Holm wird mit 37 Jahren aus dem elterlichen Nest geschubst und zieht auf die Couch zu Tante Hede, mit der er ein autistisches Zusammenleben zwischen Pantoffeln, Staubsauger und Kaffeetasse pflegt. Er begegnet in kleinen, vorsichtigen Schritten dem Leben, lernt Supermärkte und andere Herausforderungen des Alltags kennen. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, nimmt er sogar eine Verkaufstätigkeit in einem Zigarrengeschäft auf. Schließlich drängt ihn die Tante, eine Damenbekanntschaft zu machen. Nach einem missglückten Treff mit einer Kontaktanzeige begegnet er Ulrike, Verkäuferin in der Herrenkonfektionsabteilung des Berliner KaDeWe. Tapsig und stets auf der Lauer vor den vielen Risiken im Umgang mit dem anderen Geschlecht schleicht Holm um die junge Frau herum, bis er schließlich mit seiner bescheidenen Habe vor ihrer Tür steht und einzieht.
»Ein Mann wie Holm« ist die kuriose Skizze eines sympathisch-schrägen Spießers, der sein Dasein und vor allem den Umgang mit dem anderen Geschlecht als Erkundung eines unwirtlichen Planeten erlebt. Das Buch ist skurril, amüsant und unterhält die Lachmuskulatur.
Wer schlägt mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende noch einen dickleibigen Roman auf, der haarklein und bis in blutige Details das Grauen entbehrungsreicher amerikanischer Entscheidungsschlachten gegen Hitlers Armeen schildert? Scott Turow schafft es, mit einem literarischen Kunstgriff sowie einer packenden Story den Leser in das verheerende Kriegsgeschehen längst vergangener Zeiten hinein zu ziehen: Ein Journalist findet ein autobiographisches Manuskript, das sein verstorbener Vater aus den letzten Kriegsjahren hinterlassen hat. Anhand dieser Unterlagen folgt der Sohn der Spur des Vaters bei dessen Heereseinsätzen. Sein Auftrag als Militäranwalt in den Ardennen lautet, einen im Auftrag westlicher Geheimdienste in vorderster Front tätigen Major festzunehmen, der sich der Befehlsverweigerung schuldig gemacht haben soll und von einem mit ihm im Clinch liegenden General sogar als Gegenspion betrachtet wird.
Anhand des nachgelassenen Manuskriptes sowie einiger Feldpostbriefe wird die Entwicklung des jungen Anwaltes vom Sesselpupser zum Frontschwein deutlich. Träumte er anfangs schwärmerisch davon, für sein Land zu kämpfen, wird er nun durch seinen Auftrag Schritt für Schritt in die allererste Frontlinie gezwungen. Dort lernt er die ungeschminkte Seite des Krieges kennen. Er muss mit dem Fallschirm über einer belagerten Stadt abspringen und sieht, wie nahe Tod und Leben beieinander liegen. Er führt in Ermangelung erfahrener Frontoffiziere eine verzweifelt ums Überleben kämpfende US-Kompanie, die unter deutschen Beschuss gerät und nahezu vollständig zerrieben wird. Er erfährt den Wert des menschlichen Lebens sowie den Widersinn des Völkermordens, vor dem die Soldaten im Angesicht des Todes zittern. Er lernt aber auch abzuwägen zwischen hölzernen Kommissköpfen und menschlich empfindenden und mitdenkenden Vorgesetzten und macht dadurch einen inneren Reifungsprozess durch.
Der Militäranwalt findet den Geheimdienstoffizier und lernt ihn genauer kennen. Er unterstützt ihn sogar bei einem Sabotageakt auf deutscher Seite und erlebt dessen Mut und Opferbereitschaft. Zu allem Überfluss verliebt er sich auch noch in eine polnische Partisanin, die an der Seite des Angeklagten kämpft. Bald zweifelt der Jurist am Sinn des ihm übermittelten Befehls, den bei den kämpfenden Truppen hoch angesehenen und beliebten Offizier zu inhaftieren und vor ein Kriegsgericht zu bringen, doch er befolgt den Auftrag. Allerdings lässt er seinen Gefangenen letztlich entkommen und bekennt sich schuldig, um dafür selbst eine langjährige Haftstrafe verbüßen zu müssen.
