verbannung nach Lukanien geschickt, in die Provinz Matera der heutigen Region Basilicata, wo er sich als Konfinierter zunächst in dem Städtchen Grassano und vom September 1935 bis Mai 1936 in dem Dorf Aliano aufhalten musste. Seine Beobachtungen und Erlebnisse dort hat er fast zehn Jahre später dann im Palazzo Pitti in Florenz niedergeschrieben, wobei das Romandorf den leicht verfremdeten Namen Galiano erhielt.

Allein prägend für diesen Roman, das habe ich beim zweiten Lesen nach vielen Jahren erneut festgestellt, sind die darin geschilderte Zustände einer archaische Gesellschaft im Mezzogiorno vor mehr als acht Jahrzehnten. Armut und Elend damals übersteigen das Vorstellungsvermögen heutiger Leser bei Weitem, und so wundert man sich denn auch nicht, dass die Einwohnerzahl von Aliano sich von 1951 bis 2001 auf 1284 Einwohner fast halbiert hat, eine hoffnungslose Entwicklung, die tief blicken lässt. Die Ursachen dafür reichen weit zurück, Levi ist als zeitgenössischer Berichterstatter damals jedenfalls entsetzt über eine süditalienische Gesellschaft, die seiner norditalienischen so gar nicht ähnlich ist. Mit scharfem Blick für kleinste Details und einer beeindruckenden Menschenkenntnis beschreibt er seine neue ländliche Umwelt sehr liebevoll, aber aus kritischer Distanz. Besonders gelungen sind seine Figuren, die er uns in großer Zahl, geradezu medizinisch sezierend, physisch vor Augen führt, deren Wesen er aber nicht minder genau auch psychisch durchleuchtet, ihre Fehler, Schwächen und Macken wie auch ihre liebenswerten Seiten.

Die praktisch nicht vorhandene medizinische Betreuung der in unsäglichem Elend lebenden Bauern, die ihrem kargen Boden in einer malariaverseuchten schroffen Landschaft nur armseligste Erträge abringen können, zwingt Levi trotz Verbot, als Arzt tätig zu werden, obwohl ihm jede praktische Erfahrung fehlt. So lernt er unfreiwillig nicht nur die erschreckenden hygienischen Zustände hautnah kennen, unter denen die Landbevölkerung leben muss, er hört auch von seltsamen Bräuchen und wird mit dem weit verbreiteten Aberglauben konfrontiert, für dessen märchenartige Mystik mit Hexen und Gespenstern das Christentum nur eine unter vielen Spielarten ist. Die titelgebende Redensart der lukanischen Bauern «Cristo si è fermato a Eboli» verdeutlicht somit die völlige Abgeschiedenheit im Mezzogiorno, Rom ist weit und ihnen feindlich gesinnt, man fühlt sich benachteiligt, abgehängt, vergessen, ohne etwas daran ändern zu können. Die Briganten des 18ten Jahrhunderts als Vorbild, bricht bei diesem verschlossenen Menschenschlag gelegentlich schon mal der Volkszorn durch, wird ein Carabiniere ermordet oder ein anderer Quälgeist der feindlichen Obrigkeit, – ohne dass sich allerdings etwas ändert dadurch, wie man resignierend erkennen muss.

Der handlungsarme Roman dient seinem Autor zu Reflexionen über die Zustände im Mezzogiorno, für die er einzig die Politik verantwortlich macht. Die Welt der Bauern dort sei seit ewigen Zeiten unveränderlich, nur weitgehende Autonomie könne dort etwas bessern. In Skizzen und Anekdoten wird hier essayartig eine knapp einjährige Verbannung beschrieben, die durch eine Generalamnestie vorzeitig endet. Der Thematik nach ist die Lektüre zwar bereichernd, ruhig erzählt zudem, aber nicht gerade erfreulich zu lesen, humorfrei außerdem, zuweilen sogar verstörend in ihrer distanzierten Erzählweise. Ohne Zweifel ein ganz besonderes Stück Literatur mit einem sehr eigenständigen Duktus.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Das Sandkorn

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Hält das Böse drin, oder draußen

In seinem dritten Roman «Das Sandkorn» verblüfft Christoph Poschenrieder seine Leser mit einem jungen Mann, der auf den Straßen von Berlin Sand ausstreut, misstrauisch beäugt von den Passanten, und so dauert es auch nicht lange, bis die Polizei einschreitet und den seltsamen Mann zur Vernehmung mitnimmt. Es ist Krieg, später wird man ihn den Ersten Weltkrieg nennen, und da muss man auf der Hut sein, alles ist verdächtig. Mit seinem famosen Anfang erzeugt der Autor einen erzählerischen Sog, der bis zum überraschenden Schluss seiner Geschichte anhält, ja sogar bis zum Nachwort, der Notiz zur Geschichte der Geschichte, in der erst man schließlich die letzte Aufklärung findet.

Der mysteriöse Sandstreuer entpuppt sich auf der Polizeiwache als der Kunsthistoriker Jacob Tolmeyn, der im Auftrag des Königlich Preußischen Historischen Instituts in Rom die steinernen Zeugen der Herrschaft des Stauferkaisers Friedrich II in Süditalien untersucht hat. Mit dem Kriegseintritt Italiens endete seine Mission, er musste nach Berlin zurückkehren. Poschenrieder erzählt seine Geschichte zweisträngig, einerseits wird chronologisch über die Erlebnisse seines Protagonisten berichtet, andererseits wird das Geschehen aus der Perspektive des verhörenden Kommissars Treptow dargestellt, dessen Manuskript mit Lebenserinnerungen in Einschüben zitiert wird. Beides ist interessant zu lesen und obendrein recht aufschlussreich, der kunstgeschichtliche Teil ebenso wie der kriminalistische.

Tolmeyn ist homosexuell, eine Neigung, die auszuleben vor hundert Jahren mit dem Strafgesetzbuch, dem berühmt-berüchtigten §175, kollidierte und entsprechend geahndet wurde. Als er deswegen erpresst wird, flüchtet er aus Berlin in eine Anstellung in Rom, von wo aus er schon bald als Forschungsleiter, immer auf den Spuren des zu seiner Zeit als Stupor mundi bewunderten Kaisers Friedrich II, verschiedene süditalienische Regionen bereist. Bei den Vermessungen, Ausgrabungen und fotografischen Dokumentationen der Bauwerke hilft ihm sein Kollege Beat, ein junger Wissenschaftler aus der Schweiz. Die Beiden verstehen sich nach anfänglicher Skepsis allmählich immer besser, entwickeln schließlich sogar große Sympathie füreinander, ohne dass über das rein Freundschaftliche hinaus eine weitergehende Beziehung entsteht. Der Autor schildert all dies extrem distanziert, die gleichgeschlechtliche Neigung wird von ihm kaum angedeutet, geschweige denn thematisiert. Tolmeyn entdeckt bei der mikroskopischen Untersuchung von Sandproben deren für jeden Fundort unterschiedliche, charakteristische Struktur, er sammelt daraufhin fleißig Proben aller besuchten Orte zur späteren Auswertung. Bei einer weiteren Reise in gleicher Mission werden die beiden Forscher dann von Letizia begleitet, die als Aufpasserin für den italienischen Staat fungiert. Auf ihren Wunsch hin unternimmt man gemeinsam einen privaten Ausflug zur Hexe von Barile, einer Seherin, die einem von ihnen großes Unglück prophezeit. Als die alte Frau am Ende murmelnd und Sand streuend ihr Haus umkreist, lautet ihre Antwort auf die erstaunte Frage nach dem Warum: «Hat immer geholfen. Hält das Böse drin, oder draußen».

