Die Bibliothekarstochter Afra ist sowohl ungewöhnlich schön als auch gegen alle Regeln des 15. Jahrhunderts belesen und gebildet. Als sie von ihrem Lehnsherren missbraucht wird, flieht sie mit ihrem einzigen Besitz: einem verblichenen Pergament, das nur mit Hilfe alchimistischer Geheimtinkturen kurz sichtbar gemacht werden kann. Geheimnisvolle Bruderschaften, Mönche, Spitzel und bewaffnete Schergen des römischen Papstes wollen an das Papier kommen und jagen die schöne Maid von Ulm über Strassburg und Venedig bis nach Konstanz. Offenbar kann der Inhalt des Pergaments die Grundfesten der katholischen Kirche erschüttern, und so werden weder Mord noch Totschlag noch Intrige gescheut, um an das wertvolle Dokument zu gelangen. Afra bewältigt indes souverän alle Gefahren und trickst instinktsicher die ihr unbekannten Gegner aus, um schließlich den Papst erzittern zu lassen.
Philipp Vandenberg schildert eine abenteuerliche Mittelalterodyssee im Schatten mächtiger Dome, lüsterner Popen, grimmiger Piraten, gieriger Wegelagerer und eines stets gewaltbereiten Pöbels. Der Historienkrimi ist spannend und unterhaltsam im Fahrwasser von »Säulen der Erde« geschrieben, zum deutschen Ken Follett reicht es allerdings leider nicht.
Mentale Fürze seien die Albträume seines Patienten, behauptet Dr. Ballesteros, als Salomón Rulfo, ein arbeitsloser Literaturagent, ihm einen stets wiederkehrenden Traum erzählt, der ihn quält: in einer weißen Villa mit einem grünen Aquarium wird eine Frau ermordet, die um Hilfe fleht. Dumm nur, dass der mentale Furz Wirklichkeit wird: die Villa und den Mord gibt es tatsächlich. Schnell entspinnt sich ein kunstvolles Geflecht von Menschen, die durch Träume aufeinander stoßen und sich einer geheimnisvollen literarischen Sekte ausgeliefert sehen.
Dreizehn Musen berühmter Dichter haben einen geheimen Hexenbund geschlossen und binden Menschen mit der Macht des Wortes. Sie wissen genau, dass ein Gedicht ein Wald voller Fallgruben sein kann. Bisweilen lauert nur ein einziger Vers mit scharfen Krallen darin. Er braucht nicht schön zu sein, er braucht weder literarisch wertvoll noch gänzlich wertlos zu sein: er ist einfach da, mit seiner geballten Ladung aus Tod bringendem Gift, und die Hexen nutzen ihn, um Menschen zu binden und mit blutiger Gewalt zu zwingen.
Somozas bizarrer Kriminalroman verlangt den hart gesottenen Leser. Er kommt im Gewand eines Mystik-Thrillers daher und entpuppt sich doch als feingliedriges literarisches Kunstwerk eines raffinierten Erzählers. Der spannende Roman ist surreal, phantastisch, stockfinster und dabei extrem blutrünstig. Das Buch erzeugt bereits nach wenigen Seiten unbestimmten Ekel, aber er weckt auch die Sucht, bis zur letzten Seite durchzuhalten, um das ungewöhnliche Geheimnis des höchst vertrackten Plots zu enthüllen.
Ist Mord eine erwähnenswerte kulturelle Leistung? Trägt das bewusste Beseitigen von friedlichen und ahnungslosen Mitmenschen zur Entwicklung unserer Kultur bei? Jörg von Uthmann, Autor der vergnüglichen und zugleich informativen Kulturgeschichte des Mordes, bejaht diese Fragen. Aus seiner Sicht sind Morde zwar unerquicklich für das jeweilige Opfer, sie haben aber auch ihre guten Seiten, denn sie beflügeln Kunst und Wissenschaft — die Mediziner, die den Kommissaren dabei helfen, die Killer zu fassen, die Schriftsteller, welche die Jagd in Krimis beschreiben, und die Filmemacher, die sie verarbeiten.