Wer sich nicht scheut, durch Schlammpfützen zu robben und zerfetzte Körperteile im Kugelhagel regnen zu sehen, der findet in Turows fesselnd geschriebenem Kriegsroman die differenzierte und nachvollziehbare Zeichnung eines Helden, der zu selbständigem Denken und Handeln gelangt, sich als Rädchen in der Maschine verweigert und dem Herzen folgt.
Genre: RomaneIllustrated by Blessing München
»Deutschland stirbt aus!« warnt Frank Schirrmacher und dramatisiert in »Minimum« das drohende Sterben einer Nation durch fehlende Brut. Wir leben immer länger, wir zeugen kaum noch Nachwuchs; und vor allem gebärfreudige Frauen, die Träger der Familien als Urzellen der Nation, fehlen auf allen Betten und Matratzen. Uralte Kinder erleben ihre bald hundertjährigen Eltern, doch jeder dritte Verbund bleibt ohne Nachwuchs. Die Brutöfen sind kalt. Siegfrieds einstmals kriegerische Erben sind müde geworden. — Armes Deutschland! —
»Na und?« mag man ungerührt fragen. Ganze Kontinente kämpfen mit der explodierenden Bevölkerung, und wir beklagen mangelnde Fruchtbarkeit! — Fakt ist: aus dem einstigen »Volk ohne Raum« wird schleichend aber unaufhaltsam ein Raum ohne Volk. Deutschland hat mittelfristig nur eine Überlebenschance: als multinationaler Mischmasch. — Ist das wirklich ein derartig schmerzliches Szenario, dass wir zur Abwehr wieder Mutterkreuze und Abschussprämien stiften sollten? —
Vielleicht siedeln in Zukunft kinderreiche Mongolenstämme zwischen Rhein und Weser! Vielleicht treiben anno 2112 tibetische Hirten zottelige Yaks über die Schwäbische Alb! Vielleicht leiten schwarzafrikanische Voodoo-Priesterinnen dann in Berlin das Fruchtbarkeitsministerium und konservieren germanisches Sperma zur völkerkundlichen Dokumentation in Kryobanken!
Solange in allen Bereichen deutlich wird, dass Kinder eine kaum zu tragende wirtschaftliche Last mit ungewissen Zukunftschancen sind und es an attraktiven Hortplätzen und Schulen mangelt, wird kaum einer aus selbstloser Verantwortung gegenüber dem gesellschaftlichen Ganzen bereit sein, zusätzlich ein Dutzend Kinder in die Welt zu setzen und aufzuziehen. Bevölkerung entwickelt sich natürlich, Appelle halten ebenso wie Anreize keinen Untergang auf. Wie eines schönen Tages keine Saurier mehr auf dieser Erde grasten, und die Hochkultur der Maya im Orkus verschwand, so geht auch das Volk der Dichter und Denker früher oder später den Bach hinunter und wandert ins Geschichtsbuch.
Es sei denn, es sei denn, es sei denn … Frank Schirrmacher weist in seinem nächsten Buch den Weg aus der Misere und rettet good old germany.
Sieben von mörderischer Langeweile gequälte Männer treffen sich, um den öden Alltag mit kleinem Kitzel zu lockern. Sie nehmen zur Abwechslung teil an spiritistischen Experimenten, besuchen Gefängnisse, psychiatrische Kliniken und Vorlesungen in Anatomie; an einem Abend gesteht ein Novize in ihrem Kreis, dass er 99 Menschen in den Tod schickte und sich selbst zum 100. Opfer bestimmte. — Flackernd und unheimlich beginnt »Das Rote Zimmer«, eine der acht in diesem Band versammelten sonderbaren Schauergeschichten, die der Begründer der japanischen Kriminalgeschichte im zweiten Quartal des vorigen Jahrhunderts veröffentlichte.
