Nie mehr Nacht

bonne-1Bonjour Tristesse

«Der grüne Heinrich», Gottfried Kellers berühmter Bildungsroman, hat offensichtlich als Grundmuster Pate gestanden bei «Nie mehr Nacht» von Mirko Bonné, er wird auffallend häufig erwähnt in der Geschichte von Markus Lee, und auch Heinrich heißt ja mit Nachnamen «Lee», sicher kein Zufall. Gemeinsam ist beiden Romanen, dass ihre Helden an ihrer Selbstverwirklichung scheitern, die gesellschaftlichen Ansprüche nicht erfüllen können, also an den Hürden scheitern, die ihnen eben diese Gesellschaft in den Weg stellt, was ja, genauer betrachtet, ein geradezu klassisches Dilemma darstellt. Das dann auch folgerichtig zu einem tragischen Ende führen muss, dem Keller seinerzeit durch eine weniger pessimistisch erscheinende Überarbeitung seines Romans begegnete, Bonné, indem er ganz am Ende zumindest einen hoffnungsvollen Ausgang seiner Geschichte andeutet.

Schon der Romantitel weist auf Tragik hin, einen düsteren Schatten, der über die Geschichte fällt, der Selbstmord der hochgradig depressiven Schwester des Ich-Erzählers, die einen unehelichen Sohn mit unbekanntem Vater zurücklässt. Vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Reise mit dem Neffen in die Normandie, zum Schauplatz des D-Day, der Landung der Alliierten in Frankreich am 6. Juni 1944, erzählt der Autor in vielen Rückblenden seine Geschichte, in der ein inzestuöses Verhältnis der Geschwister angedeutet wird, was beim Leser zeitweise sogar den Verdacht aufkommen lässt, der Neffe könnte der leibliche Sohn des Protagonisten sein. Die Geschwister sind offensichtlich beide psychopathisch, denn auch Markus, der sich als freischaffender Zeichner durchs Leben schlägt, steuert scheinbar auf ein tragisches Ende hin, zumindest auf einen radikalen Wendepunkt. Er verabschiedet sich regelrecht aus seinem bisherigen Leben, trennt sich rigoros von allem Materiellen, das er nur als unnötigen Ballast empfindet. Markus opponiert wie sein pubertierender Neffe gegen die Welt, ist wie jener orientierungslos und macht es seiner Umgebung schwer, eine menschliche Beziehung mit ihm aufrecht zu erhalten, er baut lieber Brücken ab in seiner Sucht nach Selbstauflösung. Realiter aber sollte er eigentlich einige damals kriegswichtige Brücken für ein Kunstmagazin zeichnen, das war sein Auftrag für diese Reise.

Der Roman wimmelt geradezu von derartigen Anspielungen, da gibt es ein abbruchreifes, verlassenes Strandhotel, viele heute noch sichtbaren Relikte des zweiten Weltkrieges, ein Buch über die Geschichte der Landung von einem amerikanischen Autor namens Lee (sic!). Der Rapidograph als klassischer Tuschezeichner taucht immer wieder auf in ausgedehnten Passagen über das Zeichnen, die Ornithologie ist ebenfalls ständiges Thema beim Aufenthalt an der Atlantikküste, es gibt zuhauf minutiöse Wegbeschreibungen, die allenfalls einige Normandie-Fans oder D-Day-Touristen erfreuen dürften, die meisten Leser aber eher nerven. Auch Pop-Musik spielt eine wichtige Rolle, viele Details werden da ausgebreitet, nicht selten übrigens auch über Suizide von Pop-Musikern. All das schafft ein dichtes Netz von Assoziationen, welches mir in seiner überbordenden Vielfalt jedoch reichlich artifiziell erscheint. Eine «ebenso rasante wie poetische Roadnovel» jedenfalls, die uns der Klappentext suggeriert, kann ich nicht erkennen in diesem melancholischen Plot, der eher gemächlich erzählt wird, was an sich ja nicht schlecht ist, das Lesen angenehm macht trotz unübersehbarer Längen.

Wenn der traurige Held mit einer Frau, die seiner toten Schwester zum Verwechseln ähnlich sieht und sich, welch ein Zufall, wohl unsterblich in ihn verliebt hat, seinem abweisenden Wesen zum Trotz, wenn Markus also am Ende auf einer zum Abwracken bestimmten Fähre nach Deutschland zurückfährt, deutet sich ein peinliches Happy End an in diesem Tristesse-Roman, der so banal und unglaubwürdig zu enden eigentlich gar nicht verdient hätte.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Schöffling & Co Frankfurt am Main

Maps

farah-1Wenn der Leser nicht zum Buch passt

Einer der bedeutendsten Schriftsteller Afrikas ist der Somalier Nuruddin Farah, dem mit seinem 1986 erschienenen Roman «Maps», erster Teil einer Trilogie unter dem Titel «Blood in the Sun», auch international der Durchbruch gelang. Eine moderne Literatur entwickelte sich in seinem Heimatland erst mit der Verschriftung seiner somalischen Muttersprache im Jahre 1972, die in Folge dann eine Niederschrift der – bis dahin ausschließlich mündlich tradierten – Volksgeschichten überhaupt erst ermöglicht hat. Bis auf eine Ausnahme ist das umfangreiche Œuvre des Autors, der wegen politischer Verfolgungen auch viele Jahre seines Lebens im Exil verbracht hat, deshalb auf Englisch veröffentlicht worden. Seine Thematik in vielen Werken ist die Situation der Frau in seiner Heimat, ferner die soziale Verantwortung des Menschen sowie Fragen seiner Autonomie in der modernen Gesellschaft, wobei Somalia stets den geografischen und damit auch politischen und soziologischen Hintergrund seiner Erzählungen bildet. «Maps» nun fand sogar Aufnahme in die Süddeutsche Zeitung Bibliothek der hundert besten Romane des 20. Jahrhunderts, mit Recht?

In einer Hütte in Ogaden, einem von Äthiopien 1977/78 annektierten somalischen Gebiet, findet Misra, eine junge verwitwete Dienstmagd, ein neugeborenes Kind, dessen Mutter bei der Geburt gestorben ist. Sie wird die Ziehmutter des Säuglings und entwickelt eine geradezu symbiotische Beziehung zu Askar, die Beiden lieben sich abgöttisch. Als er erwachsen ist, zieht Askar zu Verwandten in die Hauptstadt Mogadischu, kann sich aber nicht entscheiden, ob er nun studieren oder der somalischen Freiheitsbewegung beitreten soll. Plötzlich taucht Misra dort auf, denunziert und verfolgt als Verräterin, Askar jedoch verhält sich abweisend, kann ihr nicht glauben. Auch als sie tatsächlich ermordet wird, bleibt er seltsam unberührt, nimmt nicht mal an der Trauerfeier teil.

Die vom Plot her extrem knappe Geschichte ist verstörend in ihrer polarisierenden Darstellung, im ersten Teil eine geradezu idealisierte Liebe, überirdisch erscheinend wie ein Geschenk des Himmels, im zweiten Teil die abrupte Sprachlosigkeit des Protagonisten, der Wegfall jedweder Empathie. In einer streng patriarchalischen Gesellschaft verkörpert Misra das Mütterliche, das typisch Weibliche. Weitgehend rechtlos in eine untertänige Rolle als Magd gedrängt, dient sie gleichzeitig dem Priester und dem Nachbarn als Sexualobjekt. Darüber hinaus aber ist sie eine Art Seherin mit tief reichendem Wissen, die Natur und alles Menschliche betreffend. Ihre Intuition ist in diesem Roman dicht verwoben mit Reflexionen und Träumen, denen der Autor in epischer Breite den allergrößten Teil seiner poetischen Geschichte um menschliche Bindungskräfte und innere Autonomie widmet. Die spärliche Handlung einschließlich des Ogadenkriegs scheint dagegen nebensächlich zu sein, auch wenn der auf Grenzziehungen anspielende Titel des Romans etwas anderes suggeriert.