Mord und Totschlag gibt es, seitdem sich Menschen beneiden und miteinander in Streit geraten. Waren im Mittelalter die Richter noch auf Feuerprobe und Folter angewiesen, bei der nahezu jeder alles gestand, zählte es zu den Errungenschaften der letzten Jahrhunderte, wissenschaftliche Methoden zur Beweissicherung und Tatortuntersuchung gefunden zu haben. Mit den Möglichkeiten der Medizin, Gifte nachzuweisen, entwickelte sich die Spurensicherung über die Fingerabdrucktechnik bis hin zur modernen DNA-Analyse, mit der erstmals 1987 ein Mörder überführt werden konnte. Parallel dazu formten sich Kriminalpolizei und Gerichtsmedizin.
Jörg von Uthmann versteht es, die tatsächlichen Verbrechen mit ihren Widerspiegelungen in Literatur, Drama, Oper und Film in Bezug zu setzen und entwirft en passant eine Geschichte der Kriminalliteratur und ihrer Autoren ohne sich auf Theorienstreit einzulassen. Dass er konzentriert auf unseren westeuropäischen Kulturkreis blickt und im wesentlichen französische, britische, amerikanische und deutsche Fälle und Autoren schildert, mag als Manko der Skizze gelten. Interessant wäre es schon, die Entwicklungen in anderen Kulturkreisen vergleichend heranzuziehen, waren es doch beispielsweise die Chinesen, denen sehr viel früher als den Europäern die Einzigartigkeit des Fingerabdrucks bekannt war.
Der literarische Spaziergang ist mit leichter Hand geschrieben und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Er bietet aber eine vielseitige Einführung ins Thema und empfiehlt sich jedem, der ein wenig tiefer in die Welt der Kapitalverbrechen und ihrer künstlerischen Verarbeitung einsteigen möchte.
Das Ereignis, das als »Der Puls« bekannt werden sollte, erlebt der Comic-Zeichner Clayton Riddell, als er sich in Boston ein leckeres Softeis spendieren will: Teenager fallen übereinander her und beißen sich die Kehle durch, Geschäftsleute werden zu blutrünstigen Bestien, Busfahrer jagen und überrollen Passanten; kurz: ein infernalisches Chaos, in dem jeder jedem ans Leben geht, beginnt. Ohne lange Vorrede lässt King gleich zu Beginn seines von der ersten bis zur letzten Zeile atemberaubend spannenden Buches unfassbaren Horror über Land brausen, der von Handys ausgelöst wird, die einen unheimlichen Befehl aussenden.
Clayton denkt an seinen Sohn und hofft, dieser möge kein Handy benutzen und vor dem sich ausbreitenden Wahnsinn fliehen. Er zieht mit zwei Gefährten los, ihn zu suchen und stellt auf seiner Wanderung durch ein apokalyptisch verwüstetes Land fest, dass die Handy-Verrückten telepathische Fähigkeiten entwickeln und sich in die Gedanken der wenigen Nicht-Infizierten einloggen können. Diese sollen gezwungen werden, sich in einem angeblich funkstreckenfreien Gebiet zu sammeln. — Doch welches Grauen erwartet sie dort?
Genre: HorrorIllustrated by Heyne München
Elizabeth George gilt als begnadete Krimiautorin, die mit großem psychologischem Einfühlungsvermögen Spannungsbögen schlägt und damit eine internationale Fangemeinde um ihre Figuren schart. Mit dem vorliegenden Sachbuch reiht sie sich in die Traditionslinie amerikanischer Bestsellerautoren, die Schreiben als solides Handwerk verstehen, das vermittelbar und erlernbar ist.