Rampos grotesk gedehnte Geschichten spielen in der begüterten oberen Mittelschicht und atmen die Monotonie dieser sorgenfrei lebenden Kaste. Komplizierte und aufwändig konstruierte Verbrechen aus Langeweile werden veranstaltet, um die eigenen Grenzen auszureizen und den eintönigen Alltag aufzulockern. Oft verfallen die Akteure dem Zwang, sich alles von der Seele reden zu müssen: sie beichten ihre Sünden im Angesicht des Todes oder gestehen ihre Untaten in Brief- oder Buchform. Rampo tuscht seine Gestalten mit haarfeinem Pinsel und schafft es, subtile Geständnisse in eine fesselnde Form zu fassen; das macht diesen Sammelband literarisch faszinierend und lesenswert!
Um die Lust auf die Lektüre zu reizen, seien schnell noch die weiteren Rampo-Stories beleuchtet: »Zwei Versehrte« treffen sich auf einen Tee und berichten aus ihrem Leben. Der eine ist von Messerstichen und Granatsplittern entstellt, der andere leidet darunter, seit Jahrzehnten Schlafwandler zu sein, der nachts stiehlt und einen alten Mann im Schlaf erdrosselt haben soll. Besteht eine Verbindung zwischen den beiden Männern? — In »Zwillinge« gesteht ein zum Tode verurteilter Mörder, auch seinen älteren Zwillingsbruder beseitigt zu haben sowie in dessen Identität geschlüpft zu sein, bis er wegen einer Nachlässigkeit überführt wird. — »Der psychologische Test« dient als letzte Gelegenheit, in einem eigentlich klaren Mordfall den wahren Schuldigen kunstvoll zu überführen. — Die Titelgeschichte »Spiegelhölle« beschreibt den Wahnsinn eines Mannes, der sich an Glas und Spiegeln berauscht. — »Die Raupe« ist der im Krieg grässlich verstümmelte Torso eines Soldaten, der sich vor seiner Frau in einen Brunnen wirft. — »Auf der Klippe« stürzt eine Ehefrau ihren Gatten in den Tod, nachdem sie bereits ihren ersten Mann in angeblicher Notwehr getötet hat. — »Der Sesselmann« ist ein kunstfertiger Möbelmacher, der im Inneren eines von ihm gefertigten großen Lederfauteuils haust und einer wohl geformten Schriftstellerin, die sich täglich auf ihm reibt, einen Liebesbrief schickt … oder ist es etwa nur der perfide Trick eines genialen Autors, um gelesen zu werden???
Dieses für jeden, der schreibt, nützliche Buch will dreierlei erreichen: erstens, die Autoren für die Einsicht gewinnen, dass sie sich mit der Technik des Schreibens plagen müssen, um den Leser zu fesseln; zweitens, ihnen klarzumachen, dass dies im Wettlauf mit elektronisch bewegen Bildern immer mehr Mühe, Grips und Phantasie erfordert; drittens, ihnen Werkzeuge für jene Art des Formulierens zu liefern, die das Lesen attraktiver macht.
Schneider erwartet von Journalisten, Lektoren und Schriftstellern ebenso wie von Verfassern komplexer Gebrauchsanweisungen, präzise, konkret und anschaulich zu schreiben. Auf 50 Regeln verdichtet er den Umgang mit der Sprache unter Berücksichtigung neuester Erkenntnisse der Verständlichkeitsforschung und aktueller Richtlinien für eingängiges Deutsch! Dazu zählen das Anstechen von Wortballons, das Zertrümmern von Hülsen, das Vermeiden von Klischees und Floskeln sowie der bewusste Umgang mit Nebensätzen, Schachtelungen, Attributen und Präpositionen. Er behandelt Lesehilfen (Satzzeichen, Zahlen, Kursiva), das Spiel mit Metaphern und die hohe Kunst, den richtigen Einstieg zu finden.