Mit dem gut durchdachten Aufbau des Plots, von dem der Spannung wegen hier nicht mehr verraten werden soll, in einer leicht lesbaren Sprache unpretiös erzählt, ruft Poschenrieder nicht nur bei Italienliebhabern glänzende Augen hervor mit seiner netten Geschichte. Man lässt sich gern einfangen vom Zauber der besuchten Stätten, deren wichtigste, den Höhepunkt bildend, das Castell del Monte ist, von dem uns schon im Vorspann des Buches ein Foto aus dem Jahre 1908 empfängt, die «Kaiserkrone aus Stein» jenes Federico Secondo, des heimlichen Helden dieses Romans.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Das Attentat

mulisch-1Parabel vom Tyrannenmord

Es war ein Spielfilm, der mir den Schriftsteller Harry Mulisch nahegebracht hat und den ich damals so gut fand, dass ich den zugrunde liegenden, gleichnamigen Roman später dann auch noch gelesen habe, «Die Entdeckung des Himmels». Dieser Roman und der vorliegende, zehn Jahre früher 1982 erschienene mit dem Titel «Das Attentat», fanden im umfangreichen Werk dieses hochangesehenen holländischen Autors am meisten Beachtung. Was genau den Charme seiner Erzählungen ausmacht, wurde mir in «Siegfried» am deutlichsten, dem Roman über den Sohn Adolf Hitlers. Es sind seine genial konstruierten, phantasievollen Plots, kühn und kreativ erdacht und ohne schmückendes Beiwerk zielgerichtet erzählt. Ein erzählerisch logischer Ablauf, der frei bleibt von Ungereimtheiten und gleichermaßen faszinierend, unterhaltend und zuweilen sogar noch bereichernd wirkt. Derart unterschiedliche Sujets findet man eher selten bei zeitgenössischen Romanciers, die doch oft ein ganz spezifisches Herzensthema haben und es mehr oder weniger gekonnt variieren.

Während in den genannten anderen beiden Romanen religiös mystische und politisch historische Fiktionen thematisiert werden, handelt «Das Attentat» eher realitätsnah von den Hintergründen und Auswirkungen des Tyrannenmordes. Hier am Beispiel eines gegen Ende des Zweiten Weltkrieges im Januar 1945 in den besetzten Niederlanden durch Widerstandskämpfer erschossenen holländischen Polizisten, einer Tat, die vielfältige Folgen hat. In fünf mit Jahreszahlen versehenen Episoden von 1945 bis zur Gegenwart 1981 (der Roman wurde im ersten Halbjahr 1982 geschrieben) und mit einem Prolog über den Tatort schildert der auktoriale Erzähler das Attentat auf den verhassten Kollaborateur aus der Perspektive von Anton, einem zwölfjährigen Jungen. Die Handlung ist ebenso spannend wie komplex, sie hier detailliert zu erzählen würde den Spaß am Lesen deutlich mindern, denn sie ist literarisch das alles dominierende Kernelement des Romans, ich beschränke mich deshalb auf einige Eckpunkte.

Die Vergeltungsaktion der Nazis ist dramatisch und macht Anton zum Waisen. Er kommt bei Verwandten unter und wird Anästhesist. Obwohl er glaubt, das traumatische Geschehen vergessen zu können, die Schrecken seiner Jugend überwunden zu haben, holt ihn die Vergangenheit immer wieder ein. Ungewollt führen Ereignisse und zufällige Begegnungen für ihn zu neuen, weiteren Erkenntnissen, die sich puzzleartig ergänzen und den Widerstrebenden dann doch zur Auseinandersetzung zwingen, auch wenn dies bei ihm sogar psychosomatische Wirkungen hervorruft. Mulisch verarbeitet geschickt die Themen Schuld, Rache, Verantwortung, Moral, indem er These und Antithese gegenüberstellt, speziell die Wechselwirkungen zwischen Täter und Opfer beleuchtet, und indem er Gewalt und Gegengewalt zu begründen sucht in einem komplizierten Prozess der Vergangenheitsbewältigung, dessen Argumentationen durchweg plausibel erscheinen.

Erzählt wird diese Geschichte in einer klaren, leicht lesbaren Sprache, wobei der überkonstruiert wirkende Plot mit seinem Zuviel an Zufällen zum großen Teil mit realistischen, ungekünstelten Dialogen vorangetrieben wird. Die Figuren, allen voran der Protagonist Anton, erscheinen merkwürdig blutleer, und ganz ähnlich verhält es sich auch in ihren Beziehungen zueinander. Liebe und Freundschaft werden kaum überzeugend dargestellt, Persönliches bleibt weitgehend ausgeblendet, den Ehefrauen und Kindern des Helden sind bemerkenswerter Weise nur ein paar spärliche Zeilen gewidmet, emotionale Nähe fehlt weitgehend. So was wie Empathie kommt da nicht wirklich auf beim Lesen. Handlungsorientierte Leser jedoch dürften jubeln über eine spannende Story zu einem wichtigen Thema, die zum Nachdenken zwingt über eine nicht allzu ferne Vergangenheit. Die wird hier zwar literarisch nüchtern, aber recht intelligent in einer Parabel aufgearbeitet, die für ein uraltes philosophisches Schlüsselproblem steht, das des Tyrannenmordes.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Der Magier

maugham-3Hokuspokus

Mit dem Titel «Der Magier» des 1908 erschienenen Romans von William Somerset Maugham wird auf das Sujet schon ziemlich deutlich hingewiesen, spätestens der Untertitel «Ein parapsychologischer Roman» sollte dem potentiellen Leser aber klarmachen, hier geht es um Irrationales, Übersinnliches, was bekanntlich nicht jedermanns Sache ist. Mit Logik nämlich kommt man da nicht weit. Ich war also vorgewarnt, wollte einen derartigen Roman aber unbedingt auch mal lesen. Der im Zwanzigsten Jahrhundert zu den erfolgreichsten englischsprachigen Autoren zählende Maugham hatte einen ausgeprägten Instinkt für erzählenswerte Geschichten verschiedenster Thematik, und er hatte die Begabung, sie in publikumswirksamer Weise literarisch umzusetzen, wovon der vorliegende Roman zeugt, bei dem für den Magier der geistige Führer des okkulten Satanismus Aleister Crowley Vorbild war.

Die junge Engländerin Margaret, deren außergewöhnliche Schönheit der Autor immer wieder geradezu hymnisch beschreibt, verbringt vor der Hochzeit zwei Jahre in Paris bei ihrer Freundin Susie, um zeichnen zu lernen. Sie ist verlobt mit dem erfolgreichen Chirurgen Arthur Burton, der auch ihr Vormund ist. Als er sie dort besucht, lernen sie Oliver Haddo kennen, ein schriller Außenseiter, dem man magische Fähigkeiten nachsagt. Äußerlich abstoßend, unförmig dick, gekleidet wie ein Paradiesvogel, steinreich, weitgereist, dabei ungehobelt wirkend in seiner prahlerischen Art, die immer auch Bosheit durchschimmern lässt, fasziniert er anderseits seine Gesprächspartner auf magische Weise mit seinen abenteuerlichen Erzählungen, bei denen immer unklar bleibt, ob sie wahr sind oder frech erfunden. Besonders bei okkulten Themen, mit denen sich auch Arthurs älterer Freund Dr. Porhoët beschäftigt, erweisen sich seine Kenntnisse der historischen Quellen als schier unerschöpflich, er zieht seine Zuhörer in Bann mit den vielen Geschichten, die er darüber zu erzählen weiß. Margaret findet ihn widerlich und abstoßend, Artur als Vernunftmensch belächelt ihn nur. Gleichwohl, – nur Maugham gelingen solche aberwitzigen Wenden, verlässt Margaret ihn wenig später ohne ein Wort und heiratet Knall auf Fall, für alle unfassbar, nicht nur für die Leser, den abstoßend hässlichen und fetten Haddo, er hatte wohl durch geheimen Zauberkräfte Macht über sie bekommen. «Ein Teufel muss in ihren Körper gefahren sein» mutmaßt der völlig aus der Bahn geworfene Arthur.

Mit dieser überraschenden Wende zu Beginn des zehnten von insgesamt sechzehn Kapiteln nimmt der parapsychologische Roman ein wenig Schwung auf, die erste Hälfte setzt bei spiritistisch unterbelichteten Lesern wie mir unendliche Geduld voraus mit ihren immer wieder neuen, obskuren Geschichten. Offensichtlich hat der Autor gründlich recherchiert für sein Buch, als Laie wird man aber durch eine wahre Flut von Hokuspokus regelrecht zugeschüttet, ohne irgendeinen Gewinn davon zu haben. Nun gut, das ist sicher Geschmackssache! Im letzten Teil, in dem die arme Margaret dann ihr Leben lassen muss und Arthur alles dransetzt, Haddo das Handwerk zu legen, kommt Spannung auf, man erlebt sogar einen telekinetischen Mord. Wo sonst gibt es so was schon mal zu lesen – außer im Märchen? Der Showdown dann erinnert mit brennendem Herrenhaus im Hintergrund an Hollywood.