Wer Elisabeth George Wort für Wort folgt, erhält zuerst einmal tiefen Einblick in ihren schriftstellerischen Handwerkskasten! George ist eine Autorin, die wenig dem Zufall überlässt und jedes spontane Sprudeln der Ideen bei der Niederschrift für sich selbst ablehnt. Sie feilt ausführlich an den Ideen ihrer Romane sowie an den Figuren, die diese bevölkern. Sie ist überzeugt, dass Figuren die Geschichte und Dialoge wiederum Figuren erschaffen. Sie schildert, wie sie ihre Figuren und Schauplätze modelliert, wie sie in einem Stufendiagramm Szenen zu Papier bringt und die Handlung entwirft. Sie betont die Bedeutung des Konflikts, um Geschichten spannend, interessant und kunstvoll erzählen zu können und erläutert die möglichen Erzählweisen. Die Autorin verrät ihre Technik und schildert ihren Umgang mit der Rohfassung des Manuskriptes und den notwendigen Schritten zur Überarbeitung bis zur Fertigstellung.
»Wort für Wort« ist ein unterhaltsam geschriebener, leicht nachvollziehbarer Lehrgang für Romanautoren und solche, die es werden wollen. Systematisch und mit vielen Leseproben nimmt Elizabeth George den Leser an die Hand und führt ihn sicher durch den Dschungel des literarischen Schreibens. Sie verlangt von ihren Lesern Leidenschaft und Disziplin, um sich die handwerklichen Techniken anzueignen und sagt sehr deutlich, dass Kunst ohne Handwerk undenkbar ist und stets darauf fußt, dass andererseits aber bei aller handwerklichen Meisterschaft auch zusätzlich Talent erforderlich ist, um ein wirklich gutes Buch zu schreiben.
Soll ich wirklich einen Roman lesen, der sich Thriller nennt und bereits auf den ersten 25 Seiten 27 verschiedene Personen als schwer verdauliche Vorspeise einführt? Tu es, ermuntert der Klappentext, denn die Autorin konnte mit dem Werk »ihren lang gehegten Wunsch« verwirklichen, »vor dem Erreichen des dreißigsten Lebensjahres einen Thriller zu schreiben«. Nun, das ist ein umwerfend starkes Argument!
»Schattenturm« erzählt von einem New Yorker Polizisten, der im Dienst einen Mörder erschossen hat und sich von diesem Trauma eine einjährige Auszeit mit seiner bezaubernden Frau und seinem pubertierenden Sohn in Irland schenkt. Doch sein Opfer hat einen ihn im tödlichen Schwur verbundenen Kumpel, der nicht nur ein grässlicher Serienkiller ist sondern sich darüber hinaus furchtbar an dem ehemaligen Cop rächen will. Auf verschiedenen Erzählebenen werden die Schicksale der guten und der bösen Parteien gegeneinander gestellt, und dann kommt es, wie es kommen muss: der clevere US-Polizist kollidiert in dem irischen Dorf, in dem er wohnt, mit tumben Lokalpolizisten. Dabei ist er wirklich ein schlauer Kerl, er stellt praktisch aus der Erinnerung sämtliche Zusammenhänge her und deutet auch instinktsicher das teuflische Muster, das hinter den bizarren Sexualmorden lauert. Es kommt zum Showdown, doch der eigentliche Bösewicht entkommt … und damit deutet alles auf eine Fortsetzung hin, die uns die Autorin vermutlich rechtzeitig zu ihrem vierzigsten Geburtstag schenken wird.
Jean Baptist Warnke lebt mit Frau und Kindern als zweiter Mann der niederländischen Botschaft im peruanischen Lima und pflegt das diplomatische Nichtstun. Täglich sieht man ihn in einem kleinen Café, wo er »Newsweek« liest. Dort begegnet er Marlena, einer Studentin, die Englisch lernt und in einem geheimnisvollen Chor singt. Schnell verzaubert ihn die aparte junge Frau und macht ihn zu ihrem »chunquituy«, ihrem Hündchen. Für den Diplomaten, der nur gelernt hat, sich überall heraus zu halten, gerät eine Welt aus den Fugen, als es sich auf das Abenteuer einlässt und sich abgöttisch in das Mädchen verliebt.