Wer gelesen werden möchte, findet in Schneider einen Ratgeber, der ohne Rohrstock und Peitsche hilft, den Texter wieder stärker an den Leser zu binden. Sein Lehrbuch ist gleichzeitig ein Plädoyer für eine »Stiftung Schreiben«, die der umtriebigen »Stiftung Lesen« viel Aufwand ersparen könnte.
Genre: SpracheIllustrated by Rowohlt
Mit sieben Erzählungen legt Dominguez nach »Das Papierhaus«, seiner Hommage an die Welt der Bücher, eine poetische Huldigung an Wasser, Fluss und Meer vor, die den Einfluss des feuchten Elements auf die Welt der davon abhängigen Menschen bezeugt. Der Autor wurde im argentinischen Buenos Aires am Südufer des Rio de la Plata geboren und lebt im uruguayischen Montevideo am Nordufer der gewaltigen Mündung des Silberflusses. Für die eng besiedelte Region rund um das von den südamerikanischen Strömen Paraná und Uruguay gebildete Delta spielt die Nähe zum Wasser eine elementare Rolle.
Ein Junge schwimmt mit seinem alternden Idol, dem Tarzan-Darsteller Johnny Weißmüller, um die Wette und versucht, dessen Ehre zu wahren. — Der einzige Bewohner einer kleinen Insel, die im Orkan untergeht, rettet seine nackte Haut auf einen Baum zu einer Schar Reiher, während Wind und Wasser seine Habseligkeiten zerfetzten. — Mancuso, ein alt gedienter Kapitän, will ein viel versprechendes Wrack bergen, das sich aber als Versicherungsbetrug entpuppt, und verschwindet von der Bildfläche. — Die tapfere Besatzung eines durch viele Hände gegangenen Schiffes, das einer Sandbank in die Falle ging und auf ihr gefangen liegt, verliert langsam den Verstand, während sie auf das befreiende Hochwasser wartet. — Ein junger Mann geht auf die Suche nach seinem Vater, der bei Flusspiraten im Delta des großen Flusses vor sich hin vegetiert. — Ein Offizier eines Öltankers berichtet vom Angriff eines iranischen Raketenschnellbootes im Golfkrieg und dem verheerenden Brand seines Schiffes. — Auf einem riesigen Frachter, für den kaum noch Personal benötigt wird, treffen sich ein spanischer Offizier und ein polnischer Maschinist auf eine Flasche Grappa und führen in ihrer Einsamkeit eine aufrichtige Unterhaltung, ohne dass der eine auch nur ein Wort des anderen versteht.
Durch geschickt gewählte unterschiedliche Perspektiven versteht es der Erzähler, einen Eindruck von der grandiosen Macht der Elemente zu vermitteln. Besonders auf Landratten wirken die Texte über die erstaunliche Natur wüster Flüsse und Meere eindringlich und dicht.
Aus heiterem Himmel erlebt ein kleiner Ort in Virginia eine Orgie brutaler Gewalt: ein Serienkiller scheint wahllos aus dem Hinterhalt zuzuschlagen und zitiert dabei berühmte Massenmörder. Eine Frau wird im Wald ermordet, ein junges Pärchen stirbt beim Liebesspiel, ein alter Herr wird im Krankenhaus erledigt. Vier, fünf, sechs Menschen werden bestialisch ermordet, und es ist darüber hinaus fraglich, ob es sich um einen oder mehrere Täter handelt. Wie gut, dass die beiden Privatdetektive Maxwell und King, die bereits aus Baldaccis Roman »Im Bruchteil der Sekunde« bekannt sind, vor Ort leben und sich in die Ermittlungen der überforderten Lokalpolizei einschalten. Der Leser begleitet die beiden bei der Arbeit und darf ihrem Bemühen, alle Rätsel zu lösen, folgen.