Metaphernreich lässt der Autor den Leser an der inneren Entwicklung seines Protagonisten teilnehmen, ein Ausflug in surreale Welten gewissermaßen, ohne dass sein Held uns dadurch wirklich sympathisch wird. Die Sprache ist blumenreich, Farah erzählt all das recht eigenwillig aus drei ständig wechselnden Perspektiven, dem Ich-Erzähler nämlich steht kapitelweise ein Du-Erzähler und ein auktorialer Erzähler gegenüber, ohne dass ein tieferer Sinn dahinter erkennbar wäre. Das Ganze wird leider schnell sterbenslangweilig, als Lesefrucht bleibt dem Leser allenfalls der den Horizont erweiternde Einblick in die Geschichte Somalias, eines Landes, das den meisten nur als Tummelplatz moderner Piraten bekannt sein dürfte. Das Menstruationsblut und andere Körperflüssigkeiten jedoch, von denen so oft die Rede ist in diesem Roman, dürften dank wohltuend selektivem Gedächtnis hoffentlich bald vergessen sein. Hier, so mein Resümee, passte ich als Leser partout nicht zum Buch.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Lichtjahre

weidermann-1Wir Glückpilze alle

Anekdotisch berichtet Volker Weidermann schon im Vorwort seiner «Lichtjahre» von einer Trouvaille, die Anlass wurde für sein Buch. Er fand in einem Antiquariat das Werk «Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde» von Klabund, «das subjektive Begeisterungsbuch eines echten Lesers», wie er es nennt. Diesem Vorbild folgend, was die unbeirrte Subjektivität anbelangt, behandelt der Autor wohlgemut eine «der interessantesten und reichsten Epochen der deutschen Literatur». Und stellt damit zu Beginn auch gleich klar, was wir heutigen Leser doch für Glückspilze sind, in dieser elysischen Zeit der deutschen Literatur leben und lesen zu dürfen!

In Weidermanns literarischem Kanon sind 133 deutsche Schriftsteller versammelt, die für ihn die glorreiche Epoche von 1945 bis zum Erscheinen seines Buches 2006 verkörpern, wobei sich mir spontan die Frage aufdrängt, inwieweit diese Blütezeit auch heute noch anhält. Es ist natürlich müßig, diese erklärtermaßen ja völlig subjektive Auswahl anzufechten. Wie immer in solchen Fällen gibt es manche Autoren, die man vergeblich sucht und andere, die man für durchaus fehl am Platze hält. Vorbild Klabund hatte 1920 Thomas Mann «in zwei Zeilen erledigt», schreibt er begeistert, und mit eben dieser Begeisterung lässt er selbst sich auf acht Seiten über Rainald Goetz aus, während er Heinrich Böll gerade mal zwei Seiten widmet. Mehr Subjektivität geht wohl kaum! «Als Heinrich Böll am 16. Juli 1985 starb, haben viele Menschen in Deutschland geweint», schreibt er am Ende seines kurzen Porträts, der damals 16jährige Volker Weidermann war wohl eher nicht darunter. Er fasst seine Schriftsteller in 33 übertitelte Gruppen zusammen, «Weltliteratur aus der Schweiz» zum Beispiel, unter denen er mit schmissigen Untertiteln dann Dürrenmatt und Frisch abhandelt, oder «Wut im Süden» mit Achternbusch, Kroetz, Jelinek und Bernhard. Es sind Erfolgreiche und Vergessene, Exilanten und Zurückgekehrte, DDR-Staatsautoren und Dissidenten, Wirkmächtige und Kampfeslustige, Laute und Stille, Hundertjährige und Frühverstorbene, Selbstmörder zudem in erschreckender Zahl.

Ziehvater Marcel Reich-Ranicki, der pflichtschuldig den Werbetext für den Buchrücken geliefert hat und von dem ihn nun wirklich «Lichtjahre» trennen sowohl als Literaturkenner wie auch als Moderator des «Literarischen Quartetts», hat in einer dieser Sendungen mal geäußert: «Ein Buch gerne lesen und die Bedeutung eines Buches zu erkennen, das sind zwei verschiedene Sachen». Dies gilt in gleicher Weise auch für Autoren, die in diesem Band draufgängerisch direkt besprochen werden, immer mit Betonung des Biografischen, wobei er neben vielen mit Gewinn zu lesenden anekdotischen Beiträgen auch reine Polemik abliefert. Eine Selektion in Gut und Schlecht bedeutet das im Ergebnis, bei der seine ganz persönlichen Aversionen nicht selten in ein unbegründet bleibendes Verdikt münden. Dem dann zum Beispiel eine fünfseitige, äußerst peinliche Eloge über Maxim Biller gegenübersteht, seinem arrogant grinsenden Mitstreiter in der neuen ZDF-Sendung, von dem er doch tatsächlich schreibt, ohne ihn «wäre es in der deutschen Gegenwartsliteratur wahnsinnig langweilig». Nun wissen wir’s!

Literaturführer wäre die angemessene Bezeichnung für ein Werk, dessen Autor selbstverliebt ausschließlich die eigene Meinung als Kriterium gelten lässt, der objektive Faktoren schlichtweg negiert in seinem Überschwang. Seine anekdotischen Berichte grenzen zuweilen an Kitsch, wofür die Teestunde in Heidelberg bei der greisen Hilde Domin am Ende des Buches ein beredtes Beispiel ist. Aber gerade diese anbiedernden Passagen mit den persönlichen Begegnungen dürften die erfreulichsten sein für viele Leser, die einen Blick hinter die Kulissen tun wollen, denen das reine Lesen nicht genügt. Was die Mär von der reichsten Epoche anbelangt, so halte ich es allerdings mit Heinz Schlaffer, für den gerade die Zeit nach 1945 bedeutungslos ist, was die deutschsprachige Literatur anbelangt.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Sachbuch
Illustrated by btb München

Konfidenz

dorfman-1Weniger wäre mehr gewesen

Vertrauen, nichts anderes bedeutet ja der veraltende Begriff «Konfidenz», ist eines der Themen dieses Romans des chilenischen Autors Ariel Dorfman, der in jungen Jahren für die Regierung von Salvador Allende gearbeitet hat. Durch den Putsch von Pinochet ins Exil gezwungen, ging er in die USA, wo er als Professor an der Duke-Universität von North Carolina tätig wurde und neben Lateinamerikanistik auch Literatur lehrt. Dieser Lebensweg prägt zweifellos auch sein literarisches Schaffen, der Terror der chilenischen Diktatur und seine Erfahrungen mit dem Exil werden in seinen Werken oft thematisiert, so auch in seinem wohl bekanntesten Roman «Der Tod und das Mädchen», der von Roman Polanski verfilmt wurde, wirklich sehenswert übrigens. Im vorliegenden Roman nun mit dem beziehungsreichen Titel, im Klappentext als packender Politthriller bezeichnet, variiert der Autor sein Thema Exil in einem raffiniert verschachtelten, labyrinthartigen Plot, der die volle Aufmerksamkeit des Lesers erfordert, will er den Überblick nicht verlieren.

Die Geschichte beginnt am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in Paris. Eine junge Frau betritt ihr Hotelzimmer, sie hat den Koffer noch in der Hand, da klingelt schon das Telefon, eine männliche Stimme meldet sich. Der unbekannte Anrufer ist bestens über sie informiert, hat ihre Anreise aus Berlin arrangiert und das Zimmer für sie bestellt. Im Verlaufe eines mehrfach unterbrochenen neunstündigen Telefonats erfährt sie von den Vorgängen um ihren Geliebten, der im Untergrund gegen die Nazis arbeitet und den sie besuchen sollte. Alle Details sind verwirrend und erscheinen ihr unglaubwürdig, der Anrufer, der sich als sein Verbindungsmann zur Untergrund-Organisation bezeichnet, appelliert jedoch immer wieder an ihr Vertrauen, da er ihr nachprüfbare Fakten nicht verraten darf, alles sei geheim. Bald nimmt das Gespräch eine andere Richtung, er erklärt ihr nämlich zögernd, dass sie exakt der Traumfrau entspräche, die seit seinem zwölften Lebensjahr all sein Denken beherrscht hat.

Der Autor brennt ein aberwitziges literarisches Feuerwerk ab in diesem Roman, er jongliert virtuos mit wechselnden Erzählperspektiven, mit sich plötzlich verändernden Identitäten seiner Protagonisten und mit Details seiner Story, die wahr sein könnten, aber auch erlogen oder frei erfunden. Eingestreut in dieses erzählerische Verwirrspiel sind diverse kursiv gedruckte Reflexionen des Autors, in denen er seine bisher erzählte Geschichte überdenkt und die Möglichkeiten zu Weiterführung auslotet. Je mehr er erfährt, desto verunsicherter wird der Leser, die Ambivalenz der wenigen auftretenden Figuren ist ebenso verstörend wie es die undurchsichtigen politischen Hintergründe des Geschehens sind. Die allzu konstruiert wirkende, komplizierte Geschichte endet nach einem abschließenden Einschub des Autors mit Gedanken über das Ende seines Romans in einem letzten Monolog des Erzählers aus dem Kerker, und zwar mit dem Satz: «Oder willst du die Geschichte mit mir sterben lassen»?