Warnke genießt seine neue Liebe, widmet ihr Sonette und fühlt sich wie im siebten Himmel. Ins Rutschen kommt die Sache, als Den Haag wissen will, warum er dem Weihnachtsempfang der japanischen Botschaft fernblieb, bei der er zu einer blutigen Geiselnahme kam. Bald tauchen auch Fotos auf, die den Vertreter der Königin mit seiner Flamme im Zoologischen Garten von Lima zeigen …
Grünberg erzählt mit viel Witz und trockenem Humor die Geschichte vom verliebten Repräsentanten des niederländischen Königreichs, der Kontakt zur Bevölkerung eines Landes sucht, von dem er herzlich wenig weiß. Er schildert eine naive Beziehungsgeschichte, die im wahrsten Sinne des Wortes explosiv endet.
Genre: RomaneIllustrated by Diogenes Zürich
Holm wird mit 37 Jahren aus dem elterlichen Nest geschubst und zieht auf die Couch zu Tante Hede, mit der er ein autistisches Zusammenleben zwischen Pantoffeln, Staubsauger und Kaffeetasse pflegt. Er begegnet in kleinen, vorsichtigen Schritten dem Leben, lernt Supermärkte und andere Herausforderungen des Alltags kennen. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, nimmt er sogar eine Verkaufstätigkeit in einem Zigarrengeschäft auf. Schließlich drängt ihn die Tante, eine Damenbekanntschaft zu machen. Nach einem missglückten Treff mit einer Kontaktanzeige begegnet er Ulrike, Verkäuferin in der Herrenkonfektionsabteilung des Berliner KaDeWe. Tapsig und stets auf der Lauer vor den vielen Risiken im Umgang mit dem anderen Geschlecht schleicht Holm um die junge Frau herum, bis er schließlich mit seiner bescheidenen Habe vor ihrer Tür steht und einzieht.
»Ein Mann wie Holm« ist die kuriose Skizze eines sympathisch-schrägen Spießers, der sein Dasein und vor allem den Umgang mit dem anderen Geschlecht als Erkundung eines unwirtlichen Planeten erlebt. Das Buch ist skurril, amüsant und unterhält die Lachmuskulatur.
Wer schlägt mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende noch einen dickleibigen Roman auf, der haarklein und bis in blutige Details das Grauen entbehrungsreicher amerikanischer Entscheidungsschlachten gegen Hitlers Armeen schildert? Scott Turow schafft es, mit einem literarischen Kunstgriff sowie einer packenden Story den Leser in das verheerende Kriegsgeschehen längst vergangener Zeiten hinein zu ziehen: Ein Journalist findet ein autobiographisches Manuskript, das sein verstorbener Vater aus den letzten Kriegsjahren hinterlassen hat. Anhand dieser Unterlagen folgt der Sohn der Spur des Vaters bei dessen Heereseinsätzen. Sein Auftrag als Militäranwalt in den Ardennen lautet, einen im Auftrag westlicher Geheimdienste in vorderster Front tätigen Major festzunehmen, der sich der Befehlsverweigerung schuldig gemacht haben soll und von einem mit ihm im Clinch liegenden General sogar als Gegenspion betrachtet wird.