Baldacci erzählt seine Geschichte in einem seltsam saftlosen Stil. Sowohl die blutrünstigen Taten als auch die von ihm gezeichneten Figuren lassen den Leser kalt und teilnahmslos der Entwicklung der Ereignisse beiwohnen. Die Zeichnung der zahlreichen agierenden Figuren ist staubtrocken, die Akteure erscheinen blass, künstlich und schemenhaft. Das Ende des Buches, ein Geständnis auf hoher See in sturmdurchtoster Nacht, wirkt in seiner Klischeehaftigkeit albern. Der steife Roman trägt keinesfalls dazu bei, den Beliebtheitsgrad des Autors zu erklären, der vom Verlag mit einer Gesamtauflage von über 40 Millionen Exemplaren beziffert wird.
Nur eine Stunde lang stand Fernandel, der berühmte französische Filmstar mit dem markanten Pferdegesicht, dem im Amerika lebenden Fotografen Philippe Halsman anno 1948 Modell. Halsman, einer der Großen der amerikanischen Porträtfotografie, versuchte dabei ein fotografisches Experiment, indem er den Schauspieler bat, nur pantomimisch auf seine Fragen zu antworten. Es entstand ein feinfühliges Zwiegespräch ohne Worte, das zeitlos wirkt. Selbst ein halbes Jahrhundert später beschert es Freude, die anrührende Mimik und den poetischen Charme des lebhaften Franzosen im Pepitaanzug zu betrachten.
»Stimmt es, dass der Durchschnittsfranzose im Gedränge immer noch hübsche Mädchen kneift? …«, fragt der Fotograf, und Fernandel grinst als Antwort spitzbübisch bis über beide Ohren. Doch als er darauf erfährt: »… und wissen Sie, dass man sich mit einem solchen Verhalten hierzulande Gefängnis einhandelt?«, reagiert er derart erschreckt, als sei ihm gerade der Leibhaftige begegnet. Ob er wisse, dass ein Star seines Kalibers leicht ein gewaltiges Vermögen in Hollywood verdienen könne, will Halsman wissen. Fernandel mimt den aus seinen herrlichen Filmen bekannten Pater Don Camillo, breitet beide Arme aus, lächelt beseelt zum Himmel und hält sich mit weiteren Äußerungen zurück.
Fünfzig Jahre lang war das fotografische Interview mit Fernandel in seiner Rolle als typischer Frenchman vergriffen. Der Reprint schenkt eine lange Weile Heiterkeit, denn das Gesicht des weltberühmten Hobbyschauspielers aus Südfrankreich sagt viel mehr als tausend Worte.
Genre: FotografieIllustrated by Taschen Köln
Getreu der Devise, dass Superhelden out und gebrochene Figuren angesagt sind, da sich der Leser mit ihnen besser identifizieren kann, ist Harry Hole ein bestens geeigneter Protagonist für den norwegischen Erfolgsautor Jo Nesbø. Denn der Hauptkommissar der Osloer Kripo steckt tief in der Krise: er ist Alkoholiker und erscheint kaum noch zum Dienst. Seine Entlassung steht unmittelbar bevor, Freundin und Kind haben ihn verlassen, der Verbrecherjäger wirkt inzwischen wie ein Penner. Da kommt eine Serie mysteriöser Frauenmorde gerade recht, um seinen Ehrgeiz ein letztes Mal zu packen.
Drei junge Frauen werden hingerichtet, jeder von ihnen schneidet der Täter einen Finger ab, der einen versteckten Hinweis auf die nächste Tat wirft. Hole stellt Bezüge her, erkennt Muster und findet einen Drudenfuß, den fünfzackigen Stern des allgegenwärtigen Bösen, an den Tatorten. Der Täter wird eingekreist, er wird überführt und gefasst, aber ist er wirklich der Mörder? Bis hierher wäre der Handlungsstrang konventionell, aber es entwickeln sich Nebenkriegsschauplätze, zumal Hole bei der Aufdeckung des Verbrechens mit seinem Intimfeind Waaler zusammen arbeiten muss, den er seit langem für einen Waffenschieber hält. Und damit kommt die Story erst richtig auf Touren.