Auktorial erzählt in einer arabeskenreichen Sprache, die gleichwohl zielgerichtet ist, also linear und einsträngig, ohne Rückblenden, wird die Handlung weitgehend durch stimmige Dialoge erschlossen. Maughams Figuren sind einprägsam geschildert in einem für ihn typischen, zwischen England und Frankreich oszillierenden Milieu, zu dem der Five-o’clock-tea nun mal zwingend dazugehört. In der zweiten Hälfte des Plots wird man wie gesagt angenehmer unterhalten, bis dahin muss man sich eben irgendwie durchkämpfen, wenn man zu den rational veranlagten Lesern gehört, bei denen jede Fiktion auch ihre Grenzen hat. Aber genau zu denen gehöre ich halt!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Der Name der Rose

eco-1Viel Mönchslatein

Der emeritierte Professor Umberto Eco, der unter den Intellektuellen der Welt laut einer Umfrage einen der Spitzenplätze einnimmt, genießt als Semiotiker hohes Ansehen, der Italiener ist aber auch politisch stark engagiert und wurde 1980 mit seinem ersten und natürlich auch verfilmten Roman «Der Name der Rose» schlagartig einem breiten Publikum bekannt. Seine wissenschaftliche Laufbahn hatte er mit einer Dissertation über die Ästhetik bei Thomas von Aquin begonnen, eine Thematik, auf die er in dem berühmten Roman zurückgreift mit seiner spannenden Geschichte. Als Krimi im mittelalterlichen Kloster könnte man das dicke Buch plakativ bezeichnen, wären da nicht Hunderte von Seiten gefüllt mit theologischen Streitgesprächen und philosophischen Betrachtungen, mit religiösen Zeremonien und Exerzitien sowie politischen Ränkespielen in einer finsteren Zeit. Ohne den Aspekt des Krimis würde das Buch also sicherlich deutlich weniger Leser finden, es wäre mehr ein populäres Sachbuch über das Klosterleben jener Epoche, zur Blütezeit der Bettelmönche, – für wissbegierige Leute mit Latinum.

In einem Prolog erzählt Umberto Eco, wie er durch Zufall zu dem Stoff für seinen Roman kam, und schon dieses Vorwort ist ähnlich rätselhaft wie die Geschichte, auf die es hinweist. Die Ereignisse, über die aus der Perspektive des Adson von Melk berichtet wird, einem jugendlichen Novizen des Benediktinerordens, ereignen sich während sieben Tagen Ende November 1327, entsprechend sind auch die Kapitel benannt, die wiederum in acht Abschnitte gegliedert sind – Mette, Laudes, Prima, Tertia, Sexta, Nona, Vesper, Komplet – die den liturgischen Stunden entsprechen. William von Baskerville erhält den Auftrag, ein Treffen seines Ordens mit dem Papst in Avignon vorzubereiten, dem die Position der Franziskaner zur Armut Christi ein Dorn im Auge ist. Man trifft sich in einem italienischen Kloster, das für seine einzigartige Bibliothek weltberühmt ist. Gleich nach der Ankunft Williams mit seinem Adlatus Adson ereignet sich ein mysteriöser Todesfall. Besorgt bittet der Abt den ehemaligen Inquisitor, der für seinen scharfen Verstand bekannt ist, um rasche Aufklärung, bevor die päpstliche Delegation eintrifft. Gleichwohl geschehen noch mehrere Morde, die scheinbar alle einen Bezug zu der geheimnisvollen Bibliothek haben, die nur der Bibliothekar persönlich betreten darf und niemand sonst, nicht mal der Abt.

Sherlock Holmes und Dr. Watson standen Pate für Ecos Protagonisten, die im Stile des berühmten Detektivs durch deduktive Methoden den immer komplizierter werdenden Fall zu lösen versuchen. Es versteht sich, dass der Spannung wegen mehr hier nicht gesagt werden darf, die Auflösung findet sich genretypisch in einem ebenso überraschenden wie grandiosen Showdown. Umrahmt sind die beiden Helden von einer Fülle von Figuren des Klosters, von denen dreiundzwanzig vorab unter Dramatis Personae aufgelistet werden, was die Orientierung sehr erleichtert. Darüber hinaus aber werden in den Gesprächen und Disputen unzählige Namen genannt, die den Normalleser ohne Theologie- und Geschichtsstudium weit überfordern dürften. Gleiches gilt für ebenfalls unzählige lateinische Begriffe, Redewendungen und Zitate, von denen leider nur einige wichtige Passagen im Anhang übersetzt werden, was natürlich dem Lesefluss nicht gerade zuträglich ist.

Die ungeheure gedankliche Fülle ist zweifellos sehr bereichernd, und auch wenn Vieles davon nur Fachleuten immer und vollinhaltlich verständlich sein dürfte, kann und muss man nicht jeden Begriff nachschlagen. Denn der Lesespaß stellt sich gerade auch durch ironische Übertreibungen ein, die immer wieder zum Schmunzeln Anlass geben, Gleiches gilt für die lachhaft naive Frömmigkeit jener Zeit. Und über das Thema Buch vor Gutenbergs Erfindung wird man hier sehr anschaulich informiert, man ist ehrfürchtiger Gast im Skriptorium der Abtei. Es gibt also einige gute Gründe, diesen Roman zu lesen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Ehen in Philippsburg

walser-3So einen Freund wenn er hätte

Seinen Ruf als «Chronist des Mittelstandes» hat Martin Walser gleich mit seinem ersten Roman begründet, 1957 erschienen unter dem deskriptiven Titel «Ehen in Philippsburg», womit das literarische Terrain bereits deutlich abgesteckt ist. Mag die Ehe als Institution in unserer Zeit ihren Alleinvertretungsanspruch auch eingebüßt haben, wie Soziologen versichern und Statistiken belegen, so war sie in der Zeit des deutschen Wirtschaftswunders noch weitgehend «alternativlos», um ein Schlagwort von heute zu benutzen. In seinem Entwicklungsroman schildert der Autor in vier Kapiteln einen umgekehrt zum wirtschaftlichen Aufschwung verlaufenden Niedergang der Moral, das Zerbrechen von festgefügt scheinenden Bindungen.

Der aus der Provinz stammende Journalist Hans Beumann kommt in die Großstadt, um dort seine erste Anstellung zu finden. Dank seiner Studienkollegin Anne erhält er bei deren Vater, einem Fabrikanten von Rundfunk- und Fernsehgeräten, einen Job und findet dadurch schnell Aufnahme in die höheren Kreise der Stadt. Als Anne von ihm schwanger wird und abtreiben soll, wendet sie sich an den Gynäkologen Dr. Benrath, dem in diesem wie ein Reigen aufgebauten Plot das zweite Kapitel gewidmet ist, an dessen Ende der Selbstmord seiner Frau steht, die sein Verhältnis zur schönen Cecile nicht länger ertragen kann. Als der treulose Arzt seine Frau tot auffindet, schaltet er den Rechtsanwalt Dr. Alwin ein, ein Karrierist mit politischen Ambitionen und notorischer Schürzenjäger, der dann beim Flirten einen Autounfall verursacht, bei dem ein Motorradfahrer zu Tode kommt. Der Nachbar von Hans schließlich, der erfolglose Schriftsteller Klaff, von seiner Frau verlassen, begeht Selbstmord, als er auch noch seinen Job als Pförtner verliert, und hinterlässt Hans seine Manuskripte. Nach der Verlobung mit Anne wird Hans in einer grotesken Zeremonie zum «Ritter des Nachtclubs Sebastian» geschlagen, dem Treffpunkt der Prominenz, und landet später mit einer der Animierdamen im Bett, ein Fremdgänger schon vor der Ehe.

Alle diese lose miteinander verbundenen Figuren wirken irgendwie unsympathisch, besonders die Männer erscheinen in keinem guten Licht. Sie werden als rücksichtslose Erfolgsmenschen beschrieben, denen Emotionen weitgehend fehlen, die nur hinderlich scheinen auf ihrem Weg nach oben, zu Ruhm und Macht, zu Geld und Genuss. Walser stellt die Frauen als Accessoire dieser Mannsbilder dar, allenfalls schmückendes Beiwerk, ob als Ehefrau oder als Geliebte. Er beschreibt all dies aus typisch männlicher Sicht und benutzt über lange Passagen hinweg durchaus gekonnt den Bewusstseinsstrom als Stilmittel, – und überrascht dabei mit kuriosen Reflexionen. «Er war ein Ein-Mann-Theater», schreibt er zum Beispiel über die Gedankenwelt des selbstgefälligen Gynäkologen. Und über die Befindlichkeiten des Rechtsanwalts heißt es: «Bei jeder Frau, die er für sich gewann, fragte er nach seinen Vorgängern und ließ sich bestätigen, dass er sie alle bei weitem übertreffe». Hand aufs Herz, wem kommt das nicht bekannt vor?