Anhand des nachgelassenen Manuskriptes sowie einiger Feldpostbriefe wird die Entwicklung des jungen Anwaltes vom Sesselpupser zum Frontschwein deutlich. Träumte er anfangs schwärmerisch davon, für sein Land zu kämpfen, wird er nun durch seinen Auftrag Schritt für Schritt in die allererste Frontlinie gezwungen. Dort lernt er die ungeschminkte Seite des Krieges kennen. Er muss mit dem Fallschirm über einer belagerten Stadt abspringen und sieht, wie nahe Tod und Leben beieinander liegen. Er führt in Ermangelung erfahrener Frontoffiziere eine verzweifelt ums Überleben kämpfende US-Kompanie, die unter deutschen Beschuss gerät und nahezu vollständig zerrieben wird. Er erfährt den Wert des menschlichen Lebens sowie den Widersinn des Völkermordens, vor dem die Soldaten im Angesicht des Todes zittern. Er lernt aber auch abzuwägen zwischen hölzernen Kommissköpfen und menschlich empfindenden und mitdenkenden Vorgesetzten und macht dadurch einen inneren Reifungsprozess durch.
Der Militäranwalt findet den Geheimdienstoffizier und lernt ihn genauer kennen. Er unterstützt ihn sogar bei einem Sabotageakt auf deutscher Seite und erlebt dessen Mut und Opferbereitschaft. Zu allem Überfluss verliebt er sich auch noch in eine polnische Partisanin, die an der Seite des Angeklagten kämpft. Bald zweifelt der Jurist am Sinn des ihm übermittelten Befehls, den bei den kämpfenden Truppen hoch angesehenen und beliebten Offizier zu inhaftieren und vor ein Kriegsgericht zu bringen, doch er befolgt den Auftrag. Allerdings lässt er seinen Gefangenen letztlich entkommen und bekennt sich schuldig, um dafür selbst eine langjährige Haftstrafe verbüßen zu müssen.
Wer sich nicht scheut, durch Schlammpfützen zu robben und zerfetzte Körperteile im Kugelhagel regnen zu sehen, der findet in Turows fesselnd geschriebenem Kriegsroman die differenzierte und nachvollziehbare Zeichnung eines Helden, der zu selbständigem Denken und Handeln gelangt, sich als Rädchen in der Maschine verweigert und dem Herzen folgt.
Genre: RomaneIllustrated by Blessing München
»Deutschland stirbt aus!« warnt Frank Schirrmacher und dramatisiert in »Minimum« das drohende Sterben einer Nation durch fehlende Brut. Wir leben immer länger, wir zeugen kaum noch Nachwuchs; und vor allem gebärfreudige Frauen, die Träger der Familien als Urzellen der Nation, fehlen auf allen Betten und Matratzen. Uralte Kinder erleben ihre bald hundertjährigen Eltern, doch jeder dritte Verbund bleibt ohne Nachwuchs. Die Brutöfen sind kalt. Siegfrieds einstmals kriegerische Erben sind müde geworden. — Armes Deutschland! —
»Na und?« mag man ungerührt fragen. Ganze Kontinente kämpfen mit der explodierenden Bevölkerung, und wir beklagen mangelnde Fruchtbarkeit! — Fakt ist: aus dem einstigen »Volk ohne Raum« wird schleichend aber unaufhaltsam ein Raum ohne Volk. Deutschland hat mittelfristig nur eine Überlebenschance: als multinationaler Mischmasch. — Ist das wirklich ein derartig schmerzliches Szenario, dass wir zur Abwehr wieder Mutterkreuze und Abschussprämien stiften sollten? —
Vielleicht siedeln in Zukunft kinderreiche Mongolenstämme zwischen Rhein und Weser! Vielleicht treiben anno 2112 tibetische Hirten zottelige Yaks über die Schwäbische Alb! Vielleicht leiten schwarzafrikanische Voodoo-Priesterinnen dann in Berlin das Fruchtbarkeitsministerium und konservieren germanisches Sperma zur völkerkundlichen Dokumentation in Kryobanken!