Die Intensität, mit der die in einfacher, klarer Sprache und größtenteils in Dialogform geschriebene Erzählung auf den Leser einwirkt, ist beachtlich. Gekonnt werden die vielfältigen Einwirkungen von Diktatur und Terror, vom Leben im Untergrund und im Exil, auf die Psyche der verschiedenen Figuren beschrieben. Allerdings ist es ziemlich schwer, dem hintergründigen und stets zwiespältig erscheinenden Geschehen zu folgen. Der Autor hat die Latte des Verständnisses für den Leser ziemlich hoch gelegt, so mancher dürfte an ihr scheitern. Weniger wäre mehr gewesen, schade eigentlich!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Ich bekenne, ich habe gelebt

neruda-1Faszinierende Vita eines Politlyrikers

Als Memoiren bezeichnet der als lyrischer Politiker oder, ebenso stimmig, als kommunistischer Poet einzuordnende chilenische Dichter Pablo Neruda seinen Band mit dem selbstbewussten Titel «Ich bekenne, ich habe gelebt». Er hat daran bis unmittelbar vor seinem Tode 1973 gearbeitet. «Ich schreibe diese raschen Zeilen drei Tage nach den empörenden Ereignissen, die zum Tode meines großen Gefährten, des Präsidenten Allende, führten» heißt es auf der letzen Seite. Nur neun Tage später erlag er seinem Krebsleiden. Für ihn war der Militärputsch von Pinochet eine persönliche Katastrophe, die er in den allerletzten Zeilen seiner Erinnerungen desillusioniert, fast zynisch beschreibt und resignierend kommentiert. Hier am Ende wie auch im ganzen Buch zeigt sich, dass der Nobelpreisträger von 1971 ein ebenso leidenschaftlicher Dichter wie Politiker war. Für ihn gehörten Poesie und Politik zusammen, es waren zwei Seiten der gleichen Medaille, er setzte seine Lyrik ganz bewusst und wirkungsvoll immer wieder auch politisch ein.

Was für ein außergewöhnliches Leben, das der unter Pseudonym schreibende Sohn eines Lokomotivführers aus der Stadt Temuco im Süden Chiles da stolz vor dem Leser ausbreitet! Nicht in Form einer Autobiografie geschrieben allerdings, sondern als eine riesige Sammlung von Berichten über Erlebnisse und Begegnungen, von geistreichen Reflexionen, von feinfühligen Beobachtungen, dazu viele amüsante Anekdoten aus einem wahrhaft bunten Leben. Wo der Mann überall war und wen er alles kannte! Es ist eine riesige Schar an Menschen, denen er als Poet wie auch als Politiker begegnet ist, von ihm häufig als Freunde bezeichnet oder auch nur, als Mitstreiter, Kollegen, Gegenüber bei diversen Begegnungen, namentlich erwähnt. Während die genannten Politiker mir meistens bekannt waren, hatte ich mit den Poeten, insbesondere den vielen Lateinamerikanern, so meine Probleme, die meisten der illustren Namen hatte ich noch nie gehört. Das mag daran liegen, dass ich ausschließlich Epik lese, keine Lyrik, mein Brockhaus allerdings kannte manche der Namen ebenfalls nicht.

Es liegt in der Natur der Sache, dass Autobiografisches geschönt und idealisiert wird, der Mensch ist nun mal gefallsüchtig, auch Pablo Neruda bekennt sich offen dazu. Und so fliegen ihm in seinen Jugendjahre die Frauen mühelos zu, kriechen nächtens in sein Strohlager, ohne dass er überhaupt weiß, wen er da in Armen hält. Ein Macho braucht wohl solche verbalen Trophäen. Bei seinen sicherlich hochverdienten Ehrungen drückt der schwedische König gerade ihm die Hand ein wenig länger als allen anderen, berichtet er von der Nobelpreis-Verleihung. Das und Ähnliches mehr mag ja alles wahr sein, es wirkt aber im selbstverfassten Bericht überaus eitel und damit peinlich, auf mich jedenfalls.

Sprachlich präzise und klar, zuweilen schwärmerisch und blumig werdend, wenn es um Heimat und Natur geht, sind diese Memoiren sehr angenehm und flüssig zu lesen. Dass hier ein Lyriker schreibt, merkt man schon an den gelegentlichen, vom übrigen Text kursiv abgesetzten, kontemplativen Einschüben, alleinstehende Einzelsätze zumeist mit poetischer Anmutung. Pablo Neruda entführt den Leser in seine ganz eigene, exotische Welt und lässt ihn teilhaben an einer wahrlich außergewöhnlichen Karriere. Man kann ihm vorwerfen, er habe viele Fragen offen gelassen, politisch einäugig den Kommunismus verherrlicht, Privates weitgehend ausgeklammert. Gleichwohl ist seine Vita faszinierend, und das, was er darüber preisgibt, ist allemal die Lektüre wert.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Autobiografie
Illustrated by Luchterhand

Die andere Heimat

heidenreich-1Besser lewe wie sterwe

Im Nachwort dieses Buches, um mal ganz am Ende zu beginnen, erläutert der bekannte Filmregisseur Edgar Reitz seine Motive, warum er den Autor beauftragt hat, «unseren Recherchen, Gesprächen, Motivsuchen im Hunsrück und Spielen mit den Figuren der Schabbach-Geschichte in einer freien literarischen Erzählung, unabhängig von jeglicher Filmdramaturgie, Ausdruck zu verleihen». Herausgekommen ist dabei «Die andere Heimat», eine Erzählung aus dem Hunsrück, in welcher der vielseitig begabte Autor Gert Heidenreich, Ex-Mann der aus dem Fernsehen bekannten Literatur-Kritikerin Elke Heidenreich, das entbehrungsreiche ländliche Leben in der Mitte des 19ten Jahrhunderts beschreibt.

Schabbach heißt das kleine Dorf, in dem der Schmied Johann Simon seine Familie recht und schlecht durchbringen muss, wobei Schicksalsschläge und Naturkatastrophen seine Mühen immer wieder zunichte machen, seine Existenz bedrohen. Geschildert wird das unglaublich karge Leben fast aller Menschen in dieser Dorfgemeinschaft, einzig der Großbauer und Bürgermeister muss wohl nicht hungern. Waldfrevel ist deshalb an der Tagesordnung, man sammelt Pilze, Beeren, Eicheln, Bucheckern, natürlich auch Holz und anderes mehr, obwohl strenge Strafen drohen, wenn man erwischt wird. Die Kindersterblichkeit ist hoch, die medizinische Versorgung rudimentär, mit vierzig Jahren ist man alt. Jakob, jüngster Sohn des Schmieds, träumt vom besseren Leben in Brasilien, verschlingt geradezu alle Bücher über Südamerika und ist fest entschlossen, bei sich bietender Gelegenheit auszuwandern, in «die andere Heimat» also, um dort sein Glück zu machen. Es kommt anders, mehr sei hier aber nicht verraten.

Natürlich gibt es auch allerlei Liebesleid, Verwirrungen zwischen den Geschlechtern, es finden nicht immer die zusammen, die eigentlich zusammen gehören, und oft ist die Vernunft und wirtschaftliches Kalkül der Ehestifter, den Gefühlen zum Trotz. Der Autor entwickelt seine Geschichte in etlichen Rückblenden, seine diversen Figuren sind anschaulich und glaubhaft beschrieben, genau so, wie sie das karge Landleben geformt hat. Für fast alle Dialoge benutzt er die heimische Mundart, – was mich aber nicht weiter gestört hat, zu meinem Erstaunen, muss ich hinzufügen. Denn Fontanes Roman «Unterm Birnbaum» zum Beispiel, mit vielen Passagen in Plattdeutsch, ist für mich schlichtweg unlesbar, obwohl ich bekennender Fontane-Fan bin, – ich bin deshalb übrigens auf die Hörbuchversion mit Westphal ausgewichen, aber das nur nebenbei. Hier bei Gert Heidenreich nun verstärken seine, für mich jedenfalls, deutlich leichter lesbaren Mundart-Dialoge das Lokalkolorit, die zu vermittelnde Atmosphäre wird wunderbar homogen dadurch und wirkt überaus authentisch. Sprachlich ist die detailreich erzählte Geschichte geradlinig und unprätentiös angelegt, insgesamt jedoch ziemlich holzschnittartig wirkend, fast naiv. Leicht lesbar mithin, wobei allenfalls die beachtliche Figurenfülle, zusätzlich erschwert noch durch einige Namensvarianten, zu erhöhter Aufmerksamkeit (oder zum Spickzettel) zwingt.