Wer depressive Typen wie Henning Mankells Kommissar Wallander satt hat, der findet bei Nesbø einen sympathischen und trotz seines Alkoholproblems überzeugenden Helden mit hypnotischer Anziehungskraft. Dabei ist das Buch so spannend und überzeugend geschrieben, dass der Rezensent beim Nachschenken seinen beruhigenden Salbeitee versehentlich auf die Tischplatte goss, weil ihn der Text gefangen hielt.
Constance Rattigan, eine vergessene Hollywood-Diva, klopft in Todesangst an die Tür des Ich-Erzählers. Wie ein panisches Schulmädchen läuft sie durch den dunklen Wald Hollywood, der voller Ungeheuer ist, die aus der Vergangenheit empor steigen. Sie flieht vor ihrer Vergangenheit, ihren Erinnerungen an ein schnelles, rauschendes, zerstörerisches Leben. Am nächsten Morgen ist sie verschwunden, und das Alter Ego des Autors geht mit Freunden auf Spurensuche. Dabei stoßen sie auf mumifizierte Exzentriker, vergessene Ex-Stars und gescheiterte Existenzen, deren Leichen bald ihren Weg pflastern.
Ray Bradbury, Autor solcher Klassiker wie »Fahrenheit 451«, »Die Mars-Chroniken« und »Der illustrierte Mann« liefert mit diesem wohl wegen des Titels vom Verlag im Segment Krimi platzierten Roman eine Melange von Esoterik, Science-Fiction und Mystery, die vor allem intime Kenner der Anfänge Hollywoods faszinieren mag. Zu den stärksten Werken des Autors zählt der seltsame Text leider nicht.
Der Roman des in Nanking lebenden Autors spielt im farbenprächtigen Milieu der chinesischen Oper. Die Diva Xiao Yanqui, eine lebende Verkörperung der Protagonistin der Peking-Oper »Chang´es Flug zum Mond«, verhilft der Inszenierung durch ihre Kunst zum Erfolg, während umgekehrt die Oper ihr den Durchbruch bringt. Doch die ruhmsüchtige Sängerin muss bald ihre verheißungsvolle Karriere abbrechen, weil sie in einem unbeherrschten Moment ihrer älteren und erfahrenen Zweitbesetzung, die für sie zurücktrat und sie sogar anleitete, kochendes Wasser ins Gesicht schüttet.
Zwanzig Jahre später finanziert ein zu Geld gekommener Fan der Sängerin die Wiederaufnahme des Stückes. Xiao Yanqui sieht die Erfüllung all ihrer Träume gekommen und stürzt sich mit Hingabe in die Proben. Wieder erwächst ihr eine Rivalin, diesmal jedoch befindet sie sich in der Rolle der Älteren, die jüngere ist ihre Schülerin, die für sie wie eine Tochter war. Hat Yanqui aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, und kann sie diesmal ihr Temperament zügeln?
Bald verschwimmen die Grenzen zwischen der Person der Sängerin und der von ihr interpretierten Figur. Immer stärker verpuppt sich der Altstar in die Rolle und lebt nur für diese, während das Privatleben als Ballast empfunden wird. »Die Winterblume, kaum erblüht, wird schon von Reif und Schnee zerpflückt. Noch einmal blüht sie auf und wird von Hagelschlag und Eis zerstückt«, heißt es im Text der Oper, der damit das innere Thema des Buches abbildet.
Im Stück stiehlt Chang´e dem Helden Huoyi eine Pille der Unsterblichkeit, die er als Lohn für die Rettung der Erde erhalten hat, und schluckt sie selbst. Aus Furcht vor Houyis Zorn steigt sie in die Lüfte auf und versteckt sich auf dem Mond. Dort führt sie als Mondgöttin ein einsames Leben und schaut voll Gram und Reue auf die Erde. Der Mensch ist sich selbst Feind, er sehnt sich danach, sein Menschsein abzustreifen und ein göttliches Wesen zu werden. Die falsche Pille zu schlucken ist Chang´es Los, das Los der Frauen und des mit seiner Bestimmung unzufriedenen Menschen überhaupt.