Solange in allen Bereichen deutlich wird, dass Kinder eine kaum zu tragende wirtschaftliche Last mit ungewissen Zukunftschancen sind und es an attraktiven Hortplätzen und Schulen mangelt, wird kaum einer aus selbstloser Verantwortung gegenüber dem gesellschaftlichen Ganzen bereit sein, zusätzlich ein Dutzend Kinder in die Welt zu setzen und aufzuziehen. Bevölkerung entwickelt sich natürlich, Appelle halten ebenso wie Anreize keinen Untergang auf. Wie eines schönen Tages keine Saurier mehr auf dieser Erde grasten, und die Hochkultur der Maya im Orkus verschwand, so geht auch das Volk der Dichter und Denker früher oder später den Bach hinunter und wandert ins Geschichtsbuch.
Es sei denn, es sei denn, es sei denn … Frank Schirrmacher weist in seinem nächsten Buch den Weg aus der Misere und rettet good old germany.
Sieben von mörderischer Langeweile gequälte Männer treffen sich, um den öden Alltag mit kleinem Kitzel zu lockern. Sie nehmen zur Abwechslung teil an spiritistischen Experimenten, besuchen Gefängnisse, psychiatrische Kliniken und Vorlesungen in Anatomie; an einem Abend gesteht ein Novize in ihrem Kreis, dass er 99 Menschen in den Tod schickte und sich selbst zum 100. Opfer bestimmte. — Flackernd und unheimlich beginnt »Das Rote Zimmer«, eine der acht in diesem Band versammelten sonderbaren Schauergeschichten, die der Begründer der japanischen Kriminalgeschichte im zweiten Quartal des vorigen Jahrhunderts veröffentlichte.
Rampos grotesk gedehnte Geschichten spielen in der begüterten oberen Mittelschicht und atmen die Monotonie dieser sorgenfrei lebenden Kaste. Komplizierte und aufwändig konstruierte Verbrechen aus Langeweile werden veranstaltet, um die eigenen Grenzen auszureizen und den eintönigen Alltag aufzulockern. Oft verfallen die Akteure dem Zwang, sich alles von der Seele reden zu müssen: sie beichten ihre Sünden im Angesicht des Todes oder gestehen ihre Untaten in Brief- oder Buchform. Rampo tuscht seine Gestalten mit haarfeinem Pinsel und schafft es, subtile Geständnisse in eine fesselnde Form zu fassen; das macht diesen Sammelband literarisch faszinierend und lesenswert!
Um die Lust auf die Lektüre zu reizen, seien schnell noch die weiteren Rampo-Stories beleuchtet: »Zwei Versehrte« treffen sich auf einen Tee und berichten aus ihrem Leben. Der eine ist von Messerstichen und Granatsplittern entstellt, der andere leidet darunter, seit Jahrzehnten Schlafwandler zu sein, der nachts stiehlt und einen alten Mann im Schlaf erdrosselt haben soll. Besteht eine Verbindung zwischen den beiden Männern? — In »Zwillinge« gesteht ein zum Tode verurteilter Mörder, auch seinen älteren Zwillingsbruder beseitigt zu haben sowie in dessen Identität geschlüpft zu sein, bis er wegen einer Nachlässigkeit überführt wird. — »Der psychologische Test« dient als letzte Gelegenheit, in einem eigentlich klaren Mordfall den wahren Schuldigen kunstvoll zu überführen. — Die Titelgeschichte »Spiegelhölle« beschreibt den Wahnsinn eines Mannes, der sich an Glas und Spiegeln berauscht. — »Die Raupe« ist der im Krieg grässlich verstümmelte Torso eines Soldaten, der sich vor seiner Frau in einen Brunnen wirft. — »Auf der Klippe« stürzt eine Ehefrau ihren Gatten in den Tod, nachdem sie bereits ihren ersten Mann in angeblicher Notwehr getötet hat. — »Der Sesselmann« ist ein kunstfertiger Möbelmacher, der im Inneren eines von ihm gefertigten großen Lederfauteuils haust und einer wohl geformten Schriftstellerin, die sich täglich auf ihm reibt, einen Liebesbrief schickt … oder ist es etwa nur der perfide Trick eines genialen Autors, um gelesen zu werden???