Zweifellos ist dieses Buch vor allem auch ein Zeitdokument, gut recherchiert offenbar und ebenso komprimiert wie stimmig über ein heute weitgehend unbekanntes Milieu informierend, in jenen Zeiten angesiedelte Literatur bewegt sich ja sonst zumeist in Adelskreisen oder in der Bourgeoisie. Der Leser begegnet immer wieder einer erstaunlichen Gottergebenheit, ein Fatalismus übrigens, der fast allen Protagonisten zueigen ist und uns Heutige nun doch einigermaßen überrascht. Aber man trifft eben auch auf Figuren wie die vom Schicksal gebeutelte Lotte, die weinselig ihre schlichte Devise verkündet: «Besser lewe wie sterwe». Dem ist nichts hinzuzufügen.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Droemer Knaur München

Der dritte Mann

green-graham-1Roman vs. Spielfilm

Der britische Schriftsteller Graham Greene gilt als der Autor mit den meisten Nominierungen für den Nobelpreis, erhalten hat er ihn nie. Manchen galt er als nicht idealistisch genug oder als nicht hinreichend moralisch, Anderen als kommunismusverdächtig oder zu wenig liberal, nach seiner Konversion den Katholiken als zu ketzerisch, den Atheisten als zu katholisch, ein Individualist also, der schwer einzuordnen war. Literarisch thematisiert er, häufig in Form von Abenteuer-, Spionage- oder Kriminalgeschichten, die Problematik von Schuld, Treue und Verrat, kein Wunder, gab es in seiner bewegten Vita immerhin auch eine kurze Phase geheimdienstlicher Tätigkeit. Fast alle seine Werke sind verfilmt worden, so auch der Roman «Der dritte Mann», mit Orson Welles in der Hauptrolle einer der unsterblichen Klassiker des Spielfilms. Wobei der Zitherspieler Anton Karas mit seinem Harry-Lime-Theme eine kongeniale Filmmusik geschaffen hat, die ihrerseits lange Zeit ein Gassenhauer war, Synonym geradezu für diesen berühmten Thriller.

Im Vorwort seines Romans schreibt Greene: «Der dritte Mann wurde nicht geschrieben, um gelesen, sondern um gesehen zu werden». Für das geplante Filmprojekt mit Carol Reed als Regisseur sollte er das Drehbuch schreiben, mehr als ein paar Zeilen, eine Idee, lagen aber noch nicht vor. «Es ist für mich nahezu unmöglich, ein Drehbuch zu schreiben, ohne den Stoff zunächst als Erzählung zu behandeln», lässt er uns wissen. Diesem Unvermögen also verdanken wir einen spannenden Roman, die zeitlich im Wien der Nachkriegszeit angesiedelt ist, als die Stadt sich unter dem Vier-Mächte-Status in einer politisch seltsam anmutenden Konstellation befand. Die dafür symptomatischen Polizeistreifen mit ihren vier aus den jeweiligen Siegernationen stammenden Militärpolizisten, immer zusammen in einem Jeep, jeder in der Uniform seines Landes, dürften für jüngere Leser, vermute ich mal, kaum noch vorstellbar sein. Der Schwarzmarkt blühte damals, es gab viele Schieberbanden, die illegal mit allem Möglichen handelten und die Polizei in Atem hielten. In diesem Milieu ist die ziemlich mysteriöse Geschichte von Harry Lime angesiedelt, die von einem englischen Polizisten, Oberst Calloway erzählt wird.

Rollo Martins, unter dem Pseudonym Buck Dexter wenig erfolgreicher Autor billiger Wildwestromane, bekommt durch Vermittlung seines Freundes Harry den lukrativen Auftrag, in Wien einen bestimmten Zeitungsartikel zu schreiben. Als er dort eintrifft, erfährt er, dass Harry bei einem Verkehrsunfall getötet wurde. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des Ich-Erzählers Calloway, abwechselnd wird immer wieder protokollartig das Geschehen neutral geschildert, die Polizeiakten zitierend, die über Lime angelegt sind. Denn der war, zum Entsetzen seines gutgläubigen Freundes, in kriminelle Schwarzmarktgeschäfte verwickelt. Nach und nach gelingt es Martins zusammen mit dem Oberst, die Hintergründe des rätselhaften Todes vom Lime aufzuklären, hier mehr zu erzählen verbietet sich aber. Einerseits, um die Spannung nicht zu verderben, andererseits ist der Fortgang der Geschichte vielen Kinobesuchern längst hinreichend bekannt.

«Tatsächlich ist der Film besser als die Erzählung», schreibt Greene im Vorwort. Dem kann ich nicht zustimmen, denn der Film, der in meinem Kopf entstand, als ich das Buch jetzt gelesen habe, war ebenso spannend, ebenso unterhaltend, er war darüber hinaus aber auch amüsant. Der schwarze englische Humor schimmert häufiger durch, und besonders köstlich ist für Buchleser der literarische Abend im British Council, den Martins alias Dexter zu bestreiten hat, unter diesem Synonym wurde er nämlich mit einem namensgleichen berühmten Autor verwechselt. Als er dort gefragt wird, wie er denn James Joyce literarisch einordnen würde, antwortet er zum Erstaunen des Auditoriums: «Ich habe noch nie von ihm gehört». Es lohnt also doch, zu lesen!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Die Rebellion + Die Legende vom heiligen Trinker

roth joseph-1Wahrheit und Gerechtigkeit

In diesem Band sind zwei Werke des in relativ wenigen Schaffensjahren entstandenen, umfangreichen Œuvres von Josef Roth zusammengefasst, «Die Rebellion», sein erstes größeres Prosawerk, und die Novelle «Die Legende vom heiligen Trinker», 1939 in seinem Todesjahr erschienen. Sie umschließen, wie der Klappentext erläutert, «Lebenswerk und geistige Haltung des österreichischen Erzählers … auf exemplarische Weise». Seinen Zeitgenossen war er hauptsächlich als Journalist bekannt, der überwiegende Teil seiner veröffentlichten Werke stammt aus dieser Tätigkeit. Der wechselvolle Lebensweg des jüdischen Schriftstellers ist geradezu ein Abbild der politischen Verhältnisse zwischen den beiden Weltkriegen, ein unstetes Leben auf der Flucht, das in Brody in Galizien begann und im Exil in Paris endete.

Der Roman «Die Rebellion» ist eine bitterböse Satire auf den Obrigkeitsstaat, erzählt wird die Geschichte des Kriegskrüppels Andreas Pum. Sie beginnt im Kriegsspital, sarkastisch heißt es da gleich eingangs: «Er hatte ein Bein verloren und eine Auszeichnung bekommen. Viele besaßen keine Auszeichnung, obwohl sie mehr als nur ein Bein verloren hatten». In einer raffiniert naiven Sprache erlebt man den Wandel des einfältig erscheinenden, unbeirrt und optimistisch an den wohltätigen Staat glaubenden Invaliden zum Rebellen. In einer kafkaesk anmutenden Szenerie wird er immer tiefer in ein unheilvolles Geschehen hineingezogen, bei dem sich sein Glaube an die Obrigkeit zusehends verliert, er schließlich sogar für fünf Wochen unschuldig im Gefängnis landet. Sein äußerst bescheidenes Lebensglück wird dadurch völlig zerstört, seine Frau wendet sich von ihm ab, nach der Entlassung muss er als Toilettenwärter arbeiten. Eine durch den ihm wohl gesonnenen Gefängnisdirektor erwirkte Revision erlebt er nicht mehr, und schon im Delirium versunken, erscheint er vor dem himmlischen Richter. In einer rebellischen Schmährede befreit er sich von den Lasten seiner gequälten Existenz und zürnt gegen die schreienden Ungerechtigkeiten in dieser Welt. «Ich will deine Gnade nicht! Schick mich in die Hölle!» schleudert er Gott entgegen. Man findet ihn tot in der Herrentoilette, seine Leiche aber kam, «weil gerade Leichenmangel war und obwohl sie nur ein Bein hatte, ins Anatomische Institut».