Leider fällt der erzählerische Schwung nach den ersten beiden Kapiteln spürbar ab, die heraufbeschworenen Bilder erscheinen allmählich klischeehaft, und manche Formulierung fällt denn doch merkwürdig schwäbisch aus: «So einen Freund wenn er hätte!» Man zuckt auch zusammen, wenn man diesen Satz liest: «Alle gegen alle, sagte er, das ist Freiheit». Satirisch überzeichnet hat Martin Walser hier den Ehebruch als fast zwangsläufig und naturgegeben dargestellt, allerdings nur als männliches Fehlverhalten, die Ehefrauen des Romans scheinen allesamt dagegen gefeit zu sein, sie gehen ganz einfach nicht fremd. Wunschdenken eines machohaften Autors? Auch wenn sich in der Sache noch manches andere einwenden ließe, eine vergnügliche Lektüre ist der ironisch erzählte Roman allemal, den drei Todesfällen als überstrapaziertes dramaturgisches Mittel zum Trotz, vielleicht aber auch gerade durch solcherart Übertreibungen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Die Brücke von San Luis Rey

wilder-1Die Notation des Herzens

Schon mit seinem zweiten Roman «Die Brücke von San Luis Rey» gelang dem US-amerikanischen Autor Thornton Wilder 1927 der Durchbruch als Erzähler, neben dem kommerziellen Erfolg wurde er dafür auch mit dem renommierten Pulitzerpreis geehrt, den er später dann noch zweimal als Dramatiker für Theaterstücke erhielt. Thema dieses Romans ist die uralte Menschheitsfrage nach dem Sinn des Lebens, anders ausgedrückt die vorgelagerte Frage, ob unser Leben vom Zufall oder von göttlicher Fügung bestimmt ist, und damit natürlich auch die Grundfrage nach einem Beweis für die Existenz Gottes.

«Freitag, den 20. Juli 1714, um die Mittagsstunde, riss die schönste Brücke in ganz Peru und stürzte fünf Menschen hinunter in den Abgrund» lautet der erste Satz. Wilder bezieht sich in seinem Roman auf eine tatsächlich von Inkas aus dem Material des Urwalds gebaute Hängebrücke über den Río Apurímac. Bruder Juniper, ein Franziskaner, wurde zufällig Augenzeuge des Unglücks. «Warum geschah das just diesen Fünfen?» fragte er sich. «Es schien Bruder Juniper hohe Zeit zu sein, dass die Theologie ihren Platz unter den exakten Wissenschaften einnähme, und er hatte seit langem beschlossen, ihr den zu verschaffen». Der Mönch sah in dem Unglück eine Chance dafür, wenn sich nämlich zeigen würde, «dass jedes der geendeten Leben ein abgeschlossenes Ganzes gewesen war», diese Fügung mithin ihren Grund hatte und kein Zufall war, q.e.d. – wie es in den exakten Wissenschaften heißt. Die akribischen Recherchen Junipers über die Lebensgeschichte der fünf Opfer füllten schließlich ein dickes Buch, welches dann plötzlich für ketzerisch erklärt wurde. «Es wurde samt seinem Verfasser dazu verurteilt, auf dem großen Platze verbrannt zu werden».

In diesem Handlungsrahmen erzählt Wilder von der schreibwütigen Marquesa de Montemayor und deren liebloser Tochter, von Pepita, der als Waise im Kloster aufgezogenen Gesellschafterin der Marquesa, von Esteban, der durch den frühen Tod des Zwillingsbruders aus der Bahn geworfen wurde, und schließlich von Onkel Pio, einem liebenswerten Bonvivant, «Kammerzofe» der Perichole, einer gefeierten Schauspielerin, deren illegitimer Sohn Jaime den Vizekönig zum Vater hat. Alle diese Figuren, ergänzt um eine aufopfernde Äbtissin, einen wackeren Kapitän, den genussüchtigen Erzbischof und andere mehr, werden liebevoll und sehr treffend geschildert, sie erscheinen dem Leser geradezu plastisch vor Augen. Diese großartige Beschreibungskunst Wilders erhält noch eine willkommene Steigerung durch seinen stets präsenten, man könnte fast sagen schwarzen Humor, seine köstliche Ironie jedenfalls allem Menschlichen gegenüber, an subtilen englischen Humor erinnernd. Die Fäden seiner kapitelweise erzählten Handlung laufen immer deutlicher zusammen, fein strukturierte Bezüge zwischen den Protagonisten werden erkennbar, und am Ende betreten die tragischen Fünf, die Marquesa mit Pepita, Esteban und Onkel Pio mit Jaime, die verhängnisvolle Brücke.

Thornton Wilder beschreibt das Geschehen und dessen metaphysische Hintergründe in einer mitreißenden Sprache, kurz und bündig in wunderbar treffenden Formulierungen ohne jeden Schnörkel, sehr angenehm zu lesen also. Was er zu sagen hat ist ebenso lebensklug wie empathisch, man solle als Leser, um aus dem Roman zu zitieren, sich nicht «just das entgehen» lassen, «was der eigentliche Sinn von Literatur ist: die Notation des Herzens». Das tragische Ereignis selbst, muss hier noch angemerkt werden, ist nicht in Vergessenheit geraten, es lebt in einem peruanischen Sprichwort weiter. «Vielleicht sehe ich dich Dienstag», sagt man dort zum Beispiel, «wenn die Brücke nicht reißt».

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Leseverführer

greiner-1Club der toten Dichter

«Nackenbeißer» nennt Ulrich Greiner in seinem Ratgeber «Leseverführer» reißerische Buchumschläge und beklagt: «Immer wieder garnieren seriöse Verlage ihre Bücher mit unseriösen Lockungen. Da sieht man die sehr erotische Rückenlinie einer nackten Frau – und findet drinnen eine ziemlich banale Selbstverwirklichungsepisode». Gar nicht banal verbirgt sich hinter dem hier vorliegenden Nackenbeißer «Eine Gebrauchsanweisung zum Lesen schöner Literatur», wie der Untertitel verheißt. Die dtv-Buchgestalter haben das Buch natürlich nicht gelesen, ihr Sex-sells-Cover stößt ernsthaft literarisch interessierte Leser nämlich eher ab. Der solcherart vom Verlag düpierte Autor wendet sich mit seinem Ratgeber natürlich an Laien und erklärt im Vorwort: «Damit sie keine falschen Erwartungen hegen: Dieses Buch enthält keinen Kanon der verbindlichen Texte».

Der renommierte Fachmann mit langjähriger Erfahrung im Literatur-Feuilleton gliedert sein Buch in zehn Kapitel mit jeweils einer resümierenden Pause. Dabei benutzt er deskriptive Titel, die sehr gut einstimmen auf das jeweilige Thema. Zunächst wendet er sich der Leselust als Phänomen zu, klärt dann über die dichterische Wahrheit auf und das Fortwirken literarischer Helden, von denen er Frodo ebenso benennt wie Winnetou, Tom Sawyer, Miss Marple und Sherlock Holmes, aber auch die antiken Helden, deren Namen unvergänglich sind. Sehr ausführlich widmet er sich Parzival und Michael Kohlhaas, um dann nach Werther, Emma Bovary, Don Quijote und Oblomow bei Kapitän Ahab zu enden. «Müssen gute Bücher schlecht ausgehen» ist das Thema im nächsten Kapitel, in dem eine Lanze für komische Romane gebrochen wird, abschließend mit dem Gedicht «Wo bleibt das Positive, Herr Kästner». Die Bedeutung der Anfänge wird an Beispielen von Fontane, Thomas Mann, Kafka, Musil, Thomas Bernhard, Hemingway, Melville und Tolstoi erläutert, wobei Greiner «Nennt mich Ismael» als kürzesten und prägnantesten Romananfang rühmt, den er kenne. «Ilsebill salzte nach» kennt er demnach nicht, Romananfang von Günter Grass in «Der Butt», der ja immerhin den Wettbewerb «Der schönste erste Satz» gewonnen hat und wahrlich nicht minder prägnant ist. Aber, um den wichtigsten Kritikpunkt an diesem Buch hier schon anzusprechen, des Autors Beispiele stammen leider aus ziemlich angestaubten Klassikern, man erkennt den rückwärtsgewandten Germanisten und fragt sich verblüfft nach der Zielgruppe für seinen Ratgeber.