Dieses für jeden, der schreibt, nützliche Buch will dreierlei erreichen: erstens, die Autoren für die Einsicht gewinnen, dass sie sich mit der Technik des Schreibens plagen müssen, um den Leser zu fesseln; zweitens, ihnen klarzumachen, dass dies im Wettlauf mit elektronisch bewegen Bildern immer mehr Mühe, Grips und Phantasie erfordert; drittens, ihnen Werkzeuge für jene Art des Formulierens zu liefern, die das Lesen attraktiver macht.
Schneider erwartet von Journalisten, Lektoren und Schriftstellern ebenso wie von Verfassern komplexer Gebrauchsanweisungen, präzise, konkret und anschaulich zu schreiben. Auf 50 Regeln verdichtet er den Umgang mit der Sprache unter Berücksichtigung neuester Erkenntnisse der Verständlichkeitsforschung und aktueller Richtlinien für eingängiges Deutsch! Dazu zählen das Anstechen von Wortballons, das Zertrümmern von Hülsen, das Vermeiden von Klischees und Floskeln sowie der bewusste Umgang mit Nebensätzen, Schachtelungen, Attributen und Präpositionen. Er behandelt Lesehilfen (Satzzeichen, Zahlen, Kursiva), das Spiel mit Metaphern und die hohe Kunst, den richtigen Einstieg zu finden.
Wer gelesen werden möchte, findet in Schneider einen Ratgeber, der ohne Rohrstock und Peitsche hilft, den Texter wieder stärker an den Leser zu binden. Sein Lehrbuch ist gleichzeitig ein Plädoyer für eine »Stiftung Schreiben«, die der umtriebigen »Stiftung Lesen« viel Aufwand ersparen könnte.
Genre: SpracheIllustrated by Rowohlt
Mit sieben Erzählungen legt Dominguez nach »Das Papierhaus«, seiner Hommage an die Welt der Bücher, eine poetische Huldigung an Wasser, Fluss und Meer vor, die den Einfluss des feuchten Elements auf die Welt der davon abhängigen Menschen bezeugt. Der Autor wurde im argentinischen Buenos Aires am Südufer des Rio de la Plata geboren und lebt im uruguayischen Montevideo am Nordufer der gewaltigen Mündung des Silberflusses. Für die eng besiedelte Region rund um das von den südamerikanischen Strömen Paraná und Uruguay gebildete Delta spielt die Nähe zum Wasser eine elementare Rolle.
Ein Junge schwimmt mit seinem alternden Idol, dem Tarzan-Darsteller Johnny Weißmüller, um die Wette und versucht, dessen Ehre zu wahren. — Der einzige Bewohner einer kleinen Insel, die im Orkan untergeht, rettet seine nackte Haut auf einen Baum zu einer Schar Reiher, während Wind und Wasser seine Habseligkeiten zerfetzten. — Mancuso, ein alt gedienter Kapitän, will ein viel versprechendes Wrack bergen, das sich aber als Versicherungsbetrug entpuppt, und verschwindet von der Bildfläche. — Die tapfere Besatzung eines durch viele Hände gegangenen Schiffes, das einer Sandbank in die Falle ging und auf ihr gefangen liegt, verliert langsam den Verstand, während sie auf das befreiende Hochwasser wartet. — Ein junger Mann geht auf die Suche nach seinem Vater, der bei Flusspiraten im Delta des großen Flusses vor sich hin vegetiert. — Ein Offizier eines Öltankers berichtet vom Angriff eines iranischen Raketenschnellbootes im Golfkrieg und dem verheerenden Brand seines Schiffes. — Auf einem riesigen Frachter, für den kaum noch Personal benötigt wird, treffen sich ein spanischer Offizier und ein polnischer Maschinist auf eine Flasche Grappa und führen in ihrer Einsamkeit eine aufrichtige Unterhaltung, ohne dass der eine auch nur ein Wort des anderen versteht.