In der Novelle «Die Legende vom heiligen Trinker» erlebt der unter den Brücken von Paris lebende, alkoholsüchtige Clochard Andreas Kartak eine wundersame Reihung glücklicher Zufälle. Er trifft auf wohlmeinende Menschen, die ihm unverhofft immer wieder aufs Neue Geld zukommen lassen, ihn aus seinen prekären Verhältnissen befreien. Dem ersten dieser Gönner kündigt er, der sich als Ehrenmann fühlt, die Rückzahlung der erhaltenen zweihundert Francs an, um schließlich aber doch jedes Mal damit zu scheitern, dieses Geld wie vereinbart einem Priester in der Kapelle mit der Statue der heiligen Therese von Lisieux zu übergeben. Denn er vertrinkt und verprasst immer wieder den unverhofften Geldsegen. Bei seinem letzten Versuch, sein Versprechen zu erfüllen, wartet er in einem Bistro gegenüber der Kapelle auf das Ende der Messe, als plötzlich ein junges Fräulein eintritt, das er für die heilige Therese hält, die sein Geld jedoch nicht annehmen will, ihm vielmehr selbst hundert Franc schenkt. Vom Schlag getroffen «fällt er um wie ein Sack» und stirbt schließlich in der Sakristei, wohin man ihn gebracht hat. Josef Roth, selbst dem Alkohol verfallen, beendet seine Novelle mit dem hoffnungsvollen Satz: »Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod»!

Beide Geschichten sind in einer wunderbar klaren, ruhigen Sprache verfasst, die in wohlgesetzten Worten mit einem eher einfältig anmutenden Duktus den Hauptanliegen des Autors, Wahrheit und Gerechtigkeit, eine mahnende Stimme verleiht, deren Sog man sich als Leser wohl kaum entziehen kann.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Ein diskreter Held

vargas llosa-1Potenzschwäche

In seinem 2013 erschienenen Roman «Ein diskreter Held» thematisiert der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa die Ehrbarkeit – nicht die Diskretion, wie der Titel suggeriert – am Beispiel zweier älterer Männer, die sich standhaft mafiosen Machenschaften widersetzen. Der vielfach prämierte, in seiner Heimat hochangesehene Autor mit politischen Ambitionen hat sich nach der verlorenen Stichwahl um das Amt des peruanischen Präsidenten wieder ganz dem Schreiben zugewandt und wurde 2010 mit dem Nobelpreis geehrt «für seine Kartographie der Machtstrukturen und scharfkantigen Bilder individuellen Widerstands, des Aufruhrs und der Niederlage», wie es das Nobelkomitee in seinem typisch gestelzten Ton formuliert hat.

Felícito aus der Stadt Piura im Norden Perus, der sich mit harter Arbeit eine florierende Firma aufgebaut hat, sieht sich plötzlich mit Schutzgeldforderungen konfrontiert. Unbeirrt bleibt er jedoch hart, hält sich strikt an die Worte seines Vaters «Lass dich niemals von irgendwem herumschubsen», er weigert sich zu zahlen. Vielmehr wendet er sich an die Polizei und veröffentlicht außerdem eine Zeitungsanzeige, in der er den Erpressern lakonisch erklärt, von ihm würden sie nichts erhalten, nicht mal einen Centavo. Dabei bleibt er, auch nachdem Feuer gelegt wird in seinem Büro, erst als seine Mätresse entführt wird, beginnt er zu wanken. Als im zweiten Handlungsstrang der 81jährige Chef des gerade in den Vorruhestand gegangenen Don Rigoberto in Lima seine halb so alte Haushälterin heiratet, setzten dessen missratene Söhne wegen der ihnen entgangenen Erbschaft alle Hebel in Bewegung, um diese Ehe annullieren zu lassen. Ihr Vater sei unzurechnungsfähig, behaupten sie, und natürlich versuchen sie mit allen Mitteln, die beiden Trauzeugen, den Chauffeur des reichen Unternehmers ebenso wie dessen ehemaligen Generaldirektor, unter Druck zu setzten, damit sie dies bezeugen.

Es ist ein spannender Plot, zeitlich in der Gegenwart angesiedelt, wobei die zwei tragenden Stränge der Handlung am Ende zusammenlaufen, mehr sei hier aber nicht verraten. Dies ist bereits der vierte Roman des in wenigen Tagen 79jährigen Autors, den ich gelesen habe, ein Alterswerk mithin. Und ein recht handlungsreicher Roman, von seinem Autor gekonnt erzählt in farbenfrohen Bildern, mit lebendigen Figuren bevölkert, von denen die eine oder andere aus den vorhergehenden Romanen schon bekannt ist. Auch das Grüne Haus wird erwähnt, obwohl dieses Bordell aus dem berühmten gleichnamigen Roman von 1965 inzwischen längst abgerissen ist. Viele der für Vargas Llosa typischen Techniken finden sich auch in diesem Roman. Er erzählt seine Geschichte in Fragmenten, lässt bewusst Lücken in der Handlung, verschachtelt nicht zusammengehörende Teile der Handlung ineinander. So wechselt er zum Beispiel mehrfach von einem Dialog zweier Figuren völlig unvermittelt und ohne jede Kennzeichnung, also direkt Satz an Satz montierend, in einen ganz anderen Dialog zweier ganz anderer Personen. Diese von ihm bewusst betriebene, den Lesefluss arg störende Desorientierung ziele darauf ab, wie er in einem Aufsatz erklärt hat, die orientierungslose Sinnsuche seiner Romanfiguren analog auch auf den Leser zu übertragen. Zusätzlich benutzt er auch esoterische Elemente, hier eine an den «Doktor Faustus» von Thomas Mann angelehnte, den gesamten Plot begleitende, mysteriöse Teufelserscheinung.

Im Duktus von Elke Heidenreich handelt es sich zweifellos um eklige Altmännerliteratur, hier in der Variante des südamerikanischen Machismo. Und auch der Ödipus-Mythos wird variiert, in zwei sehr spezielle Vater-Sohn-Beziehungen nämlich, den Vätern allein aber gilt die Sympathie des Autors. Vieles bleibt ungesagt, die Erwartung des Lesers auf Szenen aus dem Mafiamilieu zum Beispiel wird geradezu konterkariert. Nach dem kitschigen Schluss musste ich konsterniert feststellen, dass Vargas Llosas Erzähltalent ebenso schwächelt wie die Potenz der alten Männer, über die er berichtet.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Die blaue Blume

fitzgerald-p-2Britischer Hype um deutschen Romantiker

Mit dem Titel ihres letzten, im Original 1995 erschienenen Romans verweist die englische Schriftstellerin Penelope Fitzgerald auf «Die blaue Blume» als Sinnbild romantischer Poesie, welches auf Sehnsucht, Liebe und Fernweh ebenso hinweist wie auf die Unendlichkeit. Florales Vorbild ist laut Novalis der blaue Heliotrop, in seinem Romanfragment «Heinrich von Ofterdingen» hat er sie erstmals als metaphysisches Symbol verwendet. Jene mystische Blume, die niemals gefunden werden könne, symbolisiere, wie Fitzgerald es ausdrückte, was man selber vom Leben will, ein Ziel, das man unbeirrt anstreben muss, auch wenn es vergebens zu sein scheine. Im vorliegenden Roman versinnbildlicht die blaue Blume die tragische Liebesgeschichte zwischen Friedrich von Hardenberg, der später als frühromantischer Dichter unter dem Synonym Novalis berühmt wurde, und der blutjungen Sophie von Kühn. Der in England als Meisterwerk gelobte historische Roman gilt als Höhepunkt im Œuvre dieser Schriftstellerin, als ihr gelungenstes und anspruchsvollstes Werk.

Zeitlich umfasst ihre Geschichte die Jahre von 1790 bis 1797. Fritz, wie der junge Hardenberg in der Familie genannte wurde, begegnet Ende 1794 erstmals der 12jährigen Sophie, eine «Viertelstunde», die über sein Leben entschieden habe, wie der damals 22Jährige seinem Bruder schrieb. Keine drei Jahre später stirbt Sophie an Tuberkulose, eine in jenen Zeiten meist tödlich verlaufende Krankheit, der Fritz vier Jahre später ebenfalls erlag. Die kurze Spanne dieser Liebesgeschichte bildet den inneren Kern der Erzählung. Gegliedert in 55 Kapitel, ergänzt um ein Nachwort, ist dieses Buch, wie die Autorin es ausdrückte, eine «Art Roman», stellt also im Wesentlichen eine fragmentarische Biografie des Dichters Novalis dar, aber auch eine um Fiktionales ergänzte, historisch aufschlussreiche Schilderung dieser Epoche. Der vielseitig gebildete Novalis verkehrt mit Geistesgrößen seiner Zeit, steht mit Schiller, Goethe, Schlegel, Fichte und anderen auf vertrautem Fuß. Aber auch Profanes hat seinen Platz in diesem kleindeutschen Milieu mit Jena und Weimar als geistiger Mittelpunkt, ob dies nun die finanziell angespannte Lage der Familie Hardenberg mit ihren elf Kindern ist oder kaum zu glaubende Praktiken der Mediziner, der pietistisch den Herrnhutern hörige Vater ebenso wie die Charaktere der skurrilen Familienmitglieder und ihre eigenartigen Rituale, beim Frühstück oder zu Weihnachten. Auch das uns Heutige äußerst rüde erscheinende Alltagsleben auf einem abgewirtschafteten Gutshof, die englische Autorin gibt uns gut recherchierte Einblicke in die damaligen Lebensverhältnisse.