Der lobenswerte Versuch, im sechsten Kapitel Aufschluss über die unterschiedlichen Erzählhaltungen und -perspektiven zu geben, ist leider misslungen, die genannten Beispiele sind eher verwirrend, das Wesentliche daran wird nicht verdeutlicht. Informativer ist da schon das nächste Kapitel, in dem an relativ aktuellen Beispielen von André Gide, Italo Calvino, Paul Auster und Georges Perec eher «artistische» Formen des Romans behandelt werden, was bei Letzterem zu einer wahren Eloge Greiners ausartet. Im folgenden Kapitel mit der Überschrift «Über Romane, die mit dem Leser spielen» setzt sich diese Thematik fort, zitiert werden dabei wieder Auster und Calvino. Den sprachlichen Aspekt gut geschriebener Roman behandelt das neunte Kapitel an Beispielen von Stifter und Konrad Weiß sowie – man staune! – von Juli Zeh.

Selbstkritisch erwähnt Greiner unter dem Zwischentitel «Was fehlt» seine Versäumnisse und nennt dann als nicht besprochen: Dostojewski, Balzac, Powys, Doderer, Henry James, Proust, Eichendorff und Joseph Conrad. Die wahren Versäumnisse aber zeigt gnadenlos das Register auf, für Greiner ist gute Literatur nur im «Club der toten Dichter» zu finden. Die Lektüre kann sich trotzdem lohnen, denn was er ausführt gilt natürlich auch für weniger vergilbte Bücher. Aber wenn er Arno Schmidt überhaupt nicht und Böll dezidiert im Kapitel «Über Romane, die nicht gut geschrieben sind» erwähnt, bezeugt er damit überdeutlich, dass «Fachleute» in der Literatur auch nur Menschen sind, die sich gewaltig irren können.

Fazit: mäßig

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Genre: Sachbuch
Illustrated by dtv München

Ein sanfter Tod

beauvoir-1Meistverdrängtes Menschheitstrauma

Das Werk der französischen Schriftstellerin Simone de Beauvoir ist neben seiner explizit philosophischen Ausrichtung oft auch autobiografisch geprägt, dem 1964 erschienenen Roman «Ein sanfter Tod» liegt dieses für sie spezifische Sujet ebenfalls zugrunde. Es geht um den Tod ihrer Mutter, mit der die Autorin lebenslang ein gespanntes, distanziertes Verhältnis hatte, das sich nun im Sterbeprozess zu verändern beginnt. In den sechs Jahre vorher erschienenen «Memoiren einer Tochter aus gutem Hause» hatte die Autorin die Vorgeschichte der Entfremdung mit ihrer Mutter sehr detailliert beschrieben. Im vorliegenden Roman nun greift de Beauvoir darauf zurück, sie erwähnt das der damaligen Veröffentlichung folgende Zerwürfnis. Die jüngere Schwester übernahm es dann, die erboste Mutter zu beschwichtigen. «Ich begnügte mich damit, ihr einen Blumenstrauß zu schicken und mich wegen eines Wortes zu entschuldigen; das rührte und verblüffte sie übrigens. Eines Tages sagte sie zu mir: Eltern verstehen ihre Kinder nicht, aber das gilt auch umgekehrt…»

Vor diesem Hintergrund erzählt de Beauvoir von einem häuslichen Unfall der 77jährigen Mutter. Bei den Untersuchungen in der Klinik wird neben einem Schenkelhalsbruch auch noch eine Bauchfellentzündung vermutet. Der Zustand der Patientin verschlechtert sich jedoch zusehends, es folgen weitere ärztliche Befunde, bis sich schließlich herausstellt, dass eine Krebsgeschwulst ihren Dünndarm verschließt. «Lassen Sie sie nicht operieren» raunt eine es gut meinende, ältere Krankenschwester den beiden Töchtern zu. Sie entscheiden anders, bei der Operation wird dann eine riesige Krebsgeschwulst gefunden, die kurzzeitig zum Tode führen würde. Was folgt ist ein vierwöchiger schmerzvoller Sterbeprozess, den die Autorin minutiös beschreibt, in dem sich auch das gespannte Verhältnis zur Mutter allmählich bessert, dessen unabwendbares Ende ihr jedoch rücksichtsvoll verschwiegen wird.

In dem Auf und Ab des körperlichen Verfalls wird deutlich, wie sehr doch die Mutter am Leben hängt. Sie will nicht sterben, lehnt sogar strikt allen behutsam angebotenen geistlichen Beistand ab. Was erstaunlich scheint, war doch gerade die unbeirrbare religiöse Bindung der Mutter einst Auslöser für die Differenzen, zu denen dann der damals fast skandalöse Lebenswandel der emanzipierten Tochter noch erschwerend hinzukam. Denn Simon de Beauvoir hatte eine völlig andere Auffassung von der Rolle der Frau, die sie in ihrem erfolgreichsten Werk «Das andere Geschlecht» niederschrieb. Ihre Erkenntnis, «man wird nicht zur Frau geboren, man wird dazu gemacht von der Gesellschaft» hat ihr für immer den Status einer Ikone der Frauenbewegung verliehen.

Der Roman ist insoweit ein Zeugnis der weiblichen Emanzipation, die sich innerhalb der einen Generation von Mutter zur Tochter entscheidend weiterentwickelt hatte. Die Geschichte, die auch eine Rückblende auf die familiären Verhältnisse beinhaltet, wird äußerst detailverliebt erzählt in einer nüchternen, uneitlen Sprache, die flüssig zu lesen ist. Zweifellos aber ist der Roman als Auslöser für philosophische Diskurse geeignet, wozu auch die Frage gehört, ob jede medizinisch mögliche Verlängerung des Lebens wirklich immer geboten ist. Aus atheistischer Sicht bleibt mir unverständlich, warum man denn verzweifelt den doch fest versprochenen Einzug der bußfertigen Glaubenden in den Himmel unbedingt hinausschieben will? Bedeutet das etwa Zweifel an den Grundfesten religiöser Verheißungen? Die Versöhnung zwischen Mutter und Tochter findet nur nonverbal statt, durch Gesten, Lächeln, ein sanfter Tod also zu guter Letzt, wenigstens auf emotionaler Ebene. In einer resümierenden Schlussbetrachtung beleuchtet die Autorin den Tod aus existentialistischer Sicht, er sei widernatürlich, «weil seine Gegenwart die Welt in Frage stellt», ein Unfall für den Menschen «und, selbst wenn er sich seiner bewusst ist und sich mit ihm abfindet, ein unverschuldeter Gewaltakt».

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Eine blaßblaue Frauenschrift

werfel-3Ein Opportunist am Scheideweg

Der österreichische Schriftsteller mit jüdischen Wurzeln Franz Werfel sah sich vor allem als Lyriker, seinen Bestsellerstatus in den USA der 1920/30er Jahren verdankt er allerdings seiner Frau, von der er sagte: « Wenn ich die Alma nicht getroffen hätte – ich hätte noch hundert Gedichte geschrieben und wäre selig verkommen». Der in allen literarischen Genres vertretene und mit Ehrungen und Auszeichnungen für sein umfangreiches Œuvre geradezu überhäufte Autor schuf mit der Novelle «Eine blassblaue Frauenschrift» die beklemmende Studie eines opportunistischen Spießers im Wien des Jahres 1936. Der Anschluss an das Deutsche Reich warf damals seine Schatten schon voraus, ein unterschwellig wirksamer Antisemitismus war allgegenwärtig.

Protagonist der Geschichte ist der aus einfachen Verhältnissen stammende Leonidas, der es nach seiner Heirat mit der schönen Millionenerbin Amelie bis zum Sektionschef im Unterrichts-Ministerium gebracht hat, eine glänzende Karriere also. Der gutaussehende 50-Jährige findet morgens in seiner Post einen mit blassblauer Tinte geschriebenen Brief von Vera, einer jüdischen Studentin, mit der er 18 Jahre zuvor in Heidelberg eine kurze, heftige Affäre hatte. Er hatte sie damals schmählich sitzen lassen und seither keinen Kontakt mehr zu ihr. In Veras sehr formal gehaltenem Brief bittet sie ihn um Protektion für einen begabten, 17jährigen Schüler, der «aus bekannten Gründen» in Deutschland nicht mehr das Gymnasium besuchen könne. Dieser Brief bereitet ihm höchste Pein, ein unehelicher Sohn gefährdet sein luxuriöses Leben, Amelie würde ihm den Seitensprung auch nach so langer Zeit niemals verzeihen, mit fatalen Folgen. Sich in wilden Spekulationen ergehend malt er sich seinen gesellschaftlichen, finanziellen und beruflichen Absturz ins Bedeutungslose aus. Verzweifelt entwickelt, und verwirft er gleich wieder, alle möglichen Erklärungsversuche für seine Frau. In seiner Verwirrung spricht er sich in der morgendlichen Sitzung mit dem Minister bei der Vergabe eines hohen Postens zum Entsetzen aller Teilnehmer auch noch für einen jüdischen Mediziner aus. Völlig durch den Wind, kündigt er sich wild entschlossen im Hotel für ein klärendes Gespräch mit Vera an, das Schlimmste fürchtend. Mehr möchte ich hier nicht ausplaudern, die Spannung hält nämlich bis zum ebenso überraschenden wie überzeugenden Schluss an.