Durch geschickt gewählte unterschiedliche Perspektiven versteht es der Erzähler, einen Eindruck von der grandiosen Macht der Elemente zu vermitteln. Besonders auf Landratten wirken die Texte über die erstaunliche Natur wüster Flüsse und Meere eindringlich und dicht.
Aus heiterem Himmel erlebt ein kleiner Ort in Virginia eine Orgie brutaler Gewalt: ein Serienkiller scheint wahllos aus dem Hinterhalt zuzuschlagen und zitiert dabei berühmte Massenmörder. Eine Frau wird im Wald ermordet, ein junges Pärchen stirbt beim Liebesspiel, ein alter Herr wird im Krankenhaus erledigt. Vier, fünf, sechs Menschen werden bestialisch ermordet, und es ist darüber hinaus fraglich, ob es sich um einen oder mehrere Täter handelt. Wie gut, dass die beiden Privatdetektive Maxwell und King, die bereits aus Baldaccis Roman »Im Bruchteil der Sekunde« bekannt sind, vor Ort leben und sich in die Ermittlungen der überforderten Lokalpolizei einschalten. Der Leser begleitet die beiden bei der Arbeit und darf ihrem Bemühen, alle Rätsel zu lösen, folgen.
Baldacci erzählt seine Geschichte in einem seltsam saftlosen Stil. Sowohl die blutrünstigen Taten als auch die von ihm gezeichneten Figuren lassen den Leser kalt und teilnahmslos der Entwicklung der Ereignisse beiwohnen. Die Zeichnung der zahlreichen agierenden Figuren ist staubtrocken, die Akteure erscheinen blass, künstlich und schemenhaft. Das Ende des Buches, ein Geständnis auf hoher See in sturmdurchtoster Nacht, wirkt in seiner Klischeehaftigkeit albern. Der steife Roman trägt keinesfalls dazu bei, den Beliebtheitsgrad des Autors zu erklären, der vom Verlag mit einer Gesamtauflage von über 40 Millionen Exemplaren beziffert wird.
Nur eine Stunde lang stand Fernandel, der berühmte französische Filmstar mit dem markanten Pferdegesicht, dem im Amerika lebenden Fotografen Philippe Halsman anno 1948 Modell. Halsman, einer der Großen der amerikanischen Porträtfotografie, versuchte dabei ein fotografisches Experiment, indem er den Schauspieler bat, nur pantomimisch auf seine Fragen zu antworten. Es entstand ein feinfühliges Zwiegespräch ohne Worte, das zeitlos wirkt. Selbst ein halbes Jahrhundert später beschert es Freude, die anrührende Mimik und den poetischen Charme des lebhaften Franzosen im Pepitaanzug zu betrachten.
»Stimmt es, dass der Durchschnittsfranzose im Gedränge immer noch hübsche Mädchen kneift? …«, fragt der Fotograf, und Fernandel grinst als Antwort spitzbübisch bis über beide Ohren. Doch als er darauf erfährt: »… und wissen Sie, dass man sich mit einem solchen Verhalten hierzulande Gefängnis einhandelt?«, reagiert er derart erschreckt, als sei ihm gerade der Leibhaftige begegnet. Ob er wisse, dass ein Star seines Kalibers leicht ein gewaltiges Vermögen in Hollywood verdienen könne, will Halsman wissen. Fernandel mimt den aus seinen herrlichen Filmen bekannten Pater Don Camillo, breitet beide Arme aus, lächelt beseelt zum Himmel und hält sich mit weiteren Äußerungen zurück.
Fünfzig Jahre lang war das fotografische Interview mit Fernandel in seiner Rolle als typischer Frenchman vergriffen. Der Reprint schenkt eine lange Weile Heiterkeit, denn das Gesicht des weltberühmten Hobbyschauspielers aus Südfrankreich sagt viel mehr als tausend Worte.
Genre: FotografieIllustrated by Taschen Köln