Indem Fitzgerald sich mit begleitenden Hinweisen und Erklärungen, die sie als «Beleidigung des Lesers» empfunden hat, ganz bewusst zurückhält, die Geschehnisse also ungeschönt, ganz unkommentiert auf ihn einwirken lässt, erhalten ihre kurzen Episoden eine einzigartig direkte Wirkung, erhellen das Wesen ihrer zahlreichen, lebensprall gezeichneten Figuren und deren verbindendes Beziehungsgeflecht. Besonders bedrückend wirkt deshalb am Ende auch die knappe Schilderung von Sophies Todesstunde. Fritz kann sie nicht anlügen, ihren sich verschlimmernden Zustand nicht schönreden, er verlässt den Gutshof ohne Abschied, ohne seine übliche Beteuerung: «Sophie, du bist die Seele meiner Seele».

Zweifellos ist es der Autorin gelungen, uns einen großen Dichter der Romantik nahe zu bringen. Wichtigstes Thema jedoch ist die rätselhafte Anziehungskraft zwischen Liebenden und ihr letztendlich schmähliches Versagen vor dem Menetekel des nahenden Todes. Ihre Sprache ist schnörkellos, wirkt allerdings recht holzschnittartig, die Handlung zudem ist allzu sprunghaft erzählt, was dem Lesevergnügen ziemlich abträglich ist. Der große Erfolg im englischsprachigen Ausland dürfte in der dort unbekannten Thematik um den Dichter Novalis begründet sein, kaum in den literarischen Qualitäten dieses Romans.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Insel Frankfurt am Main

Der Allesforscher

steinfest-1Weniger wäre mehr gewesen

Surreales in Prosa zu übertragen scheint das spezielle Anliegen von Heinrich Steinfest zu sein, dessen Roman «Der Allesforscher» es unter die Finalisten des Buchpreises 2014 geschafft hat. Im Vergleich zu den fünf anderen Werken der Endrunde von Sujet und Stil her eine saloppe, populistische Prosa, die sich beim Leser anbiedert gleich von den ersten Zeilen an, und die ihn dann nicht mehr loslässt bis zum Epilog. Wen wundert’s auch bei einem Autor, der viele erfolgreiche Krimis geschrieben hat! Im Unterschied zum magischen Realismus als literarischer Form allerdings sprechen bei Steinfest keine Tiere, sie explodieren allenfalls wie der Pottwal gleich zu Beginn. Die Handlung bleibt durchweg realistisch, im Bereich des Möglichen also, Überirdisches ist in diverse Traumsequenzen ausgelagert, die gegen Ende des Buches dann einen ziemlich breiten Raum einnehmen.

Sixten Braun, der Held der Erzählung, erfolgreicher IT-Manager auf Geschäftsreise, wird nach einem aberwitzigen Unfall auf Taiwan von Dr. Lana Senft behandelt, man kommt sich auch privat näher. Auf dem Rückflug von Japan stürzt seine Maschine ab, er überlebt, kehrt nach Deutschland zurück, heiratet seine Verlobte und tritt in deren Vaters Firma ein, wird aber schon zwei Jahre später wieder geschieden. Er sattelt beruflich um und wird Bademeister. Eines Tages erreicht ihn ein Anruf der taiwanesischen Vertretung, er erfährt, dass Lana gestorben ist und einen Sohn hinterlassen hat, dessen Vater er vermutlich sei. Der siebenjährige Junge hat zwar unverkennbar chinesisches Aussehen, er adoptiert ihn trotzdem. Simon ist autistisch, ist einerseits ein hervorragender Kletterer und ebenso guter Zeichner, spricht aber in einer von niemandem verstandenen Sprache und ist auch nicht in der Lage, neue Wörter zu lernen, die Kommunikation mit ihm bleibt auf Gesten beschränkt. Kerstin, die Angestellte in der Vertretung Taiwans, und Sixten beginnen schon bald eine Beziehung, sie zieht bei ihm ein und kümmert sich ebenfalls um Simon.

In einem eingeschobenen Nebenstrang wird die Geschichte des Chinesen Auden Cheng erzählt, einem erfolgreichen Hersteller exklusiver Kosmetikprodukte, der sich mannhaft gegen mafiöse Übernahmeversuche großer Konzerne wehrt, nach einem bewaffneten Überfall aber plötzlich die Gefahr sehr ernst nimmt und abtaucht, eine neue Identität annimmt und alle Spuren hinter sich verwischt. Er hatte längere Zeit ein Verhältnis mit der Ärztin Lana, bis Sixten auftauchte. Beim Showdown in der Bergwelt Tirols, bei einem gemeinsamen Ausflug zu dem Gipfel, an dem Sixtens Schwester beim Bergsteigen ihr Leben verlor, treffen die beiden Liebhaber Lanas schließlich aufeinander, ohne voneinander zu wissen, und der Autor belässt es auch dabei.

Logik ist kein Kriterium, das Steinfest bremst in seiner im freundschaftlichen Plauderton erzählten, sprachlich verspielten Geschichte mit ihren geradezu hanebüchenen Wendungen. Er reiht slapstickartig groteske Bilder aneinander, erfindet immer irrwitzigere Szenerien, all das garniert mit wohlfeiler Alltagsphilosophie, die nicht selten ins Banale abgleitet. Eine unkonventionelle Sicht auf die Welt und ihre scheinbaren Realitäten ist prinzipiell ja durchaus bereichernd und wird von mir als Leser auch freudig goutiert, erscheint hier aber allzu aberwitzig konstruiert. Dieses literarische Konstrukt erreicht seinen peinlichen Höhepunkt in den unsäglichen Traumgeschichten, die mich ebenso gestört haben wie der hymnische Alpinismus am Ende der Geschichte. Mit seinem fast lakonischen Duktus ist dem Autor der ambitionierte Versuch, von ihm erdachte extreme Situationen und seltsam skurrile Figuren in einen realistisch erzählten Plot einzubauen, grandios danebengelungen. Das nervt regelrecht mit zunehmender Lesezeit, weniger wäre hier wirklich mehr gewesen, schade eigentlich!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Das Haus am Kanal

simenon-2Nicht mal Mittelmaß

Einer der ersten Non-Maigret-Romane ist «Das Haus am Kanal», 1933 erschienen und von seinem Autor Georges Simenon zu den «romans dur» gerechnet, mit denen er höhere literarische Ambitionen verfolgte. Vier Jahre später hat er kleinlaut verkündet: «Ich habe 349 Romane geschrieben, aber alles das zählt nicht. Die Arbeit, die mir wirklich am Herzen liegt, habe ich noch nicht begonnen». Er hat sie nie begonnen, muss ich hinzufügen, und die Literaturkritik blieb weiterhin skeptisch seinem riesigen Œuvre gegenüber. Gleichwohl, mit einer Auflage von etwa 500 Millionen Bänden gehört er zu den erfolgreichsten Schriftstellern weltweit. Im vorliegenden Band, den er rückblickend als seinen ersten «richtigen Roman» bezeichnete, sind geradezu exemplarisch alle seine typischen Stilmittel enthalten.