Der raffiniert konstruierte Plot fasst die Geschehnisse eines einzigen Tages vom Frühstück bis zum Abend in der Oper zusammen. Dort resümiert Leonidas inmitten all des oberflächlichen und eitlen Gehabes der komplett versammelten Oberschicht sein Versagen an diesem Tage. Denn er hätte heute die Gelegenheit gehabt, aus seinem saturierten, langweiligen Luxusleben auszubrechen, endlich Verantwortung zu übernehmen, seine fürchterliche Lebensschuld abzutragen. Ihm wird klar, «dass heute ein Angebot zur Rettung an ihn ergangen ist», an dem er gescheitert ist. Resignierend lautet der Schlusssatz denn auch: «Er weiß, dass ein neues Angebot nicht wieder erfolgen wird».

Exemplarisch wird in dieser Geschichte in das Innerste des Protagonisten geblickt, wird dessen zweifelhafter Charakter schonungslos seziert. Skeptisch verdeutlicht Werfel in kurzen Szenen und Rückblenden das Spannungsfeld zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen ehrenhaftem und skrupellosem Verhalten, wobei auch Schicksal und Zufall Schlüsselrollen einnehmen und politische Zeitläufte den negativen Hintergrund abgeben. Durch subtile Menschenkenntnis gewährt diese Charakterstudie einen tiefen Einblick in das brüchige Lebensgefüge eines in den Konventionen gefangenen, selbstsüchtigen Karrieristen. Die Thematik ist zeitlos, die Handlung jederzeit nachvollziehbar, alle Figuren sind meisterhaft beschrieben. Auch wenn sie heute arg konventionell erscheint, manchmal sogar etwas altväterlich daherkommt, vermag die Erzählkunst Franz Werfels doch immer wieder zu begeistern, auch heute noch.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Die schöne Frau Seidenman

szczypiorski-1Noch ist Polen nicht verloren

In der ehemaligen Dienstvilla des Kommandanten von Sachsenhausen befindet sich heute das «Haus Szczypiorski», eine Jugendbegegnungsstätte, die der polnisch/deutschen Aussöhnung dient. Damit wurde ein politisch engagierter, polnischer Schriftsteller geehrt, der als Jude am Warschauer Aufstand teilgenommen hatte und in diesem KZ interniert war. Sein Roman «Die schöne Frau Seidenman» ist sein bekanntestes Werk, es wurde 1984 in einem Exilverlag in Paris veröffentlicht, stieß allerdings in seiner Heimat auf Empörung. Denn was hier erzählt wird aus Warschau im Frühling des Kriegsjahres 1943, ist nicht nur für Deutsche unsäglich beschämend, es ist auch für Polen wenig schmeichelhaft.

Irma Seidenmann, 36jährige Witwe eines früh an Krebs verstorbenen Röntgenologen, kinderlos, schön, blond, blauäugig, ist Jüdin, hat sich aber durch ihr Aussehen und gefälschte Papiere bisher vor der Deportation schützen können. Bis der Denunziant Bronek, selbst Jude und Polizeispitzel, sie erkennt und als Jüdin meldet. Trotz perfekter Papiere übersteht sie nur mit viel Glück eine penible Untersuchung, und welches Räderwerk an Helfern daran beteiligt war, sie aus den Fängen der Nazis zu befreien, oft selbstlos und mit viel Courage, das bildet im Wesentlichen den Handlungsfaden für diesen Roman. In 21 Kapiteln, die sich schwerpunktmäßig mit allen diesen Figuren beschäftigen, schildert der Autor deren teils groteske Lebensumstände, bedingt durch die deutsche Besetzung dieses gedemütigten Landes. Da ist der Richter Romnicki, der Schneider Kujawski, die Freunde Pawelek und Henryk, die Nonne Schwester Weronika, der Rechtsanwalt Fichtelbaum, Irmas Nachbar, der Altphilologe Dr. Korda, der Eisenbahner Filipek, der Berufsbandit Wiktor, der schöne Lolo, Judenjäger und Erpresser, der Mathematiker Professor Winiar, der deutsch-polnische Johann Müller, wichtigster Helfer mit höchstem Risiko, schließlich der SS-Mann Stuckler, dem die schöne Frau Seidenman so glücklich entronnen ist. Wie ein Reigen sind die Geschichten dieser Figuren ineinander verwoben, und jede der Geschichten beleuchtet eine der vielen Facetten dieser furchtbaren Zeit.

In einer trotz der todernsten Thematik ironischen, gelegentlich sogar amüsierenden Sprache schildert Szczypiorski die politischen Verhältnisse in Warschau am Beispiel seiner liebevoll und stimmig beschriebenen Protagonisten, deren unterschiedliche Schicksale, die ganze Bandbreite der einfachen Bevölkerung umfassend, ebenso berührend sind wie spannend zu lesen. Die Menschen stehen bei ihm im Mittelpunkt, mit allen ihren Ängsten, Schwächen, Charakterfehlern, mit ihrer angesichts des täglichen Grauens verzweifelten Ratlosigkeit, bei der ihnen die Religion, ob jüdisch oder katholisch, auch nicht hilft, Gott schaut geflissentlich weg. Der auktoriale Erzähler springt zeitlich nicht nur zurück, er greift auch vor auf die Zukunft, erzählt vorab vom Tod oder dem späteren Schicksal seiner Figuren. Mit diesem relativ seltenen Stilmittel wird kunstvoll die Spannung erhöht, obwohl ja die erzählerische Gegenwart nicht abgeschlossen ist, die Figuren also noch weiter agieren. Viele Details der damaligen Lebenswirklichkeit schildert der Autor so wirklichkeitsnah und anschaulich, wie man sie in keinem Geschichtsbuch findet, insoweit ist seine Erzählung gleichermaßen als wichtiges Dokument der Zeitgeschichte anzusehen.

Während die Deutschen unter der «Die Tyrannei der Perfektion» stehen, auch was das Töten anbelangt, erfüllen die Kommunisten mit ihren «ideologischen Streitigkeiten, die in Todesurteilen endeten», den Autor mit Abscheu. Sein Patriotismus ist sehr skeptisch, seine Sicht der Nachkriegszeit nicht minder. «Noch ist Polen nicht verloren» ist Hymne und Devise für ein von der Geschichte gebeuteltes Volk, das sich nicht unterkriegen lässt. Der Roman beleuchtet klug und feinfühlig dessen innerste Bindekräfte, eine alles überwindende, tief empfundene Menschlichkeit. Unbedingt lesen, kann ich nur sagen!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Du bist ich

aiken-1Im Prinzip Kitsch

Manchen Autoren ist es in die Wiege gelegt, schriftstellerisch tätig zu werden, bei Joan Aiken waren gleich beide Elternteile bekannte Schriftsteller, wen wundert es da, wenn sie schon als Kind anfing zu schreiben. Zu ihrem literarisch breit gefächerten Prosawerk mit mehr als sechzig veröffentlichten Büchern gehört neben vielen Erzählbänden auch der Roman «Deception» von 1987, in Deutschland unter dem Titel «Du bist Ich» mit dem Untertitel «Die Geschichte einer Täuschung» erschienen. Zu Joan Aikens Vorbildern gehörten die Brontë-Schwestern und insbesondere Jane Austen, allein fünf Fortsetzungsromane und einen abschließenden Ergänzungsband hat sie in deren Stil geschrieben. Und so fühlt man sich als Leser schon nach wenigen Seiten dieser zeitlich im frühen 19. Jahrhundert angesiedelten Geschichte, als lese man einen der typischen Romane aus jener literarischen Epoche, hier allerdings aus einer modernen Perspektive geschrieben, mit einem deutlich erkennbaren Distanziertheit also.