Bi Feiyu schuf mit seinem kunstvoll gebauten Kurzroman um das Schicksal einer chinesischen Diva eine Oper in der Oper. Der Text ist intensiv, er ist intim, er berührt Fragen der Identifikation mit einer Rolle und des Loslassenkönnens ebenso wie solche des künstlerischen Selbstverständnisses. Ein ungewöhnlich vielschichtiges Buch!
Genre: RomaneIllustrated by Blessing München
Oberinspektor Chen, Held dieser weit überdurchschnittlichen Krimireihe, bekommt die Aufgabe, eine amerikanische Kollegin zu betreuen, die nach Shanghai kommt, um eine Zeugin ins US-Zeugenschutzprogramm zu überführen. Doch diese Zeugin, eine chinesische Fabrikarbeiterin, deren Ehemann in den USA Asyl beantragt hat und dafür gegen Menschenhändler aussagen will, ist vom Erdboden verschwunden. Hält sie sich versteckt? Wurde sie entführt? Bald stellt sich heraus, dass eine in Südchina operierende Triade namens »Fliegende Äxte« hinter der Frau her ist und sie in ihre Gewalt bekommen will. Dabei scheint die Geheimgesellschaft mehr Erfolg als Chen zu haben, da sie über bessere Kontakte sowie verlässliche Freunde in Polizeidienststellen und Behörden verfügt.
Der Roman führt tief in die dem westlichen Leser weitgehend fremde Lebenswirklichkeit der chinesischen Bevölkerung ein und konfrontiert mit den Gegensätzen von Stadt und Land, von klassischen Religionen und kommunistischer Ideologie, von tradierten und modernen Lebensplänen. Zwei ethische Säulen werden beschrieben, die auch Chen anerkennen muss, um vorwärts zu kommen: gute Beziehungen, das »guanxi«, sowie der »yiqi« genannte ethische Kode der Brüderschaft und Loyalität, nach dem man sich für eine erwiesene Gefälligkeit revanchiert.
Das Besondere an der Reihe um den aufstrebenden Kriminalkommissar Chen ist seine Liebe zur chinesischen Literatur und Lyrik. Immer wieder werden hochpoetische Zitate aus klassischen und zeitgenössischen chinesischen Gedichten eingeflochten und für den Alltag anwendbar gemacht. Damit entsteht vor dem Auge des Lesers ein China, das sich auf der einen Seite im Umbruch befindet, auf der anderen Seite jedoch ein Land mit derart starken kulturellen Wurzeln ist, dass seine Bewohner auch in unübersichtlichen Zeiten Philosophen bleiben.
Ein Dozent der hispanistischen Abteilung der Universität Cambridge erhält ein an seine jüngst verstorbene Kollegin adressiertes Päckchen mit geheimnisvollem Inhalt. Es enthält ein mit Mörtel und Zement verkrustetes Buch von Joseph Conrad. Neugierig geworden spürt er dem Absender des Buches nach. Er trifft dabei ebenso fanatische Büchersammler wie Bücherleser, die letztlich Opfer der eigenen Leidenschaft werden.
Der kurze Text des aus Argentinien stammenden und in Uruguay lebenden Schriftstellers ist eine melancholische Geschichte über die Manie für Bücher, die besessene Leidenschaft fürs Lesen und den verzweifelten Versuch, sich dieser Sucht zu entziehen.
Genre: RomaneIllustrated by Heyne München
Die prächtigen Kabinettstückchen aus dem bürgerlichen Heldenleben des als »Dandy vom Rhein« geltenden Düsseldorfer Sprachtalents enden grundsätzlich im Fiasko. Schmitz, der sich schon mit jungen Jahren anno 1913 mit 33 Lenzen das Lebenslicht ausblies, um nicht länger husten zu müssen, ist der Meister der grotesken Überzeichnung und eine Entdeckung für den, der gern lacht.