Die sechzehnjährige Edmée aus Brüssel, deren Mutter bei der Geburt gestorben ist, kommt nach dem frühen Tod des Vaters als Waise auf den einsam gelegenen Bauernhof des Onkels in Flandern. Kurz vor ihrer Ankunft ist auch der Onkel gestorben, sein 21-jähriger Sohn Fred Van Elst übernimmt den Hof. Sie spricht kein Flämisch und fühlt sich als Großstadtkind fremd in der ungewohnten, ländlichen Umgebung. Das pubertierende Mädchen wird sich schon bald ihrer Wirkung auf Fred und seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Jef bewusst, lehnt beide aber als grobschlächtige Bauerntölpel ab. Sie animiert den einfältigen Jef zu Gunstbeweisen ihr gegenüber. Daraufhin stielt Jef für sie vier violette Schmucksteine aus dem Messkelch der Kirche, die sich ironischerweise als unecht herausstellen, bastelt ein Schmuckkästchen für sie, holt ihr sogar die Platinspitze des Blitzableiters vom Kirchturm herunter. Als Fred im Wald versucht, Edmée zu vergewaltigen, taucht plötzlich ein Nachbarjunge auf, den Fred im Handgemenge ungewollt tötet, er vergräbt mit Jef zusammen dessen Leiche – im Beisein von Edmée. Jef kündigt an, er würde Edmée töten, wenn sie Fred heiratet. Der reiche Onkel entdeckt bei einer Prüfung der Bücher, dass Fred regelmäßig Geld unterschlägt, und Edmée spürt ihn bei einem seiner Besuche in der Stadt in einem zwielichtigen Lokal auf, wo er sich augenscheinlich als spendabler Kunde wie zuhause fühlt. Fred, der weiß, dass er den Hof nicht wird halten können, macht Edmée schließlich einen Heiratsantrag, er will mit ihr in die Stadt ziehen, – und sie nimmt an.

Ganz am Ende gibt es dann einen unvermittelten Zeitsprung: Edmée Van Elst wird zwei Jahre später in Antwerpen im Bett erwürgt aufgefunden, sie wurde vergewaltigt. Als Täter wird Jef verhaftet, der auf die Frage des Staatsanwalts, warum er seine Schwägerin ermordet habe, antwortet: «Was hätte ich denn tun sollen?» Mit einem Sprung aus dem Fenster nimmt er sich tags darauf das Leben.

Auch hier geschieht also ein Mord, aber der steht krimi-untypisch ganz am Ende, und der Täter wird sofort überführt. Der Sexualtrieb als Ursache des Bösen, – in bedrückender Atmosphäre nimmt das Unheil seinen Lauf, ausgelöst durch das von Edmée verkörperte Weibliche. Das oft brutale Geschehen wird realistisch karg geschildert, stilistisch völlig uninspiriert. Der benutzte Wortschatz ist sehr begrenzt, die Erzählweise unmotiviert sprunghaft, der Plot auffallend unstrukturiert. Man merkt dem Text nicht nur die Eile eines notorischen Schnellschreibers an, der bis zu 80 Seiten pro Tag «produziert» hat, sondern auch das Fehlen jedweden Lektorats, Simenons Manuskripte gingen, auf seine ausdrückliche Anweisung hin, ohne Überarbeitung in die Druckerei. Ein Roman wie dieser ist dann das Ergebnis, trotz einiger brillanter Ansätze wirkt er völlig unausgegoren. Seine Figuren vermögen keine Empathie zu erzeugen, auf der Suche nach dem Bösen stellt er sie als «nackte Menschen» dar, wie er das mal definiert hat, auf das elementar Triebhafte reduziert. Dieser Roman ist wahrlich kein Kunstwerk, nicht mal Mittelmaß, sondern einfach nur Trivialliteratur, – hat man ihn gelesen, so hat man ihn auch schon vergessen!

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Der englische Patient

ondaatje-1Mit Herodot in der Wüste

Aus dem breit angelegten Œuvre des kanadischen Schriftstellers Michael Ondaatje ragt der im Erscheinungsjahr 1992 mit dem Booker Price prämierte Roman «Der englische Patient» besonders hervor. Nicht zuletzt wegen der mit 9 Oscars prämierten Verfilmung wurde er später weltberühmt und damit auch einem größeren Lesepublikum bekannt. Vor allem die Kinobesucher werden sich fragen, ob die Lektüre des Romans lohnend sei, was ich hier schon mal bejahen kann, mit Einschränkungen allerdings.

Zu dem titelgebenden Patienten und seiner jungen Krankenschwester Hana, die in der zerbombten und von den zurückweichenden deutschen Truppen verminten toskanischen Villa San Girolamo hausen, gesellt sich außer dem Dieb und britischen Geheimdienstler Caravaggio, ein Freund von Hanas verstorbenem Vater, auch Kip, ein junger Sikh im britischen Militärdienst, der dort als Minenräumer arbeitet. Caravaggio interessiert sich für den mysteriösen Patienten, den Hana für einen Engländer hält, Kip wiederum hat eine kurze Affäre mit Hana. Die vier Protagonisten sind Strandgut des Zweiten Weltkrieges, sie sind allesamt desillusioniert einer paralysierenden, noch sehr nahen Vergangenheit entronnen. Die Handlung ist zweisträngig aufgebaut, sie wechselt zwischen Kriegsende 1945 und der Zeit vor und während des deutschen Afrikafeldzuges in Libyen und Ägypten. In Rückblenden erzählt der Patient von seiner Arbeit als Forscher in der libyschen Wüste und von der heftigen Liebesbeziehung zu der frisch angetrauten Frau eines Kollegen, die tragisch endet, – Filmbesucher kennen die spektakuläre Szene. Caravaggio gelingt es in seinen Gesprächen mit dem Patienten, dessen Identität zu enthüllen, es handelt sich um den Ungarn Graf Ladislaus de Almásy, der für die Deutschen spioniert hat, für Rommel.

Als Schriftsteller der Postmoderne benutzt Ondaatje hier wie auch in vielen seiner anderen Werke eine fragmentarische Erzählweise, die fotografischen Schnappschüssen ähnelnd einen Teil des Plots behandelt, um sich dann unvermittelt wieder einem anderen zuzuwenden. Zwischen Krankenbett und Saharaforschung oszillierend werden auf diese Art in den zehn Kapiteln des Romans beide Strängen der Handlung parallel vorangetrieben. Ergänzt wird dies durch Rückblenden in Caravaggios Spionagezeiten sowie den minutiös geschilderten Arbeiten von Kip bei der hochriskanten und immer komplizierter werdenden Entschärfung von Bomben und der Räumung von Minenfeldern. Diese Abschnitte werden jeweils aus der Perspektive der einzelnen Figuren erzählt, wobei diese selbst merkwürdig seelenlos bleiben, keine Empathie erzeugen. Abweichend von der ansonsten durchgängig auktorialen Erzählsituation tritt Ondaatje im letzten, «August» überschriebenen Kapitel als personaler Erzähler auf, wenn er über Hana schreibt: «Sie ist eine Frau, die ich nicht gut genug kenne, um sie unter meine Fittiche zu nehmen, sollten denn Schriftsteller Flügel haben, und ihr für den Rest meines Lebens Schutz zu gewähren.» Er führt das Schicksal der anderen Figuren nicht näher aus, nur Kip erscheint am Ende als in seine Heimat zurückgekehrter, verheirateter Arzt, der im August 1945 entsetzt den Abwurf der ersten Atombomben zum Anlass genommen hatte, seinen Dienst zu quittieren.

In einer zweiseitigen Danksagung nennt der Autor am Schluss des Buches die Quellen für seine detaillierten Beschreibungen, akribisch recherchierend hat er es meines Erachtens mit dieser Detailfülle allerdings übertrieben, weniger wäre hier mehr gewesen. Zweifel habe ich nach der Lektüre auch gehabt, ob und wie das alles zusammengeht, was ich da so gelesen habe über Liebe, Wüste, Krieg, Bomben, Minen, Italien. Die Passagen, in denen es um Herodot geht, dessen Buch der Patient, mit eigenen Notizen angereichert, ständig bei sich trug und aus dem Hana ihm vorliest, waren für mich die erfreulichsten in diesem vielschichtigen Roman, der von den Verheerungen berichtet, die der Krieg anrichtet, – und manchmal auch die Liebe.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Blauer Montag

gruenberg-1Null Bock auf nichts

Wenn ein Autor als Ich-Erzähler auftritt, hat man es in der Epik normalerweise mit einer Autobiografie zu tun. In einem Roman jedoch, und «Blauer Montag» ist explizit als solcher deklariert von Autor und Verlag, wirft diese Konstellation immer wieder die Frage auf, ob das jeweils Gelesene nun pure Fiktion ist oder doch real Erlebtes. Und das umso mehr, wenn eine ungewöhnlich provokante Geschichte derart sachlich, nüchtern und kaltschnäuzig erzählt wird wie die äußerst chaotisch anmutenden Erlebnisse des in Amsterdam lebenden Holländers Arnon Grünberg. Einer, der der Null-Bock-Generation angehört und seine nihilistische Einstellung zu seiner ganz persönlichen Lebensphilosophie verklärt, der um nichts in der Welt sich den gesellschaftlichen Konventionen anzupassen gedenkt, der einen anderen, besseren Weg zu suchen scheint, ohne recht zu wissen, was das denn wäre, wonach genau er da eigentlich sucht.