«Allen schreibenden Frauen in Vergangenheit und Gegenwart» sei dieser Roman zugeeignet, ist dem Roman als Widmung vorangestellt, und so hat denn auch prompt die junge Protagonistin Alvey schriftstellerische Ambitionen, sie schreibt an einem Roman. Die Mitschülerin Louise aus dem Mädchenpensionat, die ihr zum verwechseln ähnlich sieht, konfrontiert sie zum Schulabschluss mit einem ungewöhnlichen Vorschlag: Sie möge mit ihr die Identität wechseln, an ihrer Stelle auf das Landgut der Eltern zurückkehren, die Eltern hätten sie vier Jahre lang nicht gesehen und würden die Täuschung nicht bemerken. Ihren Lebenstraum, als Missionarin nach Übersee zu gehen, würden die Eltern unerbittlich ablehnen, deswegen habe sie diesen Plan entwickelt. Alvay, ohne familiäre Bindungen und mittellos einer ungewissen Zukunft entgegensehend, stimmt nach einigem Zögern zu.

Auf dem Landgut im äußersten Norden Englands findet sich Avey nun plötzlich in eine große Familie eingebunden, deren verzwickte, unheilvolle Situation durch die aberwitzigen Figuren selbst bedingt ist. Zum typischen Personal gehören der depressive Gutsbesitzer, dessen gefühlskalte Frau, die nur ihren Garten liebt, und viele Kinder, alle zusammen – jeder auf seine Art – schwierige Charaktere, verstockt, verschroben, einfältig. Das Familienleben dieser äußerst skurrilen Romanfiguren bildet im Wesentlichen den Stoff für eine turbulente Handlung, die kein Klischee auslässt, man kennt dergleichen als Leser zu Genüge. Alveys schriftstellerische Tätigkeit bildet darin einen fiktiven Rahmen, Joan Aiken bindet ihn als Nebenstrang immer wieder mit ein in den Plot. «Wie ist es anderen Menschen möglich» lässt sie an einer Stelle ihre Heldin zum Beispiel grübeln, «die Monotonie des täglichen Lebens auszuhalten, wenn sie keinen Roman im Kopf haben?» Und da auch dies, wie so vieles in diesem Roman, vorhersehbar ist, verrate ich hier kein Geheimnis: Natürlich wird Alveys Buch am Ende ein Riesenerfolg.

Ist dieser Roman also Kitsch, ein süßlicher Frauenroman mit vorhersehbaren Konstellationen, seinen bekannten Vorbildern entsprechend? Im Prinzip ja, könnte man mit Radio Eriwan sagen, aber seine Entstehungszeit ist eine andere und damit auch der Grundton, in dem er geschrieben ist. Die Rolle der Frau wird kritisch hinterfragt in der Figur der Alvey, sie ist nicht mehr automatisch für Heim und Herd bestimmt, kann sich selbst verwirklichen als erfolgreiche Autorin. Und ob sie je heiraten wird, ist ebenfalls nicht vorbestimmt für sie, daran verschwendet sie kaum einen Gedanken. Selbst das glückselige Landleben scheint nicht die einzig erstrebenswerte Lebensform zu sein, Alvey erlebt Newcastle als quirlige Stadt voller Leben und Wohlstand, geschichtsträchtig zudem bis in die Römerzeit zurückreichend. Dialogreich und stilistisch uninspiriert erzählt, bietet dieser Roman allenfalls für Genreleser ansprechende Unterhaltung, literarische Raffinesse findet sich hier ebenso wenig wie Kontemplatives.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Die Brücke über die Drina

andric-1Im Kanon der Weltliteratur

Im Jahre 1945 erschienen die drei Romane der «Bosnischen Trilogie» von Ivo Andrić, von denen «Die Brücke über die Drina» der mit Abstand bekannteste wurde. Sechzehn Jahre später erhielt Andrić den Nobelpreis «für die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale aus der Geschichte seines Landes gestaltet». Sein weltberühmter Roman ist der Versuch eines Brückenschlags zwischen Okzident und Orient, symbolisiert durch jene Brücke in seiner bosnischen Heimatstadt Višegrad, die beispielhaft das multiethnische Zusammenleben auf dem Balkan thematisiert. Eine kunstvoll angelegte Geschichtsbeschreibung des auch als Politiker und Diplomat tätigen Autors, der sich entschieden für den Vielvölkerstaat Jugoslawien eingesetzt hat, welcher später so kläglich gescheitert ist. Warum, das erfahren wir Leser aus diesem historischen Roman, der insoweit auch eine Lehrstunde darstellt über politische und soziologische Hintergründe, äußere und innere Ursachen der unsäglichen, bis heute andauernden Querelen in diesem Unruheherd Europas.

Auf dem Weg zwischen Istanbul und Sarajevo gelegen, gewinnt Višegrad mit seiner steinernen Brücke wirtschaftlich, aber auch militärisch an Bedeutung. Ein weitsichtiger osmanischer Wesir hatte die Brücke nahe der Grenze zwischen Serbien und Bosnien in den Jahren 1571 bis 1578 erbaut, sie bildet ein wichtiges Bindeglied zwischen Ost und West. In diesem Epos, das von der Gemeinschaft verschiedener Ethnien in dieser kleinen Stadt erzählt, ergänzen sich historische Geschehnisse und menschliche Schicksale zu einem homogenen, den Leser mitreißenden Erzählstrom. Der zeitliche Horizont dieser «Višegrader Chronik» reicht über einige Jahrhunderte hinweg, er umfasst die türkische Herrschaft vom Bau der Brücke an bis hin zur Annexionskrise und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

In vielen Episoden und Szenen, garniert mit allerlei Anekdoten, wird aus wechselnder Perspektive chronologisch von all jenen Menschen erzählt, die im Umkreis der Brücke leben. Die drei monotheistischen Religionen sind dort gleichberechtigt nebeneinander vertreten, der Hodscha betreut seine Gemeinde ebenso wie der Pope und der Rabbiner. Man fristet ein äußerst karges Leben im ständigen Kampf mit den Naturgewalten, erträgt stoisch alles Ungemach, verharrt in einer latenten Lethargie über die Generationen hinweg, ist anfällig für dumpfen Aberglauben und skurrile Mythen. Inwieweit all dies deterministisch bedingt ist, gehört zu den großen Fragen, die der Roman aufgreift und aus der Innenperspektive zu beantworten sucht, wobei die Brücke mit ihrer Symbolkraft ein ständig wiederkehrendes Leitmotiv bildet. Der Leser begegnet einer Hundertschaft archaischer Typen, physisch und psychisch ebenso liebevoll wie treffend beschriebene, herrlich lebensechte Figuren allesamt, die ein dichtes Geflecht von Beziehungen unterhalten, welche letztendlich das Miteinander über die Jahrhunderte hinweg bestimmen.

Besonders erhellend fand ich die Episode nach der Annexion, als die neuen österreichisch-ungarischen Machthaber eifrig Vieles zu erneuern und zu reparieren begannen, was nach Meinung der lethargischen Einheimischen durchaus noch lange hätte bleiben können wie es war. Kritisch befasst sich Ivo Andrić am Ende auch mit den sozialen Veränderungen beim Übergang in die Moderne, hinterfragt ungehemmten Kapitalismus, ausufernden Konsum und eine die Menschen manipulierende Medienflut. Dieser in Deutschland lange vergessene Roman eines in seiner Heimat wenig geachteten Schriftstellers ist in einer wunderbar klaren, angenehm lesbaren Sprache geschrieben, inhaltlich unglaublich dicht zudem, völlig ohne Arabesken. Jede einzelne Seite der bildstark erzählten Geschichte eröffnet weitere Aspekte und ergänzt die Handlung durch immer neue Facetten. Den Leser erwartet ein ruhig erzählter, überaus bereichernder Roman von einem zu Recht mit dem Nobelpreis geehrten Schriftsteller, der damit ein kanonisches Werk der Weltliteratur geschaffen hat.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Die Erfindung des Lebens

ortheil-2Schaut her, ich bin’s

Nicht erfunden, hineingefunden hat sich Johannes, Held des Romans «Die Erfindung des Lebens» von Hanns-Josef Ortheil, in das Leben, nach erheblichen Startschwierigkeiten allerdings, von denen dieser dickleibige Roman im Wesentlichen berichtet. Genau das Gegenteil passiert dem Leser, er wird von der ersten Seite an emotional mitgerissen, hat keinerlei Startprobleme, ist zunehmend fasziniert und taucht gerne immer tiefer in die Geschichte hinein, bei mir war es jedenfalls so. Der Protagonist darf als Alter Ego des Autors angesehen werden, allzu deutlich sind die Parallelen beider Viten. Ein mitreißender Entwicklungsroman also, dessen Stationen ebenso einfühlsam wie detailliert geschildert werden, dabei die Psyche der durchweg sympathischen Figuren auslotend bis in die letzten seelischen Tiefen.