Der Umzug mehrerer Parteien in einem Mietshaus führt zu einem katastrophalen Tohuwabohu und endet in einer herrlich chaotischen Spirale, da sämtliche Möbelstücke in endloser Folge verrückt, durcheinander gewürfelt und angestoßen werden. — Die Rivalität eines neureichen Brauereierben mit den Alteingesessenen und Honoratioren der Stadt mündet in einem Kleinkrieg, der zur Ausrottung sämtlicher Automobile führt. — Will Mutter dem Vater endlich einmal akzeptablen Kaffee kredenzen und entschließt sich zum Erwerb einer modernen Kaffeemaschine, dann endet die Inbetriebnahme der patentierten Errungenschaft garantiert in der Auslöschung der gesamten Familie. — Den Ausflug mit seiner Erbtante in ein amerikanisches Kaufhaus zwecks Erwerbs einer Bluse überdehnt Schmitz schließlich zu Wochen, Monaten und Jahren qualvollen umher Irrens in den Etagen und Abteilungen des gigantischen Warenpalastes.
Schmitzens Einakter glühen vor sprachlicher Komik und surrealer Übertreibung. Kaum zu glauben, dass diese herrlichen Texte bereits hundert Jahre alt sind und immer noch keinen Staub angesetzt haben!
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Um alte Meister und große Geister dreht sich Thomas Bernhards rabenschwarze Komödie, ein sich im Sprachwitz dramatisch entfachendes Feuerwerk. Reger, ein extrem negativ eingestellter Musikphilosoph, dessen Artikel in der britischen »Times« erscheinen und folglich in Österreich unbekannt bleiben, bestellt seinen Freund und Verehrer Atzbacher, einen Schriftsteller, der seit 17 Jahren an einem Werk schreibt, ohne auch nur eine Zeile davon veröffentlicht zu haben, ins Kunsthistorische Museum. Dort hockt er in fester Gewohnheit seit dreißig Jahren jeden zweiten Vormittag, um Fehler in den Bildern der alten Meister zu entdecken. Fast immer trifft man ihn im Bordone-Saal vor dem »Bildnis eines weißhaarigen Mannes« von Tintoretto, wo er auch seine Frau kennen lernte, deren Tod er nur durch Pflege seiner regelmäßigen Ticks zu überwinden glaubt. Hier sinniert Reger ungestört und bei stets gleicher Temperatur darüber, was in der Welt, besonders jedoch in Österreich, schlecht ist. Dritter im Bunde ist der Museumsaufseher Irrsigler, ein einfältiger Burgenländer, der sich im Laufe der Jahre Regers Sichtweise angeeignet hat und ihn immer wieder gern zitiert.
Reger philosophiert über die Unerträglichkeit der Staatskunst. Er zerfetzt das literarische Waldesrauschen eines Adalbert Stifters, diesem literarischen Umstandsmaler mit stümperhaftem und verlogenem Stil, als unerträglichen Kitschmeister. Er bezeichnet Anton Bruckner mit seinem religiös-pubertären Notenrausch und stupidem, monumentalen orchestralen Ohrenschmalz als einen Komponisten, der die Musik verwischt habe. Er nimmt den Philosophen Martin Heidegger aufs Korn, diesen lächerlichen nationalsozialistischen Pumphosenspießer und verheerend größenwahnsinnigen Voralpenschwachmatikus, der fremde große Gedanken mit der größten Skrupellosigkeit zu eigenen kleinen Gedanken mache. Lediglich die Toiletten im »Hotel Ambassador«, wo er jeden Nachmittag zu finden ist, haben es ihm wegen ihrer Reinlichkeit angetan.
Bernhard schafft mit seinem aus einem einzigen Gedanken gezogenen Text in Reger die Figur des Anti-Künstlers, eines Menschen, der sich darin versteht, anerkannte »große« Kunstwerke abzuwerten und in Frage zu stellen. Er greift damit direkt den überlebten Geniemythos des 19. Jahrhunderts an und versucht, ihn zu zerstören.