Die in fünf Abschnitte gegliederte Geschichte beginnt gleich turbulent mit dem Tod und der Beerdigung des Vaters, der offiziell mit Briefmarken handelte, dessen wahre Geschäfte aber undurchsichtig sind. So gehört denn zum Beispiel eine Reitschule für Behinderte mit zwanzig Pferden zu seinem Nachlass, sehr zur Verblüffung von Ehefrau und Sohn Arnon. Im Stil eines Pennälerromans geht es in einer Rückblende weiter mit dessen Schulnöten und seiner ersten Liebe Rosie, locker und amüsant erzählt, ohne dieser Thematik jedoch neue Seiten abgewinnen zu können. Was das blutjunge Pärchen eint ist ihre ungestüme Art, das Besondere, Aufregende zu suchen und allem Konventionellen zu trotzen, «die ganze Welt ist langweilig», wie Rosie ernüchtert feststellt. Im dritten Abschnitt wird die Phase der Krankheit des nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmten Vaters geschildert. Arnon kümmert sich um ihn, fährt ihn im Rollstuhl in die Kneipe und kommt ihm näher als je zuvor.

Im vierten Abschnitt unter dem Titel «Die Mädchen», der fast die Hälfte des Romans umfasst, wird über die Zeit nach dem Rauswurf aus der Schule berichtet, wo Arnon, inzwischen erwachsen geworden, sich mit verschiedenen Gelegenheitsjobs durchs Leben schlägt. Als Verleger ging er schnell in Konkurs, zur Büroarbeit hatte er ebenfalls bald keine Lust mehr, seine Geldquellen bleiben völlig im Dunkeln, erwähnt wird nur, dass er selbständig als Manuskriptleser für einen Verlag tätig ist. Immer in Geldnöten und oft abgebrannt bis auf den letzten Gulden, hat er für Kneipen, Bars und Restaurants, aber auch für Damen des horizontalen Gewerbes, auf wundersame Weise dann doch immer noch genügend Geld übrig. Seit Rosie ihn verließ, hatte er keine Freundin mehr, Liebe und emotionale Bindungen sind ihm total fremd geworden, es zieht ihn nur noch zu käuflichen Frauen hin.

Die Erlebnisse des trostlosen Helden im Bordellmilieu Amsterdams sind das Langweiligste, was ich seit Langem gelesen habe, da ändern auch einige eingeschobene Puffwitze nichts dran. Über nicht weniger als fünf «Mädchen» wird ausführlich berichtet, aber weder die freudlosen sexuellen Verrichtungen noch die dümmlichen Gespräche zwischen Nutte und Freier sind in irgendeiner Weise interessant oder gar erbaulich. Denn weder die Voyeure noch die Alltagsphilosophen unter den Lesern kommen da wirklich auf ihre Kosten. Letztere seien auf den im Rotlichtmilieu angesiedelten Roman «Im Stein» von Clemens Meyer verwiesen, – wenn’s denn unbedingt sein muss! Über die Ursachen der seelischen Verwahrlosung des Helden darf spekuliert werden, in Frage kommen sowohl das lieblose Elternhaus als auch die gescheiterte Liebesbeziehung zu Rosie, der Text bietet leider kaum Ansatzpunkte für eine fundierte psychologische Analyse. Am Ende schließlich startet der Ich-Erzähler in eine neue Karriere als Callboy, aber was daraus dann wird, das erspart der Autor den geplagten Lesern, wofür ich ihm äußerst dankbar bin.

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Traumpfade

chatwin-1Verlorene Zeit

Es gibt Bücher, mit denen man partout nichts anzufangen weiß, die einem irgendwie nicht liegen, der Thematik oder Erzählweise, zuweilen aber auch der Botschaft wegen, die sie transportieren sollen. Bruce Chatwins mit allerlei Reflexionen angereicherter Reisebericht «Traumpfade», nach seinem Erscheinen 1987 zum Bestseller avanciert, gehört für mich persönlich eindeutig zu dieser unerquicklichen literarischen Spezies. Für Globetrotter sicherlich interessant, bietet dieses Buch, das Vieles ist, nur kein Roman, trotz etlicher Informationen über die eingeborene Bevölkerung eines fernen Kontinents den übrigen Lesern literarisch rein gar nichts. Weder eine interessante Handlung noch sympathische Figuren, deren Erlebnisse erzählenswert wären oder mit denen man sich irgendwie identifizieren könnte. Es bietet leider auch keine sprachliche Könnerschaft oder einen kreativen Schreibstil, womit das Lesen ja per se zu einem Genuss werden kann. Wer also nicht gerade australophil ist, dessen Geduld mit dem englischen Autor wird 368 Buchseiten lang auf eine harte Probe gestellt.

Im ersten Teil erzählt Chatwin fiktional angereichert von seinen Erlebnissen in Australien, dem fünften Kontinent, der es ihm ganz besonders angetan hat. Zu Beginn schildert er das Zusammentreffen mit Arkady Wolschock, einem russischstämmigen Wissenschaftler, der für eine Eisenbahngesellschaft tätig ist und als Kontaktmann zu den Aborigines fungiert, um mit ihnen die Trasse einer neu zu bauenden Schienenstrecke abzustimmen. Der Autor schließt sich ihm an, begleitet ihn auf seinen Reisen und lernt so die Mythen der Eingeborenen kennen, deren Traumpfade auf uralten Überlieferungen beruhen. Sie nennen sie Songlines, Wege also, die man singen kann, die magische Punkte berühren, von den Aborigines wie Heiligtümer verehrt, da sie den Entstehungsmythos vieler gottähnlicher Kreaturen verkörpern. Auf diesen Fahrten treffen die Beiden mit vielen Eingeborenen zusammen, deren prekäre Lebensumstände einem Europäer eigentlich als unerträglich erscheinen müssten. Seltsamerweise hält sich der Autor aber mit einer Anklage der britischen Kolonialherren ziemlich zurück, obwohl hier eine ebenso rücksichtslose Unterdrückung und auch Ausrottung der indigenen Bevölkerung stattgefunden hat wie in Asien, Afrika oder Amerika.

Chatwins besonderes Thema, ja geradezu sein Herzensthema, ist das Nomadentum, für das er sich maßlos begeistern kann und dem er kritisch immer wieder das sesshafte Leben des modernen Menschen gegenüberstellt. Er führte selbst ein unstetes Leben mit ausgedehnten Reisen, fühlte sich als Autodidakt wohl auch ein bisschen wie ein Privatgelehrter, der mit Konrad Lorenz Gespräche führte und mit vielen Fachleuten auf dem Gebiet der Kulturanthropologie zusammentraf. Seine detaillierten Beschreibungen eines für die meisten Leser völlig fremden, fernen Kontinents mit seiner exotisch anmutenden Flora und Fauna erklärt die große Popularität, die er in dafür empfänglichen Leserkreisen genießt, viele der Lobeshymnen zeugen davon.

Die zweite Hälfte des Buches unter dem Titel «Aus den Notizbüchern» ist eine ebenso kuriose wie überflüssige, bruchstückhafte Sammlung von Zitaten, Aphorismen und Notizen des Autors, mit denen er unverdrossen seine Botschaft zu ergänzen und zu untermauern sucht. Da findet sich dann beispielsweise zum Thema Knochenfunde von Hominiden Tiefsinniges wie: «Wenn bewiesen werden könnte, dass sie von anderen Hominiden in die Höhle gebracht wurden, würden diese sich der Anklage wegen Mordes und Kannibalismus stellen müssen. Wenn nicht, nicht.» Wow! Vom Gilgamesch-Epos bis zu Hitlers Refugium bei den Nürnberger Parteitagen, gipfelnd in der These vom Songline-Urmodell für alle nachfolgenden Systeme, es wimmelt nur so von populärwissenschaftlichem Nonsens. So was kann erheiternd sein, ist es hier nun aber wirklich nicht, – schade also um die verlorene Zeit, in der man ja auch einen richtigen Roman hätte lesen können, womöglich sogar einen guten!

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main