Johannes ist ein kleiner Junge im Vorschulalter, der stumm ist wie seine Mutter. Die hat den Tod von vier Söhnen im Krieg und in der frühen Nachkriegszeit psychisch nicht verarbeiten können und ist in die Sprachlosigkeit geflüchtet, hat sich völlig abgekapselt von der Welt. Zum fünften und letzten Sohn aber ist von Anfang an eine so abnorm innige, regelrecht symbiotische Beziehung entstanden, dass er nicht sprechen lernt und ebenfalls stumm ist. Die Überwindung dieser Sprechblockade, der mühsame Weg von Johannes durch die Schule bis zum Abitur, das anschließende Musikstudium in Rom und dessen jäher Abbruch sowie sein zaghafter Neubeginn als Schriftsteller sind Inhalt des Plots. Ortheil beschreibt all diese Stationen in einer sprachlichen Präzision, die ihrerseits allein schon faszinierend ist. Er schildert minutiös die subtilen Beziehungen der kleinen Familie, die rührenden und letztendlich auch erfolgreichen Bemühungen des Vaters bei der Überwindung der Stummheit von Johannes. Wobei die Musik eine entscheidende Rolle spielt, denn mit dem Klavier vom Onkel wird für ihn ein Tor geöffnet, durch das er allmählich Anschluss an die Außenwelt findet, den mit der Mutter gebildeten Kokon der Sprachlosigkeit verlässt.

Der Autor nimmt sich viel Zeit, seine elegische Geschichte zu entwickeln, er erzählt sie aber so mitreißend, dass beim Leser niemals Ungeduld aufkommt. Im Hintergrund sind dabei stets die psychischen Hemmnisse und sozialen Defizite erkennbar, die das Leben des Protagonisten beeinträchtigen. All das wird in einer äußerst kunstvoll verschachtelten, zweisträngig aufgebauten Geschichte beschrieben, in der die Zeiten, Erzählebenen und Perspektiven häufig und wahrhaft virtuos wechseln. Johannes, der Autor also, ist nämlich mehr als dreißig Jahre später nach Rom zurückgekehrt und schreibt nun in dieser ihm vertrauten Umgebung den Roman über seine Jugendzeit. Aber auch nach so großem zeitlichem Abstand hat er immer noch Probleme mit menschlichen Kontakten, ist einfach für manches nicht ansprechbar, die schwierige Jugend wirkt immer noch nach.

Bei aller Freude über die emphatische und erzählerisch hinreißende Geschichte kommt gegen Ende des Romans Missbehagen auf, denn der Held wird zunehmend idealisiert, erlebt glücklichste Fügungen, alles gelingt ihm und alle Welt schaut bewundernd zu ihm auf. Peinlichste Szene ist das einstündige Debütkonzert seiner Klavierschülerin unter freiem Himmel auf einem Platz im Rom, nach dem er anschließend, ungeplant und widerstrebend zunächst, als Lehrer selbst auf die Bühne geholt wird, um dann das Publikum mit Zugaben zu begeistern, geschlagene zwei Stunden lang! Der Herausgeber des renommiertesten deutschen Verlages reißt ihm das unfertige Manuskript seines ersten Buches geradezu aus der Hand. Es gibt Eitles mehr in dieser zwischen Biografie und Fiktion oszillierenden Geschichte, was die Freude an der Lektüre dann doch einigermaßen trübt, weil sie ins Kitschige abgleitet. Das wäre nicht nötig gewesen!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Die große Liebe

ortheil-1Jenseits vom üblichen Kitsch

Der Begriff Fiktion, und nichts anderes ist ja ein Roman, «work of fiction» eben, wie es im Englischen heißt, bedeutet zwar nicht zwingend, aber letztendlich doch häufig Realitätsferne, so auch bei dieser Geschichte. In Italien, dem Land, wo die Zitronen blühen, wie Goethe dichtete, dem Handlungsort dieser Erzählung also, heißt Roman «romanzo», und mit weiblicher Endung wird «romanza» daraus, was Romanze bedeutet. Damit sind wir dem, um was es geht in diesem Buch, bereits sehr nahe. Im Übrigen hat sich Hanns-Josef Ortheil ja auch getraut, mit «Die große Liebe» einen auffallend deskriptiven Titel für seinen Roman zu wählen, der aber einen nicht gerade unbedeutenden Teil der potentiellen Leserschaft abschrecken dürfte. Bei mir wäre es jedenfalls so, denn das Genre Liebesroman liegt mir gar nicht. Nun war dieses Buch aber als Geschenk in meine Hände gelangt, also habe ich es auch brav gelesen – und war überrascht, angenehm sogar.

Der Plot ist simpel, zwei nicht mehr ganz junge Menschen begegnen sich und spüren, dass sie zueinander gehören. Nicht wie Romeo und Julia sich verzehrend, jauchzend, leidenschaftlich, ohne die übliche Herz-Schmerz-Dramatik also, sondern eher nüchtern und fast emotionslos. Beide sind seltsam kühl und reserviert, in ihren Empfindungen aber sich scheinbar völlig sicher, auch ohne große Worte. «Ich liebe dich» kommt nicht vor bei dem, was sie sich zu sagen haben. Diese wohltuende Abgeklärtheit allein wäre schon überraschend genug bei einem Roman mit solch kitschverdächtigem Titel, die unspektakuläre Selbstverständlichkeit, mit der sich diese harmonische Geschichte unaufhaltsam und nahezu problemlos auf ein positives Ende hin entwickelt, ist nicht minder erstaunlich. Beides zusammen macht den Roman auch für Verächter dieses literarischen Genres goutierbar, wie ich lernen durfte. Es wird damit nämlich eine gewisse Spannung erzeugt, denn die vielfach ja völlig anders vorgeprägte Leseerwartung wird bis zuletzt konterkariert, – und das ist gut so!

Die Geschichte spielt in der Jetztzeit, alles passiert innerhalb weniger Tage. Handlungsort ist die italienische Region Marken, an deren adriatischer Küste ein deutscher Dokumentarfilmer auf die Direktorin eines meeresbiologischen Museums trifft. Der aus München stammende Ich-Erzähler schwelgt in Genüssen, wie sie nur Italien bieten kann, das Ambiente ist jedenfalls stimmig geschildert, und Essen und Trinken spielen dabei unübersehbar die Hauptrolle, Restaurant, Café oder Bar sind häufig Ort der Handlung. Meeresbegeisterte dürften sich sogar über detailverliebte Beschreibungen der örtlichen Flora und Fauna freuen, mir waren diese Passagen etwas zu langatmig. Köstlich hingegen sind die Schilderungen der Einheimischen, ihrer Marotten, Ansichten, Gewohnheiten. Ganz selten ist sogar Humor im Spiel in diesem Roman, wenn der Protagonist sich zum Beispiel mit dem Vater seiner Liebsten über die Frage unterhält, warum die Italiener nicht ins Wasser gehen, und wenn doch, dann nur bis zum Bauch und nur zu musikbegleiteter Wassergymnastik. Gut beobachtet, kann ich als jemand, der seit mehr als zehn Jahren in den Marken lebt, nur bestätigen, und wäre ich dabei gewesen bei diesem launigen Gespräch, hätte ich wohl angemerkt, dass ja nur ganz wenige hier schwimmen können, auch wenn sie direkt am Meer wohnen, selbst die Fischer nicht!

Ortheil, Professor für kreatives Schreiben, hat seine Geschichte sehr distanziert, regelrecht unterkühlt erzählt, wortgewandt zwar und präzise, aber wenig liebevoll. Auch seine Figuren verkörpern nicht gerade das pralle Leben, sie erscheinen dem Leser als sehr rational, äußerst beherrscht, seltsam nüchtern. Und die Story lässt am Ende keine Fragen offen, alles wird gut. Die literarische Wirkung, die auf diese Weise erzeugt wird, ist ziemlich verblüffend, es lohnt sich, als Leser solch eine Erfahrung auch mal zu machen, Fiktion mal ganz anders zu erleben, jenseits vom üblichen Kitsch.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag